Surprise 304/13

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Nr. 304 | 12. bis 25. Juli 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Liebe Kurzgeschichten von Sibylle Berg, Alex Capus, Charles Lewinsky, Jonas Lüscher, Klaus Merz, Gerlinde Michel, Milena Moser, Christoph Simon


Schön und gut. Ab sofort sind die neuen Surprise-Caps bei uns in Einheitsgrösse erhältlich: Zur Auswahl stehen sie in den Farben Schwarz und Beige. Zugreifen! Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Surprise-Mütze CHF 16.– beige

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50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

Alle Preise exkl. Versandkosten.

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Lassen Sie Surprise singen. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag an den Freundeskreis Surprise Strassenchor! Infos: www.vereinsurprise.ch/strassenchor oder Telefon 061 564 90 40. Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Spendenkonto PC 12-551455-3

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Titelbild: Priska Wenger

Voilà, das ist sie. Die erste von zwei Sondernummern unter dem Motto «Love & Crime». Teil eins: Liebe. Es wäre also angebracht, an dieser Stelle ein paar Worte über die Liebe zu verlieren. Nur, was ist das eigentlich? Seit jeher versuchen sich Philosophinnen und Wissenschaftler beim Versuch einer Definition. Dabei ist schon allerlei Interessantes herausgekommen. Zum Beispiel: «Liebe ist die wechselseitige Komplettannahme im Modus der Höchstrelevanz.» Aber können Sie damit wirklich etwas anfangen? Die Liebe scheint sich dem abstrakten Zugriff zu entwinden – irgendwie bekommt sie niemand so richtig zu fassen. Und der Versuch, ihr mit Begriffswerkzeug zuzusetzen, bringt sie uns nicht näher, sondern entfernt uns von ihr. Also nichts mehr davon. MENA KOST Naturgemäss wortreich, aber stets erfreulich konkret sind die Geschichten, die he- REDAKTORIN rauskommen, wenn Menschen an die Liebe geraten. Gute Geschichten entstehen entlang von Konfliktlinien, in den Grenzbereichen, in der Ungewissheit von Beginn und Bedrohung. Sie müssen nichts erklären und dürfen voller Widersprüche sein. Es sind dabei oft nicht die romantischsten Geschichten, die uns am meisten über die Liebe verraten. Denn in der Realität hat Liebe vielleicht weniger mit Romantik zu tun, als wir annehmen. Dafür mit Schönheit und Humor, Sehnsucht und Wehmut, Irrsinn und Freiheit. Und genau das erwartet Sie auf den folgenden Seiten: Geschichten von der wahren Liebe. Diese erste Surprise-Sommernummer enthält Kurzgeschichten von Sibylle Berg, Alex Capus, Charles Lewinsky, Jonas Lüscher, Klaus Merz, Gerlinde Michel, Milena Moser und Christoph Simon, fast alle exklusiv für Surprise verfasst. Ausnahmslos alle Autorinnen und Autoren haben uns ihre Liebesgeschichte geschenkt. Was keinesfalls selbstverständlich ist. Denn kurz sind nur die Geschichten an sich, sie zu schreiben hingegen bedeutet tagelange harte Arbeit. Für dieses grosse Engagement danken wir ihnen von Herzen! Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich eine vergnügliche Lektüre und freue mich schon, Sie in zwei Wochen wieder begrüssen zu dürfen. Dann zu Teil zwei: Verbrechen. Schauen Sie doch bitte, dass Sie bis dahin Ihre Nerven schonen. Dann nämlich rücken wir Ihnen mit Knarren, Gift, Messern und allerhand Morden zu Leibe.

Bis dahin einen schönen Sommer, herzlich Mena Kost

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@vereinsurprise.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 304/13

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BILD: DOMINIK PLÜSS

Editorial Die Liebe und die Wörter


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Inhalt Editorial Sehnsucht und Irrsinn Basteln für eine bessere Welt Die Sockenkrake Porträt Liebe vom Steckbrett Verkäuferporträt Zwei Mamas und ein Papa Projekt Surplus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP Kreuzworträtsel Viel Glück!

08 Laura VON ALEX CAPUS

11 Die Dichter und die Buchhändlerin VON CHRISTOPH SIMON

12 Sturzeneggers grosse Liebe VON CHARLES LEWINSKY

14 Erzähl mir von dir … VON MILENA MOSER

17 Die Liebe im Einzelnen VON JONAS LÜSCHER

20 Cat Blues VON GERLINDE MICHEL

23 Niemandstag VON KLAUS MERZ

26 William und Kate VON SIBYLLE BERG

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BILD: ZVG

Die Illustrationen und das Cover dieser Ausgabe stammen von Priska Wenger. Es ist bereits das fünfte Mal, dass sie einer Surprise-Literaturausgabe mit ihren Illustrationen ein Gesicht verpasst. Ausserdem gestaltet sie seit Jahren die Bilder zur Gerichtskolumne «Zugerichtet». Priska Wenger studierte Visuelle Kommunikation und Illustration an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in New York, wo sie 2009 den Master in Fine Arts ablegte.

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ILLUSTRATION: SOPHIE AMMANN | WOMM

1. Man nehme: 4 alte Socken.

2. Zerknüllen Sie eine Socke zu einem Ball und stecken diesen in eine andere Socke hinein. Stecken Sie das Ganze in eine weitere Socke und dann in noch eine. 3. Schnüren Sie die Socken mit einem Stück Schnur eng unter dem Ball zusammen.

4. Schneiden Sie die Socken bis zum Ball in dünne Streifen.

Basteln für eine bessere Welt Die therapeutische Sockenkrake

5. Flechten Sie je drei Streifen zu einem Zopf und

Love hurts, wie die eine oder andere Geschichte in diesem Heft wieder einmal beweist.

verknoten Sie danach die Enden.

Wenn der Liebste auszieht, bleiben oft nichts als Erinnerungen, der Hund vielleicht, und

6. Gehen Sie mit Bello nach draussen. Weit wegwer-

ein paar alte Socken. Was tun? Wir hätten da eine Idee für eine gemeinsame Verarbei-

fen – reinbeissen – zurückbringen: Der gemeinsame

tungstherapie für Mensch und Hund.

Verarbeitungsprozess kann beginnen.

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Porträt Esel, männlich, sucht … Sie bestimmt das familiäre Schicksal von Europas Wildeseln, Panzernashörnern, Zwergflusspferden und Kleinen Kudus: Beatrice Steck vom Zoo Basel ist Partnervermittlerin für Zootiere. VON DIANA FREI (TEXT) UND LUCIAN HUNZIKER (BILD)

Seit einigen Jahren werden auch in der Partnervermittlung für Menschen Methoden propagiert, die per DNA-Analyse den geeigneten Partner zu finden versprechen. Ist das vergleichbar mit Beatrice Stecks Arbeit? «Das habe ich mir noch nie überlegt», sagt sie und konstatiert dann nüchtern: «Die engere Familie kommt für die Menschen ja sowieso nicht für die Partnerwahl infrage, weil man sich bewusst ist, mit wem man verwandt ist. Menschen gibt es wahnsinnig viele, da muss man nicht darauf achten, die genetische Vielfalt zu erhalten. Das ist bei sieben Milliarden weniger das Problem als bei vielleicht 600 Wildeseln weltweit.» Draussen hört man Vogelgezwitscher und Kindergeschrei: eine Schulklasse auf Zoobesuch. Man sitzt im Büro gleich über der Kasse, auf dem Vorplatz werden Glaces verkauft. Beatrice Steck hat einen Notizblock mitgebracht, schreibt aber nie etwas auf, sondern erklärt ihre Arbeit aus dem Stegreif so strukturiert wie einen Stammbaum, sie fängt

«Dann ist Lucas gekommen, und das war der Richtige.» Beatrice Steck lächelt angetan in sich hinein: «Der war allen Stuten sympathisch.» Bevor Hengst Lucas in den Zoo Basel kam, waren bei den Wildeseln zwei Hengste aus einer kleinen Privatzuchtstation in Oberwil, «die haben die Stuten aber im Wesentlichen nur geplagt», sagt Steck. Ihr Beruf ist es, für Zootiere passende Partner auszuwählen. Sie tut das aufgrund genetischer Kriterien, und im Fall von Lucas mit Erfolg: Mehr als jedes zehnte Tier der europäischen Population ist ein Kind oder Enkel von ihm. «Das freut einen natürlich besonders», sagt Steck und lächelt wieder. Sie schlägt ein unscheinbares, gerade einmal ein Zentimeter dickes Buch auf, das Zuchtbuch der Panzernashörner. «Ich vergleiche das immer mit einem Telefonbuch», sagt die Zoologin. Zahlen, Tabellen, Statistiken: So sieht sie aus, die Grundlage dafür, dass die Nashörner in den europäischen Zoos gesunde Nachkommen haben. «Es ist eine Auflistung aller Tiere. Beim «Wollt ihr Männchen oder Weibchen auswechseln, damit Menschen ist sie alphabetisch und gibt Ausvielleicht etwas geht?» kunft über Adresse und Telefonnummer, bei den Tieren steht das Geschlecht drin, wer die Eltern sind, wann es wo gelebt hat und allenfalls, wann es gestorben beim Muttergedanken an, «das muss man sich so vorstellen», springt auf ist.» 400 bis 500 Nashörner sind im Zuchtbuch aufgeführt, die gesamte Nebenäste, sagt «darauf komme ich gleich zurück», nimmt vorweg und weltweite Zoopopulation. Steck führt insgesamt vier Erhaltungszuchtkommt am Schluss wieder zum Kern zurück. Sie redet schnell, als ob sie programme: für die somalischen Wildesel, die Zwergflusspferde, die ihren Stoff durchbringen wollte, auf Schweizerdeutsch mit hochdeutKleinen Kudus und eben für die Panzernashörner. Jeder Zoo kümmert schem Einschlag. Schon am Telefon hatte sie gesagt, dass ihr der Bilsich um andere Tierarten. Rotterdam hat die asiatischen Elefanten, dungsauftrag des Zoos wichtiger sei als ihre eigene Person, und vielKarlsruhe die Orang-Utans, Zürich die Kappengibbons. leicht ist bei ihr das Berufliche auch gar nicht so weit vom Privaten weg. Im Zuchtbuch hat jedes Tier eine Nummer. Bei den PanzernashörAn ihrem Wohnort engagiert sie sich beim Natur- und Vogelschutzvernern sind Tier 5 und 7 nach Basel gekommen, hier hatten sie vier Junein Oberwil. Man pflegt Waldränder und Hochstaudenflur – Lebensräuge, und der Computer speichert: Das sind Geschwister, 50 Prozent geme für Vögel und Insekten – und setzt sich so dafür ein, dass die einmeinsames Genmaterial. «Bei meiner Partnervermittlung geht es nicht heimischen Tiere ihren Nachwuchs aufziehen können. Und wenn sie um Hobbys und Aussehen, sondern um Genetik», sagt Steck. Genauer: bei der Arbeit ein Tier umplatzieren muss, verbringt sie manchmal halEs geht um Inzuchtfaktoren, um die Frage, welches Tier wie stark mit be Nächte damit zu überlegen, welchen Zoo sie noch anfragen könnte: welchem verwandt ist. Cousins und Cousinen und Halbgeschwister «Tierschicksale bewegen mich schon sehr.» werden rechnerisch per Computerprogramm ermittelt. Beatrice Steck ist dem Zoo Basel seit 17 Jahren treu. «Ich habe die Er«Und dann kommt noch etwas anderes dazu, das man im Zuchtbuch haltungszuchtprogramme immer mit Begeisterung und Leidenschaft gezeigen kann.» Beatrice Steck blättert: «Alle diese Nummern sind Nasmacht und daher nie was anderes gesucht», sagt sie; ihre jetzige Stelle hörner, die aus der Wildbahn in Zoos gebracht worden sind. Weltweit. ist ihre erste Festanstellung seit der Ausbildung. Als sie nach dem BioAll die bringen wichtiges genetisches Material in die Population. Der logiestudium in Zürich nicht gleich Arbeit fand, hängte sie einfach noch Idealfall wäre, dass alle etwa gleich viele Nachkommen haben, damit alan, was sie genauso interessierte: eine Ausbildung an der Dolmetscherle Gene gleich vertreten wären. Das ist aber nicht der Fall.» Denn es gibt schule. Als Biologin, die perfekt Englisch und Französisch spricht, war Zoos, die noch gar nicht gezüchtet haben. Unterrepräsentierte Blutlisie prädestiniert für die Zusammenarbeit mit internationalen Zoos. nien: Das sind die Tiere, die für Beatrice Steck oberste Priorität haben. Sprüche von Freunden über ihre Tätigkeit als Partnervermittlerin hört Sie ist regelmässig in Kontakt mit den Zoos und fragt nach: «Läuft was? sie unterdessen nicht mehr so oft, auch wenn ihr der Beruf schon das Wir sollten dringend züchten.» Sie ist ständig am Regulieren. Je nacheine oder andere Mal einen Sympathiebonus eingetragen hat. Sie selber dem, wo es wie viele Junge gibt, sagt sie den einen: «Streckt euer Gehat einen festen Partner, aber keine Kinder. Der Grund ist einfach: «Ich burtenintervall ein bisschen» und den anderen: «Wollt ihr Männchen setze mich lieber für die bedrohteren Arten ein», sagt sie. Die Menschoder Weibchen auswechseln, damit vielleicht etwas geht?». heit gehört nicht dazu. Da muss Beatrice Steck nicht tätig werden. ■ SURPRISE 304/13

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Laura VON ALEX CAPUS

sche Luft wolle. Und als Laura dann von einem langen, unbeschwerten Spaziergang zurückkehrte, bei dem sie erstmals seit langer Zeit auf nichts anderes als auf ihre eigenen Schritte hatte aufpassen müssen, fand sie in der Küche die zwei Mädchen und ihre Grossmutter in einer Atmosphäre geradezu summenden Glücks vor. Als sie am nächsten Tag wiederum allein aufbrach, nahm das kaum jemand im Haus zur Kenntnis, und so ging sie fortan immer allein spazieren und blieb solange weg, wie es ihr gefiel. Es gab oben bei der Ruine Liebburg eine Sitzbank, auf der Laura eine schöne Aussicht auf den Bodensee hatte, der sich bleigrau in der Ferne verlor und am deutschen Ufer mit dem Nebel verschmolz. Dort sass sie jeden Nachmittag, rauchte Zigaretten und übte die schweizerdeutschen Wörter, welche ihr die Schwiegermutter mit verschämtem Stolz auf das eigensinnig-bäuerliche Idiom beigebracht hatte: Meassi, Wenziwenzoguezi, Danggenadie, Wotschau, Nüützdangge. Sie behielt die Wörter mit Leichtigkeit im Gedächtnis, und die helle, zarte Färbung des Thurgauer Dialekts, der den Frauen so gut stand und auch den Männern eine feminine Note gab, übte sie mit dem Fleiss einer Musikerin, die den richtigen Ton schon im Ohr hat und den Ehrgeiz hat, diesen auch präzis zu treffen. Laura war festen Willens, in möglichst kurzer Zeit möglichst akzentfrei Schweizerdeutsch zu lernen, denn sie war in Bottighofen bei gutmütigen, liebenswerten und grossherzigen Menschen angelangt. Bei ihnen wollte sie bleiben, besser konnte es ihr nirgends ergehen.

Die Busfahrt vom Hauptbahnhof Kreuzlingen zum Postamt Bottighofen in der Abenddämmerung dauerte zwanzig Minuten, der Fussmarsch hinauf zum Hof der Eltern eine Viertelstunde. Und dann standen sie vor dem Haus im Dunkeln. Die Koffer hatten sie im Gasthof zum Bären abgestellt, auf den Armen trugen sie die schlafenden Kinder. Es hatte aufgehört zu regnen. Emil rief erst den Vater und dann die Mutter. Die Tür ging auf, die Eltern traten hinaus. Beide standen in Holzschuhen auf dem schlammigen Vorplatz, die Mutter leuchtete ihnen mit einer Petrollampe entgegen. Es folgten ungelenke Begrüssungen und Umarmungen, die Ankömmlinge wurden ins Haus gebeten. Die Kinder wurden bewundert und in ihre Betten gelegt, in der guten Stube standen Brot, Vor dem Schlafengehen räumte sie die Kleider in den Schrank Wurst und Käse auf dem Tisch, dazu eine Flasche Rotwein und ein Krug Milch. Der Vater mit dem festen Vorsatz, sich für lange Zeit in Bottighofen hiess Laura mit ein paar französischen Broniederzulassen. cken willkommen, die er im Militärdienst aufgeschnappt hatte. Die Mutter lächelte Laura Und wenn ihr das Herz schwer wurde beim Abstieg auf dem moraaufmunternd zu, tätschelte ihr den Unterarm und forderte sie mit Gestigen Feldweg, beim Anblick der geduckten Bauernhäuser und der bärden auf, bei Brot, Wurst und Käse herzhaft zuzugreifen. Krähen, die zwischen den Ackerfurchen umherhüpften und Saatgut Laura lächelte ebenfalls und liess über Emil ausrichten, dass sie es herauspickten, so tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass nach Weihbedaure, noch kein Wort Schweizerdeutsch zu verstehen, dann lehnte nachten die Tage wieder länger würden und es danach nicht mehr sehr sie sich zurück und lauschte dem Gespräch der Schwiegereltern mit ihlange dauern würde, bis die tausend Apfelbäume, die jetzt so schwarz rem Sohn, den sie wohl fünf Jahre nicht mehr gesehen hatten. Sie beund scheintot an den Hängen Bottighofens standen, aufs Neue weissrotrachtete ihre gerührten Gesichter und ihre knotigen Hände, und sie sa erblühen würden. sagte sich, dass sie bei guten, friedfertigen und fleissigen Menschen Aber dann kam jener sonnige Morgen an einem der letzten Winterangekommen sei, mit denen eine Weile in Frieden zu leben ihr nicht tage, an dem Laura mit einem Korb Wäsche aus der Waschküche kam, allzu schwer fallen dürfte. die sich einige Schritte neben dem Wohnhaus in einem kleinen Schopf Nach dem Essen liefen Emil und sein Vater noch einmal hinunter befand. Von den Dächern tropfte das Schmelzwasser, auf dem Fussweg zum «Bären», um die Koffer zu holen, und Laura liess sich von der zum Vorplatz stand Emil Fraunholz und legte die linke Hand an die Mutter den Weg zur Toilette und zur Waschküche zeigen. Vor dem Wange wie einer, der eine zwar nicht sehr bedeutsame, aber unangeSchlafengehen räumte sie die Kleider in den Schrank mit dem festen nehme Nachricht zu überbringen hat. Laura blieb stehen und schaute Vorsatz, sich für lange Zeit in Bottighofen niederzulassen und nicht ihn an. gleich wieder an Abreise zu denken. Alles in Ordnung? fragte er. Es war die Jahreszeit, da die Bauern Vorfenster vor ihre Fenster hängLaura nickte. ten und wurstförmige Kissen auf die Fensterbänke legten. Laura verGehst du Wäsche aufhängen? stand, dass der Winter hart und lang werden würde und dass die FenWie du siehst. ster nun fest verriegelt waren und sich bis zum Frühling nicht mehr Laura, hör zu. Emil rieb sich den Nacken und warf ihr einen verlegenen würden öffnen lassen. Seitenblick zu. Ich habe mich gefragt … Es war die trübste Zeit des Jahres. Die Nächte waren lang und die TaWas? ge so kurz, dass die Morgendämmerung direkt in die Abenddämmerung Ich habe mich gefragt, ob du bitte in Zukunft deine Wäsche nicht mehr überging. Manchmal fiel ein wenig Schnee. Auf den Weiden standen im Vorgarten, sondern hinter dem Haus aufhängen könntest. Beim Zienasse Kühe unter kahlen Apfelbäumen und liessen die Köpfe hängen. genstall. Emil machte sich nützlich, indem er mit dem Vater eine Scheune mit Dort hat’s keine Wäscheleine. neuen Schindeln deckte. Laura ging der Schwiegermutter in der Küche Meine Mutter hat gerade eben eine gespannt. zur Hand und unternahm, damit die Kinder einmal am Tag an die friHinter dem Haus ist es schattig und windstill, sagte Laura. Dort trocksche Luft kamen, Spaziergänge in die Hügel über dem Dorf. net die Wäsche nie. In der zweiten Woche aber gab die Schwiegermutter Laura mit Die dicken Sachen trocknen da nicht, da hast du recht, sagte Emil. Aber freundlichen Gebärden zu verstehen, dass es draussen kalt sei und sie die dünnen schon. die Kleinen ruhig bei ihr in der Küche lassen könne, wenn sie an die friSURPRISE 304/13

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Ich soll die dicken Sachen vor dem Haus aufMeine Unterwäsche ist fast so brav wie die deiner Mutter, ich hängen und die dünnen dahinter? nehme weiss Gott Rücksicht. Nur die Unterwäsche, sagte Emil. Nur deine Unterwäsche. Nur meine Unterwäsche? Deiner Unterwäsche sehen die Leute auf den ersten Blick an, dass sie Meine Mutter bittet dich drum. nicht von hier ist. Es ist, als ob dein Name drauf geschrieben stände, Deine Mutter hat eine Leine eigens für mich gespannt? Für meine Unterverstehst du? Die Unterwäsche meiner Mutter hingegen ist ganz gewäsche? wöhnliche hiesige Unterwäsche, deshalb sieht ihr niemand an, dass sie Emil nickte. meiner Mutter gehört. Sie sieht genau gleich aus wie die Unterwäsche Was hat sie gegen meine Unterwäsche? meiner Schwester. Oder die der Nachbarin. Nichts, versteh das bitte nicht falsch. Das stimmt allerdings, sagte Laura. Oder wie die deines Vaters. Nein? Meine Mutter findet deine Unterwäsche übrigens sehr hübsch. Aber die Es ist nur so, dass die Leute deine Wäsche sehen können, wenn sie vorn Leute können nun mal sehen, dass sie dir gehört. im Vorgarten hängt. Es tut mir leid, dass meine Unterwäsche dir peinlich ist. Ich trage ganz normale Unterwäsche. Die ist nicht im Geringsten … Du musst das verstehen, wir sind hier nicht in Marseille. Die Leute Das ist es nicht, sagte Emil. schauen sich unsere Wäscheleine an und merken sich genau, was da für Was ist es dann? Unterwäsche hängt. Und dann verdrehen sie sich sonntags in der Kirche Die Leute können deine Wäsche sehen, das ist alles. Gib mir bitte den die Hälse und grinsen, weil sie wissen, was du unter dem Rock anhast. Korb, ich trage ihn für dich. Ist das so? Laura lachte und wandte sich ab, damit er ihr den Korb nicht wegnehEs tut mir leid. men konnte. Emil und Laura schauten einander an. Der Wäschekorb hing zwiUnd die Unterwäsche deiner Mutter? Ist die etwa unsichtbar? schen ihnen. Weitere Worte waren nicht nötig, beide hatten alles gesagt Das nicht. Aber man sieht ihr nicht von Weitem an, wem sie gehört. und alles verstanden. Emil breitete die Arme aus und hielt die HandfläUnd meiner Unterwäsche sieht man das an? chen nach oben wie einer, der für eine offensichtliche Tatsache um VerSie leuchtet weithin in die Gegend hinaus, sagte Emil. ständnis wirbt. Laura nickte bedächtig. Das ist lächerlich, sagte Laura. Meine Unterwäsche ist fast so brav wie Dann gehe ich jetzt mal hinters Haus. die deiner Mutter, ich nehme weiss Gott Rücksicht. Am Nachmittag nahm sie ihre trockene Unterwäsche von der Leine, Darum geht’s nicht. Bitte gib mir jetzt diesen Korb. trug sie aufs Zimmer und packte sie in ihren alten, edlen Handkoffer zu Worum geht’s dann? ihren Röcken, den Toilettensachen und ihrem Reisepass. Dann trug sie den Koffer leise aus dem Haus und versteckte ihn hinter einem Stapel Brennholz. Nach dem Abendessen brachte sie die Kinder zu Bett, versorgte den Ofen mit Kohle für die Nacht und ging nochmal aus dem Haus, um wie gewohnt im Apfelhain ein paar Schritte zu gehen und die letzte Zigarette des Tages zu rauchen. Und als sie am Brennholzstapel vorbeikam, packte sie in einer einzigen fliessenden Bewegung ihren Koffer und ging ohne Hast ans Ende des Apfelhains, kletterte über den Zaun und lief am Stichbach entlang bis zur Mühle und dann hügelan. Oben bei der Ruine Liebburg angekommen, setzte sie sich auf ihre Bank, schaute zum Abschied hinunter aufs nächtlich dunkle Bottighofen und weinte um ihre zwei Töchter und um Emil Fraunholz. Dann nahm sie ein Taschentuch und trocknete ihre Tränen, stand auf und ging entschlossen weiter südwärts, dem nächsten Bahnhof entgegen. ■

Auszug aus dem neuen Roman von Alex Capus «Der Fälscher, die Spionin und der

Alex Capus wurde 1961 als Sohn eines Franzosen und einer Schweizerin in der Normandie geboren. 1966 zog er mit seiner Mutter in die Schweiz, wo er in Olten die Schule besuchte. Er studierte Geschichte, Philosophie und Ethnologie in Basel, arbeitete während des Studiums bei diversen Tageszeitungen als Journalist und war danach vier Jahre lang Inlandredaktor bei der Schweizerischen Depeschenagentur in Bern. 1994 veröffentlichte Alex Capus seinen ersten Erzählband («Diese verfluchte Schwerkraft»), dem weitere Bücher mit Kurzgeschichten, Romanen und historischen Reportagen folgten. Zuletzt erschien im Februar 2011 sein Roman «Léon und Louise» (Hanser Verlag). Alex Capus lebt mit seiner Familie in Olten.

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BILD: ANDRÉ ALBRECHT

Bombenbauer». Erscheint im September 2013 im Hanser Verlag, München.


Die Dichter und die Buchhändlerin VON CHRISTOPH SIMON

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Als der Dichter die Buchhandlung erreichte, wollte man ihm den Eintritt verwehren, denn es waren schon zu viele gekommen, die keine Rose gebracht hatten. Der Duft aber, den die Rose verbreitete, bewog die Türsteher, ihn einzulassen. Der Dichter enthüllte vor der Buchhändlerin eine der schönsten Rosen, die sie je gesehen hatte. Sie dekorierte das Schaufenster, aber ihr Versprechen wollte sie nicht halten. Gereizt reagierte sie auf den Jüngling, denn er grinste und kicherte und benahm sich geziert, sobald nur ihr Rock in Sicht war. Sie sagte: «Sobald du ein Mann bist, will ich deine Frau werden.» «Wie werde ich ein Mann?», fragte der Dichter. «Wenn du den Weinkeller, der sich unter der Buchhandlung befindet, in zwei Nächten austrinkst.» Frohen Mutes ging der junge Dichter in den Weinkeller und hub an zu trinken, doch bald sah er betrübt ein, dass sein Bemühen fruchtlos bleiben würde. Schon war die zweite Nacht beinahe um, als plötzlich Leser und Leserin vor ihm erschienen. Sie gaben ihm ein Pfeifchen mit der Bemerkung, er möge aus Leibeskräften pfeifen, dann verschwanden sie wieder. Der Dichter pfiff, und der gesamte Literaturbetrieb strömte in den Weinkeller: Veranstalter, Verleger und Söhne, Lektorinnen, Ghostwriter, Übersetzerinnen, Verlagsvertreter, Rezensentinnen, Kinderbuchillustratoren, Literaturhausteilzeitangestellte, Drehbuchautorinnen, Naturlyriker, Literaturhistoriker, Kryptoprosaisten, Zeitschriftenherausgeber, Essayisten, Bleisatzfetischisten … Und sie tranken, bis der Keller leer war. Am Morgen wurden die leeren Flaschen der Buchhändlerin vorgeführt. Sie war verblü fft und konnte nun nicht mehr umhin, ihn mit Hand und Herz zu beglücken. Die Dichterkollegen trachteten ihm aus Neid nach dem Leben. Doch sie starben bald, und der junge Dichter lebte mit der Buchhändlerin recht lange recht glücklich. ■

Christoph Simon wurde 1972 in Langnau im Emmental geboren. Er besuchte die JazzSchule in Bern und bereiste anschliessend Israel und Jordanien, Ägypten, Polen, Südamerika und London. Er studierte vier Semester Psychologie, Humangeografie und Wirtschaft in Basel. 1997 brach er das Studium ab – nach Krise und Erleuchtung in New York – und begann zu schreiben. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Bern. Zuletzt erschienen von ihm: «Spaziergänger Zbinden» (Roman, 2010) und «Viel Gutes zum kleinen Preis» (Sammelsurium, 2011).

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BILD: ZVG

Da wünschte sich eine Buchhändlerin für eine Schaufensterdekoration eine Rose. Nirgends war eine aufzutreiben. Deshalb sicherte sie jedem, der ihr eine brächte, Hand und Herz zu. Dies kam drei Dichtern zu Ohren. Der älteste Dichter hatte im Wintergarten drei Rosen. Er nahm die schönste und machte sich auf den Weg. Um zur Buchhandlung zu gelangen, musste er durch einen Wald. Bei einer Lichtung angelangt, legte er sich unter einen Baum und verzehrte sein Brot. Plötzlich aber standen ein Leser und eine Leserin vor ihm und fragten ihn, wohin er gehe. «Was geht euch das an», sagte der Dichter und würgte sein Brot hinunter. Nun baten sie um ein Stück Brot, was er ihnen barsch verweigerte. Darauf fragten sie, was er denn so gut verwahrt bei sich trage. Der Dichter antwortete: «Nichts!» «Wirst auch nichts hinbringen», versetzte die Leserschar und verschwand. Bald darauf erreichte der Dichter die Buchhandlung, wo er alsgleich der Buchhändlerin vorgestellt wurde. Eiligst öffnete er die Hülle, in der die Rose verwahrt war, aber zu seinem grossen Erstaunen war sie leer. Er wurde aus der Buchhandlung gejagt. Erbost ging er nach Hause und erzählte seinen Dichterkollegen, was geschehen war. Der mittlere Dichter wollte auch sein Glück versuchen und bat um eine von den zwei Rosen, die noch übrig waren. Im Wald angelangt, setzte er sich nieder und liess sich sein Brot schmecken. Wieder kamen Leser und Leserin und baten um ein wenig Brot. Umsonst. Sie fragten, was er denn so wohlverwahrt mit sich trage. «Einen Schmarren», war die Antwort. «Wirst auch einen Schmarren hinbringen», sprach die Leserschar und verschwand. Und als der Dichter der Buchhändlerin die Rose überreichen wollte, fiel ein Schmarren zu ihren Füssen. Mit Schimpf und Schande musste er die Buchhandlung verlassen, und fluchend kehrte er heim. Nun bat der jüngste Dichter um die letzte Rose, denn auch er wollte um die Buchhändlerin freien. Die anderen beiden lachten und sagten: «Der ist zu dumm, um die Rose in die Buchhandlung zu bringen.» Der junge Dichter liess sich’s nicht verdriessen und eilte beschwingt von dannen. Im Wald hielt er Rast. Da erschienen Leser und Leserin und fragten ihn, wohin er wolle. Der junge Dichter gestand. Nun baten sie um ein Stücklein Brot. Mit Freuden teilte er das Brot. Auf die Frage der beiden, was er denn so gut verpackt bei sich habe, antwortete er: «Eine Rose.» «Wirst wohl die Rose hinbringen», versetzte die Leserschar und verschwand.


Sturzeneggers grosse Liebe VON CHARLES LEWINSKY

Er war – anders macht man im harten Politgeschäft keine Karriere – Sturzenegger war verliebt. So was von verliebt, dass ihm eigentlich immer stolz gewesen auf seine Selbstbeherrschung und sein Pokerface. den ganzen Tag lang Engelchen mit goldenen Flügeln hätten vorausflatAber wenn er dann im Badezimmer vor dem Spiegel stand, um sich zu tern müssen, um Rosenblüten auf seinen nationalrätlichen Weg zu rasieren, wenn er sich zweimal vergewissert hatte, dass die Türe abgestreuen. So verliebt, dass er den ganzen Tag hätte singen müssen, wenn schlossen war und ihn niemand überraschen konnte, dann gab es kein das nicht so unpassend gewesen wäre. Ein aufstrebender Politiker und Halten mehr. Dann gab es nichts mehr für ihn als dieses wunderbare Parlamentarier, von dem man munkelt, dass er das Zeug habe, eines TaGesicht. (Ach was, «Gesicht». «Antlitz» war hier das einzig richtige ges sogar in den Bundesrat aufzusteigen, singt nicht vor sich hin. Er Wort.) summt nicht einmal. Ausser vielleicht die Nationalhymne. Und wenn er dann mit dem Tram ins Büro fuhr oder ins Bundeshaus Ja, unendlich verliebt war Sturzenegger, aber er konnte es nieman– er fuhr immer mit dem Tram, das machte sich gut in den Reportagen – dem sagen. Er musste das Geheimnis für sich behalten, auch wenn es und die vielen fremden Gesichter sah, dann stellte er jeden Tag aufs ihm fast die Brust zersprengte. Konnte niemandem erzählen, welch einNeue fest, dass keines so unwiderstehlich, so ganz und gar besonders, zigartigem, unwiderstehlichem Menschen seine Zuneigung galt. Musste so einmalig war wie das, in das er sich verliebt hatte. so tun, als ob nichts wäre. Und hätte doch am liebsten von nichts anAuch bei der Arbeit, mitten am Tag, liess er keine Gelegenheit aus, derem gesprochen. das engelsgleiche Antlitz zu erspähen. Er hatte sich jede Menge Tricks Dieser Zustand fing immer schon am frühen Morgen an, denn in der dafür ausgedacht, denn wenn er nur einen kurzen Blick auf dieses unletzten Zeit träumte er jede Nacht von seiner grossen Liebe. War ihr vergleichliche griechische Profil erhaschen konnte – kein Museum diedann, vor allem in den letzten Minuten vor dem Aufwachen, ganz nahe, ja, im Traum waren sie beide allein auf der Welt, er und dieses wunderbare Wesen. Und Er war – anders macht man im harten Politgeschäft keine wenn dann der Wecker klingelte und ihn in die Karriere – immer stolz gewesen auf seine SelbstbeherrWirklichkeit zurückholte, dann hatte er immer schung und sein Pokerface. noch dieses verklärte Glücksgrinsen um den Mund und musste daran denken, es wegzuwiser Welt hatte ein perfekteres zu bieten! –, wenn er nur eine Sekunde schen, bevor seine Frau etwas bemerkte. Einmal hatte Frau Sturzeneglang in die Augen blicken durfte, die so schalkhaft blitzen und gleichger es doch gesehen und ihn gefragt, an was er denn gerade denke. Er zeitig so tiefsinnig strahlen konnten, wenn er nur einen Augenblick lang hatte sich damals herausgeredet, natürlich, er war Politiker und wusste die Nase sah – oh, diese Nase! –, dann war Sturzenegger glücklich. immer eine Ausrede, hatte etwas von der perfekten Formulierung für eiManche Leute, die ihn dann vor sich hin lächeln sahen, konnten es gar ne Rede gefaselt, die ihm gerade eingefallen sei. Alles muss man seiner nicht glauben, denn man war sich kein Lächeln von ihm gewohnt, Frau ja auch nicht verraten. Schon gar nicht, wenn es um die Liebe geht. schon gar nicht während einer Kommissionssitzung, wo es um so wichSeither gab er sich noch mehr Mühe, sich ja nicht zu verraten.

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SURPRISE 304/13

Ja, Sturzenegger war so verliebt, wie noch keiner auf dieser Welt vor ihm jemals verliebt gewesen war. Als die Schweizer Illustrierte in einer Klatschkolumne sein Bild abdruckte – es ging nur um eine Liste der Leute, die an irgendeiner Premiere gewesen waren, aber die ganz grossen Geschichten und die Titelblätter würden schon noch kommen –, da liess er die aufgeschlagene Zeitung wie zufällig auf seinem Schreibtisch liegen und schaute immer wieder drauf. Nicht aus Eitelkeit, denn Sturzenegger war, wie er in Interviews immer wieder betonte, ein äusserst bescheidener Mensch, sondern aus Liebe. Der Fotograf hatte ihn zwar nicht wirklich gut getroffen, dachte er, aber er sah doch unendlich besser aus als all die uninteressanten Fuzzis, die auch noch auf der Seite abgebildet waren. So gut, dass man sich einfach in ihn verlieben musste. Ja, Nationalrat Sturzenegger war verliebt. In sich selber. Das ist die einzige Liebe, dachte er, von der man sicher sein kann, dass sie auch erwidert wird. ■

BILD: CLAUDIA GERRITS

tige Dinge ging, wie die Erhöhung der staatlichen Zuschüsse für die Halter von Simmentaler Fleckvieh. Aber er war eben verliebt. Sein i-Phone hatte er vor sich auf den Sitzungstisch gelegt und schaute immer wieder drauf, denn dort war das Gesicht zu sehen, dieses wunderbare Gesicht. So sehr versunken war er in den Anblick, dass er es zweimal überhörte, als ihn der Vorsitzende etwas fragte, und als ihn die zum dritten Mal gestellte Frage aus seinen rosaroten Träumen riss, da errötete er ein bisschen (aber wirklich nur ein bisschen) und stammelte das Erstbeste, das ihm einfiel, der Bundespräsident habe ihm ein dringendes SMS geschickt, es sei kaum zu glauben, dass sie im Westflügel die einfachsten Dinge nicht ohne ihn entscheiden könnten. Aber es war natürlich das Bild auf dem Display gewesen, das ihn so fasziniert hatte. Einmal, in der Kantine – er ass regelmässig in der Kantine, weil einen das volkstümlich macht –, starrte er so lang in seine Tasse schwarzen Kaffee, das sich seine Kollegen schon Sorgen um ihn machten. In der Spiegelung der dunkeln Flüssigkeit hatte er das Gesicht gesehen, und wenn er das Gesicht sah, vergass er alles andere um ihn herum. Als dann so ein gefühlloser Rohling gegen den Tisch stiess und das Bild in den kleinen Wellen unsichtbar wurde, hätte er den Schuldigen am liebsten erwürgt. Aber er durfte sich ja nichts anmerken lassen. Auf der Strasse kaufte er einem Verkäufer sogar ein Surprise ab und gab ihm einen ganzen Franken Trinkgeld, was sonst wirklich nicht seine Art war. «Die Leute sollen gefälligst etwas Anständiges arbeiten und nicht die Passanten belästigen», pflegte er am Stammtisch zu sagen. Aber die Liebe hatte ihn ganz weich gemacht, und er hatte das Gefühl gehabt, etwas Grosses und Unerhörtes dafür tun zu müssen. Früher hatten die Ritter aus dem gleichen Grund Drachen erlegt, und er kaufte eben ein Surprise. (Lesen tat er es nicht, sondern entsorgte es im nächsten Abfalleimer. Alles hat seine Grenzen.)

Charles Lewinsky geboren 1946 in Zürich, schreibt als freier Autor in den verschiedensten Sparten. Wichtigste Werke: «Johannistag» (2000; Preis der schweizerischen Schillerstiftung); «Melnitz» (2006; Prix du meilleur livre étranger, Prix Lipp; Übersetzungen in zehn Sprachen), «Gerron» (2011). Sein letztes Buch «Schweizen – 24 Zukünfte» ist in diesem Frühjahr erschienen. Dazu kommen zahlreiche Fernsehfilme, Hörspiele und Bühnenstücke.

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Erzähl mir von dir … VON MILENA MOSER

samkeit und Selbstaufgabe? Erst die Fernsehserien stellten ihren GlauNiemand muss allein sein. Wo hatte sie das gelesen? Wer allein ist, ben an das Leben wieder her. Ihre Zuversicht, dass alles noch möglich will allein sein. Der Satz ärgerte sie. Er blieb in ihrem Kopf hängen und war. Könnte ein Mann aus Fleisch und Blut dasselbe für sie tun? liess sich nicht mehr löschen. Wollte sie wirklich allein sein? An ihre Wer allein ist, will allein sein. Der Satz ging ihr nicht mehr aus dem letzte Beziehung konnte sie sich kaum erinnern. Sie lag mehrere Jahre Kopf. Er ärgerte sie so sehr, dass sie beschloss, ihn zu widerlegen. Sie zurück. Wie viele, drei? Fünf? Sieben? Jahre, in denen sie nicht jünger meldete sich bei einer Partnerschaftsvermittlungsseite auf dem Internet geworden war. Und schöner auch nicht. Die Abende vor dem Fernseher rächten sich. Fernsehserien und Weisswein. Fernsehserien, Pizza und Weisswein. Sie weinIsabelle kämpfte gegen die Verachtung, die beim Zuhören te, sie lachte, sie verliebte sich. Sie erschreckte in ihr aufstieg. Wie konnte man so dumm sein? sich zu Tode, sie grämte sich. Das alles vor ihrem Fernseher. Sie durchlebte das ganze Spekan. Sie fotografierte sich im schmeichelhaften Licht ihres Wohnzimtrum der Emotionen, ohne sich auch nur einmal von ihrem Sofa zu ermers, sie beschrieb sich in klaren Worten. Sie wartete. heben. Wollte sie wirklich einen Mann kennenlernen, der kein SerienHallo Süsse! held war? Oder wollte sie allein sein? Hey, Kleines. Hätte man ihr vor zwanzig Jahren gesagt oder auch vor zehn, dass Baby. sie im Alter von neununddreissig allein leben würde, ohne Mann und Wildfremde Männer blinkten plötzlich überall auf. Auf ihrem Handy, ohne Kinder, sie hätte gelacht. Es war doch immer einer da, der mehr auf ihrem Computer. Meinten sie wirklich sie? Wie sollte sie auf so etvon ihr wollte. Sie musste nur den Richtigen finden. Sich richtig entwas reagieren? scheiden. So lange sie das Gefühl hatte, es könnte noch einer kommen, Hallo, schrieb sie zurück. Hey. der besser zu ihr passte, der ihr mehr versprach, so lange konnte sie sich Und dabei blieb es dann meistens. nicht festlegen. Doch irgendwann war einfach keiner mehr da gewesen. Erzähl mir von dir … War es das, was dieser Satz meinte? War sie selber schuld? Die Versuchung war gross, sich neu zu erfinden. Aber sie tat es nicht. «Selber schuld ist man immer selber», seufzte Isabelle. Auch das hatSie hatte auch ihren Stolz. Doch Verschweigen war nicht dasselbe wie te sie irgendwo gelesen. lügen. Sie erwähnte weder ihre Arbeit noch ihren Kinderwunsch und Jeden Morgen stand sie auf und zog sich an. Zog sich sorgfältig an, wurde mit zahlreichen Handynummern belohnt. Bald schickten ihr schminkte sich, glättete ihr Haar mit einem speziellen Gerät. Mit glänmehrere Männer mehrmals täglich knappe Nachrichten. zendem Haar und roten Lippen stieg sie in den Zug und fuhr zur Arbeit. Beim Aufwachen an dich gedacht … Vor dem Mittagessen zog sie sich die Lippen noch einmal nach und Ich wünsch dir einen wundervollen Tag! ebenso, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Es gab hundert MögIch denk an dich! lichkeiten, sie anzusprechen. Jeden Tag. Doch keiner tat es. Manchmal Solche Nachrichten konnte man an hundert Nummern gleichzeitig dachte Isabelle, sie sei unsichtbar geworden. Ausser dem Kellner in dem schicken. Café, in dem sie fast jeden Tag zu Mittag ass, beachtete sie niemand. Lieb von dir! Kein Mann. Der Kellner zählte nicht. Obwohl er schöne Augen hatte. Ja, du, dir auch! Bei ihrer Arbeit in einer Beratungsstelle für Wiedereinsteigerinnen Ich auch … hatte Isabelle mit Frauen zu tun, die all das hatten, was sie sich wünschMit manchen verabredete sie sich zum Telefonieren, und wenn sie ihte: einen Mann, eine Familie. Doch das reichte ihnen nicht. Sie wollten re Stimme mochte, zum Kaffee. wieder arbeiten, die meisten von ihnen mussten. Sie waren in ihrem AlErzähl mir von dir! ter, manche etwas älter. Sie hatten all das, was Isabelle nie gehabt hatWas willst du wissen? te, schon wieder verloren. Sie hatten ganz auf die Liebe gesetzt, auf die Manche Männer verschwanden so plötzlich, wie sie gekommen waFamilie. Irgendwann rächte sich das. Das Leben bestrafte sie. Und dann ren. Aber es wuchsen immer neue nach. So einfach war das? Es war tatsassen sie in Isabelles Büro und füllten multiple-choice-Fragebögen aus, sächlich genau so wie früher, dachte Isabelle. Als da immer irgendwelSeite um Seite. Was hatten sie noch zu bieten – ausser ihrer Hingabe? che Männer waren. Die mehr von ihr wollten als sie. Sie versteckten sich Isabelle kämpfte gegen die Verachtung, die beim Zuhören in ihr aufnur besser. Leider war es auch so wie früher, dass sie immer dachte, da stieg. Wie konnte man so dumm sein? Wie konnte man sich so abhänkomme noch ein anderer, ein besserer. Und die Männer schienen das gig machen? Die einzelnen Fäden dieser immer wieder anderen Geauch zu denken. schichten mit dem immer gleichen Ausgang verwoben sich zu einem Doch dann war da Serge. Auf seinem Profilbild sah er etwas müde festen Gespinst, das sich immer enger um Isabelles Herz wickelte. Sie aus, unverstellt. Wie ein echter Mensch. Verwitwet, Vater von Zwillingen, bekam keine Luft mehr. Gab es wirklich keine Alternative zwischen EinSURPRISE 304/13

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BILD: KATHARINA LU ̈ TSCHER

Entwicklungshelfer, viel unterwegs. Manchmal Sie hatte niemandem etwas erzählt, weder von ihrer Anmelverschwand er für ein paar Tage, dann schrieb dung auf den Partnerschaftsseiten noch von ihren Dates und er wieder stündlich. Er schickte ihr Fotos von Flirts, geschweige denn von Serge. sich mit den beiden Mädchen, die sich ein Eis teilten. Isabelle vergrösserte das Foto auf ihrem Handy und stellte sich innerlich zu den dreien. Sie fand, sie passe gut zu ihnen. Als sie zum ersten Mal telefonierten, hörte der Frauen. «Das Vertrauen in einen neuen Partner, die Erwartung eite sie im Hintergrund gedämpfte Stimmen aus dem Fernseher. «Das dopner glücklichen gemeinsamen Zukunft wie auch eine gewisse Blindheit pelte Lottchen», sagten sie beide gleichzeitig. gegenüber Fehlern und Schwächen der neuen Liebe» seien unverzichtbaAls die Kinder im Bett waren, rief er sie zurück. Erzähl mir von re Bestandteile jeder Beziehung. dir … Sie redeten bis morgens um vier. Der Fernseher blieb kalt. Isabelle dachte an ihre Klientinnen, die sie heimlich verachtete. Doch Am nächsten Morgen hatte Isabelle keine Zeit, um sich vor der Arnach Urteil des Gerichts waren sie normal, und Isabelle nicht. Sie warf beit zu schminken. Trotzdem wurde sie morgens in der S-Bahn schon die Zeitung in den Papierkorb und nahm sich vor, in Zukunft alles zu von einem Mann angesprochen, und als sie mittags im Café sass, hatte glauben. Zu vertrauen. Im selben Moment piepste ihr Telefon. der Kellner einen Kranz aus Gänseblümchen um ihr Sandwich gelegt. Nachhause kommen heisst zu dir zu kommen … Gegen ihren Willen musste sie lachen. Doch als er hoffnungsvoll ihren Isabelle starrte die Nachricht lange an. Sie schaute auf die Uhr. Sie Blick suchte, wich sie ihm kopfschüttelnd aus. hatte noch einen Termin, eine neue Klientin. Sie ging zu ihrer Kollegin So einfach war das? ins Büro. Im Laufe des Tages schrieb Serge ihr zwanzig SMS. Während Bera«Du, tut mir leid wegen vorhin. Ich hab eine Monster-Migräne. tungen und Sitzungen schaute Isabelle immer wieder verstohlen auf ihr Kannst du meine letzte Klientin übernehmen?» Handy. Danach erinnerte sie sich an keines der Gespräche. Kaum war «Aber natürlich.» Die Kollegin war schnell versöhnt. Isabelle ging ins sie zuhause, rief er sie an. Wieder redeten sie die halbe Nacht. Er erCafé nebenan und bestellte sich ein Stück Kuchen. Während sie wartezählte von seiner Frau, die vor drei Jahren von einem Betrunkenen überte, zog sie ihr Handy hervor. Eine nach der anderen las sie die Nachfahren worden war, auf dem Fussgängerstreifen. Sie schwiegen zusamrichten von Serge. Und da stand es: … meine Frau Vanessa … Krebs … men. Sie meinte, ihn weinen zu hören. Sie hatte das Gefühl, ihn schon bis zu ihrem Tod gepflegt … lange zu kennen. Also doch. Eine nach der anderen löschte sie die Nachrichten. Sie «Da bist du ja endlich», sagte sie zu ihm. hatte es wirklich versucht. Aber sie konnte es nicht. Eine gewisse Blind«Wo warst du so lange», sagte er. heit … es ging einfach nicht. Sie konnte es nicht. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Isabelle meldete sich Wer allein ist, will allein sein. Endlich hatte sie es verstanden. krank und verbrachte den ganzen Tag mit den Vorbereitungen für das «Guten Appetit.» Neben ihrem Kuchenstück lag eine Rosenknospe. Treffen. Sie räumte ihre Wohnung auf, sie räumte sich auf. Sie kaufte Isabelle schaute auf und in seine Augen. sich ein Kleid, liess sich die Fussnägel lackieren. Stellte Champagner «Wie heisst du eigentlich?» ■ kühl und Kerzen neben das Bett. Man wusste nie. Sie war schon im Treppenhaus, als ihr Telefon piepste: Du weisst, dass mich nur ein Krieg oder eine Hungersnot von dir fernhalten könnten. Leider ist das in meinem Beruf gar nicht so selten. Tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe, musste mich um meine Mädchen kümmern. Der Gedanke an dich wird mich am Leben erhalten. Warte auf mich. Eine ganze Woche lang hörte sie nichts. Sie las alle seine Nachrichten, die sie längst auswendig kannte, wieder und wieder. Sie schaute sich die Bilder an, in die sie so gut hineinpassen würde. Am fünften Abend schaltete sie den Fernseher an. Nichts passierte. Die edlen Bildschirmhelden hatten keine Wirkung mehr auf sie. «Manche Frauen sind wirklich blöd», sagte ihre Kollegin in der Kaffeepause. Eine ihrer Klientinnen war auf einen Heiratsschwindler hereingefallen. Er hatte sie um ihr ganzes Vermögen gebracht. Jetzt musste Milena Moser hat diese Geschichte für Surprise gleich zweimal geschrieben. Denn sie zum ersten Mal in ihrem Leben Arbeit suchen. «Das Schlimmste ist, sie findet, Liebe und Verbrechen, das gehört doch zusammen. Lesen Sie in der nächdass sie ihm noch nachtrauert!» sten Surprise-Ausgabe, wie sich «Erzähl mir von dir …» in einen Krimi verwandelt. «Habt ihr das gelesen?» Eine andere Kollegin las aus der Zeitung vor: «Mit gespielter Liebe 372 000 Franken ergaunert: 57-jähriger hatte Beziehungen mit sechs Frauen und nahm sie dabei aus wie WeihnachtsMilena Moser 1963 in Zürich geboren, veröfgänse …» fentlichte 1990 ihre erste Kurzgeschichten«Was hat das denn mit irgendwas zu tun?», fragte Isabelle. Ihre Stimsammlung «Gebrochene Herzen oder Mein erme klang schärfer als beabsichtigt. Sie fühlte sich persönlich angesproster bis elfter Mord». Mit «Die Putzfraueninsel» chen. Dabei hatte sie niemandem etwas erzählt, weder von ihrer Anlandete sie 1991 ihren ersten Bestseller. Es folgmeldung auf den Partnerschaftsseiten noch von ihren Dates und Flirts, ten weitere Romane, Erzählungen und Sachgeschweige denn von Serge. bücher. Moser lebt mit ihrer Familie, nachdem «Was hast du denn?» sie acht Jahre in San Francisco gewohnt hat, «Du bist aber empfindlich!» Als ihre Kolleginnen gegangen waren, wieder in der Schweiz. Ihr neuer Roman «Das nahm Isabelle die Zeitung in die Hand und las weiter. Der Verteidiger wahre Leben» erscheint am 4. September beim Nagel & Kimche Verlag. des Liebesschwindlers hatte argumentiert, diese Frauen seien doch Neben ihrer Tätigkeit als Autorin hat Milena Moser zusammen mit der recht naiv gewesen. Alles so zu glauben. Damit hätten sie den Betrug Autorin Sibylle Berg und der Agentin Anne Wieser eine Schreibschule doch geradezu herausgefordert. Das Gericht aber schlug sich auf die Seigegründet: www.die-schreibschule.com


Die Liebe im Einzelnen VON JONAS LÜSCHER

Und diese Tiermasken, die wir uns übers Gesicht gestreift haben, sind keine Spielzeuge, wir tragen sie nicht für eine Rolle. Sie sind unsere Gesichter, und solange sie da sind, bleibt die Liebe nur eine Möglichkeit, eine Hoffnung, bestenfalls eine Einsicht. Lars Gustafsson

Diese stummen und manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der Liebe entgegen, dass mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag. Hugo von Hofmannsthal

«Komm», sagte er, lockend und werbend, «komm, komm.» «Na, senkten Lidern stehen; die gallertigen Finger der Anemonen ein schwekomm schon, komm», bald fordernd und drängend. bendes Nachleuchten, bald überlagert von seiner Erinnerung, in der er Er war kein geduldiger Liebender, dafür war sein Verlangen zu mächjedes Detail gespeichert hatte: die zackigen Ränder der künstlichen Feltig. Mit einem Flattern seiner mageren Hand scheuchte er unwirsch eisen, der bärtige Bewuchs, die flechtenartigen Algen, der dunkle Spalt, ne Schule zitronengelber Fische, deren einfältige Gesichter mit einem in dem er sich sehnsuchtsvoll verlor. Und dann waren sie plötzlich da, königsblauen Rand zart gefasst waren und die in seinem Sichtfeld zum starrten ihn an; zwei kleine Äuglein, rot und listig. Stehen gekommen waren davon, doch die Tiere liessen sich von dem Seit Isabell tot und er alleine war, kam er täglich, oft zweimal; Wesen jenseits der dicken Scheibe nicht stören, denn es gehörte zu eimanchmal erliessen sie ihm den Eintritt. ner anderen Welt, aus der nur Schemenhaftes, das kein Wirken zu entEr hatte beschlossen zu lieben. Die Liebe als Korrektiv, als etwas, das falten vermochte, zu ihnen drang. Stattdessen drehten sie sich, als seien stets nur eine Möglichkeit geblieben war. Und seine Liebe sollte nichts sie eins, in träger Eleganz auf einer Achse, die durch ihre linsenförmiGrossem gelten, nichts Erhabenem; dem Geringsten wollte er sie widgen Leiber zu führen schien, standen für einen Moment zu blauen Strimen, etwas Zufälligem, hatte er doch die Chance vertan, etwas Schönes chen erstarrt und liessen ihn einen Blick auf jene dunkle bärtige Spalte zu lieben, etwas, wofür er sich entschieden und woran er festgehalten werfen, der sein Schauen galt. Dann, mit einem kaum merklichen Zuhatte, bis es ihm entschwand. Und vor allem wollte er lieben, ohne zu cken ihrer schleierhaften Flossen, kippten sie synchron in die entgegengesetzte Richtung. Seine Liebe sollte nichts Grossem gelten, nichts Erhabenem; Vor seinen Augen schlossen sich die Lamellen dem Geringsten wollte er sie widmen. eines schuppigen Vorhanges. Ungeduldig tat er, den in ihrer Zierde so nutzlosen Tieren ausweichend, einen schnellen Schritt nach links. Der gelbe Vorhang pulurteilen, und das hiess, ohne seine Liebe in Worte zu fassen. Ein Leben sierte, und es war ihm für einen Augenblick, als quetsche man zweimal lang hatten sie geurteilt und bewertet, es zur Lebensform gemacht. Dem kurz und rhythmisch seinen Schädel. Seine Augäpfel schmerzten, und Urteilen, dem Abwägen hatten sie alles unterworfen, dem Suchen nach ein starker Schwindel ergriff ihn. Ein Schwindel, der ihn zwang, sich mit Worten, dem Ringen um den richtigen Ausdruck. beiden Handflächen an der Scheibe abzustützen, etwas, das er immer Isabell, wie sie vornübergebeugt an ihrem Schreibtisch sass, inmitten zu missbilligen bereit war, wenn er es bei Kindern sah. Die Knöpfe seivon Büchern und Manuskripten, kluge, grosse Augen hinter Brillenglänes Regenmantels klackerten am Glas. Er schloss die Augen, das Aquasern; Isabell, wie sie am Fenster stand, nackt und in einem dicken Wörmarin verschwand, mit ihm die gelben Fische, und wie ein Trugbild terbuch auf der Fensterbank blätterte, eine Zigarette zwischen den Finblieben, dunkel im Dunkeln, die Umrisse der Felsenspalte vor seinen gegern, die Schwere ihrer Brust nur im Anschnitt, ein Versprechen, die SURPRISE 304/13

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Augen starrte er auf seinen faltigen, rosa Hals und den weissen Flaum, knochigen Hüften eingeknickt, wie Schaufelblätter zeichnete sich die der ihm aus dem Kragen wuchs. Die Becken hinter seinem Spiegelbild Rundung ihres breiten Beckens gegen das Licht. Eine Zebukuh, gedulschienen aus leerem Blau. Aufgeschreckt verliess er das Aquarium, hadig einen scharfen Pflug durch die Seiten ziehend, brach sie die Krume stete durch den Regen und rettete sich in sein Wissen, von dem ihm der fremden Sprache auf und setzte, sorgfältig abgewogen, deutsche reichlich zur Verfügung stand: Die Daunen der Unterschwanzdecke im Worte. Stoisch graste sie das weite Feld der obskuren russischen LiteraBrutgefieder des Marabus, erinnerte er sich, einst gelesen zu haben, tur ab, alle mussten sie übersetzt werden, und als keiner mehr übrig war seien für die daktyloskopischen Identitätsnachweise unverzichtbar, liesund keiner nachkam, den sie für würdig hielt, verlegte sie sich auf die se sich doch einzig mit dieser weichsten aller Federn das Russpulver auf Ukrainer, bis er sie eines Morgen tot fand, einen stumpfen Bleistift in der die Fingerabdrücke auftragen, ohne die fragilen Spuren, die die PapilHand. larleisten hinterlassen hatten, zu zerstören. Sein erster Besuch im Aquarium war dem Zufall geschuldet, dem Aber zwei Tage später kam er wieder und auch an den darauf folWetter, und deswegen ein guter Anfang: Ein ungewöhnlich heftiger genden Tagen. Er nahm es an wie eine Prüfung, die ihm von Unbekannt Sommersturm, der dicke Äste von den Platanen brach – einen Moment erschien ihm das wie eine reizvolle Möglichkeit, sich in diese Gefahr zu begeben, und er Natürlich war er eifersüchtig auf den Taucher. Wie gerne hätte er dessen sah sich bereits mit flatternden MantelschösPlatz eingenommen. Aber ungleich eifersüchtiger war er auf den toten sen, erhobenen Hauptes unter der Allee sein Fisch. Er sehnte sich nach dem Verschlungenwerden. Schicksal erwarten, doch wer wusste schon, ob er mit Horvaths Glück rechnen durfte und auferlegt war. Tag für Tag ging er gemessenen Schrittes die Aquarien ab, nicht einfach nur mit zerschlagenem Kreuz im Rollstuhl landen würblieb vor jedem einzelnen verweilend stehen und suchte sich selbst zu de –; ein Sommersturm also trieb ihn in die halbdunklen Räume aus durchdringen, durch sein persistentes Spiegelbild hindurchzusehen und Sichtbeton und Panzerglas. im Blau der Becken das Leben zu erkennen. Es war eine Übung in GeZuallererst begegnete er nur sich selbst. So sehr er sich auch beduld, zumal ihn das Starren in die eigenen wässrigen Vogelaugen mit eimühte, die auf den Schautafeln angekündigten Meeresbewohner zu sener scharfen Abscheu erfüllte. Am zweiten Tag schaffte er zumindest hen, je angestrengter er in das blaue Wasser starrte, er sah immer nur kurze Momente der Überlagerung. Schemenhaft schwebten schlierig sich selbst, gespiegelt in den dicken Scheiben. schattenhafte Leiber hinter der transparent gewordenen Spiegelung seiEin Marabu, den er da erblickte, dieser erzhässliche, storchenbeinige nes Gesichts. Das Fokussieren aber misslang. Am dritten Tag dann, die Vogel. Der Schädel beinahe kahl, die übermässig hohe Stirn, schorfig ersten wirklichen Erfolge. Ganze Augenblicke, in denen er sein Gesicht und altersfleckig, ungesund gelblich seine lange Nase. Der Mantel hing in der Tiefe des Wassers verlor und freie Sicht erlangte, auf die vorbeiihm feucht und dunkel von den hochgezogenen Schultern. Aus kleinen

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BILD: ULRIKE ARNOLD

ziehenden Fische, auf die schnappenden Mäuler, die in Schulen glotzenden Augen, die hin und her wiegenden fleischigen Korallenarme, das tanzende Seegras und die transparenten Garnelen, mit ihren tastenden Antennen. Aber auch am vierten und fünften Tag entglitt ihm dieses ganze Getier in seinem Prunk und dieses ganze fleischige Gewese, von dem er kaum sagen konnte, ob es Tier oder Pflanze war, immer und immer wieder, und der Marabu drängte sich in den Vordergrund. Und wenn ihm das Durchschauen gelang, war er nicht in der Lage, mehr zu sehen als das Gesamtbild, auf dessen Komposition der Aquaristiker viel Mühe verwandt hatte. Eine untrennbare Einheit aus felsigem Hintergrund, Bewuchs und lebendigem Besatz. Am sechsten Tag aber, vor dem zylindrischen Becken in der Mitte des dämmrigen Raumes, geschah, worauf er gewartet hatte: Ein einzelner Körper löste sich heraus, schlangengleich, aber wenig elegant, sah man von dem feinen Saum ab, der sich den ganzen Rücken lang zog; der robuste, mehr als armdicke Leib von unbestimmter Farbe, zwischen Grau und Rostrot changierend, ein langer Kiefer, spitzzähnig bewehrt, dazu ein spöttisches Geschau, mit listigen roten Äuglein. Sie – so und nicht anders nannte er sie –, sie war es, ihr sollte seine Liebe gelten. Das war es, was er wollte, in ihr die Liebe, die Liebe im Einzelnen finden. Fortan trat er bei seinen Besuchen zielstrebig an das runde Glas und fixierte ungeduldig die dunkle Spalte, bis sie sich zeigte, neckisch den Kopf hervorstreckte, ihn sogleich wieder zurückzog, sich abermals kurz zeigte und dann länger, den Körper träge in der Strömung wiegend. In jenen Momenten schien ihm alles plötzlich wieder etwas zu sein, als gelänge es ihm, mit dem Herzen zu denken. Standen andere Menschen an der Scheibe, setzte er sich mit ungestilltem Verlangen auf eine der Bänke und wartete. Schulklassen ertrug

er kaum: ihre Grobheiten, wie sie mit den Fäusten an die Scheiben schlugen, ihr rohes Tun, ihr lautes Reden. Seit er liebte, fühlte er sich so verletzlich, es fehlte ihm an einem Rippenkäfig, an einem Brustkorb aus Knochen und Fleisch, aus Muskeln und Haut, es klopfte sein zu neuem Leben erwachtes Organ direkt unter seinem fadenscheinigen Strickpullover, geschützt nur durch einen feinen Flaum aus eben jenen feinsten Marabufedern. Gelegentlich wurde er Zeuge einer Fütterung. Ein Taucher, verbunden mit einer gelben Nabelschnur, die die silberne Oberfläche durchschnitt, schwebte im Becken, gläserne Perlen entströmten seiner Atemmaske. Aus einem Behälter, den er mit sich trug, schwenkte er mittels einer langen Zange glänzende Makrelen vor den Mäulern der Raubfische. Sie war eine gute Abnehmerin, schnellte aus ihrer Höhle, riss das Maul auf, hieb die spitzen Zähne in die Beute; wie ein Tier im Tier, eine gefrässige Matroschkapuppe, drängte der ebenfalls zahnbewehrte Schlundkiefer nach vorn, griff seinerseits nach dem Fang und riss ihn in die Tiefe ihres Leibes. Natürlich war er eifersüchtig auf den Taucher. Wie gerne hätte er dessen Platz eingenommen. Aber ungleich eifersüchtiger war er auf den toten Fisch. Er sehnte sich nach dem Verschlungenwerden. Dass sie alt war, wusste er, eine Greisin in Muränenjahren. Ein Angestellter des Aquariums hatte es ihm ungefragt mitgeteilt, ein geschwätziger Kerl, der mit Allgemeinbegriffen um sich warf, gänzlich unbekümmert, blind für ihre urteilende Kraft und, was noch viel schwerer wog, einer, der an Bezeichnungen glaubte, diese nutzlosen Etiketten, denen er an jenem tränenlosen Tag, an dem er Isabell zu Grabe trug, abgeschworen hatte. Als Mittelmeermuräne hatte er sie bezeichnet und mit gewichtiger Stimme Muraena helena nachgeschoben, ein seltenes Exemplar, rotäugig, ausgesprochen rar. Kurt, hatte er sie genannt, als Gipfel der Lächerlichkeit, Kurt der alte Bursche. Eigennamen, welch trügerische, wertlose Verbindung sie doch schufen zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten, hatte er voller Abscheu gedacht und mit zitternden Fingern sein Taschentuch aus dem Jackett gegraben, um sich geräuschvoll die Nase zu putzen. Aufs Unhöflichste hatte er geschnaubt und geprustet, nur eine Armlänge von dem unseligen Schwätzer entfernt, als sei er dadurch in der Lage, den höchst lächerlichen Namen durch seine grossen Nasenlöcher in die ohnehin schon muffige Luft des Aquariums zu entsorgen. Dann war sie also eine Greisin und hatte nicht mehr lange zu leben. Sei’s drum; wenn sie starb, das wusste er, gab es für seine Tränen kein Halten mehr. ■

Jonas Lüscher geboren 1976 in Bern, lebt in München. Nach einer Ausbildung zum Primarschullehrer in Bern und einigen Jahren in der deutschen Filmindustrie studierte er an der Hochschule für Philosophie in München. Derzeit arbeitet er als Doktorand am Lehrstuhl für Philosophie der ETH Zürich. Im Januar 2013 erschien sein literarisches Debüt, die Novelle «Frühling der Barbaren», bei C.H. Beck.

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Cat Blues VON GERLINDE MICHEL

Ich stehe hinter dem Tresen und poliere die Kaffeemaschine. Mit einem Lappen reibe ich den Chromstahl blank, bis sich mein Gesicht darin spiegelt. Über die aufgestapelten Mokkatassen hinweg kann ich dabei Marlene und den dunkelhaarigen Mann beobachten. Ich liebe solche schläfrigen Spätnachmittage in der Blauen Katze, wenn die Mütter samt Kindern und Einkaufstaschen gegangen sind und mit ihnen das Gelächter und die geflüsterten Neuigkeiten, wenn ich Krümel und Eisteepfützen von den Holztischen gewischt habe und es so still in der Gaststube ist, dass man hört, wie die Fliegen gegen die Fensterscheiben prallen. Ein paar Gäste lesen Zeitung oder starren in halb leere Biergläser. Der pensionierte Briefträger, der fast jeden Nachmittag hier sitzt, oder einer der Arbeiter aus der Schreinerei gehen manchmal mit quietschenden Sohlen zur Jukebox und holt mit einer Münze Musik in den Raum, einen Blues oder einen alten Schlager, und klopft mit Fingern oder einem Fuss den Takt. Marlene ist um halb fünf gekommen. Sie hat sich wie immer an den hintersten Fenstertisch gesetzt, einen Kaffee bestellt und ins Herbstgrau hinausgeschaut. Ich mag Marlene, auch wenn ich nur wenig von ihr weiss. Sie hat zwei Kinder und arbeitet drei Tage in der Woche bis nachmittags in der Spitalkantine. Oft kommt sie nach der Arbeit auf einen Kaffee oder ein Glas Wein vorbei. Wie die meisten Stammgäste wollte auch sie wissen, weshalb mein Lokal «Blaue Katze» heisst, ein ungewöhnlicher Name für ein Restaurant, finden alle. Deine Katze habe ich jedenfalls noch nie blau gesehen, sagte Marlene und schaute zu Max hinüber. Der Kater lag auf seinem Plätzchen auf dem Fensterbrett, gähnte und zwinkerte verschlafen mit den Augen. Er merkt es immer, wenn man von ihm spricht. Ich lachte und erzählte ihr die Geschichte von der Blue Cat Bar im Greenwich Village, wo ich mich vor Jahren in einen Jazztrompeter verliebt hatte. Damals lebte ich ein paar Monate in New York und verdiente mit Kneipenjobs nebenher ein paar Dollars. Aus der Liebe zum Trompeter ist nichts geworden. Aber als ich vor drei Jahren dieses Lokal übernommen habe, gab ich ihm den blauen Katzennamen. Zur Erinnerung. Damals war ich noch mit Andreas zusammen. Andreas ist Künstler und hat uns ein wunderschönes Wirtshausschild gemalt, eine zusammengerollte rauchblaue Katze, die das eine Auge zusammenkneift wie ein alter Philosoph und den geringelten Schwanz um ihren Bauch legt. Die Katze hängt über der Eingangstür und holt die Leute von der Strasse. Mein Lokal ist fast nie leer und oft zum Bersten voll, wohl nicht nur der Katze wegen, sondern auch, weil den Leuten Hervés Salate und Desserts und unser Rotwein aus der Provence schmecken und weil ihnen die bunten Sträusse in den Glasvasen und das Kerzenlicht am Abend gefallen.

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Als ich Marlene eine zweite Tasse Kaffee bringe, betritt der schwarzhaarige Mann das Lokal. Seit einigen Wochen taucht er manchmal auf und setzt sich zu Marlene an den Tisch, immer mit dem Rücken gegen die Gaststube. Er bestellt einen Zweier Merlot, und wieder kann ich die Farbe seiner tiefliegenden Augen nicht erkennen, als ich ihm den Wein serviere. Ich leere den Satzbehälter in den Komposteimer, fülle Kaffeebohnen in die Maschine und sehe Marlenes Hände auf der Tischplatte liegen. Die Haare sind ihr in die Stirn gefallen, sie schaut den Mann an, ohne viel zu sprechen. Meistens spricht er, und begleitet seine Worte mit ruhigen Gesten. Manchmal streicht er mit der Hand durch seine kurzgeschnittenen Haare oder dreht das Weinglas zwischen den Fingern. Der Mann gefällt mir. Er muss etwa vierzig Jahre alt sein, etwas jünger als Marlene und ich. Ich räume Biergläser und Espressotassen in die Geschirrspülmaschine, fülle frisches Wasser in Max’ Trinknapf, rücke die Barhocker vor dem Tresen zurecht. In der Küche singt Hervé und knallt die Kasserollen auf den Herd. Ich möchte wissen, ob Marlene und der Mann miteinander schlafen. Um halb sechs kommt Johanna, auf ihrem Haar und Gesicht liegt der Duft des herbstlichen Vorabends. Sie gibt mir einen Kuss, fragt, wie es heute gelaufen sei, und bindet sich die schwarze Servierschürze um. Gut, so wie immer, sage ich, und kannst du übernehmen, während ich bei Canetti den Fisch hole? Klar, sagt sie, geh nur, und wie ich mit der vollen Kühlbox zurückkomme, sind Marlene und der Mann gegangen. Für den Abend hat eine Gruppe mehrere Tische reserviert, schön gekleidete Frauen und Männer im Jackett füllen das Lokal. Hervé hat eines seiner provenzalischen Menüs komponiert, mit Knoblauch marinierten gedämpften Fisch zur Vorspeise, Daube de boeuf und Kartoffelgratin mit Rosmarin als Hauptgang. Johanna arbeitet hinter dem Tresen, ich serviere mit Yasmin, die uns aushilft, wenn wir viel zu tun haben. Gespräche und Gelächter beleben den Raum, die Gesichter schimmern im Kerzenlicht, und ich fühle mich gut. Vor einem Jahr, als Andreas plötzlich abtauchte und nicht mehr zurückkam, war ich nahe daran, die Blaue Katze aufzugeben, alles hinzuschmeissen. Hervé und Johanna beschworen mich, ich solle keine Dummheit machen und durchhalten, und ich arbeitete jeden Tag bis spät wie eine Verrückte, schluckte nach Mitternacht ein Schlafpulver, bis mir eines Tages auffiel, dass ich nicht mehr jede Sekunde an Andreas dachte. Noch am gleichen Abend packte ich seine Kleider und Bücher, die er in meiner Wohnung zurückgelassen hatte, in Müllsäcke und stellte diese auf die Strasse. Am nächsten Tag kam ich mit einem Arm voller Blumen vom Markt zurück. Als die letzten Gäste gegangen waren, holte Hervé einen Veuve Cliquot aus dem Keller und wir feierten, bis wir fast von den Stühlen fielen. SURPRISE 304/13


vorbei, stelle mich an die Theke und spreche mit den Besitzern über Johanna trägt einen Stapel leergegessener Dessertschalen in die Küschlechte Lieferanten und seltene Jahrgänge, während ich an einem che, ich giesse uns beiden ein Glas Rotwein ein. Yasmin serviert Kaffee Martini nippe. Dabei mustere ich die Gäste, die kommen und gehen. Nie und Gebäck, wir lehnen hinter dem Tresen. Den herb-süssen Geist Paul unter ihnen. Manchmal begleitet mich Hervé, wir schlendern schmack des Weins auf der Zunge, denke ich an den schwarzhaarigen durch verregnete Gassen, er erzählt mir komische Geschichten aus anMann. Johanna schaut mich von der Seite an und sagt, du siehst gut aus deren Küchen und lädt mich zu einem Pastis ein. heute Abend. Die Tage werden kälter und nebliger. In der Stadt laufe ich jetzt jedes Marlene und der Mann kommen noch zweimal in die Blaue Katze, Mal an Pauls Geschäft vorbei, spähe zuerst verstohlen und allmählich einmal auch abends. Johanna hat mir erzählt, dass er für eine Elektromutiger über Bildschirme und Computerzubehör hinweg nach hinten, nikfirma arbeitet und seine Frau Lehrerin ist. Ob sie Kinder haben, weiss und mein Herz stolpert, wenn ich meine, es sei Paul, der durch eine TüJohanna nicht, aber dass er Paul heisst und sie Lisa. Ich schaue zu Paul und Marlene hinüber, die einander gegenüber sitzen. Das Lokal füllt sich, den ganzen Abend Manchmal streicht er mit der Hand durch seine kurzgeschnithabe ich viel zu tun. Immer wieder suchen tenen Haare oder dreht das Weinglas zwischen den Fingern. meine Augen ihren Tisch, ich kann nicht anDer Mann gefällt mir. ders, ich muss sehen, was sie tun, ob sie sich berühren, ob Marlene lächelt, ich sehe Pauls re den Verkaufsraum betritt. Einmal sehe ich sein Bild in der Zeitung, Profil, seinen Nacken und seinen gewölbten Rücken unter dem Wollunter einem Bericht über das neue IT-System, das seine Firma im Spital pullover, eine süsse Klinge schneidet immer tiefer in meinen Körper, eingerichtet hat. Zum ersten Mal lese ich seinen Namen, unter dem Found ich presse die Schenkel gegeneinander, bis es schmerzt. Während to. Es zeigt Paul S. mit dem Spitaldirektor, fremd in seinem Anzug und Paul für beide bezahlt, lehne ich leicht gegen den Tisch, seine Hand der Krawatte. Ich schneide das Bild aus, lege es in meiner Wohnung auf streckt mir eine Banknote entgegen und ich sehe den schmalen Ehering. den Schreibtisch und schaue es an, wenn ich vergeblich versuche, mir Ich ziehe die Pobacken zu Steinen zusammen, blicke in seine Augen. Sie sein Gesicht in Erinnerung zu rufen. Johanna mustert mich ein paar sind grün. Er sieht müde aus und lächelt mir zu, als ich ihm das RestMal; sie findet, ich sei zerstreut, und fragt, bist du verliebt oder was, geld gebe. Marlenes Gesicht kann ich nicht lesen. Paul hilft ihr in den aber ich lache ihre Besorgnis weg und sage, ach was, ich bin froh, dass Mantel und zieht seine Winterjacke an, dann gehen sie. ich Andreas endlich aus meinem System geschwitzt habe, da will ich Die Wochen verstreichen, weder Paul noch Marlene erscheinen in der nicht schon wieder einen Neuen. Und eigentlich ist das auch wahr. Blauen Katze. In meinen Freistunden fange ich an, in die Innenstadt zu Eben habe ich begonnen, etwas seltener an Paul zu denken, als er an gehen, was ich lange nicht mehr getan habe. Ich suche mir ein Kino aus, einem späten Nachmittag in der Blauen Katze erscheint. Draussen fällt setze mich immer in die hinterste Reihe. Oder ich schaue in den Bars SURPRISE 304/13

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Schneeregen, ein scharfer Novemberwind fegt Die Schürze liegt eng um meine Hüften, mein Haar fällt über die die letzten Blätter von den Bäumen. Paul setzt Schultern und in den Ausschnitt. Regen schlägt gegen die Scheiben. sich auf einen Barhocker, legt die tropfende Jacke auf den Hocker daneben und bestellt eiDraussen prasselt der Regen auf die Strasse, und ich höre Hervé in nen Espresso. Ich arbeite wie meistens um diese Zeit allein. In der Gastder Küche singen und die Töpfe auf den Herd schmettern. Ich giesse mir stube sitzen ein paar Schüler, die sich halblaut unterhalten. Die Kaffeeein Glas Rotwein voll, schiebe eine Münze in die Jukebox und drücke maschine faucht, Max springt vom Fensterbrett auf den Boden und lässt auf «Calypso» von Suzanne Vega. Dann greife ich mir Max vom Fensich neben Pauls Hocker nieder. Paul bückt sich, streichelt den Kater. Ich sterbrett und stecke meine Nase in sein Fell, während ich mit geschlosschiebe den Espresso über den Tresen, giesse mir ein Glas Mineralwassenen Augen der Musik zuhöre. Langsam leere ich mein Glas, an den ser ein und streiche mir die Haare zurecht. Paul schüttet Zucker in den kühlen Tresen gelehnt. Später trage ich ein Tablett mit Tellern in die KüKaffee und rührt um, dann blickt er mich an. che, und Hervé schaut vom Fisch auf, den er mit einem Messer in Ich versuche ein Lächeln, sage, schön, dass Sie gekommen sind, ich hauchdünne Scheiben schneidet. Er macht ernsthafte Augen und sagt, habe Sie lange nicht mehr gesehen. Er habe in letzter Zeit viel gearbeieh Katharina, du wirst jeden Tag schöner. tet, sagt er, zu viel, und er sei kaum noch zum Schlafen gekommen. Wir ■ sprechen über seine Arbeit, über mein Lokal, über Max, der zwischen Pauls Füssen schnurrt und sich das Fell leckt. Paul bestellt ein Glas Wein, zwei Schüler bezahlen ihre Cola, und ich bringe einem älteren Gerlinde Michel stammt aus Bern. Die stuMann eine Stange Bier. Wie eine Tänzerin schwebe ich durch den dierte Anglistin arbeitete als Lehrerin und ReRaum, meine Beine spannen sich wie die Sehne eines Bogens, mein Kördaktorin für die Fachzeitschrift der Schweizer per ist ein glänzender Fisch, er gleitet hinter der Bar hervor, zwischen Hebammen, bevor sie 2000 die ersten Schritte den Tischen hindurch und wieder hinter den Tresen. Die Schürze liegt hin zum literarischen Schreiben wagte. Daneeng um meine Hüften, mein Haar fällt über die Schultern und in den ben war sie politisch aktiv und Gemeinderätin Ausschnitt. Regen schlägt gegen die Scheiben. Die Kaffeemaschine in ihrer Wohngemeinde Spiez. Michel gewann summt wie ein Schwarm Bienen und aus der Jukebox schwimmen mehrere Preise für Kurzgeschichten, darunter Bluesklänge. Ich spreize meine Hände auf dem metallenen Tresen, er den ersten Preis am OpenNet Wettbewerb der fühlt sich glatt und kühl an. Paul fährt sich mit den Fingern durchs Haar Solothurner Literaturtage 2006. Im selben Jahr erschien ihr erster Krimi, und hebt das Glas an die Lippen, während er mich ansieht. Die Haut sei«Alarm in Zürichs Stadtspital», 2008 ein weiterer Krimi, «Cézanne in Züner Wangen wirkt hell über den dunklen Bartstoppeln, und ich würde rich?», beide im Schweizer orte-Verlag. Letzten Herbst erschien im Verihn gerne an der Stelle berühren, wo sie glatt und zart auf seinen Balag edition 8 der Roman «Frei willig». Dazu schreibt Gerlinde Michel Kockenknochen liegt. lumnen für den «Berner Oberländer».

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Wir schweigen eine Weile, bis ich frage, ob Marlene heute nicht komme. Die Frage läuft mir glatt über die Lippen, ich lächle dazu, und Paul sagt nach einer kleinen Pause, er wisse es nicht, und schaut dabei zu Max hinunter. Er habe Marlene seit einigen Wochen nicht mehr gesehen. Ich sage irgendetwas und wundere mich über mein Herz, es tanzt in meiner Brusthöhle und hüpft gegen die Rippen wie ein wildgewordenes Fohlen. Als ich Paul wieder anschaue, hat sich die Luft wie eine Decke um uns beide gelegt, die Zeit steht still und wir leben in einer Taucherglocke, die alle Geräusche und alle anderen Menschen und alle Dinge ausschliesst. Ein paar Lidschläge lang gibt es nur diese Hülle und uns in ihr. Ich vergesse zu atmen, schiebe meine Hand über den Tresen und lege meine Fingerspitzen auf Pauls Finger. Seine Hand löst sich vom Glas, seine Fingerkuppen berühren meinen Handrücken und er blickt mich an, eine feine Röte überzieht sein Gesicht. Eine Welle von Licht und Glut fliesst in mein Inneres, meine Ränder lösen sich auf und ich kippe mit weichen Knien gegen den Tresen. Mein Schienbein schlägt gegen eine scharfe Kante, ein Riss spaltet die Taucherglocke, Stimmen sickern durch. Der magische Moment zerfliesst wie Wasser, die Uhren ticken wieder. Der Rentner ruft und will das Bier bezahlen, ein Schüler steht auf, wirft dabei seinen Stuhl um. Mit einer schnellen Bewegung fasst Paul meine Hände, presst sie einige Sekunden lang. Dann löst er den Druck, schiebt meine Hände sanft von sich. Mit zittrigen Knien laufe ich zum Rentner, kassiere und wünsche einen schönen Abend, nehme neue Bestellungen auf und hantiere blind an der Kaffeemaschine. In der Zwischenzeit hat Paul seine Jacke angezogen. Wie er bezahlt, sagt er leise, Katharina, es tut mir leid, ich werde dich lange nicht mehr sehen. Meine Firma hat mir eine Stelle in den USA angeboten, meine Frau und ich, wir reisen noch vor Weihnachten. Ich presse meine Knie gegeneinander, erzwinge ein Lächeln und sage, toll, und dann viel Glück, Paul. Mir wird heiss, mein Gesicht glüht wie eine reife Frucht und Schweiss rinnt über meinen Rücken, als ich ihm zum Abschied die Hand gebe.


Niemandstag VON KLAUS MERZ

1 Es herrschte nasses Schneetreiben, als die zusammengerufenen Musikanten am späten Nachmittag des 25. Februars auf dem Gelände der Kunststofffabrik dem angereisten Amerikaner ihren Marsch bliesen. Der Oberst sass in dicke Decken gehüllt im Rollstuhl neben dem Yankee und war schon wieder eingenickt. Ausserhalb des Zaunes ging die pensionierte Kanzlistin des ehemaligen Bauerndorfes in kleinen Schritten die Strasse hinauf. Sie spähte durch den Maschendrahtzaun zu den musizierenden Männern hinein. Nach dem ersten Marsch lobte der Gemeindepräsident das Volk der Amerikaner, er übersetzte sich selbst beinahe simultan. Wilson, sichtlich gerührt, blieb bei seiner Muttersprache, um die Gastgeber zu loben. Unter ihren Wintersohlen spürten die Männer den legendären Boden. Die Kanzlistin hob schnell die Hand, als sie den Amerikaner in ihre Richtung schauen sah. Aber Wilson nahm sie nicht wahr. Sie glaubte ihm seine Kurzsichtigkeit, traute auch ihren eigenen Augen nicht mehr so recht über den Weg und kehrte in Gedanken versunken, aber nicht unglücklich nach Hause zurück.

unbedingt die genaue Stelle bezeichnen, wo das schwere Flugzeug über dem verschneiten Bergkamm aufgetaucht war. Die Blasmusikanten setzten zu ihrem letzten Stück an. «O yes, we were ready, everyone of my boys was ready, isn’t it so, Karrer?», brüllte der Oberst in einen Trommelwirbel hinein. Er redete den Gemeindepräsidenten mit seinem blossen Nachnamen an, obwohl sie schon seit Jahren per Du waren. Karrer beschloss, den Obersten wieder einschlafen zu lassen. Der Amerikaner war hierher gekommen, um seine fehlende Erinnerung an den Absturztag, diesen Niemandstag in seinem Gehirn, zurückzuerobern, und dabei konnte ihm der Oberst, obwohl er vierzig Jahre zuvor in dieser Gegend gelegen hatte mit seiner Truppe, kaum mehr wertvolle Dienste leisten. 4 Bei der harten Ankunft auf dem gefrorenen Schweizerboden hatte Wilson einen Schock erlitten. Er war als einziger Überlebender aus dem brennenden Wrack gezogen und unverzüglich auf den örtlichen Samariterposten gebracht worden. Die junge Kanzlistin trug ihre Rotkreuz-Armbinde gut sichtbar am linken Oberarm. Sie schaute erschrocken in das graue Gesicht des jungen Amerikaners hinein. Er atmete langsam und oberflächlich, und sie griff am kalten Handgelenk einen kleinen, weichen, unregelmässigen Puls. Apathisch blickte der Verunglückte zur grüngestrichenen Zimmerdecke hinauf.

2 Wilsons Bomber war am 25. Februar 1945 in London gestartet, um grenznahe Industrieanlagen der Deutschen zu bombardieren. Bei seinem Angriff wurde er jedoch durch die Luftabwehr stark abgetrieben und schwer beschädigt. Nur noch zwei der vier Motoren funktionierten, als der lecke Kahn die Schweizergrenze überflog. Kapitän und Navigator waren tot. Wilson «Yes, yes, I remember», sagte der Oberst und sabberte, als hielt das Steuer in der Hand. Der Bordschütze sich der Gemeindepräsident zu ihm niederbeugte, um ihn blutete aus den Ohren. Die beiden Maschinen wieder geradezusetzen. der schweizerischen Flugwaffe surrten nervös um die Fliegende Festung herum, sie wollten Die Samariterin liess ihren Patienten in die hintere Kammer tragen, den Amerikaner über dem Jura abfangen und zu einem sicheren Flugsuchte warme Kirschkernsäcklein zusammen und breitete, nachdem sie feld geleiten. Aber der dunkle Koloss verlor so rasch an Höhe, dass er seine Schürfwunden sorgfältig desinfiziert hatte, ein schweres Federbett hinter einem kleinen Bauerndorf in die verschneiten Äcker schlug. Aus über den Mann. den Tragflächen züngelte Feuer. Innerhalb weniger Minuten waren die Als die Luftschutzsoldaten zur Unfallstelle zurückgekehrt waren, Luftschutztruppen an der Stelle. setzte sich die Kanzlistin zum Amerikaner und legte ihm die Hand auf die Stirn. Im Kachelofen hatte sie Holz nachgeschoben. Herr, bleibe bei 3 uns, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneiget, musste «Yes, yes, I remember», sagte der Oberst und sabberte, als sich der die Samariterin immer wieder denken. Dreimal sprach sie den Satz wie Gemeindepräsident zu ihm niederbeugte, um ihn wieder geradezusetein Stossgebet halblaut vor sich hin. Aber der Amerikaner wollte ihr im zen. Er wies mit seiner rechten Fuchtelhand Richtung Jura und wollte SURPRISE 304/13

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Hinterzimmer der Dorfkanzlei einfach nicht Sie gab ihm warm, bis ein unverhofftes Leuchten in seine warm werden. Kalter Schweiss stand nach wie Augen trat und er die fremde Schwester vorsichtig zu umvor auf seiner Stirn. Da schob die Kanzlistin kurzerhand die Riegel vor und legte sich zum armen begann. Abgestürzten ins hohe Bett. Sie massierte ihm die Glieder und atmete zutraulich in seine kleifinden, was Sie in Ihrer Erinnerung vermissen: die Ereignisse des 25. Fenen Ohren hinein. Sie gab ihm warm, bis ein unverhofftes Leuchten in bruars 1945.» seine Augen trat und er die fremde Schwester vorsichtig zu umarmen Der Lehrer, auf ein Zeichen des Redners, enthüllte mit Schwung die begann. Bomberteile, die unter einem Tischtuch an der offenen Seite der HufeiMy Bonnie is over the ocean, my Bonnie is over the sea. Die Samarisenformation aufgebaut waren. terin verlor zunehmend an Bodenständigkeit und wurde ihrerseits langWilson klatschte begeistert in die Hände, als er die Wrackteile sah. sam zur Fliegerin. Musikanten und Aktivdienstveteranen fielen in den Applaus ein. Die The winds have blown over the ocean, the winds have blown over Überraschung war gelungen. the sea. Der leise Gesang des Piloten trug sie immer tiefer in Wolken hiDie Erinnerungen an seinen letzten Einsatztag sowie den Tag danach nauf, die voll von warmem Regen waren. blieben aber in Wilsons Kopf trotzdem für immer gelöscht. Die Schilderungen seiner Schweizer Freunde und das Bild der verbliebenen Eisen5 teile hingegen würden ihm nicht mehr genommen werden können, das Schon im Morgengrauen fuhren Armeesanitäter vor und betteten wusste Wilson und bezeichnete sich selbst als den glücklichsten Mann Wilson auf eine feldgrüne Bahre. Er sollte zur weiteren Pflege und auf dieser Welt. Sein Jahrgänger, der Oberst, war schon Stunden zuvor Überwachung in ein Militärspital im Berner Oberland überführt weraus dem Saal geschoben und ins Altersheim zurückgefahren worden. den. Ungewiss bleibt, wer gegen Schluss des Abends My Bonnie is over Die Kanzlistin stand bleich im Türrahmen und fröstelte. Es war wie the ocean anstimmte. Beim letzten Refrain griffen einander die singenim Krieg. Schnee fiel unablässig auf die warme Motorhaube und den Männer unter die Arme und wogten gemeinsam auf einem grossen, schmolz. Der Tarnscheinwerfer warf einen blauen Schatten auf den selbstvergessenen Meer. weissen Grund, aus den Radspuren drückte schmutziger Matsch. Wilson sang nicht mit. Er liess sein glückliches Gesicht im Saal steBefehl sei Befehl, sagte der Obersanitäter, als die Samariterin einen hen, driftete ab und begann immer heftiger um seine alte Gedächtniszaghaften Versuch machte, den Amerikaner in ihrer Obhut zurückzubelücke herumzukreisen. Er spürte ihr Klaffen mehr denn je. halten. Wilson schlief ruhig und tief. Sie hatte ihm kurz nach Mitter«Rabbits», rief er plötzlich, «ich sehe lauter Kaninchen!» Die Männer nacht ein Baldriantränklein kredenzt, um nachher leise in ihre eigene hielten sich bei dieser Vorstellung ihre Bäuche vor Lachen, gossen dem Schlafstube hinüberzuwechseln und sich auch ein wenig hinzulegen. Alten Whisky nach. Die Durchgangstür liess sie nur angelehnt, sie wollte ihren Patienten we■ nigstens atmen hören. Der Amerikaner trug frische Unterwäsche ihres Bruders, der im Gotthardgebiet seinen Dienst tat. Als er aus seinem Tiefschlaf auf der Sonnenterrasse des Sanatoriums endlich erwachte, glaubte er sich vorerst in einer amerikanischen Brotfabrik zu befinden, da alle Sanitäter um ihn herum weisse Bäckerjacken trugen und ihm so schön warm war in seinen Decken. «No dreams, I’m fine», beteuerte er immer wieder und schaute zufrieden in die Alpen hinein. Er genoss das Gefühl, inwendig ganz mit weichem, warmem Kaninchenfell ausgeschlagen zu sein. Aber wie beim Kirschkern in seiner fremden Unterhose wusste er nicht recht, woher das Kaninchen eigentlich kam. Wenn er die Augen schloss, war ihm jeweils, als triebe er über ein weites gleissendes Meer. Blinzelnd erkannte er die Schneeberge am Grund.

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Mit freundlicher Genehmigung von Klaus Merz. Aus: «Fährdienst», Werkausgabe Bd. 3, Haymon Verlag, Innsbruck 2012 BILD: FRANZISKA MESSNER-RAST

6 Der Kunststofffabrikant und Gemeindepräsident des aufstrebenden Ortes liess es sich nicht nehmen, der kleinen Gesellschaft im Saal des Speiserestaurants einen schönen Lunch anzubieten. Schliesslich sei Mister Wilson aus Mapleton/Utah sozusagen auf seinem heutigen Fabrikareal gelandet, damals, im Februar fünfundvierzig. Er wies den Oberlehrer an, die drei im Ort verbliebenen Bomberteile aus dem Dorfmuseum in den Speisesaal überführen zu lassen. «Eine Madeleine für den Amerikaner», witzelte der Lehrer, als er die angerosteten Eisenteile durch die Gaststube trug. Auf einem Flügelrest war das Hoheitszeichen der Vereinigten Staaten noch deutlich zu erkennen. Der Wirt schenkte einen Cognac ein. «Auf die Franzosen!» toastete er. Es wurde weisser und roter Wein aus der Gegend um den Neuenburger See aufgetragen. Die steifen Finger der Musikanten machten sich wieder rund. «Mister Wilson», setzte der Präsident zur Tischrede an, «auf Ihrer Suche nach der verlorenen Zeit sind Sie ein zweites Mal herübergekommen, over the ocean, um bei uns vielleicht doch noch zu

Klaus Merz 1945 in Aarau geboren, lebt als freier Schriftsteller in Unterkulm. Zuletzt erschienen von ihm «Der Argentinier», Novelle 2009; «Aus dem Staub», Gedichte 2010. Seit 2011 erscheint im Haymon Verlag Innsbruck und Wien zudem eine Werkausgabe in 7 Bänden. Merz wurde für sein bisheriges Werk u.a. mit dem Hermann-Hesse-Preis 1997, dem Gottfried-Keller-Preis 2004 und dem FriedrichHölderlin-Preis 2012 ausgezeichnet.

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William und Kate VON SIBYLLE BERG

Seit Kate und William sich verlobten, unheimlich für mein EmpfinAm Tag vor der Hochzeit zweier junger netter Menschen, die uns alden der Ring der toten Diana am Finger von Kate, blau und gele nichts angehen, nachfolgend nur das Ereignis genannt, kollabiert die schmacklos, mit Leichengift überzogen, wird der Mediengau vorbereiMedienberichterstattung, nachfolgend nur: DIE Medien genannt. tet. Sechzig Kameras sind auf THE MALL, dem Weg vom Buckingham In den Wochen vor dem Ereignis, das Datum der Hochzeit wurde bePalace zur Westminster Abbey, in der die Trauung stattfindet, installiert, hutsam auf den Tag der Eheschliessung von Eva Braun und Adolf Hitler rund drei Milliarden Zuschauer werden das Ereignis verfolgen, allein die im Jahre 1945 gelegt, lasen und sahen wir immer neue absurde Meldundeutsche Wirtschaft rechnet mit Verdienstausfällen von drei Millionen gen über das Königshaus. Gleichsam so, als seien DIE Medien froh, nicht wegen glierender Angestellter. Nicht zu schweigen von ganz England, mehr über demonstrierende Araber oder Tsunamis berichten zu müssen. mit einem kompletten arbeitsfreien Tag. Auch der rothaarige (!) Ex-Rittmeister und Ex-Diana-Geliebte James Drei Milliarden Menschen sehen also zu, wie eine junge Frau, früher Hewitt, der heute eine Bar in Marbella betreibt, durfte irgendetwas sagen. Assistenz Accessoire-Einkäuferin eines Modelabels, danach im UnterWas für ein Ereignis, das Ereignis: Prinz William, Sohn von Diana, nehmen der Eltern tätig, und ein junger Mann, der sich hauptsächlich Gott hab sie selig, und Charles, dem einzigen Menschen, der in der durch eine schwierige Kindheit auszeichnet, heiraten. Königsfamilie interessant sein könnte, aber das auch nur durch seine Die Gästeliste ist für meine Begriffe unspektakulär, bis auf den einFreundschaft zu Mr. Bean, heiratet eine Bürgerliche. gangs erwähnten Rowan Atkinson werden noch Elton John und sein Kate Middleton, nachfolgend Kate genannt, 1982 geboren als TochMann, Joss Stone und die Beckhams anwesend sein. Der Rest ist Adel, ter eines Piloten und einer Stewardess. Ihre Mutter, Frau Goldsmith, aller Nachforschung nach nicht jüdisch, stammt aus sehr einfachen Verhältnissen, was uns Die Kommentatorin sagt: «Man kann sich vorstellen, dass das für egal wäre, in England mit seinem reizend altdie beiden heute ein ganz besonderer Tag ist.» Die Tiefsinnigkeit modischem Standesdünkel aber immer noch der Adelsexperten verschlägt einem mithin den Atem. sehr viel Beachtung findet. Klar ist, dass die Kinder es besser haben sollten. Herr und Frau 40 Stück, saudiarabische Prinzen und Staatsleute unterer Chargen. Der Middleton, mit hervorragendem Knochenbau, die nach ihrer FlieStaatsvertreter Syriens wurde, wie meine Informanten verlauten lassen, gerlaufbahn mit Partyzubehör Millionen verdienten, sandten ihre drei ausgeladen. Kinder auf angesehene Schulen. Kate landete an der Universität Seit drei Tagen campieren Geisteskranke an der Wegstrecke zur KirSt. Andrews, die als Hochzeitsanbahnungsinstitut der besseren Gesellche, die fast tausendjährig ist, in der auch Prinz Charles in erster Ehe schaft gilt. Dort lernte sie 2002 William kennen. Anzunehmen ist, dass heiratete, sie schwenken Fahnen, stammeln von Lady Di und murmeln: Kate und William ineinander verliebt waren, denn die Beziehung hält, eine Bürgerliche, eine Bürgerliche. Unerheblich zu betonen, dass man mit einer kurzen Pause wegen jung und trotz des albernen Berufes des jeden Tag weltweit an ein paar Milliarden bürgerlichen Hochzeiten jungen Prinzen.

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BILD: KATHARINA LU ̈ TSCHER

teilnehmen könnte, und es vermutlich interessanter wäre, wenn der junge William, dessen einziges Verdienst nur ist, jahrhundertelangen Inzest unbeschadet überlebt zu haben, einen Mann heiratete. Kate Middleton wird den Titel Her Royal Highness the Duchess of Cambridge tragen, das ist mehr als der schöne Konsul Weiher, aber weniger als der Doktor in Kybernetik. In einer Zeitung war ein Foto der gesamten königlichen Familie zu sehen, auf dem Balkon des Palastes. Alle mit offenem Mund, alle mit Deix-Gesichtern. Aber wollen wir mal keine Spielverderber sein, die Engländer halten sich ihre Könige wie ein teuer subventioniertes Theater. Das Stück: Die gute alte Zeit, handelt von Träumen unbefriedigter Arbeitnehmer, die sie auf die Akteure projizieren können. Eine liebenswerte Marotte, die jungen Menschen, die meinen, dass die Millionen, mit denen das Königstheater subventioniert wird, doch besser in die Bildungspolitik gesteckt würden, verstehen einfach keinen Spass. Und der geht langsam los. Es ist gegen zehn. Das niedere Volk, Diplomaten, Wohltätigkeitsverbände, schlendert in die Kirche, alle aus guten Familien, die Gesichter der Männer lassen auf einen weit verbreiteten Alkoholismus schliessen, mit den Farben Fuchsia und Mauve kann man nichts verkehrt machen, denken sich die Damen, und ich sage: man kann. Danach folgen die Prominenten, in mitternachtsblau und schwanger – Victoria Beckham mit ihrem gutangezogenen Mann, Elton John, der wie alle Männer, die sich die Haare färben, so einen Rostton auf dem Kopf trägt, der verrät: Hier wurde am Friseur gespart. Die Monarchie und die Rechtspolitik, die Besinnung auf Werte und Traditionen sind im Moment stark wie lange nicht mehr. Es ist die Angst vor einer anstehenden Neugestaltung der Weltordnung, die bei der Weltbevölkerung einen starken rückwärtsgewandten Reflex auslöst. Die besseren Familien. Das Schloss. Der Wind, die Kälte, die Hunde, der Al-

kohol und die durch Boarding School versauten Innenleben der armen Briten. Das bekommt doch Kindern nur mässig, auf diesen zugigen Pritschen weg von daheim, vom zugigen Castle und den Hunden. Kurz vor elf, die gesamte Welt dreht durch, das Internet dreht durch. Auf Twitter folgen Fünfzigtausend dem Royal Wedding-Programm der BBC, Twitterer aus der ganzen Welt kommentieren das Ereignis, entweder mit coolen Witzen oder aufrechter Ergriffenheit. Ein kollektiver Zwang, das Ereignis nicht zu verpassen, wie 9/11, man könnte etwas verpassen, man könnte nicht mitreden können. William rollt gerade in Begleitung seines Bruders, der heute auf das Tragen der Hakenkreuzarmbinde verzichtet hat, was sicher viele ältere Zuschauer enttäuscht, zur Kirche. William in der roten Fantasieuniform einer Zunft. Und langsam greift der emotionale Moment des Ereignisses auf mich über. Ich vergesse langsam die Werbeveranstaltung zum Erhalt der Monarchie, es geht doch um Liebe. Glaube ich. Die Gäste warten bereits über eine Stunde in der Kirche. Ob sie austreten können? Überall in London stehen Massen gebannt vor Riesenleinwänden. So funktionieren Kriege und Fussballspiele. Die Kommentatorin sagt gerade: «Man kann sich vorstellen, dass das für die beiden heute ein ganz besonderer Tag ist.» Die Tiefsinnigkeit der Adelsexperten verschlägt einem mithin den Atem. Die Queen kommt. In Gelb. Sie trägt ein Deckchen über den Knien und winkt mir. Die Stimmung wie beim Elfmeterschiessen. Und da endlich, die Welt erstarrt: die Braut. Drei Milliarden starren eine 29-Jährige an, sie trägt, Trommelwirbel, ein Kleid. In Creme, wie es sich gehört, schlicht der Rezession angemessen, von der unglaublichen Sarah Burton für Alexander McQueen, der sich vor einem Jahr erhängt hat. Ein Satinkleid mit Spitze überzogen, ein wenig 30er, mit Drappement am Gesäss. Im Haar eine Cartier-Tiara von der Queen, ich merke, wie ich verblöde. Sie haben mich! Kate und William stehen vor dem Altar, William macht kleine Scherze, Kate ist ein bisschen nervös, überraschenderweise wollen sich beide heiraten. Der Erzbischof ist erleichtert. Das Jawort!!! Draussen in der Welt liegen sich Millionen, was sage ich, Milliarden weinend in den Armen. Das Paar steigt in die offene Kutsche und fährt an den emotionalen Menschen vorbei. Wir sind alle in diesem Moment eine Gemeinschaft, wir bilden uns ein, es gäbe nur Liebe und eine Prinzessin auf der Welt, die jetzt winkt, als beuge sie sich aus einem Zugfenster. Die Menge hat nun Zeit, zum Palast zu schieben, denn zum Abschluss wird es den Kuss auf dem Balkon des Buckingham-Palastes geben, der Orgasmus für die Menge, die Erlösung, der Startschuss für hemmungslose Besäufnisse. Und dann erfolgt der kürzeste, teenagermässigste Kuss ohne Zunge der Filmgeschichte. Kinderwinken, und noch ein Kuss, bevor sich die Flugzeuge in den Buckingham-Palast bohren. Die königliche Familie verschwindet in den Palast, dort gibt es Fingerfood des Schweizer Hoflieferantenkochs, des Bielers Anton Mosimann, die Menschen unten gehen mit einem leichten Kater nach Hause. Das war sie also, die Märchenhochzeit, die Millionenverschlingende, die globale Umarmung, der Taumel. Es war grossartig. Romantisch und perfekt. Und nun ist irgendwie alles – wie vorher. ■

Sibylle Berg geboren in Weimar, lebt in Zürich. Sie hat bereits zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter: «Vielen Dank für das Leben», 2012; «Die Fahrt», 2007; «Ende gut», 2004. Ihre Theaterstücke («Angst reist mit», «Helges Leben», «Hund, Mann, Frau», «Schau, da geht die Sonne unter» u. a.) werden an Bühnen im In- und Ausland gespielt.

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Verkäuferinnenporträt «Ein Mensch ist ein Mensch» Seynab Ali Isse (41) wurde im somalischen Bürgerkrieg schwer verletzt und leidet bis heute unter den Spätfolgen. In der Schweiz hat Sie Unterstützung gefunden: von «zwei Mamas und einem Papa».

«Deutsch habe ich auf der Strasse gelernt, nicht in der Schule. Als ich in die Schweiz kam, sprach ich schon Italienisch. Das hatte ich an der Universität in Somalia gelernt. Ich habe Kinderbetreuerin gelernt und war auch auf der Hotelfachschule. Ich würde hier gerne so etwas machen, aber das geht nicht – ich muss zu meinen fünf Kindern schauen und ich habe auch nach zehn Jahren in der Schweiz noch immer den Ausweis F. Zudem ist meine Gesundheit nicht gut. Ich habe Mühe mit dem Laufen, den linken Arm kann ich kaum bewegen, und mit meinem Blut stimmt etwas nicht. Niemand weiss genau, was mir fehlt, denn die Symptome wechseln dauernd. Der Grund ist aber sicher die Bombardierung unseres Hauses in Mogadischu 1993. Bei diesem Angriff durch die Amerikaner starben 17 Menschen, darunter einige meiner Geschwister. Ich wurde schwer verletzt und habe seither Grantatsplitter im Körper. Irgendwie ist dieses Material wohl radioaktiv. (Anmerkung der Redaktion: Die US-Armee intervenierte 1993 im somalischen Bürgerkrieg. Dabei setzte sie Munition aus sogenannt abgereichertem Uran ein, die giftig und teilweise auch mit strahlendem Plutonium verunreinigt ist.) Somalia ist ein schönes Land, aber seit 22 Jahren herrscht Krieg. Wenn ich dort in Frieden hätte leben können, wäre ich sicher nie weggegangen. Mein Vater hat Business gemacht, war als Elektriker und im Autohandel tätig. Er hatte vier Frauen, wir waren 17 Kinder. Ich war gut in der Schule und bekam zusätzlich Privatunterricht. Jeden Abend sind zwei Lehrer zu uns gekommen und haben uns in Mathematik und anderen Fächern unterrichtet. Es macht mich traurig, wenn ich an Somalia zurückdenke. Meine Mutter lebt noch dort und meine zwei ältesten Kinder. Meine Geschwister leben über die Welt verstreut, manche in Afrika, andere in Europa oder auch in Amerika. Das ist schwierig. Aber es ist gut, dass ich hier bin. Ich danke Gott, dass ich noch lebe. Ich arbeite und ich hoffe, dass meine Gesundheit wieder zurückkommt. Dafür bete ich. Ich habe die schönen Seiten des Lebens erlebt, damals in Somalia. In der Schweiz ist es auch schön, ich habe hier eine neue Familie gefunden: Es gibt zwei ältere Frauen, die mir sehr helfen. Sie schauen zu den Kindern, wenn ich krank bin oder ins Spital muss. Ich habe sie beim Heftverkauf kennengelernt und respektiere sie sehr. Ich nenne sie beide Mama, und den Mann der einen Frau nenne ich Papa. Ich möchte, dass im Heft steht: Ich habe hier in der Schweiz zwei Mamas und einen Papa. Überhaupt habe ich in Illnau-Effretikon, wo ich wohne, viele Freunde gefunden, und auch die Leute von der Gemeinde meinen es gut mit mir. Manche Leute haben Mühe mit meinem Kopftuch. Ich sage dann, dass das zum Islam gehört. Der Glaube ist wichtig für mich. Ich bete fünfmal am Tag. Ich höre nicht darauf, was die Menschen predigen, aber ich spreche mit Gott. Gott ist gross, er schaut auf alles in der Welt. Er will, dass die Menschen Freunde sind, dass sie sich lieben. Es ist egal, ob jemand in Europa lebt oder in Afrika, ein Mensch ist ein Mensch. Daran glaube ich. Aber die Politik macht das kaputt. Dabei ist der Glau-

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BILD: ZVG

AUFGEZEICHNET VON RETO ASCHWANDEN

be kein Problem, wenn man in Zürich miteinander reden kann. Als ich Surprise noch am Schaffhauserplatz verkaufte, gab es einen Mann, der sagte: Ausländer abfahren. Ich antwortete okay, Sie müssen mir ja kein Heft abkaufen. Irgendwann wollte er dann wissen, wo ich herkomme, wir kamen ins Gespräch, und seither freut er sich, wenn er mich sieht. Ich wünsche mir, dass meine Kinder hier ein Leben aufbauen können. Der Grösste ist eingebürgert worden und macht eine Lehre als Werkhof-Mechaniker, das ist ein guter Beruf. Der Zweitälteste hat letzten Monat einen Vorstellungstermin gehabt. Er möchte etwas mit Autos machen in einer Garage. Für ihn ist die Lehrstellensuche schwierig, weil er noch die F-Bewilligung hat, so wie ich. Ich hoffe, wenn er eine Lehrstelle gefunden hat, wird die Gemeinde schauen, dass auch er Schweizer werden kann. Der unsichere Aufenthaltsstatus macht mir Sorgen. Ich hätte gerne eine Garantie, dass wir bleiben dürfen. Ich lese gerne, auch wenn es mir auf Deutsch schwerfällt. Krimis mag ich nicht, denn ich vertrage keine Gewalt, darum schalte ich auch bei den Nachrichten im Fernsehen immer um. Aber Liebesgeschichten oder Geschichten über gute Familien, das lese ich gern. Der Artikel über mich kommt im Heft mit Liebesgeschichten? Super, das freut mich.» ■ SURPRISE 304/13


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Andreas Ammann Bern

Jela Veraguth Zürich

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Kurt Brügger Basel

Fatima Keranovic Basel

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Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

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Anja Uehlinger Aargau

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

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304/13 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 304/13

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Geschenkabonnement für: Vorname, Name Impressum Strasse

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Diana Frei und Mena Kost (Nummernverantwortliche), Reto Aschwanden, Florian Blumer redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Sibylle Berg, Alex Capus, Lucian Hunziker, Charles Lewinsky, Jonas Lüscher, Klaus Merz, Gerlinde Michel, Milena Moser, Christoph Simon Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17 450, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Oscar Luethi (Leitung)

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller o.joliat@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Kreuzworträtsel 1. Preis: Eine Surprise-Tasche gefüllt mit Überraschungen 2. Preis: Ein Surprise-Strandtuch 3. Preis: Eine Surprise-Tasche

Finden Sie das Lösungswort und schicken Sie es per Post oder E-Mail an: SURPRISE Strassenmagazin, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel oder redaktion@vereinsurprise.ch. Einsendeschluss ist der 25. Juli 2013. Viel Glück!

Die 25 positiven Firmen

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Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

12

Novartis International AG, Basel

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Solvias AG, Basel

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Ernst Schweizer AG, Metallbau, Hedingen

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confidas Treuhand AG, Zürich

16

ratatat – freies Kreativteam, Zürich

17

G.A.T.E.S., Hôteliers & Restaurateurs SA, Basel

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Claude Schluep & Patrick Degen, Rechtsanwälte, Bern

19

homegate AG, Adliswil

20

Sprenger & Partner Bauingenieure SIA USIC, Arlesheim

21

Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

22

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

23

IBP – Institut für Integrative Körperpsycho-

01

Schweizer Tropeninstitut, Basel

02

velonummern.ch

24

Knackeboul Entertainment

03

Scherrer & Partner GmbH, Basel

25

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

04

Applied Acoustics GmbH, Gelterkinden

05

Buchhandlung zum Zytglogge, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet

06

hervorragend.ch, Kaufdorf

werden?

07

Kaiser Software GmbH, Bern

Mit einer Spende von mindestens 500 Franken

08

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

09

Coop Genossenschaft, Basel

10

Cilag AG, Schaffhausen

11

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

therapie, Winterthur

sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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Macht stark.

www.vereinsurprise.ch â?˜ www.strassensport.ch â?˜ Spendenkonto PC 12-551455-3 Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99


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