Wunderbares Nichts Die Welt des Dieter Meier Protest! Warum nun die Mittelschicht aufstehen muss
«Der Alliierte»: Kurzkrimi von Lorenz Langenegger
Nr. 308 | 6. bis 19. September 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.
Surprise Charity Run 2013 Surprise läuft weiter! Laufen Sie mit! Als offizieller Partner des IWB Basel Marathon 2013 ist Surprise auch in diesem Jahr wieder sportlich unterwegs! Der Marathon findet am 22.9.2013 in Basel statt und wir werden auch in diesem Jahr wieder ein eigenes Team aufstellen. Deshalb suchen wir engagierte Persönlichkeiten, die als Teil unseres Teams an den Start gehen und ein Zeichen gegen soziale Ausgrenzung und Ungerechtigkeit setzen möchten! Laufen Sie gemeinsam mit uns und unterstützen Sie Surprise, seine Verkaufenden, sein Engagement und seine Ziele! Oder unterstützen Sie unsere Läufer mit einer Spende! Nähere Infos zur Anmeldung und zum Basel Marathon auf www.charityrun.vereinsurprise.ch oder unter www.iwbbaselmarathon.ch
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Titelbild: Keystone
Es gibt Leute, die sich weder für Dieter Meiers Musik noch für seine Kunst und sein Schreiben interessieren. Und all jene mag es vielleicht erstaunen, dass wir einen begüterten Promi interviewen – wo wir uns doch in der Regel eher die Lebenswelt unserer Verkaufenden genauer ansehen. Es gibt Leute, die finden, Reiche hätten nichts zu suchen in einem Strassenmagazin. Wir glauben allerdings, dass auch Menschen mit Geld manchmal interessante Gedanken haben. Wobei es aber nicht so ist, dass im Elfenbeinturm nur nachgedacht und auf der Strasse ausschliesslich ums Überleben gekämpft würde: Philosophische Betrachtungen kann man in allen Winkeln des Daseins anstellen, jedenfalls hatte ich eines meiner spannenderen Gespräche einst mit einem ehemals Obdachlosen in Luzern. Er kam zum Schluss, dass das Leben nur dann tiefer erfahrbar sei, wenn man nichts anderes mehr habe. Nämlich unter der Brücke in Paris, wo er tatsächlich einige Zeit lebte.
BILD: ZVG
Editorial Sinnieren im Elfenbeinturm
DIANA FREI REDAKTORIN
Dieter Meier, den es nie unter die Brücke verschlagen wird, findet einen anderen Weg zum gleichen Ziel: «Kunst ist die einzige Möglichkeit, zu leben.» Es geht um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Dasein auf dieser Welt. Und genau das ist ein Thema, das nicht nur die oberen Zehntausend umtreibt, sondern vielleicht gerade auch die untersten. Meier denkt Themen weiter, die für alle gelten: Von der Klassenjustiz über das Lob als Anmassung bis hin zur Absage an die Systeme dieser Welt, weil sie Menschen zu verwerten versuchen statt sie einfach leben zu lassen. Und vielleicht sind es genau diese Mechanismen, die bei denen, die nicht viel Geld haben, am stärksten wirken. Der Musiker, Künstler und Literat preist das «wunderbare Nichts des Daseins», das die Menschenverwertungssysteme an den Wurzeln angreift, und passt damit zu einem ganz anderen Beitrag im Heft – Christof Mosers Essay über Formen des Widerstands: Frank Schirrmacher, Publizist und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wird mit seinem Hinweis auf den «Homo Economicus» zitiert, «der nur noch nach Effizienzkategorien und Nutzenoptimierungen funktioniert und damit hervorragend regierbar ist». Der Text über den Widerstand hat sicher einen zentralen Punkt mit dem Universum des Dieter Meier, der das Nichts vergoldet sehen will, gemein: Letzten Endes geht es um die Frage, welche Haltung zum Leben man einnimmt, welche Wahl- und Handlungsmöglichkeiten man erkennt. Wie man die Welt um sich herum sieht. Und ob man frei genug ist, sie sich entsprechend einzurichten. Herzlich Diana Frei
Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 308/13
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10 Homeless World Cup Verpasste Tore in Polen Sportlich konnte die Surprise Strassensport Nationalmannschaft beim elften Homeless World Cup HWC das Resultat vom letzten Jahr bestätigen. Die Spieler waren herausgefordert, sind aber souverän mit den Niederlagen umgegangen: Wer eine Drogenkarriere überwinden konnte, steckt auch ein paar verpasste Tore weg. Es roch im polnischen Posen nach Billig-Deo, die Gesänge im Shuttle Bus klangen sexy.
12 Dieter Meier Meister des Unbrauchbaren Sänger von Yello, Autor und Artist – Dieter Meier beherrscht viele Rollen. Nun widmet ihm das Aargauer Kunsthaus eine grosse Überblicksausstellung. Wir trafen Meier in seinem Zürcher Atelier zum Interview über die Anmassung des Lobes, die Sinnlosigkeit des Daseins, Aktionen gegen die Ungerechtigkeit der Klassenjustiz und die Wichtigkeit des nicht Verwertbaren.
BILD: ZVG
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Inhalt Editorial Reiche im Strassenmagazin Die Sozialzahl Sockelarbeitslosigkeit wird steigen Aufgelesen Weggetwittertes Walisisch Zugerichtet Täschligate im Milieu Meine Geschichte Salebans Blumen Gute Besserung! Peter Gamma Porträt Kein Nerd Kurzkrimi Meine einflussreiche Stimme Fremd für Deutschsprachige Links und rechts überholt Ausstellung Hot Spot Istanbul Kultur Wo Hesse chinesisch spricht Ausgehtipps Installative Sexarbeit Verkäuferporträt Unser erster Afrikaner Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP
BILD: OLIVIER JOLIAT
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BILD: REUTERS/OSMAN ORSAL
16 Widerstand Protest der Normalbürger
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Mit den Enthüllungen Edward Snowdens wurde publik, wie weit Geheimdienste Einblick in unser Leben haben. Die demokratischen Rechtsstaaten überschreiten damit die Grenze zu Überwachungsdiktaturen. Und der freie, aufgeklärte Bürger macht sich dank Facebook, Twitter und Co. selbst zu einem kontrollierbaren Kunden. Es sind Tendenzen, die Widerstand wachrufen, und zwar nicht nur unter Linksaktivisten. Der Protest ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
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Arbeitslose endenz Te T
Die Sozialzahl se Das Loch in der Arbeitslosenkas akzeptierte Ziel der Vollbeschäftigung ist das allseits Auch die Sozialpartner schweizerischen Arbeitsmarktpolitik. eit höher als steigende gewichten eine geringe Arbeitslosigk itslosen bei den RegioArbe ten Löhne. Die Zahl der registrier ankt im Konjunkturschw n nalen Arbeitsvermittlungszentre die Arbeitslosenquot sink zyklus. Geht es der Wirtschaft gut, enzen zu kämpfen, Tend n te, hat die Wirtschaft mit rezessive Blick auf die langEin eit. steigt das Ausmass an Arbeitslosigk illustriert, wie uote senq fristige Entwicklung der Arbeitslo Entwicklung der in ngen sich die konjunkturellen Schwanku geln. rspie eit wide der statistisch erfassten Arbeitslosigk an, die enz Tend i eine Der eingezeichnete Pfeil zeigt dabe diskukaum ussion noch in der arbeitsmarktpolitischen Disk Konvon entfernt sich tiert wird. Der Schweizer Arbeitsmarkt Ziel vom immer weiter junkturzyklus zu Konjunkturzyklus itslo ich sinkt die Arbe der Vollbeschäftigung! Im Zeitvergle zu Mal fschwungs von senquote in Phasen des Wirtschaftsau steigende Sockelareine sich baut Mal weniger stark. Hier en trotz bester wirtbeitslosigkeit auf. Erwerbsfähige bleib und finden auch dann schaftlicher Entwicklung arbeitslos nach Fachkräften sumen keine Stelle, wenn die Unterneh gleichen Arbeitslodie er chen. Natürlich sind es nicht imm die begrenzte Bet sorg r sen, die diesen Sockel bilden. Dafü oder lang zur kurz über zugsdauer bei den Taggeldern, die Aussteuerung führt. em Sachverhalt die Man mag einwenden, dass trotz dies senquote ausweist, von Schweiz noch immer eine Arbeitslo wagen. Doch verbirgt der andere Länder kaum zu träumen eitslosigkeit ein weitesich hinter dieser steigenden Sockelarb
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ellung. gene Darst ft Seco, ei ha . sc co irt Se W gen des ariat für Schätzun aatssekret 2014 sind Quelle: St d un 13 für 20 Die Zahlen
res Problem. Die Fin anzierung der Arbeits losenversicherung (ALV) beruht auf de r Logik eines stets gle ich en Konjunkturzyklus. Im Aufschwun g nimmt die ALV me hr ein als sie ausgibt, im Abschwung zahlt sie mehr aus als sie einnimmt. Über den ganzen Zyklu s hinweg sollte sie ein e au sgeglichene Rechnung ausweisen und keine Schulden machen. Damit dies funktionieren ka nn, muss eine realis tische Annahme über die durchschnit tliche Zahl von Arbe its losen getroffen werden. In der vorletzten Revis ion ging man von 100 000 Arbeitslosen aus. Das war klar zu tief angesetzt und liess die ALV rasch in eine finanzie lle Schieflage geraten . Wegen der eingebauten Schuldenbrem se musste sofort eine nächste Revision in Angriff genommen werden. Diese führte zu einem Leistungsabbau, besonde rs bei den jungen Erw achsenen. Diesmal unterlegte man dem Finanzierungsm odell eine durchschnittliche Arbeitslos enzahl von 120 000 Pe rsonen. Wie der Verlauf der Arbeitslos enquote zeigt, wird au ch diese Annahme zu tief sein. Die Schuldenbremse wird de m Bundesrat bald wieder signalisier en, dass die Schulde n de r AL V in den roten Bereich zu gle iten drohen. Damit ist die nächste Revision der Arbeitslosen versicherung gewiss . Gewiss ist auch, dass dann das SECO weitere Einschnitte au f der Leistungsseite vorschlagen wird, um die Lohnprozente nicht allzu sehr anheben zu müssen. Das Grundproblem de r ALV wird sich so ab er nicht beheben lassen. Was es tat sächlich braucht, ist ein dynamisches Finanzierungsmodell , das mit steigenden Arbeitslosenzahlen rechnet. Doch das wä re das Eingeständnis , dass es auch der Schweiz nicht mehr gel ingt, Vollbeschäftigun g zu garantieren.
CA RL O KN ÖP FE L (C .KN OE PF EL @V ER EIN SU RP RIS E.C H) BIL D: WO MM
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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Schmutziger Kreislauf Dortmund. Der Strukturwandel im Ruhrgebiet führte zum Verschwinden der Kohleförderung. Die Zechen sind geschlossen, doch auf den Rohstoff sind die städtischen Energieversorger nach wie vor angewiesen. Also beziehen sie Kohle etwa aus Kolumbien. In Cerrejon, der grössten Mine Lateinamerikas, geschieht das auf Kosten der indigenen Bevölkerung. Hilfsorganisationen und Aktivisten schildern die Zerstörung ganzer Dörfer mit dem Bulldozer im Morgengrauen. Dokumentiert sind auch verheerende Umweltschäden. So wiederholt sich in Kolumbien die Geschichte des Ruhrgebiets aus den Anfängen des Bergbaus.
Festhalten am Floss Athen. Mitten in der grossen Depression ist in Griechenland die erste Strassenzeitung herausgekommen. «Wir bekommen Anrufe aus ganz Griechenland von Menschen, die seit zwei, drei, vier Jahren arbeitslos sind und Shedia-Verkäufer werden wollen», sagt Chris Alefantis, Mitgründer von Shedia («Floss»). Ziel des Blatts ist nur in zweiter Priorität, den Verkäufern ein Auskommen zu ermöglichen. Vordringlich soll den Menschen etwas zurückgegeben werden, was ihnen laut Alefantis die politische Elite genommen hat: die Hoffnung, dass es besser wird.
Twitter bedroht Walisisch London. In Wales ist eine Kontroverse über den schädlichen Einfluss von Twitter auf den Fortbestand der walisischen Sprache entbrannt. Neue Untersuchungen legen nahe, dass Waliser auf dem Internet-Kurznachrichtendienst praktisch nur auf Englisch kommunizieren. Erste politische Schritte werden unternommen: Künftig müssen alle Mobiltelefone im Landesteil auf Walisisch bedient werden können.
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Zugerichtet Die letzte Untat Einstens war Akif B.* heroinsüchtig und obdachlos. Süchtig ist er noch immer, aber mit der Ersatzdroge Methadon kann der heute 28-Jährige leben wie andere Leute auch. Nur Straftaten aus der Zeit der Heroinsucht wollen noch gesühnt werden. Mal hatte Akif Ladendiebstähle begangen, mal war er in Keller und Wohnungen eingebrochen, stahl Mountainbikes, Bargeld, Schmuck, Laptops, eine Digitalkamera. Nun, mit einiger Verspätung, wird die letzte Straftat seiner Drogenlaufbahn vor dem Zürcher Bezirksgericht verhandelt. Der 78-jährigen Anne Z. hatte er die Handtasche mit 84 Franken in bar und Schmuck im Wert von über 70 000 Franken entrissen. Wieso die alte Dame mit solchen Werten in der Handtasche spazieren ging, wird vor Gericht nicht erörtert. Auf Entzug sei er damals durch die Altstadt getorkelt, erinnert sich der Angeklagte nebulös. Da habe er in einer Gasse die alte Frau vor sich gesehen und sonst niemanden in der Nähe. «Tja, da hab’ ich nicht lange überlegt.» Mit seiner Beute flüchtete er ins nächste Kaufhaus auf die Toilette. Aber die Warenhausdetektive hielten den Junkie für suspekt und verfolgten ihn. Kaum hatte dieser die Handtasche mit dem Portemonnaie und der Schmuckschatulle auf dem WC-Boden ausgeleert, hatten sie ihn auch schon gestellt. Die alte Dame wollte auf dem Polizeiposten Urania gerade ihre Anzeige aufgeben, da konnten die Beamten ihr die Prachtstücke bereits zurückgeben. Ein grosser Redner ist Akif B. nicht: «Ja so …, die Drogensucht, wie das genau passiert ist, ähmmm, ja, ich weiss auch nicht mehr ge-
nau, reingeschlittert, … Puff zu Hause.» Mit rührenden Handbewegungen versucht seine Rechtsbeiständin den Redefluss etwas in Schwung zu bringen – vergeblich. Seit einem Jahr arbeite Akif wieder, im Gemüsehandel seines Onkels, berichtet sie, als ihr das Wort für das Plädoyer erteilt wird. Seither sei ihr Mandant ein neuer Mensch. Akif stehe jeden Morgen um vier Uhr auf, arbeite bis spät, siebenmal die Woche. Er sei verlobt, die Verlobte arbeitet auch für des Onkels EngrosMarkt. Akif sagt, er sei clean. «Das packen Sie», fragt der Richter, «nach dieser Drogenkarriere?» – «Herr Richter, ich hab zu viel Energie. Ich weiss nicht, wohin damit. Wenn ich arbeite, bin ich glücklich. Ich kenn mich in allem aus, kochen, putzen, Windeln wechseln …» Akif ist vor sechs Wochen Vater geworden. Kontakte zum Drogenmilieu habe er nicht mehr. An seinen Angaben möchte niemand zweifeln. Das Arztzeugnis bescheinigt, dass bei regelmässigen Untersuchungen niemals Drogenspuren im Urin von Akif B. gefunden wurden, und auch bei der Polizei liegt nichts Neues mehr gegen ihn vor. Im Plädoyer erinnert der Staatsanwalt noch daran, dass die Tat nur haarscharf am Raub vorbeigegangen sei, allein dem regungslosen Schrecken der alten Dame habe es der Angeklagte zu verdanken, dass nicht ein wesentlich höheres Strafmass beantragt werden müsse. Der Richter verhängt eine Geldstrafe von 240 Tagessätzen zu zehn Franken und drückt Akif und seiner Familie für die Zukunft «beide Daumen». * persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 308/13
Meine Geschichte Ein Blumenstrauss zum Muttertag
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Es ist Samstag vor Muttertag. Ein Besuch bei meiner Cousine ist angesagt. Zuvor besorge ich noch ein kleines Blumengeschenk für sie und begebe mich dazu in das Einkaufscenter Urnertor in Altdorf. Auf dem Rückweg zu meinem Auto treffe ich unseren Surprise-Verkäufer Saleban. Die regelmässigen ‹Verkaufsbegegnungen› mit ihm sind immer von Freude und Wertschätzung geprägt. Da ich seine Frau Nimo – sie besuchte bei mir einen Deutschkurs – gut kenne, plaudern wir jeweils ein wenig über Familie, Kinder und Alltag. An dem besagten Samstag hiess er mich, für einen Moment zu warten. Er eilte die Treppe hinauf und verschwand im Einkaufsgetümmel. Mit Spannung, aber auch etwas verloren stand ich neben seinem verwaisten Bündel Zeitschriften, Menschen hinterhersehend, die mit vollgestopften Taschen und einem Muttertagsstrauss in der Hand im Parking verschwinden. Nach Minuten des Wartens kommt er auf mich zu – mit strahlenden Augen und einem wunderschönen Blumenstrauss in der Hand. Freudestrahlend übergibt er mir die Blumen. Ich war völlig überrascht und sprachlos. Mein erster Gedanke: ‹Nein, das darf ich doch nicht annehmen! – Oder doch? Ich darf ihm seine Freude nicht zerstören.› Ich sah in seinem Gesicht, mit welcher Innigkeit und Dankbarkeit er mir diesen Blumenstrauss schenken wollte. In gebrochenem Deutsch bekundete er mir seine Wertschätzung. Er entschuldigte sich, dass er nicht auch noch eine dazugehörende Karte mitgeben könne. Meine Freude war unbeschreiblich! Diese Geste hat mich sehr berührt. Mit einem tief empfundenen Dankeschön verabschiedete ich mich von ihm. Im Auto auf dem Weg zu meiner Cousine flossen Tränen der Freude. Tränen der Freude über einen aussergewöhnlichen Muttertagsstrauss, geschenkt von einem Menschen, der es schätzt, wahrgenommen und unterstützt zu werden bei seiner bescheidenen Arbeit, und der es schätzt, wenn ihm mit offenem Herzen begegnet wird. Danke dir für deine Wertschätzung, geschätzter Saleban! Marlis Arnold-Spichtig, Spiringen ■
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Diesen Frühling haben wir die Leserinnen und Leser zum 15-jährigen Surprise-Jubiläum dazu aufgerufen, uns ihre Geschichte einzusenden, die sie mit einem Surprise-Verkäufer oder einer Surprise-Verkäuferin erlebt haben. In loser Folge publizieren wir die besten Einsendungen. Den Anfang macht Marlis Arnold-Spichtig aus Spiringen, Uri, die von Verkäufer Saleban beschenkt wurde.
Haben auch Sie eine witzige, tragische oder berührende Geschichte mit einem Surprise-Verkäufer oder einer Surprise-Verkäuferin erlebt? Schicken Sie sie uns! Maximal 2000 Zeichen inkl. Leerschläge auf leserbriefe@vereinsurprise.ch, Betreff «Meine Geschichte». Die besten Einsendungen werden publiziert.
Gute Besserung! Peter Gamma Er gehört zum Basler Bahnhof wie die Billetautomaten und das Wandbild vom Vierwaldstättersee. Seit den Anfängen von Surprise verkauft Peter Gamma das Strassenmagazin in der Bahnhofhalle. Wenn er mal nicht da ist, fällt das auf. Seit einiger Zeit muss der Bahnhof ohne ihn auskommen. Peter Gamma ist gesundheitlich angeschlagen und derzeit nicht in der Lage, Hefte zu verkaufen. Wir hoffen und wünschen Peter, dass es ihm bald besser geht. Eines aber ist klar: Auch wenn unser dienstältester Strassenverkäufer im Moment nicht arbeiten kann, so ist er doch weiterhin ein wichtiges Mitglied der Surprise-Familie.
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Porträt Ein relativ normales Hybridwesen Das Vereinslokal des Chaos Computer Club Zürich liegt in einem Keller, doch ein Kellerkind ist Hernani Marques bestimmt nicht: Er engagiert sich für Transparenz im Internet und informiert durchschnittlich begabte Anwender, wie sie sich sicher im Netz bewegen können. VON MANUELA DONATI (TEXT) UND DAVIDE CAENARO (BILD)
abends in der Stube an alten Fernsehern und Radios herumbastelt, baut er seinen Computer auseinander – und wieder zusammen. «Ich wollte schon immer wissen, wie die Sachen funktionieren. Ich mag es nicht, einfach etwas vorgesetzt zu bekommen.» Lange bleibt es nicht beim schlichten Auseinanderbauen und Zusammensetzen: Marques bastelt weiter, sodass sein Computer leistungsstärker und schneller wird, irgendwann entwickelt er selbst erste Computerprogramme – er ist ein richtiger Nerd geworden. Einer, der in einer virtuellen Welt lebt, nicht in der realen. «Früher haben mich Menschen nie interessiert», sagt er. Heute ist ihm bewusst, wie krass diese Aussage ist. Als Jugendlicher aber flüchtet er sich in eine technische Welt. «Ich fand es sinnvoller, mich mit Computern und Technik zu beschäftigen, als wie die anderen Jugendlichen an Partys abzustürzen.»
So ein typischer Computerfreak – einsilbig, verschüchtert. Man ist leicht verleitet, sich Hernani Marques so vorzustellen. Doch schon nach fünf Minuten Gespräch hat der 28-jährige Student alle gängigen Klischees, die über sogenannte Nerds existieren, widerlegt. Freundlich ist er, offen und gesprächig. Und ansteckend mit seiner Begeisterung für Computer, Technik und seinem Interesse an deren Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Hernani Marques’ Leidenschaft hat eine politische Dimension: Als Mitbegründer des Chaos Computer Club Zürich, der Teil eines europäischen Hacker-Netzwerks ist, will er dem durchschnittlich begabten Computer- und Internet-Nutzer zeigen, wo Sicherheitslücken bestehen und wie er seine Daten schützen kann. Zum Beispiel mit sogenannten Crypto-Partys, die der Chaos Computer Club veranstaltet. Diese «Früher haben mich Menschen nie interessiert», sagt Hernani Veranstaltungen sind für alle zugänglich und Marques. Heute ist ihm bewusst, wie krass diese Aussage ist. als eine Art gemeinnützige Aufklärungsarbeit gedacht. Seit Edward Snowdens Enthüllungen und der Überwachungs- und Spionageaffäre um die amerikanische SiSo sitzt er regelmässig bis zu 16 Stunden am Stück vor dem Rechner, cherheitsbehörde NSA werden die Crypto-Partys von interessiertem Pudie «Geh mal wieder nach draussen»-Rufe seiner Eltern ignoriert er. blikum überrannt. Mehr als einmal bricht in seinem Elternhaus das Stromnetz zusammen, Auch in der Forschung beschäftigt sich Marques mit der Thematik: weil seine Computer – zeitweise besitzt er bis zu 16 Stück – zu viel Seine Arbeiten an der Universität Zürich befassen sich allesamt mit den Energie brauchen. «Ich war nicht besonders sozial», sagt Marques rückneusten Internetphänomenen, als Mitglied des Verbands der Studierenblickend über diese Zeit. den der Universität Zürich (VSUZH) treibt er das E-Voting-System der Irgendwann will er dann doch raus aus dem Computer-Universum, Uni voran. «Mit meinem Studium lebe ich alle meine Interessen aus», ganz verlässt er seinen sicheren Hafen aber nicht: 2004 gründet Marmeint Hernani Marques dazu. ques den Chaos Computer Club Zürich mit. Seither treffen sich die 30 Doch Marques war nicht immer der eloquente Computer-Spezialist, Mitglieder – darunter ganze drei Frauen – jeden Mittwochabend im der er heute ist. Er stammt aus einer bildungsfernen Familie, die AnClublokal in Schwamendingen und diskutieren «über Gott und die fang der Achtzigerjahre aus Portugal in die Schweiz einwanderte. Wenn Welt, speziell natürlich über Computer», ab und zu wird der Grill herer in zwei Jahren mit dem Master in Computerlinguistik, Soziologie vorgeholt oder das eine oder andere Bier getrunken. Marques betont, und Neuroinformatik abschliesst, wird er der Erste in der Familie mit wie wichtig der gesellige Teil dieser Treffen sei –, er hat nach seiner einem Universitätsabschluss sein. Mittlerweile hätten die Eltern seinen Teenagerzeit im dunklen Kämmerlein eine gesunde Distanz zu seiner Weg akzeptiert – als er nach einer KV-Lehre die Matura nachholte und grossen Leidenschaft gefunden. Er bezeichnet sich selbst als «Hybridsich für ein Studium entschied, waren sie noch skeptisch. «Sie sahen eiwesen» – typischerweise benutzt er einen technischen Begriff –, um zu nen anderen Weg für mich vor: Schulabschluss, Lehre, Geld verdienen. erklären, dass er sich nicht mehr ausschliesslich für Computer interesEs beruhigt sie, dass ich als Informatiker jederzeit eine Stelle finden siert. Mittlerweile beschäftigen ihn gesellschaftliche Themen genauso könnte.» Doch als technischer Informatiker wird Hernani Marques sehr – schliesslich hat er gemerkt, dass Computer mit der sozialen Welt wohl nie enden, lautet sein Credo doch, «immer alles ein bisschen anverknüpft sind. Und dass Computer an Partys «nicht das beste Thema» ders als die Mehrheit» zu machen. Dabei kommt dieser ihm typische sind. Drang zum Zuge, alles ergründen zu wollen. «Ich bin eigentlich relativ normal», stellt er mit der ihm üblichen kriSchon als Kind interessiert er sich für «komische Sachen», auch tischen Haltung nüchtern fest. Was heisst, dass er manchmal Fussball wenn er deswegen in der Schule zum Aussenseiter wird. Zu seinen spielt, Inlineskates fährt, mit Freunden feiern geht und sein SmartInteressen, die er genau ergründen will, gehört bald auch der erste phone bewusst so eingerichtet hat, dass er damit nur telefonieren und Computer, den der damals 12-Jährige von seinen Eltern geschenkt beSMS schreiben kann. Und in den Ferien lässt er seinen Rechner ganz kommt. Die üblichen Computergames, die Jugendliche so spielen, reiausgeschaltet – was in unserer mobilen Gesellschaft mittlerweile die chen Hernani Marques bald nicht mehr: Inspiriert vom Vater, der wenigsten können. ■
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Homeless World Cup Mit erhobenem Kopf aus der Niederlage VON OLIVIER JOLIAT, CO-LEITER STRASSENSPORT
Es stinkt im Shuttle Bus nach Schweiss und billigem Deo-Spray, der an die rund 500 Spielerinnen und Spieler aus 49 Nationen verteilt wurde. Mitten im Gedränge johlen die acht Schweizer Nationalspieler vom Surprise Strassensport im Chor mit anderen: «We’re sexy and we’re homeless!» – eine gewitzte Abwandlung des unsäglichen LMFAO-Songs «Sexy and I know it», der in Dauerschlaufe die Spielfelder des 11. Homeless World Cup (HWC) im polnischen Posen berieselt. Doch weder von schlechter Musik noch der Niederlagenserie in den ersten Turniertagen lassen sich die Schweizer die Stimmung vermiesen. «Gibt man alles, kann man auch nach einer Niederlage mit erhobenem Kopf vom Platz. Machen wir so weiter, wird unsere Zeit schon noch kommen!», gibt Mario Stöckli das Teammotto vor. Im Freundschaftsspiel gegen Schweden gelingt den Eidgenossen endlich der erste Sieg, und in der zweiten Gruppenphase wird Belgien, das später 14 Plätze vor den Schweizern den Ministry of Labour Cup gewinnt, mit 8:6 besiegt. Es bleibt der sportliche Höhepunkt für die Surprise Nati. Doch trotz weiteren, teils sehr unglücklichen Niederlagen
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können die Schweizer ihre Teammoral halten und gewinnen so das letzte Spiel gegen Kanada. Mit dem 38. Platz belegen sie bei ihrer zehnten HWC-Teilnahme denselben Schlussrang wie im Jahr davor. Wichtiger als die Schlussrangierung ist für die Spieler aber sowieso das Erlebnis. So resümiert Goalie Cesare Lanz, der seit mehr als 25 Jahren mit seiner Alkohol- und Drogensucht kämpft: «Aus meiner Junkiezeit habe ich praktisch keine Erinnerungen. Selbst wenn ich in den letzten zwölf Jahren im Programm Janus mit täglich zwei Gratisschüssen eigentlich paradiesische Fixer-Zustände genoss. Aber was ich hier schon an positiven Erlebnissen hatte, wird mir bei meinem Neuanfang ewig bleiben. Und auch von den Tiefs hier kann ich für meine Zukunft lernen.» Weltmeister wurde übrigens Brasilien, obwohl die Mannschaft aus finanziellen Nöten nur mit dem Rumpfbestand von drei Feldspielern und einem Goalie anreisen konnten. ■ Alle Resultate, Spiel-Mitschnitte des HWC auf: www.homelessworldcup.org Fotos und alles zum Abschneiden der Schweizer auf: www.facebook.com/SurpriseStrassensport SURPRISE 308/13
Bei der Eröffnungsparade verbrüdern sich die Schweizer mit anderen Nationen.
Die Surprise Nati posiert bei der Eröffnungsparade vor dem HWC-Plakat.
Vor dem Spiel wird der Teamspirit brüllend beschworen.
Topskorer «Paraba» topft beim Prestige-Sieg gegen Belgien ein.
Sieg gegen Mexico: die Brasilianer mit dem Homeless World Cup.
Der ehemalige Nati-Spieler Ralf Breidenbach ist jetzt Trainer-Assistent.
Louis Nké lässt sich trotz Oberschenkelverletzung nicht vom Spielen abhalten.
Die Schweizer lassen sich trotz fünf Niederlagen nicht die Laune verderben.
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BILD: KEYSTONE
Grosse Bühne für ein vergoldetes Nichts: Präsentation von «La Boule d’Or Centenaire» im HB Zürich 2008.
Dieter Meier «Kunst ist die einzige Möglichkeit, zu leben» Dieter Meier findet sich selbst in der Kunst. Wie ihn das Abzählen von Metallstücken aus der Spielsucht befreite, warum er seit Jahren vergeblich einen Roman zu schreiben versucht, was er an Reinhold Messner verachtet und weshalb der Bankierssohn die Verwertungslogik des Kapitalismus verdammt, erzählt er im Interview.
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INTERVIEW: RETO ASCHWANDEN
In diesen Tagen ist im Aargauer Kunsthaus «In Conversation» gestartet, die erste umfassende Überblicksausstellung Ihrer Werke in der Schweiz. Was bedeutet Ihnen das? Es ist eine grosse Freude und natürlich eine Ehre. Andererseits: Wenn ich lese, was geschrieben wird über meine Arbeit der letzten 40 Jahre, dann bekommt das alles ein zu grosses Gewicht. Ich will nicht sagen, das sei mir nicht recht, aber es ist mir schon fast zu laut. Auch Anerkennung ist eine Form der Vereinnahmung, denn Lob ist eine Anmassung: Man erlaubt sich, mich zu loben. Ich möchte eigentlich überhaupt nicht beurteilt werden, weder positiv noch negativ. Deshalb habe ich mich 1976 von dem, was ich das Kunstrennen nenne, verabschiedet.
ein Verrückter und verteilt Geld. Nach zehn Minuten kamen zwei Polizisten, die das alles nicht verstanden. Sie bestellten psychologisch geschulte Leute, die mich zu meiner Überraschung gewähren liessen. Bei den früheren, direkt politischen Aktionen musste man immer damit rechnen, verhaftet und verprügelt zu werden, und man provozierte das auch, um grössenwahnsinnig das repressive und reaktionäre kapitalistische System zu entlarven. Was waren das für Aktionen? Wir produzierten Strassentheater in der Tradition von Agitprop. Wenn man das Obergericht von Zürich als erstes Bordell der Schweiz mit der Starhure Justizia feierlich einweiht und 300 Demonstranten Farbbeutel auf das frisch renovierte Gerichtsgebäude schmeissen, dann kann das nicht ohne Folgen bleiben. Es war bezeichnend, dass ich nur kurzfristig festgenommen wurde. Nachdem ich zugegeben hatte, der Organisator zu sein, wurde ich wieder freigelassen. Viele Beteiligte bekamen grösste Probleme. Es drohte ihnen, von der Universität gewiesen zu
Wieso denn das? Was ich gemacht habe, ist mir alles existenziell, als Auseinandersetzung mit meinem Da-Sein sehr nahe. Sich den Kunstrichtern auszuliefern, deren Urteile über das Wohlergehen des Künstlers bestimmen, ist entwürdigend. Je «Was ich da tat, war nutzlos, leer und hat sich jeder subjektiver die Bestimmung der Qualität ist, Verantwortung entzogen – ein sinnloses Nichts, genau desto mehr Macht haben die Richter. Ich kam wie ich selbst.» mir vor wie der Hänsel aus dem Märchen, der den Finger aus seinem Käfig streckt, damit werden, und sie mussten hohe Bussen bezahlen. Ich hatte mich auf irgendwelche Leute daran herumdrücken um festzustellen, ob schon geeinen Prozess vorbereitet, an dem ich die Ungerechtigkeit der Klassennügend von dem Fleisch, das sie lieben, an meinen Knochen hängt. justiz hätte thematisieren wollen, wurde aber in dieser Sache nie mehr belangt oder angeklagt. So wurde ich ein paradoxes «Opfer» der KlasAber stolz sind Sie schon auf Ihr Werk? senjustiz, dem man die Bühne eines Gerichtsprozesses, die ich angeOb ich stolz bin oder nicht, hat mit meinem Abschied vom Kunststrebt hatte, nicht geben wollte. rennen nichts zu tun. Ich bin glücklich, dass mir nicht alles zwischen den Fingern zerronnen ist, und habe Freude, dass ein paar Sachen, die Oder Sie erfuhren die Unantastbarkeit des Bankierssohns, der mir zufällig entstanden sind, für einige Leute vielleicht eine Bedeutung Sie sind. haben. Stolz bin ich darauf aber eigentlich nie. Ich sehe mich als RhiDas könnte so sein, wobei diese Bankiersfamilie, aus der ich angebzom: Wenn Temperatur, Regen und, ganz wichtig, die Symbiose mit eilich stamme, eine völlige Übertreibung ist. Mein Vater ist in ärmsten Vernem nahen Baum stimmen, schiessen über Nacht Pilze aus dem Boden, hältnissen aufgewachsen. Er war ein kluger Junge, und nach dem Krieg und wenn sie da sind, wundere ich mich wie ein Unbeteiligter. Manchmachte man ihn zum Direktor einer kleinen Bank, die fast pleite war, mal bin ich dann idiotischerweise stolz. die er dann zu gutem Erfolg führte. Worauf denn? Welchen Einfluss hatte Ihr familiärer Wohlstand auf Ihr KunstEs ist für mich sehr schwierig, an der Schreibmaschine zu sitzen und schaffen? an einem Text zu arbeiten, weil ich faul bin und schlampig. Wenn mir Meine finanzielle Unabhängigkeit hatte sicher den Vorteil, dass ich das trotzdem gelingt, bin ich kindisch stolz, dass ich mich ein paar Stunmich nicht unmittelbar in den Verwertungsprozess einer Lohnarbeit einden konzentrieren konnte, und schreibe das irrtümlicherweise meinem schleusen musste. Der Nachteil lag in der Schwierigkeit, aus dieser FreiWillen zu. heit heraus überhaupt noch irgendetwas zu tun: Ich musste mir die Hürde, die ich überspringen wollte, selber zusammenzimmern und dann Viele Ihrer frühen Aktionen spielten im öffentlichen Raum. 1969 aufstellen. Daran und an den blödsinnig hohen Ansprüchen an mein zählten Sie auf dem Pfauenplatz vor dem Zürcher Kunsthaus fünf Tun bin ich für viele Jahre fast verzweifelt und bin vor der Welt geTage lang 100 000 Metallstücke ab und füllten Sie in Plastiktüten. flüchtet in die hermetische Abgeschlossenheit der pervertierten, sinnWelche Reaktionen würde eine solche Aktion im öffentlichen stiftenden, tage- und nächtelangen Pokerseancen. Mit meiner ersten AkRaum heute auslösen? tion 1969, dem Abzählen von 100 000 Metallstücken in Tüten à 1000 bin Das kann ich nicht sagen. Damals musste ich damit rechnen, dass die ich der Spielsucht entronnen. Was ich da tat, war nutzlos, sinnlos, leer Polizei oder Nervenärzte mich abholen. In New York wäre ich 1971 beiund hat sich jeder Verwertung entzogen. Es war auf der Welt, ohne nahe verhaftet worden. Ich hatte einen Stand aufgebaut, auf dem zu irgendeine Rechtfertigung ausser der, dass ich es wollte: Die Aktion war lesen stand: «Dieter Meier buys the word Yes or the word No for one ein sinnloses Nichts, genau wie ich selbst. dollar.» Die Leute standen Schlange, dachten wohl, da steht irgend so SURPRISE 308/13
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BILD: DIETER MEIER, DER FALSCHE MAGIER, 1982
BILD: DIETER MEIER, TWO WORDS, 1971; FOTO: JEAN HAUBENSAK
Findung und Erfindung seiner selbst im Sinne einer Aufforderung des 1969 war das gesellschaftliche Klima repressiver als heute. Wanderpredigers aus Nazareth, der gesagt hat: «Werdet wie die KinMachte es das im Vergleich zu heute einfacher, Irritationen ausder». Das ist eine Aufforderung zur Anarchie. Wie die Kinder zu werzulösen mit relativ einfachen Sachen, wie dem Abzählen von den heisst, dass man das Wunderbare, Einzigartige in sich entdeckt Metallstücken? Ich glaube, dass die eigentliche Provokation der Kunst heute viel stiller geworden ist, er«Es ist für mich sehr schwierig, an der Schreibmaschine fahrbar wie die Emotionalität der Selbstporträts von Rembrandt oder der Streichquartette zu sitzen und an einem Text zu arbeiten, weil ich faul bin von Beethoven. Die gezielten Provokationen und schlampig.» eines Damien Hirst zum Beispiel, ausgezirkelt im Rahmen der repressiven Toleranz der bürund lebt. Alle Systeme der Welt perfektionieren die Methoden, dir dich gerlichen Kunstsammler, sind längst zum Kitsch der Postmoderne verwegzunehmen und Leben zu pervertieren als Mittel zum Zweck. Das kommen und damit die röhrenden Hirsche auf den aktuellen Märkten. Leben zu verstehen als Selbstzweck, als das wunderbare Nichts des Daseins, würde die Menschenverwertungssysteme an den Wurzeln anGeht es Ihnen um eine Rückkehr zum Schönen? greifen. Nicht im Sinne des Schönen, das die Romantik gemeint hat, die mit ihren Idealisierungen in den Salto mortale des Kitsches abschmierte. Es Das Nichts ist ein Begriff, der bei Ihnen immer wieder auftaucht. geht um eine neue emotionale Beziehung zwischen Werk und BetrachSie haben die Association des Maîtres de Rien gegründet, die ter, welche das öde Durchbeten von Abstraktion und die Illustration sich dem Nichts verschrieben hat. Sie arbeiten dort mit Objekten philosophischer Dritt-Klass-Theoreme überwindet. Die Inhalte sind unter dem Titel «Le Rien en Or» – so eine Art «goldigs Nütelinüt». zweitrangig, es geht um die Form, auch bei der zehntausendsten DarWorum geht es Ihnen dabei? stellung der Verkündigung des Erzengel Gabriel. Das goldene Kalb steht im Zentrum aller Systeme. Der Gier und Macht dienen die Altäre, der Rest ist Überbau, Opium für das Volk. Wo Sie von der Form sprechen: Im Buch «Hermes Baby» fand ich Wenn ich das Nichts vergolde, vergolde ich das einzig Wertvolle. den schönen Satz: «Das Rückgrat der Funktion erlaubt der Form den aufrechten Gang.» Ist das eine Absage an «L’art pour l’art»? Und zwar auf der grossen Bühne: 2008 liessen Sie in der Halle des Im Gegenteil: Kunst muss «L’art pour l’art» sein. Kunst ist die einziZürcher Hauptbahnhofs eine goldene Kugel über einen Holzbalge Möglichkeit, zu leben. Sie muss sich selbst genügen. Sie ist die Ausken rollen, die anschliessend in einen Schacht gelegt wurde, aus einandersetzung des Artisten mit seinem Dasein auf der Welt und der
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Wie lange arbeiten Sie schon an diesem Roman? dem Sie die nächsten 100 Jahre immer mal wieder herausgeholt 20 Jahre, immer wieder mal. Die letzten 16 Monate habe ich keine und präsentiert werden wird. Der damalige Stadtpräsident LederZeile zustande gebracht. gerber hielt dazu eine Rede. Eine sehr gute Rede über das Nichts und die Unbedeutung. Ich möchMöchten Sie ihn denn überhaupt zu Ende bringen? te die Absicht der Association am Begriff «inutile» erläutern: Der ist mit Eigentlich schon. Hier bin ich ehrgeizig und eitel und bilde mir wie dem Wort «unnütz» eigentlich schlecht übersetzt. «Utiliser» heisst gejeder Schreiber ein, ich hätte eine eigene Sprache und sei es mir schulbrauchen und «inutile» wäre somit etwas, das nicht zu gebrauchen ist, dig, den Roman, der vermeintlich in mir steckt, endlich auszuspucken. im Sinne der Verwertbarkeit, um nicht zu sagen Verwurstbarkeit des Daseins. In dem wunderbaren Buch «La conquête de l’inutile» («Die Eroberung des Unver«Wenn ich das Nichts vergolde, vergolde ich das einzig wertbaren») hat der französische Alpinist LioWertvolle.» nel Terray seinen einsamen Dialog mit dem Berg beschrieben. Sein Alpinismus hat nichts Schriftsteller war immer mein Traumberuf, total verblendet und idealizu tun mit den Rekorden dieser Publicity-Kletterer, jenen erbarmenssiert, geprägt von den Literaten-Darstellern Frisch und Dürrenmatt. Den würdigen Kerlen, die ohne Sauerstoff auf den Mount Everest steigen und kindischen Wunsch nach Ruhm und Ehre des Dichters werde ich wahrdamit ihr Leben riskieren. Sie sind im Gegensatz zu Terray systemverscheinlich mein Leben lang nicht los, weil ich meine Heroen als Taugesaute Knechte der Mittel-zum-Zweck-Systeme der spätkapitalistischen nichtse in der Kronenhalle sitzen sah und ihr Habitus mich weit mehr Daseinsverwertung, wie dieser Österreicher … beeindruckte als das Werk. Diese Eindrücke sind in mein Spatzenhirn eingebrannt. «Die Maske des Erzählers» ist an der Oberfläche ein Krimi, Reinhold Messner? wobei mich die Geschichten nur interessieren wie einen Komponisten Messner, genau. Weil er sich an sich selbst vergeht, ist er auch für das Libretto. Es geht um den Klang der Sprache, um das Jonglieren mit mich als Atheist ein jämmerlicher Gotteslästerer. Um einen Rekord aufWörtern, um das Setzen der Töne. Selbstverständlich bin ich ein Stümzustellen, riskiert er sein Leben – und damit «das Göttliche in nuce». Er per, der immer wieder im «Ulysses» von James Joyce herumirrt und sich verrät das Prinzip der «conquête de l’inutile», das im Bergsteigen eine an der Musik des Dichters freut, weil die Sprache nicht das Leben abForm des würdigen Daseins gefunden hat. bildet, sondern das Leben ist. Warum widerstrebt Ihnen die Verwertbarkeitslogik dermassen? Angeblich hat ja nie jemand den «Ulysses» zu Ende gelesen. Mich stört das Paradigma des Lebens als Mittel zum Zweck für Den muss man auch nicht zu Ende lesen. Ich schlage das Buch imirgendein verdammtes System, sei es die allein Seligmachende oder der mer wieder auf und lese 20 Seiten. Die Sprache transportiert ja nicht eiKapitalismus in seiner Endphase, dessen einziges Regulativ nicht etwa nen Inhalt. Die Sprache ist Musik, und das Libretto kenn ich schon. das Wohlergehen von Mensch und Natur ist, sondern im Gegenteil ihre schamlose Ausbeutung im Sinne des einzigen Agens, der Rentabilität Abgesehen vom Buch – was kommt als Nächstes? des Kapitals. Nach unserem Interview gehe ich zur Auslotung meiner Befindlichkeit der einzigen zenbuddhistischen Übung nach, die der «Freie Westen» Man könnte jetzt sagen: Der Meier hat gut reden, denn er ist erfunden hat – ich werde Golf spielen. Golf ist wie das Zen in der Kunst finanzieller Sachzwänge enthoben. des Bogenschiessens. Seit ich ein kleiner Junge war, bin ich fasziniert daGerade deshalb habe ich die Verpflichtung, sie infrage zu stellen. von, aus einem Schwung heraus einen kleinen Ball in eine Flugbahn zu katapultieren. Golf ist wie Schreiben: eine Schule der Demut. Um Ihrem Leben einen Sinn zu verleihen? ■ Wer möchte das nicht, sich einen Sinn geben? In meinem Roman «Die Maske des Erzählers», der vielleicht nie fertig wird, versuche ich dem «inutile» des Lebens näher zu kommen. Schreiben kann ich nur, Dieter Meier – die erste grosse Ausstellung in der Heimat wenn ich mich einsam der absoluten Langeweile überlasse und mich «Es ist an der Zeit, die Bedeutung dieses Künstlers und dessen Redann an die Schreibmaschine setze und Buchstaben aufs Papier hämzeption im Bereich der Bildenden Kunst neu zu definieren und zu vermere, als Lebenszeichen sozusagen. handeln», heisst es in der Medienmitteilung des Aargauer Kunsthauses zur Ausstellung «In Conversation». Tatsächlich ist Dieter Meier Ist Schreiben das Schwierigste für Sie? (*1945) einer breiten Öffentlichkeit primär als Sänger von Yello ein BeAbsolut. Schreiben ist die härteste Begegnung mit den Grenzen deigriff. In jüngerer Zeit machte er sich auch als Produzent von argentiner Möglichkeiten. Der Zweifel am letzten Satz zerfrisst den Wunsch nischem Rindfleisch und Wein einen Namen. Daneben ist er aber auch nach dem nächsten. Bei der Musik und der Malerei ist das Erfahrbare Autor und Künstler, der in verschiedenen Sparten von Performance verschwommener, und deshalb ist der Produzent weniger ein Gefangeund Installation über Fotografie bis zu Film tätig ist. Schon in den ner der Reflexion des unmittelbaren Tuns. Siebzigerjahren wurden seine Werke bei der Documenta in Kassel und im Kunsthaus Zürich gezeigt. Danach zog sich Meier für viele Jahre Dabei empfinde ich Ihre Art zu schreiben als sehr lustvoll und veraus dem «Kunstrennen», wie er es nennt, zurück. Erst in den letzten spielt. Jahren wurden ihm mehrfach Ausstellungen in Deutschland gewidSchön, dass Sie meine Sätze so empfinden, dass der «Chnorz» der met. «In Conversation» ist nun die erste umfassende ÜberblicksausEntstehung nicht mehr an den Wörtern klebt. Als Kurzstreckenläufer, stellung in der Schweiz. Passend zum Titel wird Meier im Rahmen der der auf einen Termin hin einen Text abliefern muss, bin ich in der Lage, Ausstellung mit verschiedenen Gesprächspartnern konversieren, zuden endlosen Zweifel zu überwinden. Ein längerer Text oder Roman erdem sind Konzerte mit Klavierbegleitung sowie mit seiner neuen Band drückt mich fast, wie die Idee des Ganges durch eine unbekannte WüsOut Of Chaos angekündigt. te, ohne Hut und Kompass. Hundertmal schon habe ich mich auf den Weg gemacht und bin immer wieder in der ersten Oase hängengeblie«In Conversation», 7. September bis 17. November, Aargauer Kunsthaus, Aarau. ben, wo ich mich von Datteln ernähre und von der reinen Liebe träume. www.aargauerkunsthaus.ch SURPRISE 308/13
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BILD: REUTERS/SHANNON STAPLETON
Protest ist nicht mehr nur die Sache junger Revolutionäre: Ein Rentner solidarisiert sich mit Occupy-Wall-Street-Demonstranten in New York.
Widerstand Wann, wenn nicht jetzt? Totale Überwachung, Kommerzialisierung, postdemokratische Zustände: Gegenwehr ist nötiger, aber auch schwieriger denn je. Wir müssen mit dem Widerstand gegen uns selbst beginnen.
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VON CHRISTOF MOSER
Echtzeit überwachen können, die Jagd nach dem Verräter des geheimen Überwachungssystems legt ausserdem offen, dass sich demokratisch gewählte Regierungen gleich reihenweise keinen Deut um die Verteidigung bürgerlicher Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Privatsphäre scheren. Das Konglomerat aus staatlichen Geheimdiensten und kommerziellen IT-Konzernen wie Google «bildet ein politisches Paralleluniversum, in dem die Demokratie keine Rolle mehr spielt», sagt der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der weiter beunruhigt konstatiert: «Wir leben in postdemokratischen Zuständen.» Als wäre ein weiterer Beweis für diese bemerkenswerte Aussage nötig gewesen, drangen Mitarbeiter des britischen Geheimdiensts vor einigen Wochen in die Londoner Redaktion der Tageszeitung The Guardian ein und verlangten die Vernichtung von Harddiscs, auf denen Journalisten Datenmaterial von Edward Snowden gespeichert hatten – ein nie da gewesener Eingriff in die Pressefreiheit einer Demokratie, der das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit des freien Westens schlagartig beendet hat. Wenn nicht jetzt Widerstand, wann dann? Nicht minder bedrohlich als das Vorgehen der Behörden ist allerdings der Gleichmut weiter Teile der Bevölkerung über diese tektonischen Verschiebungen in der Welt, wie wir sie bisher kannten. Die diffuse Angst vor äusseren Feinden der Freiheit scheint stärker zu sein als die Wut auf die, die sie von innen aushöhlen.
Die Regeln der Gesellschaft brechen, um die Gesellschaft zu verändern – wenn nötig auch mit Gewalt gegen Sachen, mit Blockaden, zivilem Ungehorsam: Dieser Aufruf ist längst nicht mehr nur in den Wandzeitungen linker Splittergruppen zu finden, sondern hat inzwischen auch den Weg in die Buchhandlungen gefunden. «Sabotage» – so heisst ein aktuelles Sachbuch, das offen zum Widerstand aufruft. Geschrieben von Jakob Augstein, Herausgeber der Wochenzeitung Der Freitag und Sohn von Spiegel-Gründer Rudolf Augstein. Auf den ersten Seiten findet sich darin sogar eine praktische Anleitung zum Basteln von Farbbeuteln, um den Worten Taten folgen zu lassen. «Der Staat, der weder den Wohlstand seiner Bürger schützen kann noch ihre Moral vertritt, verwirkt den Anspruch auf Gehorsam und Loyalität. Ein Staat, der nur wenige Tage braucht, um Milliardenbeträge für die Rettung der Banken bereitzustellen, aber viele Jahre, um die Finanztransaktionssteuer einzuführen, ist dabei, diesen Anspruch zu verwirken», schreibt der Historiker und Publizist, ein Millionenerbe, angesehenes Mitglied der linksliberalen Elite, nie unterwegs ohne gebügeltes Hemd und Jackett. Der Aufruf zur Gegenwehr ist damit definitiv in der Mitte der Gesellschaft angekommen, genauer noch: in der Mitte oben links. «Empört euch!», hatte der frühere französische Widerstandskämpfer Überwacht oder verdächtig und spätere UN-Diplomat Stéphane Hessel uns allen erst 2010 in seiner Gegenwehr, das muss man dazu sagen, ist tatsächlich auch ziemlich gleichnamigen Streitschrift zugerufen, die in Millionenauflagen zu so etschwierig geworden: Nötig wäre gewissermassen Widerstand gegen uns was wie dem geistigen Brandbeschleuniger der «Occupy»-Bewegung geselbst, die wir alle Social Media wie Facebook und Twitter sowie die Teworden ist, nur ein Jahr später gefolgt von «Engagiert euch!». Und jetzt bereits die nächste Stufe, von Augstein: «Wehrt euch, auch mit Gewalt!» Die Kritik an seinem Der Aufruf zur Gegenwehr ist in der Mitte der Gesellschaft Buch liess natürlich nicht lange auf sich warten: «Die höchste Aufgabe des Staates ist die angekommen, genauer noch: in der Mitte oben links. Sicherung und Durchsetzung des Rechts, hieraus speist sich seine Legitimität – und sicher lefon-Apps zum Einkaufen, Orientieren und Vernetzen benutzen und nicht aus dem Schutz von Wohlstand», schleuderte ihm die Tageszeiuns damit gleich selber in gläserne und kontrollierbare Konsumenten tung Die Welt entgegen, fassungslos über seine «Ungeheuerlichkeit, soverwandeln, die den freien, aufgeklärten Bürger ersetzen. Das Versprezialen Wandel durch physische Nötigung erzwingen zu wollen». Denn chen auf eine bessere Welt dank Vernetzung und freier MeinungsäusseWiderstand, so dozierte das Blatt, setze «die Illegitimität eines Regimes rung, das die Aufstände in Nordafrika und anderen Regionen der Welt voraus», und westliche Demokratien hätten legitime Regierungen, die mit stimmungsvollen Bildern genährt haben, hat sich in einen Alptraum nur mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden verwandelt, aus dem es nur mit einem radikalen Ende der Bequemlichdürften. keit ein Aufwachen gibt. Für die Minderheit, die sich den Weckrufen verpflichtet sieht, wird die Lage immer ungemütlicher. «Wer nichts zu Geheimdienst als Paralleluniversum verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten»: Dieser häufig gehörte Seit der Veröffentlichung von Augsteins Buch und dieser Kritik daran Satz ist das Entsolidarisierungs-Mantra des Mainstreams mit Querdensind nicht einmal zwei Monate vergangen, und schon liest sich der bekern, Unruhestiftern und Widerständlern in der Gesellschaft, mit dem rechtigte Hinweis auf demokratische Prozesse bereits wie aus einer alle verdächtig gemacht werden, die sich der totalen Überwachung entlängst vergangenen Zeit. In den wenigen Wochen dazwischen verwanziehen. «Was wir erleben», sagt der deutsche Publizist Frank Schirrmadelte sich die westliche Welt, die wir als demokratische Rechtsstaaten cher, «bestätigt die dunkle Prophezeiung des Philosophen Michel Foukennen, in atemberaubendem Tempo in eine Überwachungsdiktatur, die cault vom Homo Economicus, der nur noch nach Effizienzkategorien Widerstand nicht nur legitimiert, sondern geradezu erzwingt. Mit den und Nutzenoptimierungen funktioniert und damit hervorragend regierEnthüllungen von Whistleblower Edward Snowden wurde nicht nur pubar ist.» blik, dass die Geheimdienste im Internet alles und jeden von uns in SURPRISE 308/13
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BILD: REUTERS/ANA CAROLINA FERNANDES
Augsteins Buch zum Trotz: Dass selbst in Zeiten grösster Unterdrückung gewaltlose Gegenwehr der beste Widerstand ist, zeigte spätestens Mahatma Gandhi, der 1947 mit seinem Aufruf zu zivilem, gewaltfreiem Ungehorsam das Ende der britischen Kolonialherrschaft über Indien erreichte. Gewalt, zumal gegen Personen, setzt eine Spirale in Gang, die nicht selten im Terror endet, wie die Aktionen der linksextremistischen RAF in den Siebzigerjahren in Deutschland zeigten. Allzu naiv darf man jedoch nicht sein, weshalb ein Diskurs über legitime Formen des Widerstands dringend angezeigt sind. Umweltschutz gilt als Öko-Terrorismus Der Totalüberwachung im Namen der Sicherheit ging nach den Terroranschlägen von 9/11 eine massive Verschärfung der Terrorgesetze voran – nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Ein dunkler Vorbote, was dies für Aktivisten bedeutet, die gewaltfreien Widerstand leisten, zeigte sich schon zwei Jahre nach den Anschlägen in New York: Umweltschützer, die sich im US-Bundesstaat Kalifornien an 120 Meter hohe, über 1500 Jahre alte Mammutbäume ketteten, um sie vor einer Abholzung zu schützen, wurden als «Öko-Terroristen» verurteilt und wanderten teilweise über 20 Jahre ins Gefängnis. Seither sind in den USA hunderte Umweltschützer von den Justizbehörden mit drakonischen Strafen für zivilen Ungehorsam belegt worden. Repressionen mussten auch viele Mitglieder der «Occupy Wall Street»-Bewegung hinnehmen, die ab Oktober 2011 nach dem Vorbild der Bewegung 15. Mai (auch bekannt als Movimiento-15-M, die in 58 spanischen Städten demonstriert hatten) den Protest für mehr Demokratie ins US-Finanzzentrum New York trugen. Als sie an den darauffolgenden Weihnachtstagen in einer Protestpause ihre Familien besuchen wollten, wurden sie an den US-Flughäfen als Terroristen festgehalten. Trotz dieser Repressionen des Staates gegen das Aufmucken seiner Zehntausende Brasilianer gingen 2013 auf die Strasse, um gegen Korruption und Bürger ist der weltweite Protest für mehr Demokratie und gegen die Allden schlechten öffentlichen Dienst zu demonstrieren. macht der globalen Finanzmärkte seit der Initialzündung in Spanien trotz dem Abflauen der weltweiten «Occupy»Bewegung nie wieder ganz abgerissen. «Occu«Der Totalüberwachung im Namen der Sicherheit ging py» weckte überhaupt erst den Hunger nach Demokratie in Tunesien, Libyen und Ägypten, nach den Terroranschlägen von 9/11 eine massive Verwas in den Arabischen Frühling mündete und schärfung der Terrorgesetze voran.» leider auch in blutige Kriege wie in Syrien oder eine militärische Konterrevolution wie in kutieren, was in welcher historischen Situation mehr Erfolg verÄgypten. In den letzten Wochen und Monaten gingen in Griechenland, spricht.» Deutschland, der Türkei und zuletzt auch in Brasilien hunderttausende Wie dringend notwendig das Aufstarten dieses Diskurses ist, zeigte Menschen für ihre Rechte auf die Strasse, und überall glichen sich die sich in der unterschiedlichen Bewertung von Protesten diesen Sommer Bilder: Schlagstöcke, Gummischrot und Tränengas gegen die Meinungsin Istanbul und Zürich. Während den Demonstranten in der türkischen äusserungsfreiheit. Überall dort, wo die Proteste aufflammen, stellt sich Hauptstadt im Kampf gegen die gewalttätige Polizei der Applaus aus auch immer wieder aufs Neue die Frage nach legitimen Widerstandsdem linksliberalen Schweizer Milieu sicher war, obwohl danach die halformen. Im Sommer 2012 besetzten in Berlin 300 Rentnerinnen eine Sebe Istanbuler Innenstadt in Trümmern lag, führten verschmierte Hausnioren-Begegnungsstätte, um den Verkauf des Gebäudes an Spekulanten fassaden, zertrümmerte Schaufenster und ein geplünderter Coop am zu verhindern. In Madrid besetzten ebenfalls im Sommer des letzten Rande einer Demonstration von Zürcher Hausbesetzern Anfang März zu Jahres brave Bürger über 50, die sich «Yayoflautas» nennen, was «Straswortreichen Distanzierungen aus denselben politischen Kreisen. Keine senoldies» heisst, Banken und Behördengebäude. «Widerstand ist keine Frage: Die Randalierer unter den Demonstranten haben die politischen Frage des Alters, sondern der Haltung», liessen die rüstigen Besetzer Anliegen eines mehrheitlich kunterbunten Protestzugs mutwillig disMedienvertreter wissen. kreditiert. Keine Frage auch: Der Polizeieinsatz in Zürich war weit vom Gewaltexzess der türkischen Sicherheitsbehörden entfernt. Aber wenn Die Gewaltfrage hat Tücken selbst politisch zugewandte Kreise vor lauter Distanzierungen das Selbst in die beschauliche Schweiz schwappte kürzlich der WiderGrundanliegen des Protests aus dem öffentlichen Diskurs verdrängen, stands-Diskurs. Nachdem die Weltwoche versucht hatte, Tages-Anzeizeigt dies vor allem, dass die Legitimität von Widerstand und seiner zuger-Chef Res Strehle in die Nähe des Linksterrorismus zu rücken, weil weilen unbequemen Ausdrucksformen in der sich dramatisch veräner in den Achtzigerjahren zu den Zürcher Bewegten gehörte, gab dernden Welt neu bewertet werden muss. Entzündet hat sich der ProStrehle einen bemerkenswerten Satz zu Protokoll: «Es gibt auf die Getest in Istanbul wie Zürich nämlich am gleichen Problem: der rasant waltfrage nicht nur eine apodiktische Antwort: ja oder nein. Die Skafortschreitenden Ökonomisierung und Kommerzialisierung des städtila zwischen der Gewaltfreiheit eines Dalai Lama und dem militärischen Raums, die alles, was nicht käuflich ist, und alle, die nichts beschen Weg der kurdischen Arbeiterpartei PKK oder dem Widerstand zahlen können, verdrängen. gegen den Nationalsozialismus ist breit. Es wäre interessant zu dis■
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Der Alliierte VON LORENZ LANGENEGGER
I So etwas kann ich mir nicht vorstellen, so etwas denke ich mir nicht aus. Natürlich, wenn einer einen Krimi schreiben will, muss er Blut sehen können, das leuchtet mir schon ein, das war auch nie ein Problem, nicht im Nothilfekurs, als Stefan im dunklen Raum beim Diavortrag der Unfallbilder röchelnd vom Stuhl kippte, auch nicht als mein Vater noch Kaninchen schlachtete. Ich stand fasziniert daneben, wenn er sie in der Waschküche über dem Becken an den Hinterläufen aufhängte, sie ausbluten liess und ihnen den Bauch aufschnitt. Ich liess mir die Eingeweide und Organe jener Tiere erklären, die eben noch von mir gestreichelt worden waren und am gleichen Abend auf meinem Teller landeten. Mit sechzehn war ich naiv genug, mich im Biologieunterricht freiwillig zu melden, als es darum ging, einer Ratte mit einem Skalpell auf den Pelz zu rücken. Die vegetarische Fraktion der Klasse, der fast alle Mädchen angehörten, beschimpfte mich lange Wochen als Mörder und schnitt jedes Mal, wenn ich in ihre Nähe kam, angeekelt Grimassen. Ich esse bis heute gerne Fleisch und scheue mich auch vor Innereien nicht. Die Blutwurst schmeckt mir ausgezeichnet. Was ich aber an meinem ersten Tag in Berlin erblicke, unterbietet jeden schlechten Geschmack. Ich wünsche mich auf der Stelle zurück nach Heidelberg, wo ich als Theaterautor unter vielen darüber spekulierte, ob der ungarische Regisseur die Scheibe der Eingangstür nach der Premiere mit blosser Faust, mit seinem Telefon oder mit einer Bierflasche eingeschlagen hatte. Ich will nicht Krimiautor sein, wenn es bedeutet, sich mit solchen Abscheulichkeiten auseinandersetzen zu müssen. Dabei hatte der Spaziergang vielversprechend angefangen. Meine einflussreiche Stimme stand in der Tür zum Arbeitszimmer und klagte über Konzentrationsmangel und Bewegungsdrang. Erst gestern waren wir aus Heidelberg im tiefen Westen Berlins angekommen. Der Schlüssel lag wie versprochen bei der NachSURPRISE 308/13
barin bereit. Der Balkon übertraf mit seiner Grösse sämtliche Erwartungen. Die Wohnung freute uns mit all ihren Details, kein Vergleich zur Absteige in Heidelberg, die in einem nicht nur abbruchreifen, sondern dafür auch vorgesehenen Haus untergebracht war. Wir machten uns also auf, die nähere Umgebung zu erkunden. Auf die Arbeitersiedlung aus den Zwanzigerjahren folgten Einfamilienhäuschen, eine holländische Windmühle aus dem 18. Jahrhundert, das weitläufige Universitätsgelände, ein ausgedehnter Park, überhaupt viel Natur überall, die Strassen wurden von Bäumen gesäumt, die Wege von Sträuchern, und alles in frühlingsgrüner Pracht. Auf der Clayallee dann der erste Hinweis auf meine Arbeit als Krimiautor. An der Ampel klebte ein Zettel, auf dem besorgte Anwohner darum baten, einen dunkelroten Wagen mit Bochumer Kennzeichen im Auge zu behalten, der stundenlang vor der Rudolf Steiner-Schule stand. Daraus könnte eine Geschichte entstehen, eine tragisch rührende über einen verstossenen Vater, der seiner Tochter aus der Ferne beim Spielen zuschaut, bis ihn der besorgte Mob mitsamt seinem Auto verbrennt, eine berührende Geschichte über Stolz und Vorurteile, die ein böses Ende nimmt, ohne dass die Gerechtigkeit siegt, weil es keinen gibt, der zur Verantwortung gezogen werden kann. Eine Horde wütender Eltern kann nicht vor Gericht gestellt werden. Wer hat den Stein geworfen, wer hat die Fackel in Brand gesetzt? Aber nein, es war weit und breit kein dunkelrotes Auto in Sicht, nur der verwitterte, gelbe Zettel an der Ampel. Auf der anderen Strassenseite zog eine Hastings TG 503 unsere neugierigen Blicke auf sich. Sie stand im Hof des Alliiertenmuseums vor dem ehemaligen amerikanischen Kino Outpost. Während der Luftbrücke waren mit ihr im Minutentakt Lebensmittel und Kohle nach Westberlin geflogen worden. Aus einer neugierigen Laune heraus, und weil es keinen Eintritt kostete, traten wir ein. Wir waren die einzigen Besucher. Es gab keine Kasse und keine Aufseher. Wir streiften zwi-
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schen den Tafeln herum, erfuhren etwas über jüdische Emigranten auf Seiten der Alliierten, über das Ende des Krieges und die guten Taten der westlichen Besatzungsmächte. Bald verlor ich meine einflussreiche Stimme aus den Augen, weil ich hier und sie da verweilte, weil sie vor einem Bildschirm mit historischen «Welt im Film»-Dokumenten hängenblieb. Und damit nahm das schreckliche Verhängnis seinen Lauf.
Wahnsinn, der in meinem Bauch um sich greift? Wo ist meine einflussreiche Stimme? Im Alliiertenmuseum habe ich sie noch gesehen. Sie hat mir die Hand auf die Schulter gelegt, als das Absperrband ausgerollt wurde. Sie hat mich angeschaut und mit mir geredet. Was hat sie gesagt? Ich war nicht bei mir, kein Wunder nach allem, was ich gerade durchgemacht hatte. Ich kann mich ganz genau an ihr Gesicht erinnern, als ich dem freundlichen Polizisten in Zivil zu seinem Wagen folgte, aber nicht an ihren letzten Satz. So etwas würde sie mir nie zutrauen. Hat sie das gesagt? So etwas hätte sie mir nie zugetraut. Das ist ein gewichtiger Unterschied. Ich presse mir die Hände auf die Schläfen. Es hilft nicht. Die Sätze geraten in meinem Kopf durcheinander. Was habe ich dem freundlichen Polizisten erzählt? Ich habe ihm alles ganz genau erklärt. Satz für Satz. Zum Glück hat er das Tonband mitlaufen lassen, darauf ist alles aufgezeichnet, alles, was mir jetzt so schrecklich durcheinander gerät. III Ja, ich war alleine unterwegs, so ist das in einem Museum, ich verstehe die Paare nicht, die Hand in Hand durchs Museum gehen und jedes Bild, jede Schautafel genau gleich lang anschauen, man kann sich ja nicht verlieren in einem Museum, man trifft sich am Ausgang wieder, und deshalb war ich alleine, als ich den kleinen Raum betrat, in dem es eigentlich gar nichts zu sehen gab, dunkel war es, ein leerer Schaukasten stand da, den habe ich zuerst gesehen, bevor ich dann von diesem Geräusch, diesem Gurgeln abgelenkt wurde, ich habe mich also gegen den Durchgang gedreht und sah erst nur diese Uniform und überlege mir, weshalb sie die verkehrt herum aufgehängt haben, mit dem Füssen nach oben, Uniformen gab es überall in diesem Museum, bis ich begriff, dass da ein Mensch drinsteckte, in dieser Uniform, dass die seltsamen Geräusche aus dem Mund dieses Menschen kamen, und weil sich meine Augen da auch schon an die Dunkelheit gewöhnt haben, erkannte ich jetzt auch, dass die Uniform ganz nass war, auf den ersten Blick dachte ich an Wasser, die Uniform war dunkelblau, und im Dunkeln habe ich da nicht gleich erkannt, dass die glänzende Nässe nicht von Wasser stammen konnte, im zweiten dann allerdings schon, weil dem Mann das Blut auch übers Gesicht lief, und weil er ziemlich bleich war, obwohl er an den Füssen aufgehängt war, gab das einen deutlichen Kontrast zum roten Blut, Nasenbluten war meine erste dumme Erklärung, weil wenn einer mit dem Kopf nach unten an der Wand hängt, ja vielleicht ist das eine Möglichkeit, das Nasenbluten zu stoppen, als Museumswächter ist das sicher unangenehm, wenn die Nase blutet, gerade wenn man alleine ist, kein Kollege da, der ihn für einen Moment ablösen kann, bis das Blut gestoppt ist, aber diese Erklärung liess sich natürlich nicht aufrechterhalten, weil da viel zu viel Blut war und nicht nur Blut nein, eigentlich fast wie beim Kaninchen aus meiner Kindheit, der Darm, die Innereien, wissen Sie mein Vater hat Kaninchen gehalten
II Ich bin ein harmloser Theaterautor, ich habe mit Krimi nichts am Hut, will ich ihnen zurufen, denen da draussen, aber keiner hört mich, keiner hört mir zu. Da ist überhaupt niemand mehr, denke ich und klopfe gegen die Tür. Nichts, keine Antwort. Harmloser Theaterautor, höre ich meine Worte von ihren Stimmen in meinem Kopf hämisch wiederholt, und was ist mit Erst sah ich nur diese Uniform und überlege mir, wieso sie Ihrem Roman, ertrinkt da nicht einer, und die Theaterstücke, gibt es auch nur eines, in dem die verkehrt herum aufgehängt haben, bis ich begriff, dass keine Figur stirbt? Woher die das alles wissen, da ein Mensch drinsteckte. überlege ich mir, die können doch nicht in den wenigen Stunden, in denen ich hier drin sitze, und beim Schlachten habe ich dann gerne zugeschaut, wenn er sie an alles gelesen haben, was ich bisher geschrieben habe. Und Ihre grossarden Hinterläufen aufgehängt hat und den Bauch aufgeschnitten, gerade tige Idee, mit der Sie reich und berühmt werden wollen, ist das etwa so wie hier, und da habe ich eigentlich schon aufgehört zu denken oder kein Krimi? Und die Kurzgeschichte, deren Abgabetermin Sie soeben Erklärungen zu suchen, sondern habe angefangen zu handeln, ich haversäumen? Ich spüre, wie sich die Angst in meinem Bauch Platz verbe das Taschenmesser aus dem Rucksack genommen, ja, das Schweizer schafft. Warum wissen die von meinen Ideen? Ich gebe zu, dass ich in Offiziersmesser, das kennen Sie bestimmt, das rote, hier, genau, Sie hader Begeisterung vielleicht dem einen oder der anderen davon erzählt ben es dabei, damit habe ich das Seil durchgeschnitten, an dem er hing, habe, den die Sache nichts angeht, der sich nicht für meine Texte interund gleichzeitig habe ich versucht ihn festzuhalten, weil sonst wäre er essiert, also auch nicht für meine Ideen, aber wer hat diesen Leuten von ja unkontrolliert zu Boden gefallen, hätte womöglich einen Überschlag meinen Vorhaben berichtet, die nur als Dokumente auf der Festplatte gemacht, was mit einem aufgeschlitzten Bauch sicher nicht gesund ist, meines Computers existieren? Oder ist es nicht die Angst, sondern der
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IV Der Polizist in Zivil ist nicht mehr freundlich. Ich glaube, es ist inzwischen Nacht und wieder Tag geworden. Aber so genau lässt sich das hier drin nicht sagen. Er redet viel zu laut. Er schreit mich an. Dazwischen spielt er mir meine Aussage vor. Ja, das habe ich alles gesagt, genau so, das kann ich nicht leugnen, das ist alles richtig, genau so. Er knallt mir das blutige Messer in einem Plastiksack auf den Tisch. Dreimal spielt er die Personenbeschreibung ab, die ich ihm aufs Band gesprochen habe, wie sie mir der Museumswächter zugeflüstert hatte. Es waren seine letzten Worte. Er war schwer zu verstehen, aber ich habe mir Mühe gegeben, seine Worte so genau wie möglich wiederzugeben. Ob mir nichts auffalle, schreit der Polizist, wie häufig er es mir noch vorspielen müsse. Ich habe keine Ahnung, worauf er hinauswill. Nach dem vierten Mal packt er meinen Kopf, zerrt mich vom Stuhl hoch und schleppt mich zur verspiegelten Scheibe, hinter der seine Kollegen sitzen, zumindest in den Filmen ist das so, sie halten einen Kaffeebecher in der Hand, beobachten das Verhör und greifen im entscheidenden Moment ein. Ich sehe natürlich keinen von ihnen, weil die Scheibe verspiegelt ist, ich verstehe auch nicht, weshalb mir der Polizist das Gesicht gegen die Scheibe drückt. Will er mir etwas zeigen? Oder seinen Kollegen? Das sei ich! Jetzt schreit er, dass er ganz rot im Gesicht wird. Die Beschreibung passe haargenau auf mich selbst, was ich für ein kranker Kopf sei, das Messer, das Blut überall und die Beschreibung! Was ich mit meinen dummen Spielchen bezwecken wolle? Ob ich ihn für blöd halte? Ich solle endlich alles zugeben! Jetzt wo ich mich in der verspiegelten Scheibe so anschaue, muss ich ihm recht geben, die Personenbeschreibung passt auf mich, und das Messer, ja, das habe ich in der Hand gehalten. Er knallt ein Gutachten aus der Gerichtsmedizin auf den Tisch, das mein Messer als mögliche Tatwaffe beschreibt. Sonst gebe es keine Spuren, nichts, niemand, nur ich, das Messer und die Beschreibung. Und meine einflussreiche Stimme, wage ich leise dazwischen zu fragen. Das Gesicht des Polizisten verändert sich auf einen Schlag. Er lächelt mich müde an. Er bietet mir den Stuhl an und fordert mich auf, mich hinzusetzen. Er ist wieder freundlich, fast schon höflich. Er betrachtet mich von oben herab. Meine einflussreiche Stimme, er tippt sich an die Stirn, ob ich das öfters habe, will er wissen, Stimmen im Kopf. SURPRISE 308/13
Lorenz Langenegger geboren 1980, lebt und schreibt in Zürich und Wien. Grundstudium in Theater- und Politikwissenschaft an der Universität Bern, wo seine ersten Arbeiten fürs Theater entstehen. Seit 2004 verschiedene Auftragsarbeiten, unter anderem für das Nationaltheater Mannheim und das Schauspielhaus Zürich. Das Stück «Rakows Dom» gewinnt den 4. Stückewettbewerb der Schaubühne Berlin. 2009 erscheint sein erster Roman «Hier im Regen», für den er mit dem Berner Literaturpreis und dem Franz-Tumler-Preis ausgezeichnet wird. 2012 gewinnt «Wo wir sind» den Stückepreis der Société suisse des auteurs (SSA).
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BILD: ANNE OECHSLIN
Ich bin nicht sicher, was er mit seiner Frage bezweckt. Schon, nicke ich, also habe ich ihn langsam niedersinken lassen, als das Seil durchgeeigentlich immer, und bevor ich den Satz beende und ihm erkläre, dass schnitten war, an die Wand gelehnt habe ich ihn mit dem Kopf nach ich, weil ich doch Theaterautor bin, mit den Stimmen von ganz veroben und versucht, was da aus seinem Bauch hing, möglichst nicht weischiedenen Figuren arbeite, lässt er die Akte, die er in der Hand hält, auf ter herauskommen zu lassen, dann habe ich das Telefon genommen und den Tisch fallen, stösst einen tiefen Seufzer aus und verlässt den Raum. Sie angerufen, also die Notrufnummer, weil dafür ist sie ja da, und weil Glauben Sie mir, mit Krimi kann ich nicht, wirklich nicht. Vielleicht ich dann nicht wusste, was ich weiter tun sollte und deshalb das Denhätte ich mir eine Geschichte ausdenken können, in der ein ken langsam wieder anfing, fuhr ich ihm übers Gesicht und redete leise unglücklicher Vater in einem dunkelroten Auto vor der Schule seiner auf ihn ein, dass alles gut würde, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche, dass gleich Hilfe komme, fast wie in einem dieser Kriegsfilme, und tatsächlich, geIch versuchte mich an jedes Wort zu erinnern, weil es wichnau wie einer dieser von einer Granate getroftig sein könnte, jeder Hinweis darauf, wer ihn so zugerichtet fenen Soldaten öffnete der Mann den Mund und fing ganz leise an zu reden, und ich also hatte, auf den Tag genau 68 Jahre nach Kriegsende. ganz nahe zu ihm heran, blonde Locken, sagte er, blonde Locken, unrasiert und auf der Tochter sitzt. Vielleicht hätte er sich, getrieben von den besorgten ElStirn ein Muttermal, kleine Ohren und Jeans und Kapuzenpullover und tern, selbst umgebracht. Der Zettel, auf dem vor dem Fahrer dieses das Messer in der Hand, die Turnschuhe grau und so kleine Ohren, so Autos gewarnt wird, hängt auf der Höhe des Alliiertenmuseums an jeblonde Locken, leise redete er vor sich hin, bis er dann, kurz bevor Sie der Ampel, es braucht nicht viel, um auf diese Geschichte zu kommen. eintrafen, verstummte, ich merkte mir alles, versuchte mich an jedes Ich esse gerne Blutwurst, das ist richtig, aber einen Museumswärter an Wort zu erinnern, weil es ja vielleicht wichtig sein könnte, jeder Hinweis den Füssen aufhängen und aufschlitzen, dazu bin ich nicht fähig. Fradarauf, wer ihn so zugerichtet hatte, auf den Tag genau 68 Jahre nach gen Sie meine einflussreiche Stimme, sie kann Ihnen bestätigen, dass es Kriegsende, diesen alliierten Museumsaufseher, das konnte ja kein Zuin keinem meiner Texte sinnlose und rohe Gewalt gibt. Das müssen Sie fall sein, dass er genau an diesem Tag so zugerichtet wurde, also habe mir glauben. ich die Beschreibung für mich wiederholt, Wort für Wort, um sie Ihnen ■ ganz genau zu Protokoll geben zu können, die Beschreibung, damit Sie diese Bestie schnell finden, die das zu verantworten hat.
BILD: ZVG
Fremd für Deutschsprachige Transit Der Sommer ist vorbei und die albanischen Migranten sind wieder zurück in der Schweiz. Denn jedes Jahr fahren wir, die gurbetqar, gen Südosten, in die alte Heimat. Dort wird das soziale Netzwerk generalüberholt, gefeiert statt gebüezt und ein paar Wochen Urlaub genommen – vom Ausländersein. Wobei letzteres kaum mehr klappt. Denn wer hier in der Schweiz etwa ganz klar den Kosovo-Albaner stellt, erscheint in Kosova, inmitten all der unverschweizerten Albaner, als zviceran. So treffen wir, die vom Herkunftsland zu Schweizerinnen, Deutschen oder Amerikanern Ernannten, uns zum Beispiel in Kiçevo und staunen, wie unähnlich wir einander geworden sind. Schon im Baustil der Heimatresidenzen: Der «Ami» klotzt sich eine massige Villa mit Säulen und einer fetten Einfahrt hin. Die «Italienerin» gestaltet das Ganze raffiniert
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mediterran während Herr und Frau «Schweizer» vor allem schauen, dass sie von den Bauleuten nicht übers Ohr gehauen werden, solide und geradlinig bauen sowie Rollläden erster Qualität einsetzen. Schliessen wir am Ende des Urlaubs unsre Haustüren ab und fahren zurück in die Mietwohnungen unserer jeweiligen Gastarbeitgeberländer, verwandeln wir uns inmitten all der Vollzeitfranzosen, -deutschen und -schweizer allesamt zurück in Albanerinnen und Albaner. In unserem Fall geht’s dann wieder ab ins Hamsterrad made in Switzerland: Achteinviertelstunden pro Tag den Besen, die Schaufel und Co. vibrieren lassen, sich samstags Schulter an Schulter mit den Originaleidgenossen durch die Einkaufszentren drängen, um dann vom Trottoir aus ungläubig gegen die frisch aufgekleisterten Polit-Comicplakate zu glotzen. Die Botschaft scheint klar: Du bist ein Fremdkörper. Also gehst du nächstes Jahr wieder hin, wo du hergekommen bist. Und kommst dann doch wieder her, weil – dort ist alles hin. Die Identitäten werden heftig strapaziert in diesem Dauertransit; dem alljährlichen, realen auf der Strasse und dem ganzjährigen, noch realeren im Kopf. Richtig niederlassen ist nicht. Für die «Secondos» schon gar nicht. Für uns wird die Zeit der Überfahrt, dieses jährliche Hin- und Zurückfliessen durch tosende Autobahnen, zum fantastischen Reingleiten in
einen true state of being. Fahren, weiterfahren, schweben. Eine unausgesprochene Allianz verbindet die Fahrenden: Wir sind anders, abgelöst. Überholen und überholt werden, neben-, hinter- und miteinander unterwegs sein. Nachts: Geborgen im Gehäuse des Wagens. Der Motor brummt, singt. Im Rückspiegel die konzentrierten Augenbrauen des Fahrers, dahinter rot aneinandergereihtes Aufleuchten von Bremslichtern. Und dazu immer Musik, der Soundtrack zu den vorbeiziehenden Bildern: Wassermelonenverkäuferin, trockene Weidelandschaft, Strassenköter und Müll am Grenzposten. Das Auto also: Das Stabilste, was noch bleibt. Die Nummernschilder: der die Überfahrt begleitende, internationale Name dieser atomaren Bewegungseinheit. Körper und Kopf lehnen sich zurück, sind zuhause in der Bewegung. Weder die alte Heimat noch die neue sitzen richtig. Das Dazwischen geht. Dazwischen ist überall, nirgends und bei McDonald’s in der Raststättenfiliale. Wir leben den Rändern entlang, strecken die Wurzeln in alle Fahrtrichtungen und lassen sie jubelnd und taub hinter uns herflattern. SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 308/13
Ausstellung «Ich bin sicher, dass der Protest wieder aufflammt» Eigentlich eignet sich Konkrete Kunst wenig zur politischen Aussage: Formen und Farben werden im rein mathematisch-geometrischen Sinn verwendet. Der Titel der aktuellen Ausstellung im Zürcher Haus Konstruktiv, «Hot Spot Istanbul», bekommt angesichts der Unruhen in der Türkei trotzdem eine politische Konnotation. Wir haben mit dem beteiligten Künstler Arslan Sükan gemailt. BILD: STEFAN ALTENBURGER AUSSTELLUNGSANSICHT MUSEUM HAUS KONSTRUKTIV, 2013
INTERVIEW: DIANA FREI
Surprise: Die Ausstellung «Hot Spot Istanbul» nimmt nicht auf die Aktualität Bezug. Sie selber gelten aber wie andere beteiligte Künstler – Can Altay etwa – als politisch engagierte Persönlichkeiten. Arslan Sükan: Can Altay hat das Graffiti «diren – GEZI – resist» auf seiner Installation angebracht, als wir von den Protesten hörten. Das war eine grossartige Ergänzung, und alle Künstler haben sich zusammen davor fotografiert. Ich selber habe meine ausgestellten Arbeiten zwar lange vor den Protesten gemacht, aber sie haben auch eine politische Ebene. In welchem Sinn? Ich meine die Politik innerhalb der Kunstwelt. Das Werk in der Ausstellung macht auf die Idee des modernistischen White Cube und auf seine Strategien dahinter aufmerksam – eine traditionsreiche Debatte in der Kunstgeschichte. Wie Brian O'Doherty in seinem Buch «Inside the White Cube» schrieb, ist die Galerie nicht ein neutraler Container, sondern ein historisches Konstrukt. Und das kann man nun nicht nur auf den Kontext der Kunst beziehen, sondern man kann es im weiteren Sinn verstehen – geografisch, politisch. Sie zeigen leere Räume und Ecken. Was ist Ihnen wichtig in Ihrem Werk? Die Werke in der Ausstellung mögen wie leere Räume aussehen, aber sie sind es nicht. Beim genaueren Hinsehen finden Sie monochrome Malerei darin, die die Perspektive des Bildes verändert. Ich spiele mit der Idee von Kontext versus Inhalt, Sichtbarkeit versus Unsichtbarkeit genauso wie mit dem Konzept des modernistischen White Cube. «Hot Spot Istanbul» zeigt Werke von 21 Künstlerinnen und Künstlern. Sehen Sie sich – gerade jetzt nach den Aufständen – als Netzwerk, als Bewegung? Es gibt nicht nur ein Netzwerk von Künstlern, sondern von Leuten aus allen Lebensbereichen, die sich solidarisch zusammentun, um Lösungen in der aktuellen Situation zu finden. Die Leute organisieren Foren in ihrer Nachbarschaft und diskutieren Möglichkeiten des Widerstands. Gab es im Vorfeld eigentlich Anzeichen dafür, was im Gezi-Park und auf dem Taksim-Platz passieren würde? Ich glaube nicht, dass irgendjemand geahnt hat, was passieren würde. Aber wir wussten, dass es eine anhaltende Krise der politischen Agenda gibt, die von nationalen und internationalen Machthabern und Leuten mit Machtgelüsten manipuliert wird. Sie leben in Istanbul und New York. Wie ist die Stimmung in der Türkei unterdessen? Es ist zurzeit ruhig aufgrund der Sommersaison. Aber ich bin sicher, dass der Protest im September wieder aufflammt. SURPRISE 308/13
Arslan Sükans Räume sehen leer aus. Aber sie sind es nicht.
Es gab die stillen Proteste auf dem Taksim-Platz, eine Art Kunstperformance. Ist Kunst eine wirksame Form des Widerstands? Kunst kann ein starker Weg des Widerstands sein. Die «Standing Man»-Performance ist ein grossartiges Beispiel dafür. Die Leute versuchen ihre eigenen Mittel des Widerstands zu nutzen. Die Ausstellung im Haus Konstruktiv versteht Istanbul als Hot Spot – als Brennpunkt. In welchem Sinn? Ich denke, Dorothea Strauss, die Kuratorin der Ausstellung, weist mit dem Titel auf ein paar wichtige Dinge hin. Istanbul ist eine der ältesten Städte Europas und vereint viele verschiedenen Kulturen. Die Stadt hat die jüngste Generation in Europa, was viel Dynamik und Energie kreiert. Die Auswirkungen der Globalisierung und die Notwendigkeit, Neues zu entdecken und die Wirtschaft voranzubringen, spielen dabei eine grosse Rolle. Vor 20 Jahren waren die Türken bei uns schlecht akzeptiert. Heute spielen türkische Einwanderer als Schriftsteller, Filmemacher oder Politiker eine wichtige Rolle. Istanbul gilt als hip. Findet der Wandel nur in unseren Köpfen statt, oder hat sich die Türkei wirklich stark verändert? Ich glaube, jedes Land der Welt verändert sich in 20 Jahren. Manche mehr, manche weniger. Die Türkei ist immer noch ein junges Land, ein Land in einem Entwicklungsprozess, es hat eine sehr junge Generation und durchläuft einen Veränderungsprozess. Die Türkei hat sich in den letzten 20 Jahre definitiv stark verändert. ■ Arslan Sükan ist in Ankara geboren und lebt und arbeitet heute als Architekt und Künstler in New York und Istanbul. Seine Fotografien hinterfragen die Vorstellung und Illusion räumlicher Konzepte. «Hot Spot Istanbul», Haus Konstruktiv, Zürich, noch bis 22. September. www.hauskonstruktiv.ch
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Kultur
Unterwegs im Mercedes mit Zierleiste aus Kirschenholz und Weissrandreifen. Hier findet sich wieder, wer sich vom Filmstudio einscannnen lässt.
Buch Launige Landpartie
Kino Robin Wright verkauft ihr Ich
In Roger Monnerats «Das Marienbadspiel» reisen zwei reife Herren durch Deutschlands Hinterland – und stolpern unverhofft von Abenteuer zu Abenteuer.
Der Macher von «Waltz with Bashir» meldet sich zurück: Ari Folmans «The Congress» ist die freie Verfilmung von Stanislaw Lems «Der futurologische Kongress».
VON CHRISTOPHER ZIMMER
VON YVONNE KUNZ
René Dubois, Franzose aus Basel, Autor und Mitinhaber einer Kaffeerösterei, und Gianluca Pelli, Italiener aus Karlsruhe und Werber, beide Mitglieder der fiktiven Georg-Büchner-Vereinigung, lernen sich im Zug und auf einer Fähre kennen – doch wirklich zusammen finden die Seelenverwandten erst auf vier Rädern. Denn als Pelli durch einen insolventen Kunden zu einem angejahrten Mercedes kommt und sich aufmacht, eine Immobilie in Marienbad zu besichtigen, setzt sich Dubois für ihn hinters Steuer. Und damit beginnt eine eigenwillige, abenteuerliche, klug-witzige Landpartie durch «Deutschlands Taille» und bis über die tschechische Grenze hinaus. Als Paraphrase auf einen berühmten Vorgänger ist dieser Bericht angelegt – Flauberts unvollendeten Roman «Bouvard und Pécuchet». Wie dort die beiden Kopisten, die dank einer Erbschaft ihre dilettantischen Interessen an allen Wissenschaften katastrophenreich austoben können, haben es auch die vielfältig interessierten Protagonisten bei Monnerat mit den Realien: Lastwagen und Flugzeuge, das Mittelalter, Marco Polo und der heilige Franziskus, Klöster, Kapitalismus und chinesische Computerprogramme … über alles sinnieren und diskutieren sie, zu zweit und mit allerlei sonderbaren Reisebekanntschaften, während sie auf Nebenstrassen durch Deutschlands Hinterland rollen. Doch auch hier wird die Beschaulichkeit gestört – zwar nicht durch Katastrophen, doch durch etliche Abenteuer. So geraten die beiden Helden wiederholt in eine chinesische Verfilmung von Hesses «Narziss und Goldmund» oder in die Landbesetzungen und politischen Machenschaften neoliberaler Hippies – und schliesslich in die Arme und Betten von Zwillingsschwestern, die die beiden reifen Herren wechselweise verführen und erobern. Und was als recht trockener Bericht beginnt, entwickelt sich zu einem lustvollen Schelmen-, Abenteuer-, Bildungsund Liebesroman. Zu einem Lesevergnügen, das auf augenzwinkernde Weise den Versuch wagt, die Welt, zu der es «seit 1789 keine autorisierte Deutung mehr gibt», «zumindest in Gedanken à jour zu bringen».
Zunächst kommt es für Robin Wright (Robin Wright als fiktionalisierte Version ihrer selbst) nicht infrage. Niemals würde sie sich scannen lassen! Andererseits ist ihre Karriere so gut wie gelaufen. Auf dem Tisch liegt ein rettendes Angebot des allmächtigen «Miramount Studio», das sie schliesslich doch annimmt. Sie lässt sich mit all ihren Emotionen und Bewegungen digitalisieren, überschreibt alle Rechte an ihrer cineastischen Persönlichkeit dem Unternehmen, das nun frei über sie verfügen kann. Diese erste Hälfe des Filmes ist als Realfilm gedreht und baut den ambitionierten Themenreigen der Buchvorlage von Kultautor Stanislaw Lem selbstbewusst aus: Veränderungen durch Technologie, Copyright, die Macht grosser Unternehmen, freier Wille, Jugendwahn, Schönheitsterror, Identität. Eine dystopische Atmosphäre wird ausgerollt, grossartige Schauspieler lehnen sich genüsslich in grossartige Rollen, allen voran Harvey Keitel als Robins langjähriger Agent. Dann erfolgt mit einem jähen Zeitsprung der Schritt in die animierte Zone; es findet ein Zukunftskongress von Miramount statt. ZeichentrickRobin wandelt durch einen Monumentalbau mit Tausenden von Stockwerken und trifft auf jede Menge animierter Charaktere – Marilyn Monroe, Picasso, Tom Cruise. Allerdings geht nicht nur die Hauptfigur, sondern auch die Handlung in dem Gebäude zeitweilig verloren. Die grossen Themen, die der Film eingangs so gekonnt wie beiläufig aufwirft, machen allmählich einer Liebesgeschichte Platz. Die Optik des Films erinnert an die psychedelischsten Momente in «Yellow Submarine». Die Himmel sind pink, die Flugzeuge schwingen ihre Flügel, Blumen wachsen aus den Häusern, Formen fliessen und verwandeln sich. Mit «Waltz with Bashir», dem Glanzstück über die Massaker von Sabra und Shatila im Libanon, eroberte Ari Folman 2008 die Herzen der Kritiker und Kinogänger weltweit. Wäre er Musiker, würde man nun sagen, «The Congress» sei sein schwieriges Folgealbum. Tatsächlich harzt und knarrt die Handlung an allen Ecken und die angetippten philosophischen Diskussionen führen zu oft ins Nichts. Aber immerhin wagt Folman hier ein grosses, exzentrisches Abenteuer.
Roger Monnerat: Das Marienbadspiel und ein Mercedes für Marjampole. Ein Bericht. Bilgerverlag 2013, 25.80 CHF.
Ari Folman: «The Congress», USA 2013, 122 Min., mit Robin Wright, Harvey Keitel, Paul Giamatti u.a. Der Film läuft ab 12. September im Kino.
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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.
Frisch aus dem Glas: konservierte Aromen des Spätsommers. 01
Piatto forte Den Sommer haltbar machen Für unsere Grosseltern war es noch eine Notwendigkeit, für uns ist es eine kreative Methode, den Geschmack von Lebensmitteln zu beeinflussen: das Konservieren. VON TOM WIEDERKEHR
Das Ziel der Konservierung ist – zumindest chemisch betrachtet – immer dasselbe: die Verhinderung der biologischen Zersetzung von Nahrung. Dazu haben Menschen schon vor langer Zeit unterschiedliche Methoden entwickelt: durch das Einlegen in Salz oder Zucker wird dem Nahrungsmittel Wasser entzogen und die Mikroben haben kein geeignetes Umfeld mehr für die Vermehrung. Durch Räuchern oder Einlegen in Alkohol oder Essig versucht man, die Mikroben abzutöten. Und das Einlegen in Öl oder das Vakuumieren entzieht ihnen den zur Zersetzung notwendigen Sauerstoff. Da diese Methoden nicht alle gleichermassen zuverlässig sind, werden sie auch kombiniert, wie zum Beispiel beim Herstellen einer Konfitüre oder Essigkonserve. Eine Konserve selber herzustellen, ist nicht schwer, es gibt ausserdem Gewissheit über die Inhaltsstoffe und ist eine hervorragende Art, die Aromen des Spätsommers für kalte Wintertage einzufangen. Heute sind Konserven nicht mehr Notvorrat, sondern – im besten Fall – Delikatessen. Eine feine Variante, fast jede Art von Früchten oder Gemüse zu konservieren, sind die Chutneys. Ein Zwetschgen-Chutney, diese süss-saure Variante der Marmelade, macht sich nicht nur auf Brot, sondern auch als Beilage zu Käse und Fleisch gut. Und das geht so: Ein Kilogramm Zwetschgen waschen und entsteinen. Danach in grobe Stücke schneiden. Ein daumengrosses Stück Ingwer schälen und fein hacken. 100 g braunen Zucker in einem Topf karamellisieren lassen, mit 1 dl Aceto Balsamico Bianco ablöschen und so lange kochen, bis die Flüssigkeit fast eingekocht ist. Dann die Zwetschgen zugeben und im Karamell scharf anbraten. Wenn aus den Früchten Flüssigkeit austritt, den Ingwer, eine Hand voll getrocknete Cranberries, eine Chili und eine Zimtstange, je zwei Nelken und Lorbeerblätter, 1 TL Koriandersamen, Curry und etwas Pfeffer dazugeben. So lange bei recht hoher Temperatur kochen, bis der ausgetretene Saft der Zwetschgen nahezu verkocht ist. Die Hitze stark reduzieren und noch 5 Minuten ziehen lassen, dann heiss in Gläser füllen und sofort luftdicht verschliessen. Die Aromen kommen erst nach ein paar Wochen richtig zur Geltung. Genau dann, wenn an einem kalten Winterabend Erinnerungen an den Sommer Leib und Seele wärmen.
advocacy ag, communication and consulting, Basel
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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten
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Margareta Peters Gastronomie, Zürich
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Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau
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Schweizer Tropeninstitut, Basel
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VeloNummern.ch
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Applied Acoustics GmbH, Gelterkinden
09
Buchhandlung zum Zytglogge, Bern
10
hervorragend.ch, Kaufdorf
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Kaiser Software GmbH, Bern
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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar
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Coop Genossenschaft, Basel
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Cilag AG, Schaffhausen
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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach
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Novartis International AG, Basel
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Solvias AG, Basel
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Ernst Schweizer AG, Metallbau, Hedingen
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confidas Treuhand AG, Zürich
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ratatat – freies Kreativteam, Zürich
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G.A.T.E.S., Hôteliers & Restaurateurs SA, Basel
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Claude Schluep & Patrick Degen, Rechtsanwälte, Bern
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homegate AG, Adliswil
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Sprenger & Partner Bauingenieure SIA USIC, Arlesheim
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Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.
Bezugsquellen und Rezepte: http://piattoforte.ch/surprise 308/13 SURPRISE 308/13
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Ausgehtipps
Das gibt Theater: Chilenen und Schräge Vögel.
Zürich Flügge Vögel
Seine Motive bleiben im Dunkeln: Andreas Storm als H.
Zürich Welt der Doppelmoral Eben wurde der Strassenstrich vom Zürcher Sihlquai in die Sexboxen disloziert, seit Anfang Jahr verpflichtet die Prostitutionsgewerbeverordnung die Sexarbeiterinnen, aufwendige Bewilligungsverfahren durchzustehen, und schon gibt's Kunst zum Thema: eine installative Dramatisierung nämlich. Es geht um die Prostituierte E., die ihren Salon aufgibt, und um Sittenpolizist H., der sich weiterhin in ihr Leben einmischt. Wir finden uns in einer Welt der Doppelmoral wieder. In Text- und Handlungsfragmenten verrutschen die Grenzen zwischen den Geschlechtern und den Argumenten. Oder woher kommt die Beharrlichkeit, mit der der Sittenpolizist die ehemalige Prostituierte auf ihre abgelegte Rolle festlegen will? Will er ihr Engagement für eine globale Sexarbeiterinnenorganisation durchkreuzen? Das ist Politik auf dem Strich. Mit Motiven, die weniger durchsichtig sind als manches Stück Reizwäsche. (dif)
Baujahr 1979: Slime und ihr Biograf Daniel Ryser.
Auf Tour Ein Pflasterstein auf Lesereise
Die installative Dramatisierung kann durchgehend
Rock’n’Roll und Literatur bilden nicht zwangsläufig ein Traumpaar. Im Fall von Daniel Rysers Band-Biografie «Slime – Deutschland muss sterben» aber passt diese Kombination. Einen «Pflasterstein der Punkgeschichte» nannte ein Kritiker das Buch und in der Tat: Daniel Ryser, der im Gründungsjahr der Band geboren wurde, hat nicht einfach Anekdoten und Episoden zusammengetragen, wie sie sich in landläufigen Band-Biografien finden, sondern ein Stück Zeitgeschichte der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre geschaffen. Als Rapper Göldin ist Ryser ähnlich radikal wie Slime, deren Songs auf dem Index landeten. Als Journalist, der für die WOZ und Das Magazin arbeitet(e) und zuvor schon die Biografie von Yello verfasste, weiss er, wie man eine Geschichte erzählt. Nun ist Ryser mit drei Slime-Musikern auf Tour: Es wird vorgelesen, diskutiert und auch ein bisschen musiziert. Allzu hochkulturig dürften die Anlässe kaum werden, beschreibt doch Autor Ryser die laufende Lesereise als «Pegeltrinken auf hohem Niveau». (ash)
besucht werden.
Mi, 18. September, 21 Uhr, Palace, St. Gallen;
«Striche durch Rechnungen». Zur stadträumlichen Verlagerung von Sexarbeit in Zürich, Les Complices, Anwandstrasse 9, Zürich. Fr, 6. und Mi, 11. September, 18 bis 22 Uhr, Sa, 7. und So, 8. September, 14 bis 18 Uhr.
Die Zürcher Theatergruppe Schräge Vögel überschreitet gern Grenzen, ihr gehören keine Profis an, auch keine Hobby-Hamlets, sondern Obdachlose, Säufer, Querulanten und Ausgesteuerte. Das Ergebnis ist einzigartig und manchmal auch eigenartig. Nun lassen sie wieder einmal Sprachgrenzen hinter sich. Im vergangenen Jahr flogen die Vögel erstmals nach Chile, um mit einer chilenischen Theatergruppe aus sozial benachteiligten Jugendlichen ein gemeinsames Stück aufzuführen. Entwickelt wurde es auf Spanisch, auf Deutsch, oft auch mit Händen und Füssen. Im September ist nun eine chilenische Theatergruppe auf Arbeitsbesuch. Die Kulturkreise mögen verschieden sein, die Thematik ist dieselbe – Drogen, Armut, Ausgrenzung. Aber auch wie sie damit umgehen, eint sie: mit Lebenslust und spitzem Humor. (reb) «Intercambio», Fr, 20. September, 19 Uhr, Sa, 21. September, 17 Uhr, Kirchgemeindehaus Limmatstrasse 114, Zürich (mit anschliessendem Chile-Fest).
Anzeige:
Damenschuhe aus Istanbul. Tolle Formen und Farben, sehr gut verarbeitetes Rindsleder. Moderate Preise dank Direktimport. Online-Shop oder Schau-Raum in Basel. www.stanbul-schuhe.ch
Do, 19. September, 20 Uhr, Sedel, Luzern; Fr, 20. September, 21.30 Uhr, Schäferei Bar, Schaffhausen; Sa, 21. September, 21 Uhr, Helsinki, Zürich.
CHF 59.–
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BILD: ZVG
BILD: SAMUEL WIMMER
Schattenbilder, Videoprojektion, heilende Geister.
Zürich Frauenkult Im orientalischen Ritual «zâr» drücken Frauen tanzend, trommelnd und räuchernd ihre Erfahrungen aus, suchen nach Einklang mit ihren Schutzgeistern und damit Heilung: Es ist eine archaische Form- und Bewegungssprache. Die Tänzerin Maya Farner und die bildende Künstlerin Cordula von Martha übertragen sie ins Hier und Heute und mischen rhythmische Beats unter die fremden Klänge. Das Bühnenstück wird mit Videoinstallationen, Action Painting und Schattenbildern zum Raum zwischen Realität und Projektion. (dif) «TransForms», Do, 12., Fr, 13. September, 20 Uhr, Theater Rigiblick, Zürich.
Springsteen-Kaliber im Kellerklub: Lucero.
www.theater-rigiblick.ch
Anzeige:
Zürich Hymnen für Punkrocker Der mitteleuropäische Musikhörer mit Punkprägung tut sich schwer mit amerikanischem Rock. Zwar gefällt ihm manch raumgreifender und klassenverbindender Song eines Bruce Springsteen durchaus, doch findet er das Pathos auf Dauer doch ein wenig penetrant. Dieses Grossgestige ist bei jüngeren Bands mit Indie-Hintergrund etwas weniger ausgeprägt, doch wirken auch Gruppen wie The Gaslight Anthem immer so, als wollten sie ganze Stadien animieren. Das Dilemma lautet also: Wer spielt breitwandige Gitarrenmusik, die man nicht mit dem Pöbel teilen muss? Die Lösung: Lucero. Die Band aus Memphis hat sich über die Jahre eine grosse Palette amerikanischer Stile erarbeitet – Punk, Rock, Country, aber auch eine südstaatentypische Portion Sumpf. Auf neueren Alben wie «Women & Work» sorgen Bläser und ein Gospelchor für Schwung und Seele über den bratzenden Gitarren. Das hat manchmal durchaus Springsteen-Kaliber. Weil Lucero aber meist nur in den USA und Kanada auftreten, ist ihre Gefolgschaft hierzulande überschaubar, so dass der mitteleuropäische Musikhörer mit Punkprägung guten Gewissens in den Dynamo-Keller pilgern kann, um mit ein paar anderen Eingeweihten diesen himmelstürmenden Ami-Rock zu feiern. (ash) Mi, 18. September, 20 Uhr, Dynamo, Zürich.
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Verkäuferporträt «Erst hier habe ich Nächstenliebe kennengelernt» Beiene Berhane ist der Senior unter den Zürcher Surprise-Verkäufern. Um den Gottesdienst zu besuchen, geht er kilometerweit zu Fuss. Für die Reise zur ersten Messe des neuen Papstes nahm er allerdings den Zug.
«Ich bin der erste Afrikaner, der je für Surpise gearbeitet hat. Darauf bin ich ein bisschen stolz. Am Anfang aber schämte ich mich, mit den Heften auf der Strasse zu stehen. Ich komme aus Eritrea, und bei uns arbeiten nur arme Leute auf der Strasse. Als Strassenverkäufer ist man nicht gut angesehen. Aber dann habe ich erlebt, wie die Schweizer alle hart arbeiten, egal, was für einen Job sie machen, und das hat mich motiviert. Heute bin ich sehr froh, kann ich Surprise verkaufen. Ich sage immer: Meine Arbeit ist wie eine Therapie für mich. Denn so sitze ich nicht zuhause und grüble, so denke ich nicht an meine Heimat und wie es den Leuten dort wohl geht. Wenn ich vor der Migros Löwenstrasse stehe, beobachte ich die Menschen. Es kommen hier auch viele Touristen vorbei, die erkennt man sofort. Ich habe auch ein paar Stammkunden, gerade vorher kam eine Frau vorbei, die schon seit zehn Jahren ihr Heft bei mir kauft. Ich unterhalte mich immer mit allen, auch wenn ich nur wenig Deutsch spreche. Irgendwie versteht man sich immer, auch wenn man mit den Händen sprechen muss. Viele hier können auch Italienisch. Eritrea war eine italienische Kolonie, daher war ich auf der italienischen Schule und spreche diese Sprache. Deutsch würde ich gerne noch besser lernen, denn ich habe viele Schweizer Freunde, und mit denen möchte ich mich auf Deutsch unterhalten. Ich bin 1939 geboren und habe die vielen politischen Umwälzungen miterlebt, die mein Land durchmachte. 1941 wurden wir den Briten unterstellt, 1952 mit Äthiopien verbunden. 30 Jahre lang führte mein Land Krieg gegen Äthiopien, wir wollten die Unabhängigkeit, die wir dann 1993 bekamen. Doch die Unruhen haben danach nicht nachgelassen. 2002 bin ich als politischer Flüchtling in die Schweiz gekommen. Über die genauen Umstände meiner Flucht aus Eritrea kann ich nicht sprechen, es sind schmerzhafte Erinnerungen für mich. Zu meiner Familie habe ich heute fast keinen Kontakt mehr. Ich bin das zweitjüngste von zehn Kindern, viele meiner Geschwister sind tot. Selber habe ich sechs Kinder, aber nur mit einem Sohn telefoniere ich ab und zu. Am Anfang fand ich die Schweizer sehr verschlossen. Dann habe ich gemerkt, dass sie sich erst öffnen, wenn man sie besser kennt. Die Schweizer waren immer sehr freundlich zu mir, erst hier habe ich Nächstenliebe kennengelernt. Wie oft habe ich schon einen Kaffee oder ein Brötli spendiert bekommen – von einer fremden Person! Das gibt es bei uns nicht. Meine Schweizer Freunde sind wie eine Familie für mich. Sie feiern meinen Geburtstag mit mir, sie sorgen sich um mich, wenn es mir nicht gut geht, und als ich keine Wohnung hatte, haben sie mich aufgenommen. Die Schweiz ist sicher, und alle werden vor dem Gesetz gleich behandelt, das gefällt mir sehr. Ausserdem habe ich erst hier Disziplin gelernt. Trotzdem, die Heimat ist wie die Mutter, die vergisst man nie. Wenn ich mit anderen Eritreern spreche, frage ich immer als Erstes: Was gibt es Neues aus der Heimat? Wie geht es dem Land? Erst dann frage ich: Wie geht es dir? Ich hoffe, dass sich die Lage in Eritrea beruhigt und dass sich die Menschen ein Vorbild an der Schweiz nehmen.
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AUFGEZEICHNET VON MANUELA DONATI
Am Abend, wenn ich fertig bin mit Verkaufen, schaue ich gerne RSI, das Schweizer Fernsehen auf Italienisch. So erfahre ich mehr über das Land, in dem ich jetzt lebe. Wenn ich nicht arbeite, leihe ich mir das Gemeinde-GA aus und fahre mit dem Zug im Land herum. Vor Kurzem war ich in Genf und auch in Davos. Schön ist die Schweiz! Die Berge sind wie ein Gemälde! Am Sonntag gehe ich immer in die Kirche, das gehört für mich dazu. Nach meiner Ankunft hier lebte ich zunächst in der Ostschweiz und musste 20 Kilometer zu Fuss zur nächsten Kirche gehen, aber das war kein Problem für mich. Ich gehe am liebsten in die italienische Messe der katholischen Kirche. In der afrikanischen Kirche kann ich mich nicht auf das Gebet konzentrieren, dort lenken mich die Geschichten und Erzählungen der anderen ab. Dieses Jahr war ich sogar in Rom, meine Freunde haben mir das Zugticket geschenkt. Natürlich besuchte ich den Vatikan. Und ich war bei der allerersten Messe von Papst Francesco dabei. Das war ein Erlebnis.» ■ SURPRISE 308/13
SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin
verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!
Andreas Ammann Bern
Jela Veraguth Zürich
René Senn Zürich
Marlis Dietiker Olten
Kurt Brügger Basel
Fatima Keranovic Basel
Josiane Graner Basel
Wolfgang Kreibich Basel
Tatjana Georgievska Basel
Bob Ekoevi Koulekpato, Basel
Marika Jonuzi Basel
Peter Gamma Basel
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Jovanka Rogger Zürich
Ralf Rohr Zürich
Anja Uehlinger Aargau
Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken
1/2 Jahr: 3000 Franken
1/4 Jahr: 1500 Franken
Vorname, Name
Telefon
Strasse
PLZ, Ort
Datum, Unterschrift
1 Monat: 500 Franken
308/13 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 308/13
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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.
Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–
Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.
Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.
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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer, Diana Frei (Nummernverantwortliche), Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Amir Ali, Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Renato Beck, Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Davide Caenaro, Manuela Donati, Olivier Joliat, Lorenz Langenegger, Christof Moser Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17 000, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen
Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 308/13
Surprise Da läuft was Surprise Strassenchor Singen verbindet Endlich: Die Sommerpause ist vorbei, jetzt wird wieder geprobt und aufgetreten. Die Chormitglieder konnten es kaum erwarten – obwohl auch im Sommer gefeiert und gesungen wurde. Singen macht nicht nur Spass, es kann auch ganz schön süchtig machen. Zum Glück war die siebenwöchige Probenpause des SurpriseStrassenchors diesen Sommer von warmem Wetter und leichtfüssigem Sein begleitet, sonst hätten die Sängerinnen und Sänger wohl einen Aufstand organisiert! Jedenfalls wurden Projektleiterin Paloma Selma und Chorleiterin Ariane Rufino dos Santos an der ersten Probe nach den Ferien, die für die meisten im Chor gar keine sind, von Freude, Ausgelassenheit und wunderbarem Singen überrollt. Es war die pure Lust am Zusammensein und gemeinsamen Singen, an diesem speziellen Projekt, das immer mehr Anklang findet. Der Chor hat im letzten Jahr Freundschaften entstehen lassen, die weit über die wöchentliche Probe hinausgehen – ein intensiv gepflegtes Kontaktnetz ist entstanden, ja sogar ein erstes Paar hat beim Singen zusammengefunden. Und im Sommer wurden statt zu proben Feste gefeiert, Geburtstage begossen, gemeinsame Picknicks organisiert – und dabei, wie könnte es anders sein: viel gesungen. Der Surprise-Strassenchor ermöglicht seinen Teilnehmenden musikalische Betätigung ganz ohne Casting und Vorsingen. Er ist nieder-
schwellig und immer offen für Neue: Die Freude am Singen genügt. Bitte meldet euch bei Paloma Selma zur unverbindlichen Schnupperprobe an – es lohnt sich! (ars) Wir freuen uns auf zahlreiche Zuschauer!
Kommende Auftritte: Sa, 7. Sept.: Auftritt am Begegnungsfest Integra13, Liestal So, 22. Sept.: Auftritt am Basler Marathon, Barfüsserplatz, Basel Do, 17. Okt.: Auftritte am Tag der Armut, Basel
Buchungen und weitere Informationen: p.selma@vereinsurprise.ch, Tel.: 061 564 90 40 oder www.vereinsurprise.ch/strassenchor/
Verkäufer-Sommerfest Lange Nacht Damit ein Surprise-Sommerfest in die Gänge kommt, braucht es nicht viel, aber doch einiges. Wir hatten im Basler Schützenmattpark alles beisammen: den Soundtrack (Josef spielte auf dem Akkordeon die Melodien des Balkans rauf und runter); den Grill, bestellt von Vertriebszampano Thomas Ebinger – und die faulen Sprüche von Stadtführer Wolfgang Kreibich. Gesprächig wurde der Abend, lustig die Nacht und lange, aber kurzweilig allemal. (reb) Gute Freunde: mit den Kollegen der Zürcher Theatergruppe Schräge Vögel.
Der Einzige, der arbeiten musste: Strassenmusiker Josef.
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Schnappte sich die längste Wurst: Stadtführer Wolfgang.
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15 Jahre vor Ort. Feiern Sie mit. www.strassenmagazin.ch www.facebook.com/vereinsurprise Unterst端tzen Sie uns: PC-Konto 12-551455-3
WOMM
Wir feiern 15 Jahre Bahnhof Stadelhofen.