Surprise Nr. 414

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Strassenmagazin Nr. 414 1. bis 14. Dezember 2017

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Das Weihnachtsheft

Vom Himmel hoch Advent – Zeit für die Frage: Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?


Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: PRISKA WENGER

Editorial

Was wichtig ist Ich bin in den letzten Jahren in eine ganze Reihe von Fettnäpfchen getreten. Und zwar bei unseren eigenen Surprise-Verkäuferinnen. Eine eritreisch-orthodoxe Frau fragte ich, ob sie in die Disco gehe, und erntete dafür entsetzte Blicke. Für ein Foto­ shooting verlangte ich von einer musli­ mischen Äthiopierin mitten im Ramadan, Spezialitäten aus ihrer Heimat mitzubringen. Sie kam dem Wunsch ohne mit der Wimper zu zucken nach und tat für mich so, als ob sie ins Fladenbrot beissen würde. Ich kam mir ziemlich blöd vor.

Ich weiss nicht, wie sie sich den Tod vorstellen. Ich weiss auch nicht genau, was ihnen im Leben wichtig ist. Dabei wäre das durchaus etwas, was Freundschaft ausmacht: zu wissen, was dem anderen wichtig ist.

Spätestens da wurde mir klar: Menschen können in der gleichen Welt leben und dabei komplett unterschiedliche Glaubensgrundsätze und Denksysteme haben.

Die Geschichten in diesem Heft erzählen alle von Überlagerungen unterschiedlicher Religionen. Unsere langjährige Illus­ tratorin Priska Wenger hat das auch auf Bildebene deutlich gemacht. Sie werden Details finden, die Sie so in einer klassischen Darstellung ganz bestimmt nicht antreffen würden.

Das gilt bei Weitem nicht nur in Bezug auf Flüchtlinge. Auch dass die eigene Tante gläubig ist, merkt man möglicherweise erst, wenn der Onkel stirbt. Wenn man entdeckt, dass ihr Dinge wie letzte Segnungen und Gedenkgottesdienste wichtig sind. Ich weiss auch von meinen besten Freunden nicht, ob sie an eine höhere Macht glauben.

Illustrationen

4 Religionsrekorde

Grösser! Höher! Schöner! 6 Wie Josef und Maria

Ein Paar flieht vor religiösen Traditionen Die Zeichnungen in dieser Ausgabe stammen von Priska Wenger, die bereits mehrere Sonderhefte von Surprise illustriert hat. Sie lebt und arbeitet in New York und Biel.

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11 Mystik

Schweizerische Derwische

Religion ist eine gesellschaftliche Kraft. Religiöse wie weltanschauliche Vorstellun­gen prägen unser Denken und unser Verhalten. Wenn wir darüber reden, finden wir heraus, was anderen wichtig ist. Das macht das Zusammenleben nicht nur einfacher, sondern auch fruchtbarer.

DIANA FREI Redaktorin

16 Migration

28 SurPlus

22 Kirchenleere

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Religion – Risiko oder Positive Firmen Ressource? Das Gotteshaus wird umgenutzt

26 Veranstaltungen

30 Surprise-Porträt

«Mein Glaube ist mir zu einem steten Begleiter geworden»

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Religionsrekorde aus aller Welt Die Kleinsten, die Grössten und die Meisten: Der Glaube lässt sich auch in ganz profane Zahlen fassen.

2Mitglieder

Nach dem Tod eines Mitglieds Anfang 2017 besteht die Glaubensgemeinschaft der Shaker nur noch aus zwei Menschen. Sie wohnen im Sabbath­day Lake Shaker Village im US-Bundesstaat Maine und leben zölibatär.

20 Millionen Jedes Jahr pilgern 20 Millionen Menschen zum wichtigsten Heiligtum Mexikos, der Basilika der Jungfrau von Guadalupe in Mexico-City. Das sind 2 Millionen Menschen mehr, als jährlich den Petersdom in Rom besuchen. Nach Mekka pilgern jedes Jahr 2,5 Millionen Menschen.

7

Hektar

4

Jesusland statt Disneyland: Der erste religiöse Themenpark der Welt wurde 1999 in Buenos Aires, Argentinien, eröffnet. Die 7 Hektar grosse Anlage mit dem Namen Tierra Santa bietet ein nachgebautes Jerusalem, in dem man Jesus bei Abendmahl, Kreuzigung und Auferstehung beobachten kann. Christliche Themenparks gibt es heute auch in den USA und in China.

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278 041 Pilger Kein anderer Pilgerweg der Welt verzeichnete in den letzten Jahrzehnten eine derart markante Zunahme an Pilgerreisenden wie der Jakobsweg. Im Jahr 1977 legten lediglich 31 Pilgerinnen und Pilger den Weg zurück. 2016 erreichten 278 041 Menschen das spanische Santiago de Compostela zu Fuss, mit dem Pferd oder mit dem Fahrrad – das sind 9000 Mal mehr als 40 Jahre zuvor.

Meter

5625 Quadratmeter

210 Meter Surprise 414/17

Die Scheich-Zayid-Moschee in Abu Dhabi, der Haupstadt der Vereinigten Arabischen Emirate, beherbergt den grössten handgeknüpften Gebets­ teppich der Welt: Er ist 5625 Quadratmeter gross und besteht aus 2,2 Milliarden Konten. 1200 iranische Weber­ innen haben 18 Monate lang daran gearbeitet und dabei 38 Tonnen Wolle verknüpft.

QUELLEN: WIKIPEDIA, GUINNESS WORLD RECORDS

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Die grösste Christusfigur der Welt steht im polnischen Swiebodzin. Sie misst 35 Meter, sechs mehr als der Christus von Rio de Ja­neiro. Im Vergleich zu religiösen Statuen in Asien ist der polnische Jesus aber ein Zwerg: Der grösste Buddha steht in China und misst 128 Meter.

Das höchste religiöse Bauwerk der Welt ist das Minarett der Hassan-II.-Moschee in Casablanca. Es misst 210 Meter und wurde 1993 fertiggestellt. Der höchste Kirchturm der Welt ist der Turm des Ulmer Münsters mit 161,5 Meter Höhe.

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Der Christ, die Muslimin und ihr langer Weg nach Bern Ehe Tradition und Religion standen der Liebe von Meryem und Negussie von Anfang an im

Weg. Sie haben sich darüber hinweggesetzt. Über Jahre und Landesgrenzen hinaus. TEXT  ISABEL MOSIMANN

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Im Juni 2005 sehen sich Meryem Menur und Negussie Weldai zum ersten Mal. Vier Monate später heiraten sie. Obwohl eigentlich alles gegen die Beziehung spricht. Meryem ist Muslimin, ihr Mann Negussie ist Christ. Der Altersunterschied der beiden beträgt 24 Jahre. Meryem wird 1982 in einem Dorf in der Nähe von Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba geboren. Negussie kommt 1958 in Asmara zur Welt. Die heutige Hauptstadt von Eritrea gehörte damals noch zu Äthiopien. 2005 treffen beide fast gleich­zeitig in der sudanesischen Hauptstadt Khartum ein: Negussie ist im März 2005 im Sudan angekommen, Meryem einen Monat später. Sie hat eine Stelle als Haushaltshilfe in einer wohlhabenden Familie in Aussicht, er ist aus Eritrea geflüchtet. Kurz nach seiner Ankunft kommt Negussie mit einem Eritreer ins Gespräch, der aus demselben Quartier in AsNEGUSSIE WELDAI mara stammt: «Wir stellten bald fest, dass wir gemeinsame Bekannte hatten», erzählt Negussie. «Er kannte sogar einen Teil meiner Familie – die Welt ist klein.» Der Mann arbeitet als Chauffeur bei einer reichen sudanesischen Familie und lädt Negussie eines Tages ein, ihn in dem grossen Haus zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit wird Negussie auch der äthiopischen Hausangestellten vorgestellt: Meryem. Von da an stattet Negussie seinem eritreischen Kollegen regelmässig Besuche ab. Meryem freut sich jedes Mal, wenn sie sich mit dem Gast in ihrer Muttersprache Amharisch unterhalten kann. Der Arbeitskollege hingegen scheint weniger erfreut über diese neue Freundschaft – wahrscheinlich, weil Meryem wie er muslimischen Glaubens ist und Negussie Christ. Jedenfalls lädt er Negussie nicht mehr ein. «Von da an telefonierten wir oft und lange», erinnert sich Meryem lachend, «denn ausser Haus konnten wir uns nicht treffen.» Im Sudan ist der Islam Staatsreligion und es gelten die Scharia-Gesetze. «Wer als unverheiratetes Paar auf der Strasse unterwegs ist, geht ein gewisses Risiko ein, bestraft zu werden», erklärt Negussie. «Was geschieht, wenn die Unverheirateten wie in unserem Fall eine muslimische Frau und ein christlich-orthodoxer Mann sind, wollten wir nicht erleben.» Im Oktober 2005 finden die beiden: «Jetzt ist genug telefoniert, wir heiraten!», und wenden sich mit ihrem Vorhaben an eine in Khartum ansässige katholische Kirch-

«Als ich freikam, war mir klar, dass ich zwischen den Fronten stecke und mich ins Ausland absetzen muss.»

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gemeinde. «Dort fragten sie nicht lange nach unserer Religion, sondern stellten uns einfach eine Heiratsurkunde aus», erzählt Negussie. «Meryem verliess daraufhin ihre Arbeitsstelle und zog zu mir – wobei das nicht ganz stimmt: Sie zog in das Fotogeschäft, in dem ich arbeitete und nachts jeweils ein Bett aufstellte, weil ich noch keine Wohnung gefunden hatte.» Wenn schon putzen, dann mit Lohn Die Religion ist für Meryem und Negussie zu Beginn ihrer Beziehung durchaus ein Thema: «Wir haben mehrmals darüber gesprochen und uns überlegt, wie wir das handhaben wollen, zum Beispiel auch, wenn wir einmal Kinder haben sollten», erzählen die zwei. «Aber am Schluss war für uns klar, dass wir beide unsere Religion behalten und jeder seinen Glauben lebt, wie er es für richtig hält. Das ist bis heute so.» Beide wurden nicht strenggläubig erzogen. Familie Menur besuchte jeweils das Freitagsgebet und hielt den Ramadan ein, pflegte aber im Dorf genauso Kontakte zu christlichen wie zu muslimischen Nachbarn. Negussie wuchs in einer nicht sehr religiösen christlich-orthodoxen Familie auf und schloss sich bereits als 16-Jähriger der eritreischen Befreiungsarmee an, für welche die Unabhängigkeit von Eritrea im Zentrum stand. «In der Liberation Army war Religion kein Thema», sagt er kurz und knapp. Die Aufgeschlossenheit anderen Religionen gegenüber endet bei Meryems Vater jedoch mit der Eheschliessung seiner Tochter. Nachdem er erfährt, dass Meryem einen Mann namens Negussie geheiratet hat – eindeutig kein muslimischer Vorname –, spricht er als Einziger der Familie acht Jahre lang kein Wort mehr mit ihr. «Schade», findet Meryem schulterzuckend. Doch sie ist sich damals Sorgen und Enttäuschungen im Zusammenhang mit ihrem Vater schon gewohnt. Da sie von seinen Töchtern eine der ältesten ist, beschliesst der Vater, dass Meryem nach sechs Jahren die Schule verlassen und zuhause helfen muss – ganz im Gegensatz zu ihren jüngeren Schwestern und Brüdern, die zum Teil im elterlichen Laden mitarbeiten oder sogar an der Universität studieren dürfen. Anfang 20 beschliesst Meryem: Wenn sie schon putzt, wäscht und Kinder hütet, dann in einer fremden Familie und gegen Bezahlung. Wie viele andere junge Äthiopierinnen findet sie eine Stelle in einer reichen Familie in Dubai. «Mit fünf anderen Hausangestellten aus Äthiopien, Indien und den Philippinen arbeitete ich in einer 24-köpfigen Familie.» Amüsiert präzisiert sie: «Mein Arbeitgeber hatte drei Frauen und 20 Kinder, und wir lebten alle in einem Haus mit zehn Stockwerken.» Nach arbeitsreichen eineinhalb Jahren ohne viel Freizeit kehrt Meryem nach Äthiopien zurück. Sie hofft, dass sich an ihrer Familiensituation etwas verändert hat. Doch 7


sie wird enttäuscht: «Als ich sah, dass für mich nach wie vor nichts anderes blieb als die Hausarbeit, organisierte ich mir die Stelle in Khartum.» Marktlücke afrikanisches Haar Meryem Menur kommt 2005 zum ersten Mal nach Khartum, bei Negussie Weldai ist es bereits die zweite Ankunft in der Hauptstadt des Sudans. 1988 muss er sich nach 14 Jahren in der Befreiungsarmee im Sudan in Sicherheit bringen. «In der Unabhängigkeitsbewegung hatten sich während des jahrelangen Befreiungskampfs verschiedene Gruppen gebildet. Eines Tages – ich weiss nicht warum – beschuldigten mich meine Leute, ich gehörte einer anderen Gruppe an», berichtet Negussie. «Aus diesem Grund steckten sie mich insgesamt acht Monate ins Gefängnis. Als ich freikam, war mir klar, dass ich zwischen den Fronten stecke und mich ins Ausland absetzen muss.» Nach vier Jahren in Khartum zieht es Negussie weiter. Ein liberaleres Land als der Sudan schwebt ihm vor, wo man zum Beispiel auch einmal ungehindert ein Bier in einem Strassencafé trinken kann. So kommt es, dass er 1994 über Zwischenstationen in Libyen und Syrien im international geprägten Beirut landet. Bei seiner Ankunft überlegt Negussie, wie er sich im Libanon über Wasser halten kann, und merkt, dass es dort noch kaum Coiffeure gibt, die auf afrikanisches Haar spezialisiert sind. Er packt die Gelegenheit und eröffnet in Beirut als einer der Ersten einen afrikanischen Beautysa8

lon. «Wir flochten Zöpfe oder streckten auf Wunsch die Haare», erzählt er stolz. Mit den Jahren nimmt die Konkurrenz von anderen afrikanischen Salons immer mehr zu. Negussie Weldai spielt mit dem Gedanken weiterzuziehen und lässt deshalb seine Aufenthaltsbewilligung auslaufen. «Das war ein Fehler», stellt er trocken fest. «Die libanesischen Behörden verhafteten mich, weil ich keine Bewilligung mehr hatte, und brachten mich nach zwei furchtbaren Monaten im Gefängnis Anfang 2005 nach Eritrea.» Da Negussie grosse Angst hat, in Eritrea ebenfalls im Gefängnis zu landen, bleibt er keine drei Wochen in Asmara, sondern macht sich im März 2005 auf den Weg nach Khartum – und ohne es zu wissen auf den Weg zu seiner zukünftigen Frau. Nachdem das frisch verheiratete Paar die ersten Monate im Fotostudio von Negussies Chef übernachtet und auf der Strasse mit geliehenen Töpfen gekocht hat, findet es eine kleine Wohnung. Kurze Zeit später können sie ihr eigenes Foto- und Kopierstudio eröffnen. «Negussie machte Passfotos für Leute, die bei den umliegenden Botschaften Visaanträge stellen wollten», erzählt Meryem. «Ich besorgte vor allem die Auslieferungen und war verantwortlich für Kopien und die Kasse.» Die Aufträge nehmen langsam, aber stetig zu, so dass sie mit der Zeit gut davon leben können. Den einheimischen Konkurrenten gefällt der Erfolg der beiden Ausländer jedoch gar nicht. Sie fangen an, vor allem Negussie zu schikanieren und zu denunzieren, weil er als Christ eine Muslimin geheiratet hat. Surprise 414/17


Gegen Ende 2009 haben die beiden genug von den Anfeindungen. Weil Negussie viel mehr zu befürchten hat und auf keinen Fall ein drittes Mal im Gefängnis landen will, beschliessen sie, dass er sich zuerst in Sicherheit bringen soll und Meryem so bald als möglich folgt. Negussie hat Glück und bekommt eines der begehrten Visa für Italien. Im Januar 2010 landet Negussie mit dem Flugzeug in Italien, steigt in den nächsten Zug, der ihn in die Schweiz bringt, und stellt einen Asylantrag. «Mein Bruder lebte damals bereits in Genf», erklärt er seinen Entscheid. «Zudem wünschte ich mir nach allem, was ich bisher erlebt hatte, nichts mehr, als in einem freien, demokratischen Land zu leben.» Khartum, Beirut – das Gefängnis ist überall Schaut man auf die Landkarte, fragt man sich, weshalb das Paar vom Sudan aus nicht ins Nachbarland Äthiopien, Meryems Heimat, gezogen ist. Das hätten sie gern getan, sagen sie, aber Äthiopiens Behörden verweisen die meisten eritreisch-stämmigen Leute wie Negussie Weldai seit dem 1998 neu aufgeflammten Grenzkonflikt zwischen Äthiopien und Eritrea des Landes. In Eritrea hätten die beiden auch kein neues Leben beginnen können, denn einerseits befürchtet Negussie wegen seiner Vergangenheit eine erneute Verhaftung, andererseits darf die Äthiopierin Meryem nicht in Eritrea leben – die beiden Staaten befinden sich bis heute in einem kriegsähnlichen Zustand. Zum Glück wissen Meryem Menur und Negussie Weldai bei ihrem Abschied in Khartum nicht, dass sie sich beinahe sechs Jahre nicht mehr sehen werden. Sie dachten, Meryem würde sich ebenfalls ein Visum für Italien beschaffen. Doch in der Schweiz erfährt Negussie, dass anerkannte Flüchtlinge mit Aufenthaltsbewilligung B das Recht auf Familiennachzug haben. Sie beschliessen zu warten, bis Negussie diesen Aufenthaltsstatus B erreicht. Doch in seinem Fall kommt alles anders. «Bei mir lief einiges schief», erzählt Negussie. «Anscheinend ging erst das Dossier verloren. Dann wollten mich die Behörden nicht als Flüchtling anerkennen, weil sie behaupteten, ich stamme aus Äthiopien.» Was so nicht stimmt, denn Negussie ist wohl in Äthiopien aufgewachsen, zu dem die Provinz Eritrea damals gehörte, doch er ist Eritreer oder zumindest «eritreisch-stämmig». Das sehen notabene auch die äthiopischen Behörden so, weshalb sie ihn nicht in ihrem Land wollen. Während Negussie sich in der Schweiz langsam einlebt und bereits nach ein paar Monaten mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise anfangen kann, führt Meryem mit ihrer äthiopischen Angestellten das Foto- und Kopierstudio weiter. Nachdem sie drei Jahre lang vergebSurprise 414/17

lich in Khartum ausgeharrt und auf ihre Ausreise gewartet hat, verkauft sie das Geschäft und kehrt zu ihrer Familie nach Äthiopien zurück. Das Problem mit dem christlichen Ehemann haben ihre Geschwister noch vor ihrer Ankunft gelöst, bemerkt Meryem und schmunzelt verschmitzt: «Sie sagten dem Vater einfach, Negussie sei zum Islam konvertiert.» Sie wohnen immer noch getrennt Von Äthiopien aus versucht Meryem zwei Jahre lang, bei der italienischen Botschaft ein Visum zu erhalten. Im Oktober 2015 hält sie es zusammen mit einem Flugticket nach Mailand in der Hand, und wenige Tage später können sich Meryem und Negussie endlich wieder in die Arme schliessen. Die Gebete, die Negussie Weldai in der Schweiz in eritreisch-orthodoxen Gottesdiensten und Meryem Menur in der Moschee in Äthiopien gesprochen hatten, waren offenbar erhört worden. Die jahrelange Trennung überstand das Paar zum einen dank der Hoffnung, die es nie aufgegeben hat, und zum andern durch die moderne Technik, meint Negussie: «Wir haben täglich miteinander telefoniert oder geskypt, manchmal sogar zweimal. So war die Trennung nur physisch.» In der Zwischenzeit hat sich auch Meryem gut in der Schweiz MERYEM MENUR eingelebt. Sie lernt fleissig Deutsch und verkauft Surprise im Bahnhof Bern. Getrübt wird das Glück des Paares nur durch die Wohnsituation: Seit ihrer Ankunft vor zwei Jahren leben die beiden in der Flüchtlingsunterkunft in Belp, in der Negussie schon vorher gewohnt hatte – sie in einem Zweierzimmer auf der Frauenetage, er im zweiten Stock bei den Männern. Negussie, der neben dem Heftverkauf seit gut einem Jahr zu 60 Prozent im Surprise-Vertriebsbüro Bern arbeitet und sich und seine Frau deshalb vom Sozialdienst abmelden konnte, sagt: «Die Zahl der Wohnungen, für die wir uns beworben haben, liegt bei gut über hundert.» Viele Vermieter winken ab, wenn sie hören, dass die beiden noch Flüchtlingsausweise haben. Nach acht Jahren in der Schweiz und mit seinem festen Einkommen hat Negussie nun die Aufenthaltsbewilligung B beantragt. Vielleicht klappt es dann mit der Wohnung. Meryem und Negussie denken nicht daran, die Hoffnung aufzugeben. Dass sie geduldig sind, haben die beiden oft genug bewiesen, seit sie sich kennengelernt haben.

«Meine Geschwister sagten dem Vater einfach, Negussie sei zum Islam konvertiert.»

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«Gott, wo bist du?» Islamische Mystik Sie drehen sich in Ekstase, lesen den «Koran in persischer

Zunge» und repetieren die 99 Namen Allahs. Sie selber heissen Peter, Ursula und Alexander. Was suchen Schweizer im Sufismus? TEXT  SARA WINTER SAYILIR

‫ال إله إال هللا‬

‫الحمد هلل‬

‫بسم هللا‬

Bismillah / Alhamdulillah / La ilaha illa Allah Ein Mann steht bedächtig auf und tritt in die Mitte. Er hat einen konisch geformten weissen Filzhut auf. Der untersetzte Mittfünfziger kreuzt die Arme vor der Brust und stellt die Füsse – sie stecken in schwarzen Lederüberziehern – dicht zusammen, den rechten grossen Zeh über dem linken. Er verbeugt sich tief. Dann beginnt er sich gegen den Uhrzeigersinn um seine eigene Achse zu drehen. Er löst die gekreuzten Arme und lässt seine Hände an sich heruntersinken, während er sich beständig weiterdreht, dann führt er die Hände zurück nach oben, bis er die Arme schliesslich zu einem weitwinkligen V ausstreckt. Die rechte Hand ist nach oben, die linke nach unten geöffnet. Seinen Kopf hält er leicht nach rechts gekippt, die Augen offen, der Blick nach innen gerichtet. Er dreht sich, die Gruppe singt:

‫ال إله إال هللا‬

‫الحمد هلل‬

‫بسم هللا‬

Bismillah / Alhamdulillah / La ilaha illa Allah Auf schmalen Tüchern aus ungefärbter Wolle knien sie auf dem Boden und wiederholen immer dieselben Worte: Im Namen Gottes, alles Lob gebührt Gott, es gibt keinen Gott ausser Gott. Die Mehrstimmigkeit des Gesangs verrät die abendländische Tradition, aus der die meisten Anwesenden stammen. Elf Leute haben sich hier versammelt, 10

im fünften Stock eines Bürogebäudes in Schlieren, drei Männer, acht Frauen, von Mitte dreissig bis Mitte siebzig. Draussen ist es dunkel, es ist Abend. Im Quadrat angeordnete Kissen und Holzbänkchen erleichtern das Knien, wer nicht mag, sitzt auf einem Stuhl. An der Stirnseite des Raumes, dessen fernöstliche Deko seine sonstige Nutzung als Meditationsort verrät, befindet sich eine kleine Stufe. Wenig deutet darauf hin, dass es sich bei den Anwesenden um Anhängerinnen und Anhänger eines islamischen Ordens handelt. Leer wirkt der Raum und die Gruppe zu klein, um ihn zu füllen. Mittig vor der Stufe – auf einer Ebene mit den Schülern und doch etwas isoliert – kniet Alexander Stoll, der heute den Scheich vertritt und die Gruppe durch ihr wöchentliches Gottgedenken führt. Mit dem Bendir, einer orientalischen Rahmentrommel, gibt er den Takt an.

‫ال إله إال هللا‬

‫الحمد هلل‬

‫بسم هللا‬

Bismillah / Alhamdulillah / La ilaha illa Allah Die Mehrheit der Anwesenden sind in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Sie kommen aus einem christlich geprägten Umfeld, die eine oder andere besucht zusätzlich eine Bibelgruppe. Was finden diese Menschen im Islam, was sie andernorts vermissen?

‫ال إله إال هللا‬

‫الحمد هلل‬

‫بسم هللا‬

Bismillah / Alhamdulillah / La ilaha illa Allah Surprise 414/17


Eine der Anwesenden ist Ursula Schleuss. Andächtig und konzentriert kniet die Pflegefachfrau auf dem Wollschal und schaut ins Leere. Ihre graumelierten, langen Haare trägt sie zu einem Zopf gebunden, eine randlose Brille sitzt auf ihrer Nase. Zwischen ihren Augenbrauen ist eine Falte zu erkennen, sie wirkt angespannt und doch versunken. Zwei Stunden zuvor sass die 51-Jährige noch in einem Café am Zürcher Hauptbahnhof und erzählte lebhaft, was die islamische Mystik, genannt Sufismus, für sie bedeutet. «Im Sufismus finde ich Antworten in einer Klarheit und Einfachheit, wie ich sie vorher nie gefunden habe. Seit ich mich erinnern kann, war ich eine Fragende», erzählt sie. «Schon früh wollte ich wissen: Gott, wo bist du?» Die Familie gehörte der reformierten Kirche an, Schleuss liess sich konfirmieren. Doch ihr Wissensdurst war gross: Als Erwachsene besuchte die Alleinstehende drei Jahre einen berufsbegleitenden Kurs in Theologie. Aber wie sie mit ihren Nächsten umgehen solle, mit Krisensituationen oder mit dem Schönen im Leben, konnte sie auf diese Weise nicht befriedigend klären. Ende der Nullerjahre dann hatte sie ein Schlüsselerlebnis. Während einer Veranstaltungsreihe zum Orient besuchte sie im Theater Winterthur ein Konzert mit Sufi-Musik und Tanzritual. Scheich Peter Hüseyin Cunz sprach damals die einleitenden Worte, drei Tänzer begannen zur Musik zu tanzen. Ursula Schleuss war müde, sie kam direkt von der Intensivstation, wo sie arbeitete, und schlief im Konzert einen Moment ein. «Als ich die Augen wieder öffnete, die Derwischtänzer sah und die Musik hörte, hatte ich im

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Sufismus Der Begriff Sufismus, arabisch «tasawwuf», leitet sich ab vom Wort «suf» für Wolle und verweist auf das Wollgewand der Asketen. Er steht für die islamische Mystik, die innere Dimension des Islams. Im Unterschied zum klassischen Religionsgelehrten, der nach intellektueller Erkenntnis strebt, steht im Sufismus die Gotteserfahrung im Mittelpunkt, nicht das Wissen. Dichtung spielt eine grosse Rolle, viele Lehrbücher sind in Versen abgefasst. Das schwer in Worte zu fassende Ziel der Mystiker: das «Entwerden im unbeschreiblichen göttlichen Wesen, so wie der Tropfen Wasser im Ozean», so Annemarie Schimmel, Koryphäe der deutschsprachigen Islamwissenschaft und Sufismus-­Forschung. Je nach Region und Zusammenhang benutzt man statt des Wortes Sufi auch Fakir oder Derwisch. Wörtlich bedeutet das arabische Wort Fakir einfach «arm», ähnlich wie das persische Derwisch, das auch die Konnotation «Bettler» besitzt. Die Unabhängigkeit von weltlichem Besitz gilt für viele Sufis als grundlegende Voraussetzung für das Vorankommen auf dem Weg zu Gott. Auf Arabisch heissen die Sufi-Orden deshalb auch «tariqa», was wörtlich «Pfad» bedeutet. Dessen zahlreiche Stationen variieren von Bruderschaft zu Bruderschaft. Neben der Einhaltung der islamischen Gesetze und Regeln sind oft die Stationen Reue und Gottvertrauen sowie Zufriedenheit, Liebe und Erkenntnis von Bedeutung.

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Herzen das Gefühl: So ist es im Paradies», erinnert sie sich. Also begann sie Literatur zum Thema zu wälzen und sich umzuschauen. Auf einer Reise nach New York besuchte sie den Nur Ashki Jerrahi-Orden in Tribeca, geleitet von Scheicha Fariha, einer amerikanischen Konvertitin. Eine Frau an der Spitze, das sprach Schleuss an, das Frauenthema ist ihr ein Anliegen. «Der Glaube muss zeitgemäss sein und mit den heutigen Gegebenheiten vereinbar», sagt sie. Eine Retraite bei einem islamischen Orden in den USA brachte sie schliesslich auf die Idee, in der Schweiz Anschluss an den Sufismus zu suchen. Und so kam sie zu Scheich Peter Hüseyin Cunz. Das war vor zweieinhalb Jahren. Formell aufgenommen ist sie seit letztem April. «Das Leben in jedem Moment als Reise auf der Suche nach Gott zu verstehen und immer wieder Gottes Gegenwart zu erleben, macht es mir möglich, besser in Kontakt mit meinem Herzen zu kommen und damit Hingabe an das Leben zu lernen», beschreibt sie ihren Geisteszustand. Als Muslima bezeichnet sie sich jedoch noch nicht. «Ich bin auf dem Weg dorthin, aber ich merke, ich brauche noch wesentlich mehr Zeit dazu.» In der Gruppe wiederholt sie eine islamische Gebetsformel nach der anderen:

‫ال إله إال هللا‬

‫الحمد هلل‬

‫بسم هللا‬

Bismillah / Alhamdulillah / La ilaha illa Allah Jeder kennt die Bilder der sogenannten tanzenden Derwische aus der Türkei, mit ihren hohen Filzhüten und ihren langen weissen Gewändern, deren Röcke aussehen wie ein gewellter Lampenschirm, wenn sie sich drehen. Sie gehören zur Mevleviyye, einem Sufi-Orden oder «tariqa», wie die mystischen Bruderschaften im Islam genannt werden (siehe Box). In der Schweiz ist der Orden seit 1999 aktiv. Der Hauptsitz befindet sich im türkischen Konya, wo der Konvent mit seinem Tanzritual sowohl Pilgerort als auch Touristenattraktion ist. Die Mevlevi berufen sich zurück auf den Mystiker und Dichter Maulana (pers. «unser Herr») Dschalaluddin Rumi – in der Türkei Mevlana und im Westen Rumi genannt. Geboren 1207 in Balkh im heutigen Afghanistan, siedelte seine Familie – möglicherweise auf der Flucht vor den anrückenden Mongolen – im Jahr 1228 ins zentralanatolische Konya über, das damals unter der Herrschaft der Rum-Seldschuken stand. Es war wie eine Initiationserfahrung, als der islamische Gelehrte Rumi im Jahr 1244 dem etwa gleichaltrigen Wanderderwisch Schamsuddin Tabrizi begegnete, der ihn der Überlieferung nach mit einer einzigen Frage in Ohnmacht fallen liess. Eine mystische Liebe entbrannte zwischen den beiden, Wochen verbrachten sie in Abgeschiedenheit und mit der Diskussion über die Gottesliebe. Die Begegnung endete tragisch: Schamsuddin starb eines gewaltsamen Todes, Rumis Sehnsucht nach dem verlorenen Geliebten hingegen entlud sich in kreativer Produktivität: Er begann Verse zu rezitieren, Musik zu hören und sich ekstatisch im Kreis zu drehen. Und er gab nicht auf, Schamsuddin zu suchen: Für ihn war der Geliebte bereits gleichbedeutend mit Gott und die Suche nach ihm zum alleinigen Sinn 12

geworden. Rumi verstarb 1273 und hinterliess eine Schar von Anhängern, die später den Mevlevi-Orden formten. Rumis «Mesnevi», ein in persischen Doppelversen verfasstes Lehrgedicht von rund 26 000 Versen, gilt als eines der bedeutendsten Werke der Sufi-Literatur. Der Mystiker Dschami nannte es den «Koran in persischer Zunge». Zentral für die Lehre der Mevlevi ist die Liebe. So heisst es am Anfang des Mesnevi: «Die Feder eilt im Schreiben, kaum zu halten – sie kam zur Liebe und musst’ gleich zerspalten. Verstand: ein Esel, im Morast geblieben – Erklärung gibt für Liebe nur das Lieben» Dabei ist die besungene Liebe nicht mit der irdischen Kraft und Sinnlichkeit gleichzusetzen, sondern berichtet von höheren, spirituellen Erfahrungen. Es war ein MevleviScheich aus Istanbul, der dem Schweizer Peter Cunz vorschlug, eine Schweizer Niederlassung des Ordens zu gründen. Seit 1999 nun führt Scheich Peter Hüseyin Cunz die Tekke an, wie man eine solche Ordensniederlassung auf Türkisch nennt. Aufgewachsen in einer reformierten Familie, suchte Cunz früh nach spiritueller Leitung. Fürs Theologiestudium reichte das Latein nicht, also wurde der heute 68-Jährige Elektroingenieur an der ETH. Bald trat er aus der Kirche aus. Es waren die wilden Siebziger, wie viele andere machte Cunz Yoga, setzte sich mit Buddhismus und Hinduismus auseinander, studierte TheoSurprise 414/17


sophie, die esoterische Bewegung Gurdijeffs und die Anthroposophie. «So ein bisschen alles», sagt er heute. Durch die Begegnung mit seiner ersten Frau, einer Inderin aus Britisch-Guayana, fand Cunz zum Islam und begann sich näher mit dessen Schriften und Ritualen zu beschäftigen. Der Gedanke der Einheit hatte Cunz schon in den fernöstlichen Religionen fasziniert und nahm ihn nun auch für den nahöstlichen Glauben ein. Anschluss suchte er zunächst keinen. «Ich bin nie in der Schweiz in eine Moschee gegangen, ich lernte beten aus einem Buch.» Bei einem Arbeitsaufenthalt in Saudi-Arabien lernte er die arabische Gesellschaft näher kennen, er traf dort Gastarbeiter aus der gesamten islamischen Welt. Arabisch lernte er jedoch nicht. «Ich wollte, kann es auch ganz gut aussprechen, aber ich habe es nicht geschafft, einen Wortschatz oder Alltagsarabisch zu erwerben.» Später heiratete Cunz in zweiter Ehe eine Pfarrerstochter, mit der er eine Tochter und zwei Enkelkinder hat. Dem Islam aber blieb er treu. Cunz begegnete Reshad Feild, dem britischen Mystiker und Autoren des Bestsellers «Ich ging den Weg des Derwischs». «Er ist einer der Hauptverantwortlichen, dass damals ein Duft von Sufismus nach Europa wehte», erinnert sich Cunz. Mit Feild organisierte das Ehepaar Cunz ab Mitte der Achtzigerjahre Seminare in der Schweiz. «So bin ich hineingewachsen in den Sufismus», sagt Cunz. Anfang der Neunziger kam es zum Bruch, Cunz war mit Feild inhaltlich nicht mehr einig. «Er hat sich selbst vermarktet, nicht den Sufismus.» Also schrieb er dem Mutter-Orden in der Türkei. Und prompt kam die Anfrage, ob er nicht in der Schweiz eine Tekke aufmachen wolle. Cunz wollte. Offenbar scheint es weder den Mutterorden noch die Schlieremer Sufis selbst zu stören, dass ihnen der Zugang zu den Originalschriften verwehrt bleibt. Wie viele nicht-arabischsprachige Muslime auf der Welt haben sie die Gebete und Suren auswendig gelernt. Sie arbeiten mit Übersetzungen, versuchen die Eigenheiten der Koran-Sprache und der orientalischen Dichtung mitzudenken. Der Intensität, mit der sie sich dem Inhalt widmen, tut es keinen Abbruch.

‫ال إله إال هللا‬

‫الحمد هلل‬

‫بسم هللا‬

Bismillah / Alhamdulillah / La ilaha illa Allah Durch eine leichte Verlangsamung des Rhythmus kündigt Alexander Stoll mit Trommel und Stimme einen Wechsel an. Der Drehende kreuzt wieder die Arme vor der Brust und verlangsamt die Bewegung, bis er mit dem Gesicht zu Stoll zum Stehen kommt. Wieder verbeugt er sich tief und geht zurück an seinen Platz. Die Gruppe stimmt eine neue Phrase an:

‫بسم هللا الرحمن الرحيم‬ Bismillah-i rahman-i rahim

Im Namen Gottes des Allbarmherzigen Allerbarmers. Diesmal erhebt sich die Sitznachbarin des ersten Derwischs, schreitet langsam in die Mitte und beginnt sich Surprise 414/17

mit derselben Bewegungsabfolge wie ihr Vorgänger zu drehen. Dhikr Allah nennt man diese Form der meditativen Kontemplation im Sufismus: Gottgedenken. Jeder Sufi-Orden hat seine eigene Form des Dhikr, es gibt laute Dhikr, hörbar und oft musikalisch begleitet, und es gibt stille Dhikr, wo die Wiederholung der Anrufungsformeln innerlich geschieht. Die Mevlevi praktizieren einen lauten Dhikr. Der Ablauf ist immer gleich. Auch der Sema, das Tanzritual, ist streng festgelegt, jede Bewegung hat ihre Bedeutung. So halten die Drehenden beispielsweise die rechte Hand gen Himmel geöffnet, um die göttliche Gnade zu empfangen, während die linke Hand den Segen nach unten geöffnet an die Welt weitergibt.

‫بسم هللا الرحمن الرحيم‬ Bismillah-i rahman-i rahim Wieder signalisiert Alexander Stoll das Ende der Phrase. Die Drehende stoppt in exakt der gleichen Weise wie ihr Vorgänger, verbeugt sich und setzt sich wieder. Noch eine weitere Frau dreht sich. Dann spricht eine Teilnehmerin als Abschluss ein kurzes Gebet auf Osmanisch. Stoll leitet über zur Lektüre des Mesnevis, ein Muttersprachler liest eine Passage aus dem persischen Original. Abgesehen von zweien versteht niemand Türkisch, Persisch oder Arabisch, doch alle hören andächtig zu. Dann folgen die Lektüre der deutschen Übersetzung und die Diskussion über das Gelesene. Stoll leitet das Gespräch, ohne Deutungshoheit zu beanspruchen, als Vertreter des Scheichs ist er heute Primus inter pares. «Ich hatte schon als Kind eine ausgeprägte Kindermystik. In meinen Zwanzigern merkte ich dann, dass ich das mit niemandem teilen kann, dass mir da was fehlt.» Vorgeprägt durch eine Kindheit in der Neuapostolischen Kirche, wollte der gelernte Psychia­ triepflegefachmann sich jedoch keinesfalls einfach «einem Guru hingeben», sondern suchte nach Auseinandersetzung. «So wie ich zehn Jahre lang christliche Literatur, auch viel Radikalkritisches, gelesen hatte, habe ich mich dann in den Bibliotheken auf die Suche nach anderem gemacht und bin beim Islam gelandet.» Stoll wollte das weiterverfolgen, merkte aber schnell: «Wenn du das ernsthaft machen willst, brauchst du einen Lehrer.» Alltagskompatibel musste es sein, der Winterthurer wollte weder Beruf noch Familie riskieren. Und so kam er 2003 zu Scheich Peter Hüseyn Cunz. Stoll schätzt den geschützten Raum, um spirituellen Fragen nachzugehen. Was genau ihn umtreibt, fällt ihm schwer in Worte zu fassen. «Man kann nicht umschreiben, was jenseits der Sprache ist.» Eine gewisse Entwicklung an sich selbst beobachtet er schon: «Ich meine, dass ich nun innerlich mehr Ordnung habe und mir andere, Umstände und ich mir selber nicht mehr so stark im Wege stehen wie früher», sagt Stoll. «Aber dass nun die Dinge mühelos wären oder ich ganz spezielle Einsichten hätte, das kann ich so nicht sagen.»

‫آمين‬ Amin. 13


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«Religion ist eine gesellschaftliche Kraft» Religionsgemeinschaften Die meisten Migranten hierzulande sind Christen. Das heisst aber nicht, dass sie ihren Glauben auf die gleiche Art leben wie die Schweizer. INTERVIEW  DIANA FREI

Jeder Mensch hat seine Lebensgeschichte und sein Weltbild. Beides gerät ins Wanken, wenn man einen langjährigen Fluchtweg hinter sich hat oder hergekommen ist, um sich ein neues Leben aufzubauen. Mehr als ein Drittel der Personen in der Schweiz stammt aus einem anderen Land, über die Hälfte davon bringt einen christlichen Hintergrund mit. Die Frage, wer man selbst ist, stellt sich dringender, wenn die Umgebung plötzlich eine andere ist. Sie beantwortet sich anders, je nach Weltbild, das man hat. Je nachdem, woran man glaubt. Die Religionszugehörigkeit kann zu Irritationen führen, sie kann aber auch Türen öffnen. Eva Baumann-Neuhaus und Simon Foppa vom Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI) in St. Gallen führen zurzeit eine Studie zur Bedeutung von Religion und Religionsgemeinschaften für christliche Zuwanderer in der Schweiz durch. Sie haben dafür über vier Jahre hinweg Interviews mit Migrantinnen und Migranten geführt. Frau Baumann-Neuhaus, Herr Foppa, empfinden christliche Migranten Weihnachten in der Schweiz als christliches Fest? Baumann-Neuhaus: Obwohl wir nicht danach gefragt haben, kam in unserer Studie immer wieder die Feststellung, die Schweiz sei nicht sehr christlich. Vor allem, wenn die Migranten aus einem Herkunftsland kommen, das hochreligiös ist. Hierzulande treffen sie auf Leute, die säkular leben und über sich sagen: Ich glaube an nichts. Vor diesem Hintergrund kann ich mir vorstellen, dass christliche Migranten bei der Beobachtung des vorweihnachtlichen Treibens tatsächlich finden, Weihnachten in der Schweiz habe nichts mit Religion zu tun. Surprise 414/17

Gerade in der Diskussion um Flüchtlinge gibt es Stimmen, die unsere sogenannte christliche Leitkultur verteidigen wollen. Ist das möglich, wenn sie gar nicht greifbar ist? Baumann-Neuhaus: Ich finde den Begriff Leitkultur schwierig. Unsere Gesellschaft ist sehr pluralistisch. Wir haben eine Verfassung und eingespielte Formen des Zusammenlebens. Wir haben viele Konventionen, die als Kultur oder Brauchtum gelten können. Aber dass das als Ganzes eine Leitkultur ergeben soll, die man gegen andere und anderes abgrenzen kann, halte ich für problematisch. Aus einer gewissen Besorgnis heraus wird es aber trotzdem gemacht. Denn wenn sich eine Gesellschaft pluralisiert, fragt man sich irgendwann: Wer sind wir? Was passiert mit unseren Werten? Man besinnt sich auf seine Wurzeln zurück. Das machen auch die Migranten, wenn sie in die Schweiz kommen. Ihre Religiosität wird im ersten Moment oft verstärkt. Ich würde trotzdem nicht von christlicher Leitkultur sprechen, obschon das Christentum in der Geschichte eine stark prägende Kraft war. Als wichtige Pfeiler sehe ich eher unsere Religionsfreiheit und unsere Verfassung. Man muss auch festhalten, dass über 80 Prozent unserer Migranten aus Europa stammen. 53 Prozent sind Christen und rund 29 Prozent sind konfessionslos. Sie sind uns konfessionell also ziemlich ähnlich. Wieso sind es vor allem Christen, die zu uns kommen? Foppa: Die Arbeitsmigration hat hierzulande mit dem Rekrutierungsabkommen für italienische Gastarbeiter begonnen. Danach gab es Verträge mit Spanien, mit Portugal, mit Jugoslawien und der Türkei. Es kamen also viele 15


Migranten aus katholischen Ländern. Während der Gastarbeitermigration waren Jugoslawien und die Türkei die einzigen Länder, aus denen muslimische Migranten kamen. Heute kommen die meisten Migranten über die Personenfreizügigkeit aus dem EU-Raum. Und die EU besteht aus mehrheitlich christlichen oder säkularisierten Ländern.

«Wir haben viele Konventionen, die als Kultur gelten können. Aber den Begriff Leitkultur finde ich schwierig.»

Heute werden in den Schweizer Schulen einerseits alle Weltreligionen thematisiert, anderseits wird alles getilgt, was mit religiöser Praxis zu tun hat. An Weihnachten singt man nicht mehr «Vom Himmel EVA BAUMANN-NEUHAUS hoch», sondern «Zimmetschtärn hani gärn». Geht dadurch etwas verloren? Baumann-Neuhaus: Es ist eine ziemlich verkrampfte Situation. Ich kann nicht nachvollziehen, dass man sagt, religiöse Bildung bedeute die Abwesenheit alles Religiösen. Natürlich ist die Schule nicht der Ort der religiösen Erziehung. Hier geht es darum, unterschiedliche Religionen kennenzulernen und ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass Menschen unterschiedlich glauben oder auch nicht glauben können. Doch wir haben auch Tradi-

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tionen, und daher fände ich einen etwas unverkrampfteren Umgang von allen Seiten durchaus hilfreich. Aber mir ist klar, dass es in der Schule vermutlich auch konkrete Vorbehalte von Eltern gibt, die Mühe haben mit ebendiesen Traditionen. Ist die Religion in der Migration ein Problemfeld oder eine Chance? Foppa: Die Frage der Religion kann für Migranten herausfordernd sein, wenn sie hier mit einem anderen Weltbild konfrontiert werden. Insgesamt helfen ihnen aber gerade ihre eigenen Religionsgemeinden, denen sie sich hier anschliessen können, massgeblich dabei, im neuen Umfeld erst einmal anzukommen. Daher würde ich sagen: Die Religion ist eine Chance für die Integration der Migranten in der Schweiz. Über die Gemeinden finden sie Leute, die wichtige Bindeglieder zwischen dem Herkunftsland und dem neuen Umfeld sind. Religiosität kann auch zur Gottesergebenheit führen, die fatalistisch macht und lähmend wirkt. Wird dann die Gläubigkeit zum Stolperstein? Foppa: Das ist meiner Meinung nach eher eine kulturelle als eine religiöse Frage. Es kann sein, dass jemand einen Satz wie «Gott wird mir schon helfen» sagt und seinen Glauben vorschiebt, um die eigene Passivität zu entschuldigen. Aber ich würde behaupten, das ist nicht davon abhängig, ob er christlich, muslimisch, ein Pfingstler oder Katholik ist. In gewissen Ländern sind die Verhältnisse so, dass man sie als Einzelner in keiner Weise kontrollieren kann. Gedanken zur Karriereplanung sind hinfällig,

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Verändert sich der Glaube auf dem Weg der Migration? Baumann-Neuhaus: Natürlich verändert sich der Glaube durch die Erfahrung der Migration. Doch wie das geschieht, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und hängt von verschiedenen Faktoren ab. Bei den einen intensiviert sich der Glaube aufgrund der Migrationserfahrung, weil er sie mit ihrer Herkunftssituation, ihrer Familie, ihrer Kultur verbindet. Die Religion gibt in einer Situation, die so viele Veränderungen mit sich bringt, eine Kontinuität und Sicherheit. Sie ist identitätsstiftend. Gerade in Zeiten der Verunsicherung hilft sie vielen, die Frage «Wer bin ich?» zu beantworten. Sie ermöglicht Selbstvergewisserung. Für andere dagegen ist es – je nach den Erfahrungen, die sie mit dem Glauben in der Familie oder im Herkunftsland gemacht haben – eine Befreiung, wenn sie diese Religion in einem Land, in dem man nicht gläubig sein muss, abstreifen können. Insbesondere dann, wenn sie die Religion als Zwang und Unterdrückung empfunden haben. Und wieder andere gehen im Verlauf der Zeit in der Schweiz zunehmend auf Distanz zu ihrer Re-

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ligiosität und passen sich so der Mehrheit der Schweizer Bevölkerung an. Sollte die Schweiz mögliche Ressourcen der Religion für die Integration stärker nutzen? Baumann-Neuhaus: Staat und Politik können Aktionen im religiösen Feld nicht selbst initiieren, denn der Schweizer Staat ist religiös neutral und mischt sich nicht aktiv in das religiöse Geschehen ein. Aber die Kirchen selbst könnten Eva Baumann-Neuhaus sich noch stärker als Gesprächsund Kooperationspartner für Migrationsgemeinden anbieten. Vonseiten des Staates sind auch Bemühungen für eine Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften im Gang. In der Schweiz bekommen die anerkannten christlichen Kirchen von den Studierte Ethnologie an der Kantonen jedes Jahr Gelder für Universität Basel und promoihr gesellschaftliches Engagevierte in Religionswissenschaft ment in den Bereichen Kultur, an der Universität Zürich. Seit Bildung und Soziales. Kleinere 2009 ist sie am Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut christliche und nicht-­christliche (SPI) in St. Gallen als wissenReligionsgemeinschaften zeigen schaftliche Projektleiterin tätig. oft auch ein gesellschaftliches Engagement – gerade im Bereich der Integration. Sie werden dafür in der Regel nicht finanziell unterstützt. Nun wird darüber nachgedacht, ob und wie auch sie für ihre Leistungen abgegolten werden könnten.

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FOTO: ANA KONTOULIS

weil sie an den Umständen scheitern wird. In einem solchen kulturellen Kontext macht eine gewisse Schicksals­ ergebenheit durchaus Sinn. Baumann-Neuhaus: Zudem ist es eine psychologische Angelegenheit. Es gibt Menschen, die hochreligiös und sehr fatalistisch sind. Es gibt aber auch andere, die sich als Teil von Gottes Plan verstehen und darin eine hohe Selbstwirksamkeit haben. Sie gewinnen dadurch eine Art von Empowerment, um selber handeln und wirken zu können. Das ist auch eine Frage des persönlichen Selbstbewusstseins.


FOTO: ANA KANTOULIS

Die Kirche hat früher auch die Freizeit und das soziale Zu­sammenleben stark geprägt. Heute ist Religion im Allgemeinen zur Privatsache geworden. Die Freikirchen dagegen nutzen genau diese Aspekte stark und gestalten die Freizeit mit. Sind diese Gemeinden für Migranten besonders attraktiv? Foppa: Es gibt zwei Aspekte, die Freikirchen für Migranten attraktiv machen. Zum einen vertreten sie oft eine Theologie, die dem näher ist, was sich insbesondere aussereuropäische Christen aus ihren Herkunftsländern gewohnt sind. Und das andere ist das Sozialleben. Man kann dort schneller Freunde finden, wenn man Freunde sucht. Migranten sind oft einsam und suchen Freunde. Sowohl bei den Katholiken als auch bei den Freikirchlern entstehen dabei auch Untergruppen in ein und derselben Gemeinde: zum Beispiel Latino-Gruppen oder englischsprachige Communitys. Die haben vielleicht einen eigenen Gottesdienst oder treffen sich zu eigenen Veranstaltungen. Da haben Migranten zum einen die Anbindung an eine Schweizer Gemeinde, aber auch eine Gruppe mit der gleichen Sprache und Kultur. Baumann-Neuhaus: Menschen suchen Gleichgesinnte und fühlen sich wohl unter ihresgleichen. Wo man die eigene Frömmigkeit leben kann, die eigenen moralischen Vorstellungen erwidert findet und vielleicht sogar auf Menschen mit der gleichen Sprache und Kultur trifft, fühlt man sich zuhause. Natürlich haben viele Freikirchen auch eine missionarische Orientierung, die sich oft mit sozial-diSimon Foppa akonischen Anliegen und Aktionen verbindet. Christliche Migranten sind in der öffentlichen Diskussion viel weniger ein Thema als die Muslime. Wieso? Foppa: Der erste Punkt ist: Obwohl nur fünf Prozent der Studierte Ethnologie und Schweizer Bevölkerung MusGeografie in Basel und Sozialwislime sind, sind sie aufgrund ihsenschaften in Fribourg. Zurzeit rer Religionszugehörigkeit mit promoviert er an der Universität einem stärkeren Stigma konLuzern in Religionswissenschaft. Er arbeitet seit 2013 als wissenfrontiert als beispielsweise schaftlicher Mitarbeiter am christliche Migranten. Daher Schweizerischen Pastoralsoziologistehen sie auch unter strengerer schen Institut (SPI). Beobachtung und werden in der Öffentlichkeit eher wahrgenommen. Der zweite Punkt ist: Es gibt tatsächlich eine kleine Minderheit, die Gewalt religiös zu legitimieren versucht. Hier ist es vielleicht ganz gut, wenn genau hingeschaut wird. Aber das Wichtigste scheint mir in dieser Diskussion die Feststellung: Religion ist immer das, was der Mensch daraus macht. Warum geschieht eine Radikalisierung bei den Christen weniger? Baumann-Neuhaus: Gewisse fundamentalistische christliche Kreise sind durchaus auch radikal in ihren Ansichten und ihrer Lebensführung. Wo sich diese gegen andere 18

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wenden, kann es auch zu Gewaltanwendung kommen. In der Schweiz gibt es aber kaum Formen eines politisierten und radikalisierten Christentums. Wieso? Baumann-Neuhaus: In unserer Gesellschaft hat die Religion, also das institutionalisierte Christentum, im Prozess der Modernisierung nicht nur seine umfassende Deutungskraft verloren, sondern ist in hohem Masse auch aus der Öffentlichkeit verschwunden. Als individualisierte Religion ist sie zur Privatsache geworden. Daran haben wir uns gewöhnt, damit sind wir in der Vergangenheit gut gefahren. Die Folge davon ist, dass Religion heute in der Politik keinen Platz hat. Umgekehrt wird es auch nicht gerne gesehen, wenn der Pfarrer von der Kanzel her­ab politisiert. Kirche und Staat, ReSIMON FOPPA ligion und Politik bleiben getrennte Bereiche. Zwar äussern sich die Religionsgemeinschaften immer wieder zu politischen Themen, manche religiöse Interessensgruppe macht auch mal mobil. Doch über die Ebene von Demonstrationen kommen sie in der Regel nicht hinaus.

«Die Religion ist eine Chance für die Integration der Migranten in der Schweiz.»

Weshalb ist es in den USA anders? Foppa: Im Einwanderungsland USA haben die Kirchen im sozialen Bereich lange eine wichtige Rolle gespielt. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass viele der Auswanderer aus religiösen Gründen in die USA gingen. Die Kirchen haben Gemeinschaftsgefässe für die Menschen geschaffen, die neu ankamen. Wie die Diskussionen rund um die obligatorische Krankenversicherung zeigen, kennen die Amerikaner in manchen Bereichen keinen starken Staat, doch sie kennen starke christliche Gemeinden. Später sind dann aus diesen Kirchen die Erweckungsbewegungen und im 20. Jahrhundert die Pfingstbewegung entstanden. Das ergab eine ganz andere religiöse Dynamik als bei uns. Sie waren nun vier Jahre lang eng mit Migrationsgemeinden in Kontakt. Was ist die grundlegende Erkenntnis? Baumann-Neuhaus: Religion ist für viele Migranten eine Ressource, auf die sie zur Bewältigung ihres Alltags zurückgreifen. Sie ist aber auch eine gesellschaftliche Kraft. Beispielsweise erbringen viele Religionsgemeinschaften Leistungen, die sonst der Staat übernehmen müsste. Darum sollten sie als Gegenüber des Staates auch wahrgenommen und angehört werden. Leider wird in der öffentlichen Diskussion beim Thema Religion allzu oft polarisiert. Ich wünschte mir in Gesellschaft und Politik ein entspannteres Verhältnis zur Religion, denn sie ist als gesellschaftliche wie individuelle Kraft präsent. Vielleicht können uns gerade die Migranten helfen, einen neuen Blick dafür zu entwickeln. Surprise 414/17

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Staat und Religion in der Schweiz Als 1848 der Nationalstaat gegründet wurde, überliess die Bundesebene die Regelung der Beziehungen von Staat und Religion den Kantonen. Der Bund musste sich konfessionell neutral verhalten. Jeder Kanton entwickelte ein eigenes System von Staat und Religion. Manche Kantone sind daher katholisch (z.B. Wallis und Tessin), manche reformiert (z.B. Bern und Zürich), in manchen sind beide Konfessionen gleichgestellt (z.B. Aargau), und manche haben nach dem französischen Vorbild Staat und Religion vollständig voneinander getrennt (Genf und Neuenburg). In den konfessionellen Kantonen haben die offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften gewisse Privilegien. Sie können zum Beispiel über den Staat von ihren Mitgliedern Steuern erheben. Das dürfen sie aber nur, wenn sie die Gelder demokratisch verwalten. Dafür musste die katholische Kirche ihre Strukturen in der Schweiz etwas anpassen. Im Prinzip stehen diese Privilegien nicht nur christlichen Kirchen offen, sondern auch anderen Religionen. In manchen Kantonen ist z. B. das Judentum öffentlich-rechtlich anerkannt. In islamischen, buddhistischen und hinduistischen Gemeinschaften gibt es etliche unterschiedliche Strömungen. Sie sind sie privatrechtlich als Vereine organisiert. Dies gilt auch für christliche Konfessionen wie die Pfingstler, Mennoniten oder Methodisten. Die Zahl an christlichen Religionsgemeinschaften in der Schweiz ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen (siehe Grafik unten). Die häufigsten Gottesdienstsprachen in den Migrationsgemeinden sind Italienisch, Französisch und Englisch (siehe Grafik rechts).

Mehrheit der Migranten gehört einer christlichen Konfession an

konfessionslos 28,6 %

andere Religionsgemeinschaften 3,5 %

muslimische Glaubensgemeinschaft 13,4 %

andere christliche Gemeinschaften

9,1 %

Gründungsjahre christlicher Migrationsgemeinden nach Konfessionen 1910 – 2012

350 neuere evangelische Kirchen

300

evangelische-historische Kirchen

250

orthodox römisch-katholisch

200 150 100 50 0 1910 20

1920

1930

1940

1950

1960

1970

1980 Surprise 414/17


Häufigste Gottesdienstsprachen in den christlichen Migrationsgemeinden

unbekannt 1,5 %

Italienisch

72

Französisch

66

Englisch

52

Spanisch

25

Portugiesisch

24

Deutsch

20

eritreische /  äthiopische Sprache

13

römisch-katholisch

QUELLE: BFS STRUKTURERHEBUNG

37,3 %

evangelisch-reformiert 6,6 %

Ungarisch

8

Kroatisch

6

Tamilisch

6

Arabisch

6

Vietnamesisch

5

Rumänisch

5

Griechisch

5

Niederländisch

4

Koreanisch

4

Chinesisch

4

Albanisch

4

Andere osteuropäische 14 Sprachen

2000 Surprise 414/17

2012

QUELLE: ALBISSER, SPI

QUELLE: SPI

Andere asiatische 9 Sprachen Andere afrikanische 7 Sprachen Nordeuropäische 6 Sprachen

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Neue Möbel fürs Gotteshaus Umnutzungen Kirchen sind Wahrzeichen von Städten und Dörfern, doch sie werden

immer leerer. Das Gegenteil ist bei Religionsgemeinschaften ausserhalb der etablierten Kirchen der Fall: Ihre Räume sind voll. Und man findet sie in Industriequartieren. TEXT  RAFAEL WALTHERT

«Pitcher and Piano» – «Krug und Klavier» – heisst die Bar, in die die unitarische Kirche in Nottingham umfunktioniert wurde. Auch das «Newcastle Climbing Center», das Kletterzentrum, war einmal eine Kirche und nutzt dabei die architektonischen Affinitäten zwischen Kirche und Kletterhalle, die auch in Deutschland verschiedene Umbauten inspirierten. Und während diese Umnutzungen noch als Kirchen erkennbar bleiben, ändert sich dies, wenn eine Kirche in Alterswohnungen umgebaut oder gänzlich abgebrochen wird. Sanftere Eingriffe stellen Parallelnutzungen der Kirchenbauten als sogenannte «Kulturkirchen» dar, bei denen Kirchen wie die evangelisch-lutherische St. Johannis-Kirche in Hamburg-Altona als – so die Website – «Veranstaltungslocation für Konzerte und Feiern mit Atmosphäre» gemietet werden können. Ausschlaggebend für diese Umnutzungen sind die bekannten Vorgänge der Entkirchlichung, die sich in abnehmender Gottesdienstteilnahme, schwindenden Mitgliederzahlen und damit einem Rückgang an finanziellen Mitteln ausdrücken. Auch in der Schweiz ist dieser Trend eindeutig: In Umfragen geben zwar noch etwa acht Prozent der Befragten an, einmal pro Woche in die Kirche zu gehen – die tatsächlichen Zahlen liegen jedoch zumindest bei den Reformierten noch tiefer. Eine vom Stadtverband der reformierten Zürcher Kirchen in Auftrag gegebene Studie zeigt, dass in der Stadt Zürich nur drei Prozent der reformierten Kirchenmitglieder regelmässig am Gottesdienst teilnehmen, das sind um die 2000 Personen. Verglichen mit der vorhandenen Infrastruktur und den Kosten zu ihrer Aufrechterhaltung sind das wenige: In der Stadt Zürich allein gibt es 47 reformierte Kirchen. Gerade bei den besonders betroffenen reformierten Landeskirchen wäre angesichts dieses Rückgangs eine Welle von Umnutzungen zu erwarten. Dies nicht zuletzt auch deshalb, da im reformierten Christentum Kirchen nicht wie im Katholizismus als «heilig» gelten. Die reformierten Kirchen werden weder geweiht noch gesegnet und sind damit eigentlich Orte wie alle anderen auch – aus theologischer Sicht steht Barhockern oder Abrissbirnen nichts im Wege. Auch an Initiativen mangelt es nicht: Surprise 414/17

Vertreterinnen und Vertreter von Theologie und Kirche führen Tagungen zum Thema Kirchenumnutzung durch, und Gesandte der Zürcher Landeskirche besuchten bereits erfolgreiche Kulturkirchen in Deutschland, um sich von Vorbildern inspirieren zu lassen. Sogar die Kirchenbänke sind denkmalgeschützt Zu welchen neuen Nutzungen von Kirchen führt die Veränderung der Religionslandschaft Schweiz? Kletterhallen, Schwimmbäder, Hüpfburgen? Die ersten Resultate eines religionswissenschaftlichen Projekts zeigen: Abgerissen wird in der Schweiz kaum eine Kirche, und spektakuläre Umnutzungen gibt es keine. Im Gegensatz zu anderen Ländern haben es sowohl radikale Eingriffe als auch Kulturkirchenprojekte schwer. Weshalb? Zwei Projekte aus der Reformierten Kirche Zürich zeigen Folgendes: Die reformierte Kirchgemeinde Wollishofen verfügt über zwei Kirchen. Eine zu viel, wie man befand, zumal die grössere und neuere allein für das Aufheizen im Vorfeld einer Veranstaltung 800 Franken verschlingt. Aus einem Projektwettbewerb ging eine Lösung hervor, die am ehesten an die traditionelle Nutzung des Kirchenraumes anschloss. Während beispielsweise der Umbau der Kirche in ein Familienhotel abgelehnt wurde, erhielt die Umnutzung als «KunstKlangKirche» den Zuschlag: Diese sieht die Kirche als Zentrum für Veranstaltungen mit Fokus auf Kirchenmusik, Orgelkonzerte und alternative Gottesdienstkonzepte und will «Spiritualität und Kunst» verbinden. Ein lokal initiiertes Umnutzungsprojekt in Winterthur-Veltheim dagegen wollte in der Kirche Rosenberg nicht Spiritualität und Kunst, sondern breiter gefasst Spiritualität und Kultur zusammenbringen – dies mit Konzerten, Ausstellungen, Lesungen und einem Gastronomiebetrieb, um auch kirchenferne Personen wieder für die Kirche zu gewinnen. Die «KunstKlangKirche» in Wollishofen zeigt die Schwierigkeiten auf, die sich aus der monumentalen Archi­tektur ergeben: Dass das Gebäude denkmalgeschützt ist, dürfte für das Projekt im Wettbewerb mit anderen Vorhaben, die radikale bauliche Eingriffe vorsahen, förderlich 23


gewesen sein. Doch sind die Kirchenbänke ihrerseits denkmalgeschützt. Immerhin dürften die Bänke entfernt werden, wenn sie in den Kellerräumen der Kirche gelagert würden. Da jedoch unter den Bänken die Heizungen ins­ talliert sind, müsste für eine flexible Bestuhlung die Heizung erneuert werden, was einen hohen finanziellen Aufwand mit sich brächte. Genau die Architektur, die das Gebäude erhaltenswert und attraktiv macht, verteuert die Umnutzung. Und weil gerade die Kosten der Infrastruktur der Grund für die Umnutzungsbestrebungen sind, scheinen solche Investitionen wenig attraktiv. Cüpli sind nicht einträglicher als Gottesdienste Das Projekt der Kulturkirche Velt­heim weist auf eine andere Problematik hin. Das Projekt wurde zwar zunächst von der Kirche Winterthur unterstützt. Dann wurde jedoch ein Referendum ergriffen, das darin endete, dass die reformierten Stimmberechtigten Winterthurs sich gegen eine Umnutzung aussprachen. Zu elitär sei das Projekt, das «hochkulturelle Kunstformen» vorsehe, die finanziell nicht einträglicher als Gottesdienste seien: Bloss mit Cüp­li und Vernissagen sei die Kirche nicht zu finanzieren. Während die Veltheimer selbst deutlich einer Umnutzung zustimmten, lehnte der Rest der Winterthurer Bevölkerung das Projekt deutlich ab. Die Schweiz ist für Kirchenumnutzungen ein hartes Pflaster, und je weiter die Projekte von der herkömmlichen Nutzung abweichen, desto schwieriger wird es. Die Ursachen dafür sind: 1. Richtlinien Vom Schweizerischen Evangelischen Kir-

chenbund herausgegebene Kriterien raten eindringlich von radikalen Umnutzungen ab: So sei ein Abbruch nur die allerletzte Option, und von der Abgabe an nicht-christliche Religionsgemeinschaften wird abgeraten. Begründet wird dies mit dem zu erhaltenden «Symbolwert» der Kirchen für Gemeinde und Öffentlichkeit. Mit der Denkmalpflege arbeitet auch ein nicht-kirchlicher Akteur in Richtung Konservierung. So kann und will die reformierte Kirche kein Kapital aus den meist sehr attraktiv gelegenen Liegenschafen schlagen. 2. Geld  Riskante Investitionen sind sowohl für die finan-

ziell Verantwortlichen der Kirchen als auch für die Gemeindemitglieder in einer Zeit des allgemeinen Rückgangs wenig plausibel. 3. Lokales Engagement Die untersuchten Projekte ent-

standen aus lokalen Initiativen, die zu ihrer Realisierung von zentraleren Instanzen gutgeheissen werden mussten. Diese teilten den lokalen Aktivismus nicht unbedingt: Für sie sind lokale Strategien kostspielig und lösen das grundlegende Problem nicht. 4. Kirchennahe Ideen  Die zwei untersuchten Umnut-

zungsvorschläge bewegen sich nahe an der Kultur der Landeskirche. Die Zürcher Landeskirche bleibt weiterhin Besitzerin der Kirchen, und so waren auch kirchlich Engagierte für die Umnutzungsideen massgebend: Sie wol24

len die Kirchen für Orgelkonzerte, alternative Gottesdienstformen oder Kunstausstellungen nutzen. Das erinnert derart stark an Gewohntes, dass es – so in Winter­ thur – die Reformierten selbst nicht überzeugte. Zweifellos kann die jetzige Anzahl von Kirchenbauten von der Institution Kirche nicht mehr lange getragen werden, radikalere Lösungen werden unvermeidbar sein. Dieser Wandel wird nicht mehr lokal initiiert sein, sondern vom oberen Ende der kirchlichen Hierarchie her kommen. Bereits wurde ein Verzeichnis aller Stadtzürcher Kirchen erstellt, das entlang «objektiver» Kriterien wie «kirchlicher Nutzen», «Architektur und Städtebau» und «denkmalpflegerische Beurteilung» taxiert. Zielstrebige Umnutzungen werden sich durchsetzen, sobald der Spardruck gross genug ist. Beten an der Autobahnausfahrt Ein Blick auf Religionsgemeinschaften ausserhalb der etablierten Kirchen zeigt ein völlig gegensätzliches Bild: Viele muslimische und christliche Gemeinschaften im Migrationsbereich, aber auch neuere Freikirchen wie der ICF haben erhöhten Platzbedarf. Ihre Räume sind nicht durch Türme von Weitem erkennbar, es sind Bauten wie die Maag Event Hall für den ICF oder – im Fall islamischer Gemeinschaften – kleinere Industrie- und GewerbegeSurprise 414/17


bäude, die für religiöse Zwecke verwendet werden. Umgenutzt wird also in die andere Richtung, öffentlich sichtbar wird das jedoch nicht. Die symbolische Kennzeichnung durch Minarette wurde sogar per Volksinitiative verboten. Nicht nur die Richtung der Umnutzung ist gegensätzlich, sondern auch die Besetzung des Ortes. Kleine Gemeinschaften sind an «Nicht-Orten» angesiedelt: auf Industriearealen, in der Nähe von Autobahnausfahrten, denen keine Geschichte oder Identität zugeschrieben wird. An Orten des Vorübergehens, nicht des Aufenthaltes. Kirchen entfalten dagegen eine hohe Sichtbarkeit und symbolische Wirkung, sie stehen für ganze Dörfer oder Stadtviertel, nach ihnen werden Haltestellen und Plätze benannt. Mit der Soziologin Martina Löw lässt sich dieser Gegensatz durch den Unterschied zwischen «Ort» und «Raum» fassen: Die etablierten Kirchen stellen Orte dar, die eine symbolische Wirkung entfalten und eine Stelle definieren. Räume für Handeln sind sie jedoch immer weniger, die Kirchen bleiben leer. Im Gegensatz werden von den «marginalen» Gemeinschaften Räume intensiv für religiöse Praxis verwendet, Orte sind sie jedoch nicht. Trotz all der Rituale haben sie keine Bedeutung für die öffentliche Wahrnehmung. Das führt zu völlig unterschiedlichen Flexibilitäten. Die steingewordene Monumentalität der etablierten Kirche kann trotz rapidem religiösem Wandel nicht verändert werden, während ein Surprise 414/17

namenloser Raum leicht die Adresse ändern kann. Der Verzicht auf Monumentalisierung erhöht die Flexibilität. Ist der Kontrast zwischen Ort und Raum, zwischen etablierter und nicht-etablierter Religion nun das Fazit? Es gibt Anzeichen für Bewegung: Während der Schweizerische Evangelische Kirchenbund vor zehn Jahren noch in seinen Richtlinien von Umnutzungen durch nicht-­ christliche Religionsgemeinschaften abriet, mehren sich in Kirchenkreisen die Stimmen, die ein Umdenken fordern. Und in Veltheim ergab sich eine überraschende Entwicklung: Nachdem jahrelang und letztlich vergeblich an der «Kulturkirche» geplant wurde, entschied man innerhalb weniger Tage, die Kirche im Januar 2016 für Flüchtlinge zu öffnen. Die Akzeptanz und Hilfsbereitschaft in der Kirchgemeinde waren gross. Schnurstracks wurden die Kirchenbänke auf der Empore eingelagert – auch hier hatte der Denkmalschutz ein Auge drauf – und im Kirchenraum wurden Holzhäuschen errichtet. Aus dem Ort ist also doch auch noch ein Raum geworden. Diese Umnutzung war allerdings nur provisorisch und endet 2017. Der Text erschien erstmals in Terra Cognita – Schweizer Zeitschrift zu Integration und Migration, herausgegeben von der Eidgenössischen Migrationskommission EKM, Frühjahr 2016, und wurde aktualisiert. R AFAEL WALTHERT ist Assistenzprofessor am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Zürich.

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Bern «Weltuntergang – Ende ohne Ende», bis 2022 (!), Mo 14 bis 17 Uhr, Di, Do, Fr 9 bis 17 Uhr, Mi 9 bis 18 Uhr, Sa und So 10 bis 17 Uhr, Naturhistorisches Museum Bern, Bernastrasse 15, Bern. www.nmbe.ch

Die Welt wird untergehen – das ist gewiss. Die Frage ist nur, wann und wie. Das Naturhistorische Museum der Burgergemeinde Bern befasst sich in einer grossen, von Expo-Macher Martin Heller konzipierten Ausstellung auf vielfältige Weise mit dem Thema. Die Besucherinnen und Besucher bekommen naturhistorische Fakten geboten, sehen Ausschnitte aus Hol­ lywood-Weltuntergangsblockbustern, lernen Menschen kennen, die sich mit dem Anlegen von Notvorräten auf die Apokalypse vorbereiten (Bild oben) und sehen Kunstwerke, die sich mit dem Ende der Welt befassen. Lehrreich, unterhaltsam und trotz des Themas belebend sei das, fanden die Medien nach der Eröffnung der Ausstellung im November. GG

St. Gallen Öffentliche Ringvorlesung: Zur Zukunft der Freundschaft, jeweils Donnerstag, 18 bis 19.30 Uhr, bis 21. Dezember; «Mein Freund, der Roboter?», Do, 7. Dezember; «Freundschaft zwischen Mediatisierung und Fürsorge», Do, 14. Dezember; «Frauen- und Männerfreundschaften – Mythen und Realitäten», Do, 21. Dezember, Raum 0027, FHS St. Gallen, Rosenbergstrasse 59, St. Gallen. Eintritt frei, keine Anmeldung erforderlich. Ein Freund ist nicht mehr einfach ein Freund. Nicht mehr in Zeiten von Facebook. Die Beziehungsform Freundschaft unterscheidet sich heute stark von dem, was man schon nur in der vordigitalen bür­ gerlichen Gesellschaft darunter verstand. Damals stellte man seine Alltagsfreundschaften nicht öf­ fentlich dar, unter Umständen war es sogar unerwünscht. Heute sind wir vor allem mit ganz praktischen Fragen beschäftigt: Soll man öf­

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fentlich gratulieren? Will ich, dass mein Foto von meinem Freund gepostet wird? Klar ist: Freund­ schaft ist im Wandel. Noch schwie­ riger wird es bei der Frage, ob ein humanoider Roboter mein Freund sein kann. Oder wenn es darum geht, ob Männer und Frauen Freunde sein können. DIF

Basel «19. Harley Niggi-Näggi», Sa, 9. Dezember, 16 bis 19 Uhr, Start Messeplatz, Ende Marktplatz, Basel. www.hognws.ch Vergessen Sie den Schlitten: Santi­ glaus fährt Harley. Brumm, brumm. Und er ist auch gar nicht nur in Be­ gleitung von Schmutzli, sondern von vielen, vielen anderen Santi­ gläusen. Zum 19. Mal veranstalten die Biker der Harley Owners Group die Tour der Gläuse auf den dicken Maschinen. Vom Messeplatz geht es über die Mittlere Brücke ins Gross­ basel. Von der Schifflände fahren sie über den Petersgraben zur Lyss und via Barfüsserplatz in die Freie Strasse, zum Marktplatz, dann nochmals eine Runde via Peters­ graben, den Spalenberg herunter und zu den Kindern auf den Markt­ platz. Und da gibt es eine Überra­ schung für die Kleinen. WIN

Luzern «Dräckigi Händ», Konzert von Schtärneföifi, So, 10. Dezember, 11 Uhr, Kleintheater Luzern, Bundesplatz 14, Luzern. www.kleintheater.ch Seit über 20 Jahren macht die Band Schtärneföifi Musik, die Kindern (und Erwachsenen) gefällt. Das hat mit der bunten Stilmischung zu tun, die Rock ’n’ Roll, Salsa, Punk und a capella umfasst. Aber auch mit den Texten von Boni Koller, der die Probleme und Freuden von Kindern und Eltern mit einem Au­ genzwinkern schildert. In Luzern stellt die Band ihr neustes Album «Dräckigi Händ» vor, spielt aber natürlich auch Klassiker wie «Hei­ cho – ohni Znacht is Bett». GG

Bern «Flipper», Tanzkompagnie Unplush, 14. Dezember, 20 Uhr, auf Englisch, Turbinensaal, Dampfzentrale, Marzilistrasse 47, Bern. www.dampfzentrale.ch Flipper war eigentlich eine Delfin­ dame. Und – Achtung: tragisch! – sie beging Selbstmord in den Ar­ men ihres Trainers. Das behauptete dieser zumindest in einem Inter­ view. Die Tanzkompagnie Unplush macht aus dem Todesfall eine De­ tektivgeschichte: Zwei Tänzer und eine Schauspielerin werden hier­ für zu Delfin, Trainer und Ermitt­ lerin und konfrontieren das Pub­ likum mit möglichen Szenarien. Nun gilt es, sich nach und nach aus den Illusionen zu befreien, denen man zuvor aufgesessen war. Mit Club Night für Tanzwütige im An­ schluss. WIN

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BILD (1): DWIGHT ESCHLIMAN, BILD (2): ZVG, BILD (3): RENATE WERNLI, BILDER (4): ROMAN BRUNNER

Veranstaltungen


BILD (1): CHRISTIAN REICHENBACH, BILD (2): BERNISCHES HISTORISCHES MUSEUM, BERN. CHRISTINE MOOR, BILD (3): ZVG, BILD (4): FRANCO TETTAMANTI

Veranstaltungen Zürich «Mary», Mi, 6. bis So, 17. Dezember, Mi bis Sa 20 Uhr, So 17 Uhr; Do, 14. Dezember Benefiz-Vorstellung für Solinetz Zürich; Theater am Hechtplatz, Zürich. Ab Februar 2018 auf Tournee. www.schoenundgut.ch Agneta, die Lettin, soll eingebürgert werden. Von Gemeindepräsident Kellenberger höchstpersönlich, dessen Haushalt sie schmeisst und dessen Herz sie erobert hat. Nur glaubt Kellenberger, seine Angebe­ tete gehe fremd mit Metzger Schön. Schwierig. Aber Schön geht. Nicht fremd, sondern in die Fremde. Was Kellenberger befremdet zurück­ lässt. Und dann geht es erst richtig los, und zwar wegen Frau Gut, die kurz vor der Gemeindeversamm­ lung die Grosshöchstetter (auch das neue Stück spielt wieder am Lieblingsschauplatz des Kaba­ rett-Duos schön&gut) in Aufruhr bringt. Poetisches und politisches Kabarett von Anna-Katharina Rickert und Ralf Schlatter. DIF

Bern «1968 SCHWEIZ», bis 17. Juni 2018, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Mo geschlossen, Bernisches Historisches Museum, Helvetiaplatz 5, Bern. www.bhm.ch

Zürich «No Billag – eine brand­ gefährliche Initiative», Podiumsdiskussion, Do, 7. Dezember, 18.30 bis 20 Uhr, Kino Xenix, Kanzlei­strasse 52, Zürich. Die Annahme der No-Billag-Initi­ ative, über die am 18. März 2018 abgestimmt wird, hätte grosse Auswirkungen auf Kulturschaf­ fende. Damit ihre Filme entstehen können oder ihre Musik, ihre Bü­ cher und ihre Theateraufführun­ gen verbreitet werden, sind sie auf die SRG angewiesen. Gleichzeitig haben sie auch ihre Gründe für Kritik an der SRG. Wie umgehen mit diesem Zwiespalt? Darüber diskutieren WOZ-Chefredaktorin Susan Boos, SRG-Vizedirektorin Ladina Heimgartner, der Film­ schaffende Ivo Zen sowie Diego Yanez, Leiter des Medienausbil­ dungszentrums MAZ. GG

Ab und an trifft man noch auf Leute, die die Flausen, die die 68er angeblich in die Welt brachten, möglichst wieder rückgängig machen möchten. Zurück zu Respekt und Anstand. Beides sah in der Schweiz bis in die Sechziger so aus: Zusammenleben ohne Trauschein ist verboten. Frauen haben kein Stimm- und Wahlrecht. Homosexuelle werden polizeilich registriert. Dann kamen die jungen Langhaarigen, die den Vietnamkrieg beendet haben wollten. Die Frau und Mann als gleichberechtigte Menschen sahen. Die auf ein Menschenbild pochten, das auf Mitsprache und Soli­ darität aufbaut. Die Ausstellung zeigt nicht nur den gesellschaftlichen Wandel von A wie Aussteiger-Kommunen bis Z wie Zürcher Globuspro­ visorium, sondern fragt auch danach, was in Politik, Kultur und Alltag heute noch davon zu sehen ist. DIF

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Radiopraxis stellt man sich Fragen wie: Ist es legitim, über die eigene Spiritualität zu reden? Oder soll man es bei einem Alternativradio, wie LoRa es ist, die Religion als Thema lieber ganz bleiben lassen? Wohl nicht. LoRa veranstaltet des­ halb eine Tagung zu Religion, Migration und Medien. Die Themen reichen vom Judentum als kollek­ tives Gedächtnis über Fundamen­ talismus und Sektendynamik bis hin zur Handhabe religiöser Fragen in den Medien. Die Referenten sind unter anderem die Präsidentin des interreligiösen Think-Tanks Amira Hafner-Al Jabaji, Tarek Naguib, Do­ zent für Sozialrecht an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wis­ senschaften, und für den Schweizer Presserat die ehemalige NZZ-Jour­ nalistin Seraina Kobler. DIF

Zürich «Migration, Religion – Passt das zusammen im interkulturellen Radio?», Fr, 8. Dez., 19 bis 21.30 Uhr, und Sa, 9. Dezember, 14 bis 19 Uhr, Clubraum Rote Fabrik, Seestrasse 395, Zürich. Eintritt frei, Übe­r tragung auf Radio Lora 97.5 Mhz, Streaming über www.lora.ch Redet man über Migration, wird auch die Religion ein Thema. In der

Zürich «Unübersetzbar?», Gespräch mit Schriftsteller Michael Fehr und Übersetzer Shaun Whiteside, Mi, 6. Dezember, Kulturzentrum Kosmos, Ecke Europaallee/ Langstrasse, Zürich. www.kosmos.ch Die Entwicklungen von Sprachen verlaufen nicht gleichzeitig: Eine Rede von Atatürk so ins Deutsche zu bringen, dass nicht nur ihr Sinn, sondern auch die historisch veraltete und für heutige Hörer fast unverständliche Sprache des Originals spürbar wird, ist eine hohe Kunst. Besonders Übersetzer literari­ scher Werke müssen begabte Dich­ ter sein, auch wenn sie nur selten Ruhm ernten. Bücher wie «Finne­ gans Wake» von James Joyce oder «Tutunamayanlar» von Oguz Atay, aber auch einzelne Reime und Wortspiele gelten gar als unüber­ setzbar. Warum? Diskutieren Sie mit Schriftsteller Michael Fehr und seinem britischen Übersetzer Shaun Whiteside. Deren These: Manchmal ist die Differenz zum Original auch ein Gewinn. WIN

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Toppharm Apotheke Paradeplatz, Zürich

02

InhouseControl AG, Ettingen

03

Coaching Zürich, Petra Wälti

04

Kaiser Software GmbH, Bern

05

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

06

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

07

Thommen ASIC-Design, Zürich

08

bewegstatt.ch, Janine Holenstein, Frauenfeld

09

Naef Landschaftsarchitekten GMBH, Brugg

10

Yogazeitraum, Wädenswil

11

Echtzeit Verlag, Basel

12

Schweizerisches Tropeninstitut, Basel

13

Iten Immobilien AG, Zug

14

AnyWeb AG, Zürich

15

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

16

Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

17

Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

18

Proitera Betriebliche Sozialberatung, Basel

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau, Nidau

20

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

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Hervorragend AG, Bern

22

Lisa Stettler Körpertherapie, Bäch

23

Coop Genossenschaft, Basel

24

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

25

Maya-Recordings, Oberstammheim

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Roger Meier hat in seinem Berufsleben schon den Beton des AKW Mühleberg saniert und am Berner Münsterspitz Gerüste gebaut. Seit einem Unfall kann er nicht mehr voll arbeiten. Der 56-jährige Vater von vier Kindern erlitt nach dem Auseinanderbrechen der Familie einen Nervenzusammenbruch und musste die Fremdplatzierung der Kinder verkraften. Heute lebt er fast vollständig vom Surprise-Verkauf in der Berner Marktgasse. SurPlus ermöglicht Roger ab und zu Ferien vom anstrengenden Alltag. «Als Obdachloser war auch das ÖV-Abo elementar», sagt der Überlebenskünstler: «Wenn es zu kalt wurde, drehte ich zwei Runden im Tram und war wieder aufgewärmt.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Leserbrief

Ausgabe 411

«Menschenwürde»

«99 Prozent Bedienstete»

Toll, dass es Euch gibt und Ihr so einen super Job macht! Ich finde im Magazin immer interessante Artikel. Und noch wichtiger finde ich, dass Ihr Euch für die Förderung der Menschenwürde einsetzt.

Da sage noch einer, die heutige Jugend sei oberflächlich und gleichgültig. Die Beiträge der Schü­ler zeigen doch das pure Gegenteil. Wenn die so weitermachen, werden sie den Schwachsinn der 68er-Generation wieder ausbügeln und die Gesellschaft zur Vernunft zurückführen. Allein der Satz von Carmen Marti: «Die Schweizer Wirtschaft ist ein Palast, gebaut aus zerbrochenen Träumen», könnte von einem der grossen Philosophen stammen. Ein Palast, in dem 1 Prozent der Bürger wohnen und 99 Prozent Bedienstete sind, welche dafür zu sorgen haben, dass es dem einen Pro­zent immer noch bessergeht. Dafür wird die Kinderbetreuung verstaatlicht und beide Eltern können sich vermehrt um das Wohlergehen der Bewohner des Palastes kümmern. Die Kinder werden schon so früh wie möglich auf Leistung getrimmt. Jene, die dieser Ordnung nicht entsprechen, werden von der Gesellschaft ausgegrenzt, unterdrückt und als nutzlos hingestellt (Abbau im Sozialbereich).

L . ESCHMANN, Greifensee

P. KRAMER, Dägerlen

Ausgabe 411

Ausgabe 411

«Ausserordentlich»

«Hoch erfreut»

Ich bin ein ziemlich fleissiger Leser des Surprise. Für mich ist das alternative Lektüre, interessant, überraschend und weg von den ausgetrampten Geleisen. Das Schul­heft war nun ausserordentlich interessant! Ich staune, was da 12- bis 16-Jährige beschreiben und wie die formulieren.

Eine ausgezeichnete Idee, diese Schulnummer! Ich bin hoch erfreut über die formale Vielfalt der Texte und über die Gedanken dieser Mittelschülerinnen und -schüler.

R. KUR ATLE, Winterthur

J. THÖNI, Herrenschwanden

Impressum Herausgeber Surprise, Spalentorweg 20 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 F +41 61 564 90 99
 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 surprise@1to1media.ch Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Sara Winter Sayilir (win), Georg Gindely (gg) Reporter: Beat Camenzind (bc), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Ruben Hollinger, Isabel Mosimann, Rafael Walthert, Priska Wenger (Illustrationen) Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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FOTO: RUBEN HOLLINGER

Surprise-Porträt

«Mein Glaube ist mein steter Begleiter» «In meiner Kindheit sagte mir der Glaube an Gott gar nichts, obwohl ich einen grossen Teil meiner Kindheit in einer Täufer­ familie im Berner Jura verbrachte. Da war wohl auch eine Portion Protest dabei, denn ich wurde gegen meinen Willen fremdplatziert. Mein Vater war jähzornig und schlug uns Kinder in der Wut immer wieder. Das hatten die Nachbarn mit­ bekommen und den Behörden gemeldet. Mit dem Resultat, dass ich eines Tages, als ich von einem Sommerlager zurück­ kam, direkt vom Bahnhof Bern abgeholt und auf den Bau­ ernhof der Täuferfamilie gebracht wurde. Ein paar Monate später folgte mein Bruder. Als 17-Jähriger kam ich nach Bern zurück und absolvierte bei den SBB eine Lehre zum Betriebsmitarbeiter. Zu unseren Arbeiten gehörten Rangieren, Wagen reinigen und Gepäck sortieren – doch für meinen Geschmack hatten wir viel zu we­ nig zu tun, ich war die harte Arbeit auf dem Bauernhof ge­ wohnt. Ich kündigte und nahm danach verschiedene Temporär­ jobs an, bis ich schliesslich zehn Jahre lang in einem Berner Restaurant als Hilfskoch arbeitete. Ich hatte einen super Küchenchef, aber mit den Wirtsleuten war es schwierig auszukommen. Eines Tages erhielt ich ‹wegen Personalabbau› die Kündigung. In meinem nächsten Job als Dachdecker hatte ich Pech: Der Chef hatte die Leiter nicht richtig hingestellt, und ich kippte rücklings in den Miststock. Die Verletzungen waren wohl wegen der gedämpften Landung nicht so schlimm, aber ich wag­te mich von da an nicht mehr aufs Dach. Das ist gegen Ende der Neunzigerjahre passiert, als man nicht mehr so einfach einen neuen Job fand, und es war der Anfang meines Sinkflugs. Neben dem Jobverlust ging auch noch meine Beziehung in Brüche, und meine damalige Freundin stellte mich vor die Tür. Ich wohnte danach eine Zeit lang auf einem Campingplatz und tröstete mich mit Trinken und Kiffen, probierte Heroin und Kokain aus, bis ich die Finger nicht mehr davon lassen konnte. In jener Zeit lernte ich meine Frau Beni kennen, mit der ich nun schon 17 Jahre verheiratet bin. Wir waren beide auf Drogen, wussten aber von Anfang an, dass wir gemeinsam aus dem Zeug rauskommen wollten. Ich glaube, der Heilige Geist hat uns dabei unterstützt. Eine Kollegin von Beni nahm uns eines Tages mit in die Pfimi, die Pfingstmission in Bern, und es hat mir dort auf Anhieb super gefallen. Die Musik der Pfimi-Band hat mich sofort ergriffen und mir so viel Kraft gegeben. Von da an besuchten wir die Gottesdienste regelmässig, und mit uns ging es langsam aufwärts. Wir beschlossen, unser altes Um­feld hinter uns zu lassen und nach Burgdorf zu ziehen. Vor dem Wechsel nach Burgdorf war im Bahnhof Bern, wo wir meistens rumhingen, immer wieder einer bei uns vorbeige­ kommen und hatte gefragt, ob wir nicht das Strassenmagazin 30

Aschi Aebersold (60) hat den Halt im Leben verloren, sich aber mit Unterstützung «von oben» wieder gefangen. Seit gut zwölf Jahren verkauft er das Strassenmagazin Surprise in Burgdorf.

Surprise verkaufen wollten. An ihn, Fredi vom Betriebsbüro Bern, erinnerte ich mich, nachdem wir umgezogen waren. Mitt­ lerweile drehe ich in Burgdorf seit zwölf Jahren meine Run­den und verkaufe Surprise. Ich weiss genau, um welche Zeit ich am Bahnhof sein muss, wann der Schnellzug hält, wann der Verkauf bei der Post, beim Coop oder am Samstag auf dem Markt am besten läuft. Surprise zu verkaufen erfüllt mich und gibt uns – Beni und ich haben mittlerweile eine IV-Rente – einen wichtigen Zustupf in die Haushaltskasse, etwa um uns ab und zu einen guten Bitz Fleisch zu leisten. Vor der Arbeit nehmen Beni und ich uns jeweils noch Zeit, um gemeinsam zu beten und uns auf den Tag vorzubereiten. Am Sonntag und auch an anderen Tagen besuchen wir Veran­ staltungen vom CLZ, das ist eine Freikirche in Burgdorf, in der wir uns sehr gut aufgehoben fühlen. Mein Glaube ist mir zu einem steten Begleiter geworden. In meinem Portemonnaie steckt momentan ein Zettel mit einem Text aus dem 1. Korinther­ brief: ‹Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am grössten unter ihnen ist die Liebe›.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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