Strassenmagazin Nr. 455 26. Juliðbis 8.ðAugust 2019
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Literaturausgabe
Abgrundtief
Der Lesesommer geht weiter mit Kurzgeschichten von Milena Moser, Gian Snozzi, Milena Keller, Sunil Mann, Martina Caluori, Ulrike Ulrich, Olga Lakritz
FachstelleKultur KulturKanton KantonZürich Zürich Fachstelle
LESEREISE 2019 2019 LESEREISE mitausgezeichneten ausgezeichnetenAutor*innen Autor*innen mit undÜbersetzer*innen Übersetzer*innen und KatjaAlves Alves Katja SibylleBerg Berg Sibylle ThomasEggenberg Eggenberg Thomas UrsFaes Faes Urs SimoneMeier Meier Simone GiannaMolinari Molinari Gianna StephanPörtner Pörtner Stephan KarlRühmann Rühmann Karl KarinSchneuwly Schneuwly Karin RuthSchweikert Schweikert Ruth BeatriceStebler Stebler Beatrice DanielaTan Tan Daniela Nandovon vonArb Arb Nando
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Musik:Anna AnnaTrauffer Trauffer Musik: Moderation:Fatima FatimaMoumouni Moumouni Moderation:
TITELBILD: LINA MÜLLER
Editorial
Ganz weit weg «Abgrundtief» hiess die Vorgabe für dieses Heft. Ich habe mir überlegt, was mir selbst dazu in den Sinn käme. Mir kam in den Sinn, «Marianengraben» zu googeln. Dabei bin ich auf Lebewesen gestossen, die uns in ihrer Lebensart, in ihrer Wahrnehmung und ihrer Distanz zur Erdoberfläche etwa so fern zu sein scheinen wie Ausserirdische. Doch das tut eigentlich nichts zur Sache. Ausser, dass uns ein einzelner Begriff weit weg locken kann, und das ist natürlich ðunsere Absicht mit der vorliegenden Ausgabe. Und wir begegnen darin einem Fisch und einem Krebs. Bei Milena Keller wird es ungemütlich im Aquarium. Es geht um Zugehörigkeit, Einsamkeit und ðFischfutter. Bei Gian Snozzi geht es um adoðleszente Machtspielchen, unterlegt vom klackenden Geräusch eines Krebses im Waschbecken. Sunil Manns Teddy in der Mulde macht ein bisschen traurig. Und weil seine Geschichte im Berner-Oberländer-Dialekt abgefasst ist, hört sie sich gleich noch schwermütiger an. Dass der Grat zwischen Erfolg und Misserfolg
Illustrationen
Die Autorinnen und Autoren haben uns ihre Kurzgeschichten honorarfrei zur Verfügung gestellt. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Milena Moser, Gian Snozzi, Milena Keller, Sunil Mann, Martina Caluori, Ulrike Ulrich und Olga Lakritz. DIANA FREI Redaktorin
ð18ð Martina Caluori
ð 7ð Gian Snozzi
ð19ð Ulrike Ulrich
ð10ð Milena Keller
ð23ð Olga Lakritz
Schweben lernen
ð13ð Sunil Mann
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Und ganz zum Schluss fahren wir mit Olga Lakritz über die Autobahn. In einem Zustand, der mit etlichen Abgründen des menschlichen Daseins zu tun hat.
ð 4ð Milena Moser ð Isabel lebt nicht mehr
Der Krebs
Lina Müller ist freischaffende Illustratorin. Sie studierte an der ZHdK in Zürich, an der HSLU Luzern und an der Academy of Fine Arts in Krakau. 2017 war sie für einen Swiss Design Award nominiert.
sehr schmal ist, zeigt uns Milena Moser. Mit ihrer Kurzgeschichte, klar. Aber lesen Sie auch ihre Kurz-Biografie. Sie bestätigt es. Mit Martina Caluoris Lyrik, die den ðAbgrund vor den Füssen schildert und dabei «Fortschritt» heisst, wandern wir durch die Berge. Ulrike Ulrich beschreibt ein Strasðsenmusiker-Pärchen in der Pariser Metro. Einsteigen, Aussteigen, Umsteigen: Es sind Entscheidungen, die wir im Leben alle fällen.
Teddybär
Fortschritt
Im Hintergrund 2018 wird der letzte Tag sein
ð26ð Rätsel
ð29ð Wir alle sind Surprise ðImpressum ð Surprise abonnieren ð30ð Surprise-Porträt
«Ich respektiere die Grenzen meiner Kunden»
ð31ð Lösungen der Rätsel ð aus Ausgabe 454
ð28ð SurPlus ð Positive Firmen
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Isabel lebt nicht mehr TEXTð MILENA MOSER
«Wie meinst du das, Isabel lebt nicht mehr?» Stille, ein Zischen, ein sanftes, saugendes Geräusch. Ich sehe sie am Fenster stehen, ein Knie auf die Küchenbank gestützt, die Teetasse auf dem Fensterbrett, die Asche in den kleinen Topf schnippend, den ich ihr im Kindergarten bemalt hatte. «Ich dachte, du hast aufgehört?» «Mäuschen.» So nennt sie mich nur, wenn ich krank bin. So hat sie mich schon lange nicht mehr genannt. Ich stehe auf und drehe mich um, drehe meinem Schreibtisch den Rücken zu, schaue aus dem Fenster. Unter mir liegt die Stadt. Seit über zehn Jahren lebe ich hier und kann mich immer noch nicht daran gewöhnen. Heimweh erfasst mich wie ein Windstoss, will mich aus dem Fenster und über die Dächer der Stadt fegen, quer über den Kontinent und nach Hause. Ich atme tief ein und wieder aus. Meine Mutter raucht. Dreitausend Kilometer entfernt und zwei Stunden früher. Ich schaue auf die Uhr. Es ist fünf Uhr morgens in Montana. «Was machst du so früh?», frage ich und verkneife mir, «ist es nicht etwas früh für die erste Zigarette?» «Eine Bäuerin schläft nicht aus, das weisst du.» Und dann erzählt sie von den Lämmlein, die vor zwei Tagen zur Welt gekommen sind, und von den Hühnern, die noch selten so viele Eier gelegt haben wie dieses Jahr, und vom 4ð
Garten, der nach dem Dauerregen der letzten Wochen wuchert wie ein Urwald. «Prärie, meine Fresse!» So redet sie, meine Mutter. Ich frage nach den Hühnern, nenne sie beim Namen. «Wie geht es Emily?», frage ich. «Lebt Josie noch?» Während sie redet, sehe ich den Hof vor mir, die einstöckige Blockhütte und davor eine endlose Ebene, auf der nicht viel wächst. Meine Mutter hat alles versucht und sich schliesslich auf Schafe und Ziegen verlegt, die das stachelige trockene Gras fressen und Milch geben. Früher hat sie den Käse selber gemacht, jetzt bringt sie die Milch zu einer Hipster-Kooperative in der Gegend. Sie spinnt und färbt die Wolle, sie gibt Webkurse, sie schlägt sich durch. Meine Mutter ist eine Superheldin. Wonderwoman in der Wildnis. Wieder das Heimweh. Eine Hand, die in meiner Brust wühlt, mein Herz zu fassen kriegt und es zusammenquetscht, erst sanft, dann immer unerbittlicher. Höchstens einmal im Jahr fahre ich zurück, mehr ertrage ich nicht. Ich vermisse sie mehr als sie mich. Ich habe nicht vergessen, wie sie das Gespräch begonnen hat. Sie auch nicht: «Isabel lebt nicht mehr», wiederholt sie. «Es tut mir leid, mein Fohlen.» Isabel und ich. Wir waren dieselben. Und jetzt bin ich hier in diesem Büro mit Aussicht, mit Blick über die Stadt, Surprise 455/19
mit meiner winzigen Wohnung und meinem Privattrainer, der mich zwingt, hier im Büro im Vierzig-Sekunden-Rhythmus auf und ab zu hüpfen. Hier bin ich mit meinem Gehalt und meiner Krankenversicherung, die Zahnkontrollen einschliesst. Und dort ist Isabel, in der Prärie, so alt wie ich und Mutter dreier Töchter und frisch geschieden von einem Mann, der sie regelmässig verprügelte. Weil Gott ihm das so befohlen hat. Weil Isabel Gott verärgert hat mit ihrem Verhalten. Barry ist ein frommer Mann, ein Missionar, sie haben sich in der Kirche kennengelernt. Isabel in ihrem Wohnwagen, Isabel mit ihren billigen Likören, die man mit Bier verdünnt in Dosen kaufen kann, vorne an der Tankstelle. Wir haben einmal dasselbe Leben gelebt. Wir hatten nie dasselbe Leben gelebt. Isabel war meine einzige Freundin als Kind, das einzige Mädchen, das im Umkreis von 25 Kilometern aufwuchs. Das einzige Mädchen im Schulbus, im Klassenzimmer. Ein Jahr älter als ich, aber in derselben Klasse. Wir hatten denselben dunkelblonden Pferdeschwanz, hoch auf dem Kopf gebunden, die Haare so streng zurückgekämmt, dass uns die Stirn wehtat. Wir trugen dieselben Jeans, dieselben T-Shirts mit Werbeaufdrucken, keine Marken. Wir fuhren mit dem Bus zur Schule und wieder nach Hause, wir stiegen bei ihrem Haus aus oder bei meiSurprise 455/19ð
nem. Wir schlossen uns in ihrem Zimmer ein oder in meinem, wir hörten Musik aus demselben Kopfhörer, ein Stöpsel in ihrem Ohr, einer in meinem. Wir teilten alles. «Barry», sage ich. Es ist keine Frage. Es ist das Erste, was mir einfällt. Nicht Autounfall, nicht Überdosis, die beiden häufigsten Todesursachen nicht nur dort, wo ich herkomme. Überall. Wobei die Autounfälle natürlich meist eine Folge der Drogen sind. «Nein, nicht Barry.» Meine Mutter zieht wieder den Rauch ein, so langsam, dass ich mich frage, ob es wirklich eine Zigarette ist, die sie da raucht. Dann klopft es und Dawain tritt ein, ohne mein Ja abzuwarten. Das tut er immer. «Du bist aber früh hier, Honey, oder hast du hier geschlafen? Ist das die Bluse, die du gestern getragen hast?» Er lacht meckernd, meine Mutter hustet in mein Ohr, ich mache ein wütendes Zeichen mit der Hand, säge mit der Handkante über meine Kehle und ziehe die Brauen zusammen. «Schon gut, schon gut! Was haben wir heute wieder für eine Laune!» Dawain zieht sich zurück. Sicherheitshalber ziehe ich den Stecker der Gegensprechanlage aus der Wand. Später werde ich es mit veganen Cupcakes vom Laden um die Ecke wiedergutmachen. «Bist du noch da?» «Ich bin noch da.» Ich will nicht da sein. Ich will nicht hören, was meine Mutter zu sagen hat. «Barry», sage ich. Es ist keine Frage. Es ist das erste, was mir einfällt. Als ich Isabel das letzte Mal gesehen habe, letztes Jahr zu Thanksgiving, da trank sie morgens schon billiges Bier aus der Dose. Aber ihre blauen Flecken waren verblasst, ihre Narben verheilt, zwei ihrer drei Kinder lebten wieder bei ihr. «Barry ist gar nicht mehr hier», sagt meine Mutter. «Er ist als Missionar nach Afrika gegangen – oder war es Südamerika?» Jetzt müsste ich weiterfragen, aber ich kann nicht. Ich will es nicht hören: Autounfall, Überdosis oder beides. Wir hatten einmal dieselben Träume, Isabel und ich. Vier Jahre an der staatlichen Uni und dann ein Jahr Reisen. Nicht gerade Europa, aber sicher Kalifornien, Los Angeles, die Filmstars und das Meer. Weiter dachten wir nicht. Und wir kamen nicht einmal so weit, denn im letzten Schuljahr wurde Isabel schwanger. Sie heiratete Barry und trat aus, vier Monate vor dem Abschluss. Ich hatte keine Freundin mehr, meine Noten wurden besser, ich bekam ein Stipendium für eine private Universität an der Ostküste. Vielleicht waren wir nie dieselben. Isabels Eltern gehörten einer christlichen Sekte an, die an einen furchteinflössenden, gnadenlosen Gott glaubte. Alle Fenster in ihrem Haus waren mit dickem schwarzen Stoff verhängt, damit kein Licht nach draussen drang. «Damit sie uns nicht finden», sagte Isabels Mutter, und schon als kleines Kind wusste ich, dass ich besser nicht nachfragte. Meine Mutter ist Späthippie, Selbstversorgerin, sie glaubt an das Gute im Menschen und daran, dass sie alles schaffen kann, was sie sich vornimmt. Das kleine Blockhaus hat sie mit 5
FOTO: VICTOR-MARIO ZABALLA
eigenen Händen gebaut, erst noch mithilfe meines Vaters, der damals noch nicht mein Vater war und der, als dieser Umstand klar wurde, das Weite suchte. Allein, schwanger, keine 1,65 gross, hat meine Mutter das Haus fertiggebaut, bevor der Winter kam, bevor ich kam. In meinem Haus war alles möglich. In Isabels Haus lauerten Unglück und Verderbern auf Schritt und Tritt. Als ich nach einem Jahr zum ersten Mal von der Uni nach Hause kam, war Isabel mit dem zweiten Kind schwanger, sie hatte einen alten, schon gelblich schimmernden Bluterguss unter dem Auge und einen blauen Handabdruck am Oberarm. Sie wohnten in einem Wohnwagen auf dem Grundstück ihrer Eltern. Damals trank sie noch nicht, Barry auch nicht, aber er nahm Tabletten. Schlaf- und Aufputschmittel, wegen der Nachtschicht. Die Tabletten machten ihn verrückt, erklärte Isabel sein Verhalten. Immerhin versuchte sie nicht, mir weiszumachen, sie sei die Treppe hinuntergefallen. Nicht, dass ihr Wohnwagen Treppen gehabt hätte. Bei meinem letzten Besuch hatte sie sich gerade von Barry getrennt. Sie hatte keine blauen Flecken mehr, dafür vor dem Frühstück schon eine Fahne. «Ich muss mich jetzt auch mal ausleben», sagte sie trotzig. «Ich hab schliesslich nie eine wilde Jugend gehabt. Nicht wie du.» «Was weisst du von meiner Jugend!» Ich war so einsam gewesen an der Uni, so fremd. Ich hatte Heimweh gehabt, meine Mutter vermisst, Isabel vermisst. Ich war wütend auf sie, dass sie aus unseren gemeinsamen Träumen ausgestiegen war, einfach so. Als zählten sie nicht. Wir trennten uns im Streit, ich sah sie nicht mehr. Jetzt denke ich an den Weg zwischen unseren Häusern, die drei Kilometer entlang der staubigen Landstrasse, wie ich trotzig zu meiner Mutter zurückstapfte, in ihren zu kleinen Gummistiefeln. Wie ich mich die ganzen drei Kilometer fragte, ob es daran lag. An diesen drei Kilometern. Würde ich jetzt Isabels Leben leben, wenn ich in ihrem Haus aufgewachsen wäre, als Kind ihrer Mutter? Oder wäre ich unter allen Umständen zur Uni gegangen, nach New York gezogen, hätte ich so oder so in einem Büro im vierzehnten Stock gearbeitet, einem Büro mit Aussicht? Wieder geht die Tür auf. Dawain streckt sein Gesicht herein, es ist versteinert, beleidigt. «Ich will dich ja nicht stören», sagt er. Dann tu es doch auch nicht, denke ich. «Gib mir fünf Minuten», sage ich mit einer entschuldigenden Grimasse. Als ob ich es damit abwehren könnte. Als ob man in fünf Minuten nichts Schreckliches erzählen könnte. Wie zum Beispiel, dass Isabel an einer Kopfverletzung gestorben ist, die sie sich auf dem Parkplatz vor Dirty Jim’s zugezogen, der einzigen Bar im Ort. Sie war zu betrunken, um sich aufrecht zu halten, einer ihrer Freunde lud sie sich kurzerhand über die Schulter, um sie zum Auto zu tragen. Aber er war selber so betrunken, dass er stolperte und Isabel fallen liess, kopfüber auf den asphaltierten Parkplatz vor der Bar. Ich will mir die Finger in die Ohren stecken und laut singen. Ich will es nicht hören. «Ich muss gehen», sage ich. «Ich weiss schon, Hühnchen.» 6ð
MILENA MOSER wurde in Zürich geboren und zog mit 21 für zwei Jahre nach Paris, wo sie ihre ersten drei – bis heute unveröffentlichten – Romane schrieb. Sie sammelte sechs Jahre lang Absagen von Verlegern, bis sie ihr erstes Buch veröffentlichte. Es folgte der Roman «Die Putzðfrauen insel», der zum Bestseller wurde. Moser hat heute zwanð zig Bücher sowie zahlreiche Essays, Artikel, Hörspiele und Übersetzungen veröffentlicht. Sie lebt in Santa Fe, New Mexico.
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Der Krebs TEXTð GIAN SNOZZI
Ich muss mal, hab ich zu Specki gesagt, und der hat gesagt, das heisst, bitte, bitte, verehrter Mike, ich muss mal, und ich hab gesagt, bitte, Mike, ich muss mal, und er hat gesagt, es heisst bitte, bitte, verehrter Mike – und ich hab’s gesagt. «Kannst bei uns, du Wicht, ist niemand da.» Ich bin um den Pool rum und an den Büschen vorbei und die von der Sonne heissen Stufen rauf und rein durch die Tür. Die Wohnung war kühl und düster und hat ausgesehen wie unsre. Ich bin durchs Wohnzimmer durch und in den kurzen Flur rein. Im Schlafzimmer lag das Laken neben dem leergefegten Bett. Ich hab einen Slip in die Finger genommen und hab daran geschnuppert. Was mein Bruder daran findet, hab ich nicht kapiert. Im Klo hab ich die Hosen runtergelassen und die schrumplige Haut zurückgezogen. Mitten im Pinkeln hörte ich zum ersten Mal das Geräusch. Vor Schreck hab ich auf den Rand getroffen. Die Pisse ist an mein Bein gespritzt und auf die Fliesen getropft. Zum Reinigen hab ich meterweise Papier abgezogen. Es hat die halbe Schüssel gefüllt. Zu spät ist mir eingefallen, dass Papierrunterspülen auf der Insel ein Sakrileg ist. Da hab ich’s wieder gehört, das Geräusch, tick, tick. Im Waschbecken war ein kleiner Krebs. Verzweifelt hat der versucht, da rauszukraxeln. Eh’ ich mir den Kopf zerbrechen konnte, wie er zu befreien wäre, hab ich vom Eingang her die Stimme von dem Mann gehört, von dem Specki behauptet, er sei nicht sein Vater. «Specki? Der ist beim Pool und spielt U-Boot-Admiral.» «Nenn ihn verdammt nochmal nicht so, Mario.» Am Türpfosten vorbei hab ich gesehen, wie Mario von hinten nach den Titten von Speckis Mutter gegriffen hat. Die hat nur blöd gekichert. Sofort hab ich den Deckel zugeklappt und die Spülung gedrückt. Dann bin aufs Klo geklettert, hab das Fenster aufgerissen und bin rausgesprungen. Der Hinterhof war staubig, der Gestank scheusslich. Heisse Luft ist mir an den Kopf geblasen. An der Wand standen Container, aus denen die blauen Müllsäcke quollen. Überall an der Fassade waren Klimaanlagen befestigt. In jedem der unzähligen Kästen lief hinter Drahtgitter ein Propeller, dass mir schwindelig wurde von dem tausenderlei Gedrehe. Ich hab mich ins Gebüsch gekauert, damit mich von oben niemand sehen würde, und so hab ich die Fische entdeckt auf dem Boden direkt unter dem Fenster. Vier Stück. Lang wie Unterarme, grau und hässlich. Ich hab angenommen, dass die tot sind. Aber dann hat einer von ihnen mit den Kiemen nach Luft gerungen. Das Leben war schon beinah raus aus ihm, aber ein bisschen war noch übrig. «Hast du im Bad das Fenster offen gelassen?» «Ich? Nö. Bestimmt nicht. Muss Admiral Speck gewesen sein.» Surprise 455/19ð
«Wenn du nicht sofort damit aufhörst, marschier ich schnurstracks zurück zum Strand. Dann kannst du dir selber einen blasen. Hey, warum läuft hier die Scheissspülung?» «Ist doch egal, Engel, es ist Fickerchenzeit.» Blödes Kichern – das Fenster ist zugegangen. Ich hab eine Weile gebraucht, bis ich den Weg zurück gefunden hab. Immer musste ich an den Krebs denken, an die kleinen, schwarzen Augen und wie ich ihn da rausholen könnte aus dem Waschbecken in die Freiheit. Mein Bruder hat ausgestreckt auf einem Liegestuhl gelegen, ein Eishockey-Magazin vor dem Gesicht. «Was willst du, Schwachkopf?» «Er hat einen Krebs.» «Was? Wer?» «Specki. Er hat einen Krebs.» «Was für einen Krebs?» «Nicht so einen. Einen kleinen roten mit schwarzen Knopfaugen und Scheren.» «Und was geht mich das an?» «Der stirbt.» «Interessiert mich nicht.» «Wir müssen ihn da rausholen.» «Sag mal, bist du taub. Hau ab.» Was ihn interessierte, waren die Mädchen, die um den Pool rumstolzierten und sich auf den Liegen sonnten. Es hatte keinen Zweck. Auf der anderen Seite war Specki zugange. Hat mit Krümeln ein paar Vögel gelockt, und in der Hand hat er einen Stecken bereitgehalten. «Was hast du vor?» «Das heisst: Was hast du vor, verehrter Mike, sag’s mir bitte, bitte.» «Was hast du vor, verehrter Mike, sag’s mir bitte, bitte.» «Geht dich einen Scheissdreck an.» «Den Krebs hab ich gesehen.» «Schönes Exemplar, was? Hab ich zusammen mit ein paar verflucht reizlosen Fischen eigenhändig aus der Brandung gezogen.» «Was hast du mit ihm vor?» «Mit Willy? Behalten natürlich. Willy ist mein Freund.» «In einem Waschbecken kann Willy nicht überleben.» «Und?» «Der muss zurück ins Salzwasser. Der stirbt sonst.» «Dann hol ich mir eben einen neuen Willy.» «Gib ihn mir.» «Nein.» «Bitte.» «Man sagt: Verehrter Mike, bitte, bitte, bitte.» «Verehrter Mike, bitte, bitte, bitte.» «Schmink’s dir ab, du Wicht.» Es hatte keinen Zweck. Ich bin um den Pool rum und durch den Durchgang 7
durch, vorbei am Restaurant, durch einen zweiten Durchgang durch, über eine kleine Brücke, über eine zweite kleine Brücke, vier mal vier Stufen hoch und rein durch die Tür. Mama hat am runden Tisch im Wohnraum gesessen und eine Patience gelegt. Ihr Kopftuch hatte sie abgelegt. Ich bin erschrocken. «Hallo», hab ich gesagt. Sie hat ebenfalls «hallo» gesagt. Das Wort «Krebs» hab ich nicht über die Lippen gebracht. Stattdessen bin ich nach hinten verduftet. Ich hab mich im Bad eingeschlossen. Ewig lang bin ich vor dem Spiegel gestanden, reglos wie eine Statue, und hab mein Abbild angestarrt. In meinen Pupillen hab ich die schwarzen Äuglein von dem Krebs gesehen, und irgendwann hab ich mich einen halben Millimeter gerührt, und das hat sich angefühlt, als würde der Boden unter mir zusammenbrechen, und ich musste mich am Waschbecken festhalten. Als nächstes bin ich aufs Klo geklettert und hab das Fenster geöffnet. Hier war’s zu hoch, um rauszuspringen. Links ist die Fassade rechtwinklig abgegangen. Dort hab ich in einem der Fenster eine splitternackte Frau gesehen. Ihren Nacken und ihren Rücken, und, als sie sich halb zu mir gedreht hat, eine Titte. Endlich wusste ich, was zu tun war. Ich hab das Fenster zugeworfen, bin vom Klodeckel runtergesprungen und rausgerannt. Im Augenwinkel hab ich noch gesehen, wie Mama ihren Kopf geschüttelt hat. Wie der Teufel bin ich die vier mal vier Stufen runter, durch die Durchgänge durch und über die Brücken. Beim Pool hab ich das Tempo gedrosselt. «Du schon wieder», hat mein Bruder geraunzt. «Willst du dir die Weiber immer nur so anschauen?» «Was, nur so?» «Im Bikini.» «Wie denn sonst?» «Nackt.» «Hör auf zu spinnen.» «Du willst mehr sehen? Ich zeig dir, wo.» «Dir haben sie doch in dein klitzekleines Gehirn geschissen.» «Titten inklusive.» «Verzieh dich!» «Du kannst natürlich auch weiter versuchen, Löcher in die Bademode zu gaffen.» «Fffff», kam zu Antwort. Aber dann hat mein Bruder das Eishockey-Magazin hingelegt und ist langsam aufgestanden. «Ich mach dich fertig, wenn’s nichts ist.» Wir sind um den Pool rum und durch den Frontdurchgang durch, an der Rezeption vorbei und durchs Haupttor, hinaus auf die Strasse. «Das dürfen wir nicht.» «Hast du etwa Schiss?» Einen Moment lang hat mich mein Bruder angefunkelt. Ich dachte schon, der Plan sei geplatzt, aber dann ist er mir hinterhergetrottet. Wir sind die Umfassungsmauer entlangmarschiert und haben einen Rechtsknick gemacht. Zehn Meter weiter kamen wir beim zweiten Tor an, dem Nebeneingang für die Beschäftigten. 8ð
Ich hab es aufgemacht, und wir standen im Hof, wo ich zuvor im Staub gelandet war. Hinter ein paar Büschen sind wir in die Hocke gegangen. «Siehst du das? Das sind die Fenster zu den Badezimmern. Wenn eins davon aufgeht, kriegst du was zu sehen. Alles, was du brauchst, ist ein bisschen Geduld.» Die Klimaanlagen haben gedröhnt und die Propeller haben gewirbelt und die Abluft der Hotelküche hat uns an die Köpfe geblasen. «Soll ich etwa den ganzen Tag in diesem Dreck rumhocken?» «Komm.» «Wohin denn noch?» «Komm einfach.» «Grundgütiger! Was ist das?» «Die hat Specki gefangen und aus dem Fenster geschmissen. Lebendig.» «Erzähl keinen Mist.» «Von allein sind die jedenfalls nicht hierher gekommen. Da drin hat er einen Krebs. Der lebt noch.» «Was geht mich der verdammte Krebs an? Du hast mir was anderes versprochen. Wir gehen jetzt auf der Stelle zurück ins Hotel. Hoppladihopp.» «HOPPLADIHOPP!» Specki hatte sich von hinten an uns herangepirscht. Wir haben uns fast in die Hosen geschissen. «Schau her, der Wicht und sein notgeiler Bruder. Was treibt ihr denn hier?» «Nichts.» «Sieht mir aber nicht nach nichts aus. » «Halt die Klappe», hat mein Bruder gesagt. «Was fällt dir eigentlich ein, uns nachzuspüren, Fettsack.» Specki zog Rotze in sein Maul und spuckte aus. Er hat ein Notizbuch und einen Kuli gezückt und sich runter zu einem der Fische gebeugt. «Nummer eins», hat er gemurmelt und einen Blick auf seine Casio geworfen. «Mann, Mann, Mann. Das Biest hat lange durchgehalten.» Mit dem Kuli hat er dem Fisch in die Seite gestossen. Der Fisch hat sich qualvoll gewunden. «Wer hätte das gedacht: Lebt immer noch.» Mein Bruder hat ein angewidertes Gesicht gemacht. «Wir gehen. Abmarsch», hat er gesagt und mich am Arm gepackt. «He, wartet, wo wollt ihr hin? Ihr schuldet mir eine Erklärung! Was schnüffelt ihr hier rum?» Wir sind davongerannt. «Halt», hat Specki gebrüllt und ist uns hintendrein. Wir haben einen Zahn zugelegt. Beim Pool haben wir uns hinter einem Stapel Plastikliegen versteckt. «Erzähl mir alles über den Krebs», hat mein Bruder geflüstert, und nachdem Specki keuchend an uns vorbeigekommen war, hab ich es ihm erklärt. «Wo seid ihr, ihr Penner!», hat Specki gebrüllt und ist in Richtung unserer Wohnung davongewatschelt. Wir sind um den Pool rum und an den Büschen vorbei und die von der Sonne heissen Stufen hoch. «Seine Alten sind im Schlafzimmer», hab ich gesagt, «Fickerchenzeit.» Mein Bruder hat gegrinst und sich den Zeigefinger an den Mund gelegt. Sachte hat er die Falle runtergedrückt und die Tür aufgestossen. Wir sind reinSurprise 455/19
FOTO: WIEBKE ZOLLMANN
geschlichen, durch den Wohnbereich durch und in den Gang rein. Die Tür zum Schlafzimmer hat einen Spalt breit offen gestanden. Mein Bruder hat reingelinst, und dann hat er mir ein Zeichen gegeben. Ich bin weiter ins Bad. Mein Herz hat Blut gepumpt wie verrückt. Ringsum hab ich alles gestochen scharf gesehen: eine Fliese mit zwei Rissen, das gestickte Triton-Logo auf dem Handtuch, die feuchten Wegwerf-Badeschlappen, die Fingerabdrücke auf dem Klodeckel, die starren Tropfen an der Wand der Duschkabine. Gerochen hab ich die Feuchtigkeit und den Reiniger und was Saures. Jeden Mucks hab ich gehört, nur nicht das tick, trick. Der Krebs hat sich nicht gerührt. Ich hab den Deckel von dem Abfalleimerchen genommen und auf den Boden gekippt, was Ekliges drin war. Den Krebs hab ich da reingeschoben und eine Menge frisches Wasser drauflaufen lassen. Im Gang brach ein Riesenkrach los. Mit einem Satz war ich draussen. Dort hab ich meinen Bruder gesehen – mit aller Kraft hat er die Schlafzimmertür zugedrückt. «Mieser kleiner Spanner!», hat Mario auf der anderen Seite gebrüllt. Ich bin nach vorn gerannt, und gerade als ich die Eingangstür aufreissen wollte, kam der Specki reingeschneit. «Ciao, Specki», hab ich in seine verdutzte Visage gebrüllt, und mein Bruder hat ihn wie ein Hockey-Ass beiseite gedonnert. Wir sind die Stufen runter, an den Büschen vorbei, um den Pool rum und durch den Durchgang durch, vorbei an dem Restaurant, durch einen zweiten Durchgang durch, über eine kleine Brücke, über eine zweite kleine Brücke, vier mal vier Stufen hoch und in die Wohnung rein. «Was habt ihr schon wieder ausgefressen?», hat Mama gefragt. «Zum Meer. Wir müssen so schnell wie möglich zum Meer», hat mein Bruder gejapst, und ich hab ihr den Eimer gezeigt. Sie hat sofort begriffen. Wir sind raus, raus aus der Hotelanlage, über die Strasse rüber und die Promenade mit den Palmen und den Touristenrestaurants run-
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ter. Der Krebs hat sich nicht bewegt. Er wird es nicht schaffen, hab ich gedacht, aber als endlich die Brandung auf den Felsen zu hören war, und als man es gerochen hat, das Salz und den Tang, da ist er plötzlich quicklebendig geworden. Tick, tick, tick. Er ist gesprungen, ich schwör’s, klack, klack, gegen die Eimerwand. «Schaut euch das an», hat mein Bruder gesagt, und ich hab den Jubel gehört in seiner Stimme. Am Ende der Strandpromenade sind wir auf die Lavafelsen hinausgeklettert. «Lass ihn frei», hat mein Bruder gesagt. «Hier wird er sich wohlfühlen», hat Mama gesagt. Noch einmal hab ich in den Eimer reingespäht. Dann bin ich in die Knie gegangen und hab ihn ins ruhig schwappende Wasser gekippt. Einen Augenblick lang hab ich seinen Tauchgang ins Dunkel noch verfolgen können. Dann war er weg. «Tschüss Krebsi», hat mein Bruder gesagt, «krabbel schön am Meeresgrund.» Und ich hab gesagt: «Wir sind glücklich, oder?» Meinetwegen hätte die Geschichte an dieser Stelle zu Ende sein können, aber das war sie nicht. An der HotelRezeption hab ich nämlich, als wir dort auf dem Rückweg vorbeikamen, den Specki mit seiner Mutter gesehen. Mario war auch dabei. «Warum hast du das Klopapier da reingestopft, Fettsack? Bist du verdammt nochmal bescheuert?», hat er geschrien, und Specki hat sich seine feisten Daumen in seine Ohren gesteckt, und geheult hat er, als müsst er sterben. «Antworte gefälligst, wenn man dich was fragt», hat seine Mutter gesagt. GIAN SNOZZI lebt in Baselland. Er studierte Geographie, VWL und Politikwissenschaften in Berlin, Valenica und Bern sowie literarisches Schreiben in Biel. Publikationen in Zeitschrif ten, Zeitungen und im Radio.
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Schweben lernen TEXTð MILENA KELLER
Nach der Scheidung hatte Herr Kretz den Goldfisch erst nur unwillig adoptiert und unfreiwillig noch dazu, aber er hatte es getan. Was hätte er auch sonst tun sollen. Der Goldfisch war zurückgeblieben in der Wohnung, genau wie er selbst und seine Kleider und der Körperabdruck auf der kalten Matratze. Der Rest war weg und kam nicht mehr wieder. Auch das Kind kam kaum noch vorbei, und wenn es denn da war, sah er die Leere der Zimmer in seinen Augen, und sich selbst in der Sorge, ein Übergangsproblem. Draussen fassten die Leute ihn nur noch mit Vorsicht an und redeten mit ihm in munterem Ton, als wäre das Verschweigen nicht schon schlimm genug. Er hatte dem Goldfisch ein neues Aquarium gekauft und eingerichtet. Im Fachgeschäft fand er eine Pumpe und einen Putzschwamm und eine Packung voll Futter und vernahm, dass Goldfische Schwarmfische sind. «Sie brauchen Gesellschaft, am liebsten von anderen Artgenossen», sagte der Fachmann, und Kretz kaufte zwei Zuchtfische in einem Sack. Drei ist eine gute Zahl, dachte er, und die Fische fanden zusammen. Er fütterte sie mit Freuden, wider Erwarten, und wenn er nach Hause kam, dann schwammen sie auf ihn zu, als wollten sie ihn begrüssen. Ihr Kreisen wirkten beruhigend, die Schweberei, ein schönes Bild, ganz ohne die schädlichen Strahlen des Fernsehers. Sein Lieblingssessel hatte bald den Platz gewechselt und der Weinflasche war es einerlei, wo sie stand. Abend für Abend schwammen sie für ihn, synchron, ein Sinnbild der Harmonie, und doch plagten Kretz leise Zweifel an der Eintracht. Ein ungutes Gefühl, das sich nicht wegtrinken liess. Eines Nachts blieb er, einer Eingebung folgend, auf dem Weg zur Toilette auf blossen Füssen im Flur stehen. Und da, im Dunkeln, gut verborgen vom Schatten des Türrahmens, sah er, wie die zwei aus der Zoohandlung im Aquarium zusammen schwammen, weit voraus, und der adoptierte alleine, weiter hinten, und wenn er aufzuschliessen versuchte zu den anderen, dann teilten sie sich blitzschnell in der Mitte, schwammen in einem weiten Bogen auseinander, um sich hinter ihm wieder zu treffen und frisch vereint weiterzuziehen, als wären sie eins. Das ausgeschlossene Fischlein schlug mit den Flossen, als ging’s um sein Leben, kam näher, schloss auf – und das Spiel begann von vorn. So ging das eine ganze Weile, bis Kretz beinahe die Blase barst und das Herz ward ihm wund und weh.
Tagsüber schwammen sie wieder, als wäre nichts gewesen, die drei, doch Kretz liess sich nicht so leicht täuschen. Er kannte das ja, er wusste Bescheid. Und wirklich; in den folgenden Nächten, wenn er heimlich seinen Posten bezog, da spielte sich vor seinen Augen dieselbe Spaltung ab, und er sah die Flossen seines Goldfischs schlaffer werden und die Kreise, die er zog, ein wenig kleiner. Hilflos stand er vor dem Aquarium und ging darum herum, fütterte zu viel, er versuchte, ein bisschen mehr von den stinkenden Flocken in das Maul seines Fischleins rieseln zu lassen als in das der beiden anderen, und kam sich blöd vor dabei. Er schlief kaum, er ass schlecht, ja, er musste sich zwingen, auszugehen, angesichts all seiner Sorgen. Als er es doch gewagt hatte, an einem Abend – für ein lange vereinbartes Essen mit Freunden, die meinten, er sehe gut aus – und mit reichlich schlechtem Gewissen nach Hause kam, da entdeckte er plötzlich eine dunkle Stelle, seitlich, am Kopf seines Fisches. Es sah schlimm aus. Kretz kontrollierte den Schwarm, doch die anderen beiden schienen heil. Während Kretz sich noch hintersann, begann das Fischlein die dunkle Stelle zu scheuern. An der Kante der Schatzkiste und an den Steinchen am Grund kratzte es sich, schwamm verzweifelt gegen die Scheibe, wieder und wieder, und Herrn Kretz drückte es das Herz ab, als er das sah. Es musste eine Art Ekzem sein, rundherum begannen sich die Schuppen abzulösen und die Verfärbung war unschön anzusehen. Bald darauf bildeten sich auch noch Ausstülpungen und rötliche Furunkel, und wenn Kretz nachts wach lag, auf der weissen Matratze neben der weissen Wand, dachte er an die Ursachen der Qual und fühlte sich schuldig, ohne genau zu wissen, warum. Mehrere Nächte konnte er nicht schlafen, wälzte sich unruhig hin und her. Und als er am Sonntag mit blickð losen Augen den Mond anstarrte, da durchzuckte ihn endlich die Erklärung, der wahre Grund für den Abszess an der Oberfläche und das Verhalten rundherum, so klar und scharf und schmerzhaft, dass es ihn aus dem Bett trieb. Der Fisch hatte Kontakt mit ihm aufzunehmen versucht. Das Scheuern war Kommunikationsmittel und Botschaft zugleich, ein Hilferuf, so eindeutig, wie er angesichts der Umstände, der Scheibe und des Schweigens eben hatte ausfallen können, so zwischen Fisch und Mensch.
Wenn Kretz nachts wach lag, fühlte er sich schuldig, ohne genau zu wissen, warum.
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Kretz hastete ins Wohnzimmer und das Aquarium leuchtete blau in der Nacht. Winzige Blasen stiegen auf und er stand eine Weile davor, die Wasserpflanzen wehten sanft und Kretz’ Gesicht strahlte azurn auf im Widerschein des Wassers. Ein Schatten wanderte ihm vor der Stirn auf und ab und sein Fokus blieb festgesogen daran, gegen das Schwanken unter seinen Füssen. Er fing sich und erwiderte die Kommunikationsversuche des Fisches mit Blicken. Und tatsächlich: Wann immer Kretz im Begriff war, sich abzuwenden, sich zuzuwenden, dem ausschliessenden Schwarmpaar, wurde die wunde Stelle am Kopf gescheuert und der Fischkörper stiess sich aufs Neue gegen das Glas. Als Herr Kretz endlich die Hand ausstreckte, hineinsteckte ins feuchte, kalte Licht, da bewegten sich Fisch und Finger aufeinander zu wie von selbst. Er hob ihn hoch und trug ihn ins Bad, wo er ihn vorsichtig in die Wanne legte. Dann füllte Kretz Wasser nach, schlüpfte aus seinem Schlafanzug und stieg mit hinein ins Nass. Sanft rutschte er unter den schuppigen Körper, der ruhig seine Runden schwamm, und schlief leise ein unter den Schwingen der kleinen Flossen. Als Kretz am nächsten Morgen erwachte, war er erfrischt und zufrieden wie lange nicht mehr. Beschwingt ging er aus der Wohnung und fuhr Einkaufen, spazierte durch die Stadt und grüsste andere Menschen, mit hoch erhobenem Kopf. Am Abend schlüpfte er wieder zu seinem Fisch in die Wanne, nachdem er die anderen gefüttert hatte, liess sich liebkosen von den Flossen und schlief seinen neuen, samtenen Schlaf. So ging das eine ganze Weile lang gut: Die dunklen Flächen waren fast verschwunden und der Fisch brauchte keinem mehr nachzuschwimmen. Sie beide hatten eið nander und sie hatten sich ganz. Manchmal verbrachte Kretz auch den Tag in der Wanne und das Telefon liessen sie klingeln. Dann aber, nach einem verspielten Morgen, bemerkte Kretz plötzlich ein Mal auf seiner Schulter – auf seiner eigenen. Dort, wo das Fischlein für gewöhnlich seinen Schlafplatz fand, in der Verlängerung des Schlüsselbeins, leuchtete nun ein Fleck; rötlich violett und unscharf geschwungen. Kretz kletterte besorgt aus der Wanne und zum Spiegel hin. Doch noch als das Wasser auf seiner Haut trocknete, ergriff ihn ein Juckreiz, dass er halb wahnsinnig wurde. Er kratzte sich die aufgeweichte Haut mit den Nägeln blutig, und als er sein Gesicht erblickte, fremd und grell unter der Neonröhre, da zuckte er zusammen, so geschwollen und violett war das Gebilde, aus dem ihm seine Augen entgegenstarrten. Er hatte keine Zeit, sich lang zu wundern, zu sehr juckte es ihn, auf der Kopfhaut und an den Fusssohlen
und auf den Fingern und überall, als wären Flöhe ausgebrochen, als hockten Läuse in seinen Poren, kleine Bisse auf der Haut, und die Nägel reichten ihm zum Kratzen nicht. Er hechtete zurück in die Wanne, auch in seinem Leid noch auf das Wohl des Fisches bedacht und darauf, ihn nicht zu zerdrücken. Im Wasser verschwand das Gebeisse sogleich, er brauchte nur regelmässig seinen Kopf zu benetzen und der Fisch tröstete ihn leise, goldener und schöner als jemals zuvor. Überhaupt schien es beinahe so, als sei es ein wenig gewachsen, sein Fischlein, in der Wanne, mit all dem neuen Platz. Doch passten sie auch so noch ganz gut hinein, die beiden, und Kretz wollte nicht mehr in den Spiegel schauen und seine Wunden würde er unter Wasser halten, dann ging es. Sie wollten bleiben, wo sie waren, nah beieinander, Bauch an Bauch, und hatten ja alles, was sie brauchten. Allein das Essen wurde zum Problem. Nach dem Ausbruch des Ausschlags konnte Kretz die Wohnung nur noch einmal pro Woche verlassen, unter Qualen und unter Schmähblicken, die eitrigen Wunden schutzlos im Wind, und im Bus wechselten die Menschen die Plätze. Das machte alles noch schlimmer. Bald verliess Kretz den Wohnblock nicht mehr, nur noch die Wanne, um Konserven zu holen, aus der Küche, und frisches Wasser, für die Fische und sich, und mit jedem Mal wurde der Ausstieg beschwerlicher und der Weg zurück fühlte sich länger an. Kretz wurde runzlig und schwach und blutig gekratzt. Nur das Liegen brachte ihm Linderung. Und obwohl seine Kräfte ihm schwanden, und er schmaler ward, hatte er das Gefühl, zerdrückt zu werden in der Wanne und das Atmen fiel ihm schwerer und schwer. Schon wagte er kaum noch, sich zu bewegen, nur seine Ausstülpungen wogten ohne ihn, wuchsen fort aus den Flecken. Seine Haut wurde schuppig und glänzte ungesund und am Hals hatte der Ausschlag zwei Rillen geschlagen; länglich und schmerzhaft und scharf. Doch das Fischlein liess sich nicht abschrecken von Äusserlichkeiten und liebkoste ihn weiter. Irgendwann, vielleicht war inzwischen ein Monat vergangen, vielleicht auch drei, schreckte Kretz aus einem Albtraum hoch und die Wanne fühlte sich anders an. Er war allein. Als er nach kurzem Zaudern den Kopf aus dem Wasser streckte, meinte er erst, noch immer zu träumen, so fremd war der Blick, der sich ihm bot. Noch einmal linste er über den Rand. Da erkannte er die Toilette, von weit oben herab und darin einen Klostein, bläulich-verblasst, aus einem anderen Leben. Eine Ahnung stieg in ihm auf. Und wirklich, oben rechts, da war das Zahnputzglas und hinter ihm der Überlauf, ein drohendes Loch im Porzellan. Er atmete schnappend. Das Waschbecken. Er war
Sie wollten bleiben, wo sie waren, nah beieinander, Bauch an Bauch.
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Und dann, als kaum ein Muskel noch zuckte, da tauchten Finger ein in sein Reich, ein kleines Wunder; eine Hand, die ihn umschloss und hochhob , die ihn fortbrachte, an einen sanfteren Ort. Kretz wurde gefüttert und gepflegt und frisch gebettet und in Wasser gebadet mit idealem PH-Wert. Tagsüber konnte er sich unter einer Schatzkiste verbergen, die allerlei Welten in sich trug, und alles war sauber und leicht und er genas. Ein bisschen stumpf nun, vielleicht, aber frei von Leid. Nur morgens und abends und manchmal auch nachts, da war der Raum erfüllt von Gerüchen, von einem sphärischen Laut, und wenn das Wasser klar war, sah er sie schweben, die Geschöpfe, wundersame Wesen und golden schimmernd, trotz der Kälte des Lichts. Sie bewegten sich auf ihn zu und wieder weg, strahlten Wärme ab, brachten ihm Futter und betrachteten die Runden, die er schwamm, auf das Kunstvollste, nur für sie. Ab und an blieben sie stehen, bei ihm, für eine ganze Weile, und manchmal, an einem guten Tag, war da sogar das Streichen einer Hand. Wenn Kretz ganz genau hinschaute, sah er Ringe und Rillen unter den Fingerkuppen und es begann ihn zu jucken unter den Schuppen, wie Scham, als klebte an der Haut eine Erinnerung, auch wenn der Kopf eines solch kleinen Fisches längst vergessen haben musste, woran. MILENA KELLER lebt in Zürich. Am liebsten verbringt sie ihre Zeit in Geðschichten, Klang, Sprache und Bildern. Sie ist Absolventin des Schweizerischen Literaturðinstituts und hat Ethnologie studiert.
FOTO: CHATELAIN & KIEFFER
im Schlaf ins Waschbecken gewandert – wie nur, wie? – und die Wanne weit weg, wie sein Fischlein. Er musste zurück. Wieder und wieder nahm Kretz Anlauf, schoss quer durch das Becken und hoch, doch der Rand entglitt seinem schwachen Griff. Vor Angst halb wahnsinnig strampelte er und kämpfte und griff nach, doch als Kretz sich halb trocken schon hochzuhieven versuchte, da juckte der Kopf ihn so stark, dass er loslassen musste, abtauchen und weg, und noch unter der Oberfläche kratzte er sich wie im Wahn, konnte nicht aufhören, dem Drang nachzugeben, rieb und raspelte und schabte sich am scharfen Rand des Abflussstöpsels den ganzen Körper, kratzte sich den Schädel auf, bis Hautfetzen und Haare um ihn heð rumtrieben. Dann blieb er liegen. Erschöpft, schwerelos, schwebte er zwischen den Wassermolekülen und im Mund schmeckte er Blut. Manchmal schreckte er noch hoch und verzehrte sich nach seinem Gefährten, schrie stumm nach ihm, nach einem Flossenschlag, einem halben Blick, etwas Gesellschaft und die Verzweiflung gab ihm Auftrieb für einen, nur noch den einen Versuch. Aber bei jeder Flucht wiederholte sich das Grauen, die rasende Kratzerei bis auf die Knochen, dass Blutschlieren sich ins Wasser mischten und ihm keine Arme und Beine und kein Haar mehr blieben. So litt Kretz, alleine und leer, lernte, die spiegelnde Fläche zu meiden, schleppte seine Resten durch die Zeit, durch die Runden, entlang der weissen Wände des Waschbeckens, erwachte und entschlief und erwachte, bis das Bewusstsein ihm entglitt.
Teddybär TEXTð SUNIL MANN
Die letschti Ample vor dr Outobahn u när fadegrad dür ds Induschtriequartier, mit jedem Meter witer us dr Schtadt, nume no wäg, furt vo allem. Dr Fuess fescht ufem Gaspedal chunnts mer vor, wie wenn ig uf dr Flucht wär. Derbii giz gar ke Grund derzue. Die vor Galerie hei sech äntlech gmäldet, äntlech isch dr Brief ir Poscht gsi, e Brief wie früecher u grad no dr Vertrag derzue. De hetts no es paar Rächnige u Wärbig gha, woni eigetlech nid wott u wo o so dütsch u dütlech ufem Chläber am Briefchaschte schteit, z undersch de ä Charte vom Ädu. Är sig grad ds Venezuela u prichti vo dene politische Unruehe, är hoffi, dass me sech gsächi, wenn är zrügg sig. Ig weiss gar nid, öb ig das überhoupt wott. Öb das no Sinn macht. Vom Gseh allei löse sech d Problem o nid. Linggs u rächts flüge Bürochlötz verbii, verschpieglets Glas u Betonwänd, chly schpeter ä Tankschtell u chlini Hüsli hinger roschtigem Drahtgitter, alls am Vergheie, troschtlos, d Fassadene vom Abgas dräckig grau. Ig dräie am Radio, es tönt immer glych, ds glyche Lied überall, si mache jitz äuwä nume no eis pro Seson. Uf irgendeme Sänder diskutiere si mit monotone Schtimme, mit lange Pouse zwüsche de Sätz u das macht mi uf dr Schtell todmüed. I sueche klassischi Musig, finde aber nume Tschääss. Geit oo. Herbschtloub chläbt under de Schibewüscher. Ig ha dr Chare scho lenger nümm bruucht und hane zersch müessen im Quartier ga sueche. U ha fasch dr Tokter gmacht, bis dr Motor de doch no aagschprungen isch. Es klappi de mit Nüi York, im Septämber, hetts i däm Brief gheisse, u mir isches vorcho, als würd mi ä Camion überfahre. Wene Troum in Erfüllig geit, bsunders eine, wo me scho syt eren Ewigkeit hett gha, de gschpürt me im erschte Momänt mängisch rein gar nüt. Alles wird ganz toub i eim
dinn, ganz schtill u läär, u verwunderet merket me de, dass me gar nid ma ufjuchze u o nid aafaht umegumpe vor Fröid. Ds Läbe isch äbe ke Hollywudfilm. Nume ds Härz, das schlaht immer schnäller, bis me ds Gfüehl hett, es chönnti jede Momänt d Bruscht schpränge, well da so öppis Grosses i eim drin aschwillt, äs Gmisch vo Fröid u Angscht, dass es chuum Platz hett. Drum isch das jitzt gar nid so schlächt, hei z fahre. Me seit komischerwiis immer «dehei», o weme sit driissg Jahr nümm dert wohnt u sowieso nume sälte verbii geit. Ig rase über d Outobahn u losen em Mäils Deivis u sire Trompete zue u nachere Schtund oder so setzi dr Blinker u biegen ab. Dr vertrouti Ortsnamen uf em grüene Schild löst wie immer äs Gfüehl vo Ängi bi mir us, än unbeð schtimmti Dumpfheit, än Unwille, woni mer nie so rächt ha chönnen erkläre. Uf ds Mal hani uhuere Luscht ufe Sigarette u bir nächschten Usfahrt gani vor Outobahn drab u fahren über d Landschtrass, wo sech dür ds Tal schlänglet. D Gägend isch ländlech, Purehöf u Traktoren überall, Chüe uf dr Weid, es paar Schaf u Geissen ab und zue, uf beide Site geiz schteil bärguf. Kantigi Felswänd u über de letschte Tanne dr erschti Schnee. Chlini Dörfli löse sech ab, eis nachem andere, alles genauso useputzt u idüllisch wie früecher, wie wenn Zyt wär schtah blibe, wie wenn ds Übel vo dere Wält hie nüt ds mälde hätti. Woni äntlech ä Bahnhof gseh, häbi zueche, schtige us u loufe zum Kiosgg. «Parisienne, sitsoguet, die xunde, im bruune Päckli mit däm grüene Schtreife. U de no äs Füürzüg.» D Frou im Kiosgghüsli dinn lachet nid, mit usdrucksloser Miene reicht si mer d Schachtle u dr Aazünder u seit dr Priis. Ig zahle mit Charte.
Ig rouche die erschti Sigarette no dert uf däm winzige Bahnhof mit zwöi Gleis u eim Kiosgghüsli, u merke derbii, dass mini Händ zittere. Uf ds Mal geit ä Tür uf dr Schtirnsite vom Bahnhofsgeböide uf, und ig fahre zämen u gseh ersch jitz das blaue Weezee-Schild, wo dert hanget. «Was machsch de du da?», seit dr Küsu, u bevor ig än Antwort parat ha, nickt är, wie uf ds Mal alls klar wär. «Wiehnachte, da chömi si alli zrügg. Die meischten emu.» Jesses, gseht dä bleich us!, dänki no u säge: «Küsu, du? Das isch jetzt aber en Überraschig, scho lang nümm gseh.» Är schtreckt d Armen us, wie wenn är mir wett ume Hals gheie. Aber im letschte Momänt überleit är sechs andersch u git mer de chli schtiif d Hand. «Guet gsehsch us.» Äs schepps Grinse, ig gsehnem aa, dass er sech muess zämeriisse. Wäg was o immer. «Wie geiz de?», fragi u dänke glychzytig, dass das vilech nid die schlauschti Frag isch. Aber öppis muess me ja säge. «Söll cho schneie», seit är u luegt zu de Felswänd ueche. «Gseht ganz derna us.» «Wyssi Wiehnacht.» «Äntlech wieder emau.» «Äbe, gäll.» När seit ä Momänt lang kene meh öppis. Ig ha ke Ahnig, wenn ig dr Küsu ds letscht Mal ha gseh, aber es müesse sicher füfzäh Jahr här si, ehnder sogar meh. Är hett sech nid gross veränderet, hett scho denn guet usgseh. Jitz ischer chli grau a de Schläfe, hett chli weniger Haar ufem Gring, isch chli feschter als oscho, aber das geit öppe allne glych. Wenn är nid so fertig hätti usgseh, hätt me chönne säge, är sig no ganz dr Alt. Aber das ischer nid, eidütig nid. «Los mal, ig muess witer. Wosch mitfahre?», ghöri mi säge u ä Sekunde schpeter wünschti, ig hätti dr Lätz ghäbe. «Nenei, ig warte hie ufe Zug. Dä chunnt sicher bald.» «Bis dä chunnt, simer scho dehei. Du geisch doch hei?» «Ja, ja.» U nachere churze Pouse: «Ig gloube scho.» «Also, de nimi di mit. Isch ja arschchalt hie.» Är überleit u meint när vorsichtig: «Wett meinsch ... Aber macht’s dr würklech nüt us?» «Nei, äuwä. Dr Chare schteit grad dert äne.» Ir erschte Halbschtund seit dr Küsu kes Wort, kilometerlangs Schwige u derzue äs desolats Saxofon im Radio. O du Fröhliche geit definitiv andersch. Undereinisch lütet es Glöggli, ganz häll, u är faaht fasch chly hektisch aa, im Hosesack umechraame, bis är äntlech sis Handy verwütscht. Ei Blick uf die nöii Nachricht u när ischer no schtiller als vorhär. We das überhoupt geit. «Schlächti Nachrichte?», fragi, wells mi Wunder nimmt u ig das Nütsäge sowieso chuum ma ushalte. «Nei ... nenei», seit är. «Aber vilech ...» «Was?» Dr Küsu schlückt läär, äs tönt, als würgi är ame ne Schtück trochnigem Brot ume. «Würds dr öppis usmache ...? Nume churz, isch nid wit.» «So säg doch, was de meinsch!» «E chlinen Umwäg, ig müessti schnäu öppis ga hole.» 14ð
«Kes Problem», sägi, woner de äntlech brösmelet hett gha, wo genau dass är häre wott. Ig schalte e Gang ufe, derbii schtreifi si Oberschänkel mit äm Handrügge. Ganz liecht nume, aber dr Küsu zuckt zäme, als hätt ihn ä Schtromschlag troffe, u kippt blitzartig sis Chnöi gäg ine, so dass äs usem Wäg isch. Ä zimlechi Protzhütte, dänki, womer die letschti Schtigig hinder üs hei, u dr Küsu meint, ig söll churz hie warte, är chäm grad wieder. Drüschtöckig, riesigi Glasfassade, blutti Betonwänd u Holzverschalig, chli Schalee, chli Indöstriel Schigg, chli Örbn Living, chli vo allem u doch nüt rächts. Schteit z obersch am Hang mit Usblick übers ganze Tal. Dr Rase rund ums Huus isch no rächt dünn, o d Böim u Büsch si ersch grad pflanzt worde. Ds Garaschtor schteit offe, d Garasch läär, im erschte Schtock macht öpper äs Fänschter uf. Ig schtige us u zünte mer nomau ä Zigi aa. Ä Frou mit dunkle, schträng zrüggbundene Haar luegt obenache u nickt mer schtumm zue. Sie schteit uf ere Leitere, hett zitronegälbi Händsche an u riblet mit eme Hudel ar Fänschterschibe ume. Ig nicke zrügg, u si rüeft öppis uf Portugiesisch ids Zimmer iche. Ä schlächt rasierte Maa bringtere churz drufaben ä durchsichtigi Plastigfläsche, wo nach Putzmittel usgseht. Är blibt churz näbere schtah, luegt zu mir ache, äs halbs Grinse, irgendwie verschwörerisch, u schtriichlet derbi dere Frou mit dr Hand übere Rügge. Sie lächlet, müpft ne aber energisch wäg, woner ihre a ds Füdle längt. Ig loufe um ds Huus ume, äs isch a Hang bout u ä Schteischtäge füehrt zum Garten ueche. O hie no alles ganz früsch, einsami Pflänzli i viu z grosse Beet, mageri Beerischtude ame Zuun. Dr Küsu hockt uf dr Terrasse vorem Wohnzimmer, uf dr Schwelle vor Tür, wo ne Schpalt wit offe schteit, dr Chopf gsänkt, d Händ vorem Gsicht. Ä jungi Frou putzt o hie d Fänschter, me gseht no dr Abdruck vore Chinderhand uf dr Schibe, fettigi Schlirgge vo chline Finger. Sie fahrt mit chly zämegwurggetem Chuchipapier drüber, ei schwungvolli Bewegig, u när gseht me nüt meh. «Was isch de?», wotti wüsse. Dr Küsu lueget uf, und ig verchlüpfe fasch e chli, so düre gseht dä us. Ohni äs Wort z säge, schteit är uf u wanket quer über d Terrasse zur Mulde, wo dert schteit, u faht aa, wie wild drin umezwüehle. «Was suechsch de?» Är git ke Antwort u grabet sech verbisse dür das Züg, wo dert dinn ligt. Büecher, CDs, Pfanne u Schischueh, zum Teil gseh die Sache no rächt nöi us. Äntlech richtet är sech uf, ihr Hand ä Teddybär. «Dä chasch emu nümm bruuche», sägi u zeige uf ds dräckige Fäll vo däm Schtofftier. Am Rügge isches ufð gschrisse u wysses Füllmaterial gheit use wie schwäri Schneeflocke. Es Oug fähltem ono. Dr Küsu luegt dä Bär aa u när mi, u si Blick isch so verzwiiflet, dass är mir richtig leid tuet. Är dräit dr Teddy i de Händ u wirft ne schliesslech wieder zrügg id Mulde. «Chumm mir gö gschider», seit är so lislig, dass äs fasch nid z ghören isch. Während dr räschtleche Fahrt seit dr Küsu wieder kes Wort. Är hocket zwar näbe mir, aber isch glych wit wäg. Surprise 455/19
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Ig gschpüre, dass ig ne mit Wort nid cha erreiche, auso sägi o nüt, frage nüt, me redt nid gärn über Söttigs, dert wo mir härchöme. Mängisch luegi ne churz vor Siten aa, äs chunnt mer vor, als würd är mit jeder Minute tiefer ime dunklen Abgrund versinke u äs git nüt, won ig chönnt mache, zum ne rette. Ig konzentriere mi uf d Schtrass. Äs hett aagfange schneie, und ig frage mi, was hätti chönne si, wie das wär worde, är und ig, me weiss äs nid. Ig ha scho lang nümm a Küsu tänkt u trotzdäm wird mer plötzlech klar, dass eim Mönsche, wo me mau hett gärn gha, äs Läbe lang nümm loslöh. U dass d Zyt ke Wunde heilt, sondern nume so lang ihre Sanduhrsand laht la druf risle, bis me se nümme dütlech gseht, bis me se nümm so guet gschpürt, bis me se fasch vergisst. D Mueter macht wie immer äs huere Gschiiss, womer dehei aachöme. Wienes düregheits Huehn flatteret si um üs ume, verzellt diss u das u nimmt üs glychzytig d Jað ggene ab, wott, dass mer inechöme, dass mer häresitze, äs Kafi näh, Güetzi heig si geschter bache, mer söue verzelle, nume chunnt um si ume sowieso kene z Wort, sie lachet u hett Tränen i de Ouge, wie sit äs paar Jahr immer. U dr Vatter schteit wie beschtellt u nid abgholt am Chuchitisch, womer inechöme, är rückt zwee Schtüehl zrächt u blibt de eifach dert schtah, zwüsche Tisch u däm alte Büffee mit de Boccalino usem Tessin, ratlos, wie wener zvill wäri, d Arme hange schlaff ache, als wüsst är nümm sü rächt, für was die sötte guet si. Ufem Fänschtersims über äm Abwäschtrog schteit äs uralts Radio, lislig louft Musig, irgende Schlager, u mir 16ð
wird’s jitz glych ganz warm ums Härz. Äs isch, als würdi hie d Zyt schtah blibe, z meischte isch no genau so iigrichtet wie früecher. Aber das schtimmt natürlech nid. Ig verchlüpfe jedes Mal, weni usem Chare schtige u mer d Mueter entgäge chunnt, während dr Vatter ir Tür schtah blibt. Wie schnäu d Eltere elter wärde. Jedes Mal si si chly grauer, loufe chly gwaggliger, dr Rügge chly chrümmer, Händ, wo uf ds Mal unkontrolliert zittere, Wörter, wo ne nümm i Sinn chöme. «U de?», fragt d Mueter u füllt ä Täller mit Sablé, wo verfüehrerisch nach Anke schmöcke. Ig verzelle, was grad louft. Vo däre Usschtellig ds Frouefäld, vom Pricht im Bund, däm Interwiu mit em Radio. Nüi York lahni uss, für e Momänt emel, so lang dr Küsu no da isch. Si lose zue, nicke brav, si schtolz uf mi, das gsehni ne aa. Aber ig ha dr Verdacht, dass si sech irgendwo ganz tief drinn glych wünsche, ig hätti ds Kavou gmacht u när Balsigers Rege ghüratet. Mit dere sigi doch denn no guet z schlag cho, seit d Mueter mängisch u äs tönt immer chly beduurend. Bis jitz heigi die emel no ke Maa gfunde, derbii sig si ja eigetlech gar nid eson ä Leidi. Vilech isches, well si denn öppis z verzelle hätte im Dorf, am Samschtigmorge vorem Migro. So ä Künschtler, wo Bilder malet, wo me nie so rächt weiss, was da söll darðgschtellt si, das git nid vill här. Me wott uf ke Fall elitär derhärcho, das wird de öppe gar nid gutiert. U vom Privatläbe säge si sowieso lieber nüt, und ig gloube, d Lüt frage o nümm. «Markus», seit d Mueter zmitts i mi Satz, wie wenn’s se ä Füechte würd interessiere, was ig z verzelle ha. «Dir Surprise 455/19
FOTO: RENATE WERNLI
heiget bout, hett dini Mueter gseit, woni se letschti im Dorf ha gseh?» Dr Küsu nickt, är isch i Gedanke eidütig irgendwo andersch gsi u verschrocke zämegfahre, wone d Mueter uf ds Mal hett aagschproche. «Schiins ä rächti Hütte, hett si gseit, fasch e Villa.» Dr Küsu lächlet churz u chly quält. «U dr heiget scho äs Chind?» Si wirft mer ä vorwurfsvolle Blick zue. Gsehsch nume, säge ihri Ouge. Geit doch. «Ja, d Amélie», seit dr Küsu tuuch. «Ah, französisch. Isch natürlich o ne Möglechkeit. Sicher än Idee vo dire Frou?» Dr Küsu seit nüt, u d Mueter redt eifach witer: «Wie schnäll Zyt vergeit! Findet ihr das nid oo? Ig cha mi no erinnere, wie mängisch du bi üs bisch gsy, denn, wo dir zwe no zäme i Gymer sit. U jitz ä Frou u das Chind und ä Villa! Du hesch so mängisch bi üs gschlafe, dobe ufem Eschtrich, ganzi Wuchenänd heit ihr zäme verbracht u einisch siter sogar zäme id Ferie, uf Schpanie, oder? Dir sit eifach unzertrennlech gsi. U dise da ...» Si zeigt uf mi. «Dise da hett ja nume no vo dir verzellt, Küsu hie, Küsu da, ig has chuum me möge ghöre. Me hätti fasch chönne meine, är sig verliebt i di.» Si lachet u nimmt e Schluck Kafi. «Aber janu, me cha nid alls ha. Aber eigetlech hättet ihr zwe schono guet zäme passt, emel besser als dä Adrian, woner letschthin hett aagschleppt.» «Mueti, hör uf!» Ig schtöhne. «Muesch em mau säge ...», macht si zum Küsu, wie Surprise 455/19ð
wenn si mi nid ghört hätti. «... dass me sech als Eltere haut glych irgendwenn äs Grosschind wünscht.» Si lachet wider, schteit uf u holt dr Kafichrueg vor Aarichti. «Du bisch garantiert ä guete Vatter, Markus, das gsehni dir aa. U di Frou isch sicher o ganz ä Flotti, muesch se mau mitbringe u ds Amélie natürlech o ...» «Jitz häb mau d Schnure!», seit dr Vatter plötzlech, u undereinisch wird’s müslischtill ir Chuchi. Äs duuret ä Momänt, bis ig begriife, was los isch. Dr Küsu isch ganz bleich worde, är rütscht ruckartig gäg hindere u schpringt so schnäll uf, dass dr Schtuel umgheit. U wo sech üsi Blicke churz träffe, gsehni, wienem Träne übers Gsicht loufe. SUNIL MANN wurde als Sohn indischer Einwanderer im Berner Oberland geboren und lebt in Aarau. Er ist mehrfach ausgezeichneter Autor von Kriminalromanen, Kinderbüchern, Hörspielen und Kolumnen. 2019 erschien sein erster Jugendroman «Totsch», im Frühjahr 2020 erscheint ein Thriller zur Flüchtlingsthematik.
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FOTO: MICHEL GILGEN
Fortschritt TEXTð MARTINA CALUORI
Wandern, sie sagen, ich soll wandern. Raus aus der Stadt, hinauf auf den Berg. An die frische Luft, ins Grüne. Leicht, ruhig und schön soll es da sein. Dort draussen, dort oben. Auftanken tut gut, sagen sie. Kopflüften auch. Mit meinen Wanderschuhen gehe ich Richtung Hauptbahnhof. Manche laufen mit Essen in der einen und Ruag in der anderen Hand. Es stinkt, die Leute wie Schafe in Scharen. Sie drängen und quetschen sich hinein. Einer wird der Erste sein. Der Erste sein in einem Zug mit freien Plätzen. Die Asylprozesse im Kanton. Ich beobachte die vorbeiziehende kitschige Landschaft. Die Schweiz strahlt verwelkt. Nun stehe ich hier oben.
Zögerlich zieht es mich den Berg ins Dunkle, Tiefe, ins Böse hinab.
Ein warmes, dunkles, abschreckendes Brechen, die Wehmut drückt und zieht. Der Boden fröstelt, die Erde kalt, der Schmerz ist draussen und macht keinen Halt. Mein Blick hinauf zum Berg in Hoffnung getaucht: Dort oben im milden Vormittagslicht lockt hämisch der erzwungene Himmel. Das Raunen des Gebrochenen hallt geziert von zartem, milchigem Schimmern.
Ich ringe und kämpfe am Waldweg mit Nebelschwaden. Feindselig, kantig der Steg, die Brücke zerrissen vom tosenden Bach, rauschende Tränen.
Gefusst über dem Abgrund vorbei an den Höhlen und Grotten der Vergangenheit verharrt der Schmerz und bleibt im Schatten des Bergs.
Der letzte Sonnenstrahl flieht, die Berge versteckt im zehrenden, drückenden, erstickenden Dunst. Ich eile den tiefen Pfad hinab. Schwarz, Grau, Blau wirbelt, sprudelt, wortlos der Schmerz.
Erklommen. Die Gipfel getaucht in Licht. Zu meinen Füssen das Geröll der Wahrheit. Was bleibt, ist das Gefühl im Verdauungstrakt und die nie aufgehende Sonne im Tal der schmerzenden Schatten. Doch plötzlich in der Ferne ein Licht, es leuchtet rötlich, flackert golden und strahlt. Der globale Fortschritt verzieht sich hinter den Horizont.
Hier oben strahlt die Mittagssonne. Unten, von Schatten beherrscht, ruht das Tal.
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Düstere Aussichten steigen empor. Langsam, schneller, immer weiter würgt und spuckt grässlich der Auswurf. Da ist er, der Schmerz, versteckt im Schatten wie alle Gesichter.
MARTINA CALUORI , in Chur aufgewachsen, lebt seit ihrem Studium der Publizistikð und Filmwissenschaften in Zürich. Sie ist Lyrikerin, Texterin, Redaktorin, Autorin und schreibt als solche auf viele Arten – kommerziell, strategisch und literarisch. Caluoris LyrikðDebüt «Frag den Moment» erschien im Frühling 2019.
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Im Hintergrund TEXTð ULRIKE ULRICH
Nicht auf die Vier, hatte sie gesagt, wir können auf der Fünf fahren, auf der Sieben, der Vierzehn, meinetwegen fahren wir auf der Eins. Nicht auf die Vier, bitte, hatte sie gesagt, die Vier bringt mir kein Glück, und sie hatte seine Handfläche mit ihrem Daumen gedrückt, bis auf die Knochen. Sie hatte ihm nicht gesagt, weshalb, ihn in dem Glauben gelassen, sie sei auf eine numerologische Art und Weise abergläubisch. Und er hatte ihrem Wunsch nachgegeben, obwohl es die nächste Linie ist, obwohl die anderen Linien weniger einträglich sind, man dort weniger Touristen antrifft, obwohl es dort oft hektischer zugeht, weniger wohlwollend. Monatelang waren sie nie mit der Vier gefahren, nicht einmal zum Spass. Während sie neben ihm den Boulevard de Barbès hinunterläuft, denkt sie daran, wie sie auch an diesem Morgen versucht hat, es abzuwenden. Mein Handgelenk, hat sie gesagt, wahrscheinlich eine Entzündung. Sie gehen bei Rot über die Strasse, Isabelle schaut nicht, sie überquert die Strasse, als wäre da keine. Die Absätze ihrer Sandalen sind zu hoch, um bequem zu gehen. Du musst ja nicht, hat er gesagt, als sie ihm am Morgen ihr Handgelenk gezeigt hat, als wäre da ein Wundmal. Du musst ja nicht mitkommen. Natürlich nicht. Sie hätte zuhause bleiben können, auf dem Bett liegen bleiben, dort auf ihn warten können. Sie ist ja frei. Er weiss gar nicht, wie frei. Sie könnte etwas ganz anderes tun. Sie müsste kein Tamburin schlagen. Antonin lässt ihr lächelnd den Vortritt, weil sie nebeneinander nicht zwischen dem zum Maiskolbenröster umgebauten Einkaufswagen und der auf dem Pflaster sitzenden bettelnden Frau hindurchpassen. Isabelle hält das Tamburin unter ihrer dünnen Jacke versteckt. Antonin trägt das Akkordeon stolz vor der Brust. Er hat auch schon im Gehen gespielt, es erst kurz vor dem Eingang zur Métro zusammengeschoben. Ist es nicht schwer?, hat ihn vorgestern eine junge Inderin auf Englisch gefragt, während Isabelle sich durch den Waggon zwängte, mit diesem Gesicht, das sie zuhause vor dem Spiegelschrank übt, charmant, unaufdringlich, ohne jede Unterwürfigkeit. Sie hat ihn gebeten, es mit dem Handy zu filmen, dieses Gesicht. Sie hat ihn gefragt, was er davon hält. Er selbst übt nur das Akkordeonspiel, sein Lächeln ist meistens ein musikalisches. Vorgestern, als die Frau ihn während des Spielens auf das Gewicht des Instruments angesprochen Surprise 455/19ð
hat, hat er weitergespielt und sie freundlich angelächelt. Er hat das Lächeln ausgeweitet und zu Isabelle hinüberwachsen lassen, weil er gespürt hat, dass sie sich umgewandt hat, zu ihm und der Inderin. Er kann das. Mit dem Rücken zur Tür stehen, sagen, dass es nicht schwer sei, mit eher französischem als russischem Akzent, weiterspielen und bis in die hinterste Ecke des Waggons lächeln, wo sie mit dem kleinen Beutel durchgeht, mit dem Gesicht. Das Tamburin ist schwer wie ein Mühlstein. Sie hasst dieses Rasseln. Du musst ja nicht, hat er gesagt. Hat er schon öfter gesagt. Dass er auch gut mal alleine gehen könne. Nein, hat sie gesagt, nein. Wer soll denn das Geld einsammeln, wer soll denn schauen, ob der Sicherheitsdienst einsteigt. Er weiss doch, dass es nicht geht ohne sie. Sie sollten nicht auf die Vier gehen, denkt sie, während sie an den angelaufenen Spiegeln der seit Wochen mit Scherengitter verschlossenen Boutique vorbeikommen. Spiegel zwischen den Schaufenstern, damit man sich mit den Puppen vergleichen kann, mit den auf altmodische Art gut gekleideten Puppen. Isabelle sieht die Puppe im weinroten Strickkleid, die Puppe im senfgelben Fischgrat-Deux-Pièces. Einen Moment lang sieht sie eine Frau im kurzen hellgrünen T-Shirt-Kleid, darüber die dunkelgrüne Strickjacke, die Haare hat sie mit einem Kamm hochgesteckt. Man sieht es ihr nicht an. Wenn sie das Tamburin versteckt hält, wenn sie ein paar Schritte hinter ihm geht, dann sieht man es ihr nicht an. Als sie Antonin kennen lernte, spielte er Klavier in einer Bar. Sie ging oft direkt nach dem Seminar dorthin. Happy Hour stand auf der Tafel über der Theke. Sie leistete sich einen Mojito zum halben Preis, sass an der Bar, mit dem Rücken zu ihm. Manchmal drehte sie sich um. Er spürte es schon damals und hob dann den Blick von den Noten. Warum er die Noten fixiere, hat sie ihn später gefragt, er könne doch alles auswendig. Wegen der Frauen, hat er geantwortet und gelacht. Wegen der Frauen, die mich beim Klavierspielen anstarren. Er habe es nicht gern, so ausgestellt zu sein. Und wieso er dann nicht auf die Tasten schaue, seinen Blick noch tiefer senke. Dann hätte er sie womöglich verpasst. Dass die Möglichkeit bestehe, durch eine winzige Bewegung der Pupille den Hintergrund zu sehen, sei wichtig. Isabelle war ihm dankbar für seine Antwort. Dabei hat sie schon damals gewusst, dass er nicht spielen kann, wenn er auf die Tasten schaut. Es ir19
ritiert ihn so, als würde er beim Tanzen die Füsse beobachten. Jetzt, auf der Treppe des Métro-Eingangs, sagt er, dass sie immer noch zurückgehen könne. Er könne erst spielen und dann selbst mit dem Beutel herumgehen. Das habe er auch schon gemacht. «Mit der Gitarre», sagt sie, «aber doch nicht mit der Kommode.» Antonin zuckt zusammen. Seit er den Job in der Bar verloren hat, ist ihr das Wort sicher schon fünfmal rausgerutscht. Quetschkommode. So hat sie es von ihrer Mutter gelernt. Etwas, das Clowns spielen oder betrunkene Dorfmusiker. «Nenn bitte das Klavier nicht Kommode», sagt Antonin jetzt und sie schaut zur graugelben Decke der Métrostation. Nenn das Akkordeon nicht Klavier, will sie sagen, dabei hat sie ihn russische Tangos spielen hören. Er hat Tangos gespielt in der kleinen Wohnung im fünften Stock, die Lichter waren gelöscht, die Fenster geöffnet, sie hat dazu getanzt oder geweint, und die Nachbarn haben geklatscht. Jetzt verlässt sie manchmal die Wohnung, wenn er übt. Sie sagt, dass sie davon traurig werde, von dieser Musik, von seiner Melancholie. Aber der Osten, sagt er dann, du wolltest doch immer. Sie kommen problemlos durch die Sperre, die Métro fährt ein, als sie auf dem Bahnsteig ankommen. Isabelle denkt, dass das ein gutes Zeichen ist, dass vielleicht alles glattgehen wird, mit dieser Vier. Aber im Wagen setzt Antonin sich auf einen der ausklappbaren Sitze, klappt ihr den anderen herunter und erklärt, dass er gerne ein paar Stationen fahren würde, aussteigen und erst nach dem Gare du Nord beginnen. Sie könnte jetzt sagen, dass das eine gute Vier ist. Dass sie in dieser Vier bleiben sollten. Aber sie ist sich nicht sicher genug. Tatsächlich sind die beiden Bahnhöfe besonders unruhige Stationen, Reisende stellen den Gang mit Koffern zu. Isabelle denkt, dass sie früher nie so weit im Norden war. Wenn sie überhaupt je mit dem Zug gereist ist, dann von einem der südlichen Bahnhöfe aus. Sie fragt Antonin, an welchem Bahnhof er angekommen ist, damals. «Am Gare du Nord», sagt er, «ich kam doch direkt aus Berlin.» An der Station Château d’Eau steigen sie aus. Stellen sich an die gekachelte Wand, treten zurück, bis sie beinahe allein auf dem Bahnsteig stehen. Während sie auf die nächste Métro warten, während sich der Bahnsteig wieder mit Menschen füllt, die entweder Touristen sind oder es eilig haben, während sie da stehen, nebeneinander, und sie sich fragt, ob sie das mal gelernt hat, wie viele verschiedene Kachelformen es in den Métrostationen gibt, wie viele Anordnungen, berühren sich ihre Handrücken. Und sie fragt ihn: «Wieso macht es dir jetzt nichts mehr aus?» – «Was?» – «Dass die Frauen dich anstarren?» Einen Moment lang begegnen sich ihre Blicke, sie sieht, dass er nachdenkt. «Es macht mir etwas aus», sagt er dann, «all die Leute, die gar nichts hören wollen. Es ist eine Überwindung, aber es hilft mir, dass du dabei bist.» Was sie nicht glaubt. Heute glaubt sie, dass sie ihm zur Last fällt. Sie schiebt ihm Motive unter. Sie liest auf einem Plakat: Qui aime bien, trahit bien. Dabei wäre er derjenige, der Grund hätte, Fragen zu stellen. Letzte Woche erst hat ein Mann sie am Arm gefasst, ihr seine Telefonnummer zugesteckt. Ein Mann im Anzug, mit einer kleinen Brille und hohem Haaransatz. Projektleiter Expansion. Er
hat ihr seine Visitenkarte in den Beutel geworfen. Darauf geschrieben, dass er sie auf Händen tragen würde. Das Tamburin klingelt, als sie sich zu Antonin dreht. Es kann niemals ruhig halten. «Ich fahre heut ohne dich», sagt er, als schon die Lautsprecherstimme die Ankunft der nächsten beiden Métros ankündigt, «schone dein Handgelenk, du und ich auf der Vier, das bringt kein Glück.» Sie steckt ihm den Beutel in die Jackentasche und dreht sich auf dem zu hohen Absatz um, während die Métro einfährt. Er schaut ihr nicht nach. Das weiss sie. Dass er sich jetzt auf die Wagen konzentriert, die beste Tür zum Einsteigen sucht. Er sieht nicht, dass sie zwei Türen weiter in denselben Wagen steigt. Er wird sie frühestens sehen, wenn er versucht mit dem Beutel herumzugehen, vielleicht wird sie dann sagen: Siehst du, es geht nicht. Vielleicht wird sie vorher aussteigen. Ihr gegenüber steht eine Frau in ihrem Alter, eine Afrikanerin, denkt Isabelle, eine Pariserin wie sie. Vor ihren Beinen ein kleines Mädchen mit Perlen im Haar. Isabelle wollte nie ein Kind. Sie wollte immer bloss leben. Antonin hätte gern Kinder, aber das Geld reicht kaum für sie beide. Von ihrer Mutter würde sie Geld bekommen, für ein Enkelkind sicher, aber das hat sie ihm nie gesagt. Die Frau gegenüber wendet den Kopf, als Antonin zu spielen beginnt. Sie hebt ihre Tochter hoch, damit sie sehen kann, woher die Musik kommt. Dann kramt sie zwanzig Cents aus ihrer Tasche und legt sie der Tochter auf die kleine Handfläche, damit sie das Geld Antonin geben kann. Was bedeutet es denn, Geld zu verdienen. Es verdient zu haben. Isabelle hat auch Geld aus der Hand ihrer Mutter genommen, sie ist auch mit ihren kurzen Beinen zu dem Musiker gelaufen, dem armen blinden Mann, der armen Frau auf dem Boden. Sie hat den Dank bekommen, ein Lächeln, ein Nicken. Ihre Mutter zwanzig Meter weiter. Im Hintergrund. Das Geld kam immer aus dem Hintergrund. Isabelle schaut über die Schulter der Frau und sieht Antonin lächeln. Er spielt das Lied, das sie sich an einem der ersten Abende in der Bar gewünscht hat, ausser ihr sass nur ein alter Herr in der Bar, der sich kaum auf dem Hocker halten konnte. Those were the days. Antonin hat gespielt und plötzlich begonnen, leise auf Russisch dazu zu singen. Er hat ihr später gesagt, dass es ein russisches Lied sei, dass er es schon immer kenne. Dorogoi dlinnoyu. Sie könnte jetzt auch mitsingen, sie kann den russischen Text. Dass er jetzt ausgerechnet dieses Lied spielt, er kennt so viele. Isabelle überlegt ihm zuzurufen, hinüber zu gehen, das Tamburin schlagend. Aber da halten sie bei Les Halles. Und Isabelle wird von der Frau auf dem Bahnsteig abgelenkt, die auffallend gut gekleidet ist, für eine Pariserin in der U-Bahn. Tatsächlich hält nun ihr Wagen genau vor dieser Frau, die Isabelle seit vier Jahren und sieben Monaten nicht gesehen hat, vor der Frau im Deux-Pièces, vielleicht tatsächlich von Chanel, die ihre Haare mit einem Kamm hochgesteckt hat, in der Hand trägt sie Tüten, zwei aus stabilem Karton, für in Seidenpapier eingewickelte Kleidungstücke, und eine ausgebeulte aus Plastik von der Buchhandlung, in die Isabelle auch manchmal geht. Wie früher: Ihre Mutter kauft noch immer genauso viel Kleider wie Bücher, sie fährt noch immer mit der Métro. Und sie steigt dort ein, wo Antonin steht und die letzte Strophe des Lieds spielt.
Letzte Woche erst hat ein Mann sie am Arm gefasst, ihr seine Telefonnummer zugesteckt.
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legt, das Tamburin zu schlagen, einmal, und es dann zu drehen, selbst zu sammeln, wieso steigt ihre Mutter nicht aus? Wieso steigt sie nicht bei Odéon aus? Sie spricht noch immer mit Antonin. Isabelle senkt den Blick. Sie glaubt nicht, dass das kleine Mädchen ihr die Münze gäbe. Ungeduldig stampft es mit dem Fuss auf. Die Mutter sagt, dass es warten müsse. Der Mann werde schon kommen. Aber der Mann kommt nicht. Als Isabelle nachsehen will, ob ihre Mutter bei St. Germain aussteigt, sieht sie, wie Antonin gemeinsam mit ihr den Wagen verlässt, auf den Bahnsteig tritt. Isabelle fährt noch drei Stationen weiter, sie wandert durch die Strassen, die sie seit Jahren gemieden hat, geht bis zum Friedhof hinauf. Den hat sie immer aufgesucht, als sie noch in die nahe gelegene Schule ging, immer wenn sie von den anderen entfernt sein wollte, sich als etwas Besonderes fühlen. Abseits von den breiten Wegen hat sie die Grabsteine angeschaut, die der Normalsterblichen, diejenigen mit frischen Blumen, aber auch die der Berühmtheiten, die sich eine Nummer auf dem Friedhofsplan verdient haben. Sie hat vor dem Kuss von Brancusi gestanden. Und Bildhauerin werden wollen. Sie hat hier auf dem Friedhof gezeichnet, ihr Butterbrot gegessen, sie hat die Menschen beobachtet. Auch jetzt noch kann sie sofort die wenigen herausfiltern, die hier jemanden liegen haben. Auch jetzt noch findet sie sich ohne einen Plan zurecht, besucht die bunte Katze von Niki de Saint Phalle und das Kenotaph von Baudelaire. Als sie am Abend die Treppe zur gemeinsamen Mansarde hochsteigt, hört sie schon die Musik. Antonin spielt Mussorgsky. Die Tuilerien. Er hat einmal die ganzen Bilder einer Ausstellung auf dem Klavier gespielt, in der Bar, nachdem der Kellner Antonin den Schlüssel gegeben und sie beide alleingelassen hatte. Als sie die Tür öffnet, fällt das Licht aus dem Gang auf sein erwartungsvolles Gesicht. Er sitzt auf der Bettkante, im Dunkeln, selbst Mussorgsky kann er auswendig. Aber jetzt hört er auf, stellt das Akkordeon auf das Bett neben sich und beginnt zu erzählen. Er fragt nicht, wo sie war, wieso sie so spät kommt. Er erzählt von der Frau in der U-Bahn, die ihm ihre Karte gegeben hat, eine Dame. Sie kenne jemanden, der Konzerte in kleinem Rahmen veranstalte, sie habe gefunden, er spiele doch viel zu gut für die Métro. Antonin ist aufgeregt, er strahlt, er sagt, die Dame habe eine Ahnung gehabt, eine regelmässige Konzertgängerin. Sie habe ihm erzählt, dass sie vor Kurzem ein Scarlatti-Konzert mit Akkordeon gehört habe, seitdem wisse sie erst, was in dem Instrument stecke. «Ich weiss nicht, ob ich wirklich anrufen werde, vielleicht eher nicht», sagt er, «aber die Vier, das ist doch eine gute Linie.» Er sagt das so, als habe er vergessen, dass sie ohne Verabschiedung auseinandergegangen sind. Er sagt es so, als könne er wissen, dass sie mitgefahren ist, dass sie zusammen in der Glück bringenden Vier waren. «Und du, was hast du gemacht?», fragt er jetzt. «Ich hab das Tamburin an das Grab von Gainsbourg gelehnt», sagt sie und denkt daran, wie die Touristen sie angesehen haben, als sei sie eine Wissende, als habe sie ihnen etwas voraus. ULRIKE ULRICH lebt seit 2004 als Schriftstellerin in Zürich. Im Wiener LuftschachtðVerlag ist 2015 nach zwei Romanen der Erzählband «Draussen um diese Zeit» erschienen, aus dem auch die vorliegende Geschichte stammt. Im Frühling 2020 kommt ihr neuer Roman «Während wir feiern» im Berlin Verlag heraus.
10.07.19 14:06
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FOTO: UTE SCHENDEL
Kaum ist sie im Wagen, beginnt Isabelles Mutter in ihrer Tasche zu kramen, vielleicht tatsächlich von Lanvin. Es ist ein Reflex. Ihre Mutter sucht nach einem Geldstück, nach ihrem Portemonnaie, wie ihre Mutter schon vor zwanzig Jahren nervös nach ihrem Portemonnaie gesucht hat. So wie Isabelle es selbst tut, an schlechten Tagen. Ihre Mutter hat sich so wenig verändert, dass Isabelle einen Moment lang dachte, sie wäre es doch nicht. Die Haare noch immer honigblond, das Gesicht dezent geschminkt. Ihre bald sechzig Jahre kann man ihr nicht ansehen, ihre Traurigkeit schon. Eine Tochter verloren. Nicht ihr einziges Kind, aber vielleicht jetzt das Kind, an das sie am häufigsten denkt. Müsste sie es denn nicht spüren, denkt Isabelle. Müsste eine Mutter denn nicht. Ihre Mutter steht genau neben Antonin und sie hat mit dem Kramen aufgehört. Sie schaut hoch und scheint den Refrain mitzusingen, wenigstens öffnet sie die Lippen leicht. Und dabei lächelt sie Antonin an, mit ihrem echten herzlichen melancholischen Lächeln. Ihre Mutter und Antonin lächeln sich an, und als er aufhört zu spielen, als er das Akkordeon zusammenschiebt und den Beutel hervorholt, sich in dem Eingangsbereich bewegt, da bleibt sie neben ihm, wirft kein Geld hinein, sondern spricht ihn an. Niemand wirft Geld in den Beutel und Antonin schafft es auch nicht weiter durch den Wagen, mit dem Akkordeon vor der Brust. Nicht hierher zu Isabelle und dem Mädchen, das die Münze in seine Handfläche presst, die andere Hand fest im Griff der Mutter, damit es nicht loslaufen kann. Vielleicht würde es einen Weg zwischen den Beinen der Menschen hindurch finden. Isabelle über-
2018 ist der letzte Tag deines Lebens TEXTð OLGA LAKRITZ
Wie es enden wird: 200 km/h auf der Überholspur. Der Bass lässt die Autotüren vibrieren. Lena hat eine Hand am Steuer, die andere mit der Kippe aus dem Fenster gehängt. Auf dem Rücksitz liegt Kati schlafend, seit Stunden hat sie sich kein einziges Mal bewegt. Mir läuft der Schweiss aus allen Poren, wird innert Sekunden vom Fahrtwind getrocknet und fabriziert sich neu. Raststellenkaffees und Industriekippen lassen mein Herz schneller pumpen und mich am ganzen Leib zittern. Unsere Ziellinie ist aus Koks und liegt vor mir auf dem Ablagebrett. Daneben ein Notizbuch, in dem in verwackelter Schrift steht, was kein Schwein lesen möchte oder lesen kann. Ich konzentriere meinen Blick wieder auf die Linie, die längst keine mehr ist, sondern hin und her torkelt. Fuck. Ich schiebe die Krümel wieder zu einer halbwegs brauchbaren Linie zusammen und zack, weg ist sie. Zumindest so halb. Wir sind auf dem Weg ans Meer, immer Richtung Horizont. An der nächsten Raststelle steige ich aus und kotze neben das Auto. Als die automatische Schiebetüre der Raststelle sich öffnet, lässt mich das grelle Ufolicht erblinden. Es riecht nach alten Frikadellen und Benzin. Vorsichtig schiebe ich mich durch die Reihen von Zeitschriften, vorbei an der Essensausgabe Richtung Toiletten. Auch hier ist das Licht unfreundlich und der Wasserhahn entlässt nur eiskaltes Wasser: Ich schrecke auf, es tötet mich beinahe. Ich starre mich im Spiegel an. Ich sehe noch beschissener aus als erwartet. Meine Augen sind gerötet und geschwollen, die schwarzen Haare stehen unten in alle Richtungen ab und kleben oben am Haaransatz fettig auf der Kopfhaut. Bleich ist überhaupt kein Ausdruck. Ich spucke in mein Gesicht. Als ich zum Auto zurückkomme, liegt Kati immer noch komaähnlich auf dem Rücksitz. Lena sitzt neben meiner Kotze auf dem Boden. Beim Anblick kommt es mir fast erneut hoch. Wie immer hängt ihr eine Kippe aus dem Mundwinkel. Fast da. Sagt sie. Die Sonne knallt immer noch herunter, obwohl es langsam Abend wird. Kannst du mal fahren? fragt Lena. Ich kann nicht Auto fahren, antworte ich. Sie setzt sich die Sonnenbrille wieder auf, zuckt mit den Schultern und sagt: Na gut.
Wir steigen wieder ein. Das ganze Auto ist nass und feucht wie in einer Sauna. Ich merke, dass ich Nasenbluten kriege. Irgendwo im Auto liegen Taschentücher. Aber niemand weiss, wo. Und Kati ist nicht ansprechbar. Und Lena weiss es eh auch nicht. In mir steigt Panik auf. Panik? PANIK? Ja, Panik. Panikpanikpanikpanikpanikpa nikpanikpanikpanikpanikpanikpanikpanikpanikpanik panikpanikpanikpanikpanikpanikpanikpanikpanikpanik. Das Wort wiederholt sich noch zweitausend Mal. Ich wische das Blut mit dem Handrücken weg. Merke, dass gar keines da ist. Immer wieder, aber es ist kein Blut da. Ich öffne das Fenster und versuche zu atmen, während Lena anfährt und ruckartig ausparkiert. Ich nehme ihr Handy und möchte andere Musik anmachen. Irgendetwas mit weniger Bass, denke ich, aber mir fällt nur Frank Sinatra ein, obwohl ich doch gerade noch wusste, was ich hören wollte, irgendetwas Deutschsprachiges war es – war es das? Ja, das war es. Ja, das war es. Scheisse, sagt Lena, ich wollte eigentlich tanken. Wir sind schon wieder auf der Autobahn. Ihr seid echt zu gar nichts zu gebrauchen!, schreit Lena jetzt Richtung Rücksitz. Kati rührt sich nicht. Lena schreit ein paar Mal ihren Namen. Kurz öffnet Kati ihre Augen, aber kaum länger als ein Blinzeln. Lena brüllt weiter. Ich mache Sinatra an.
Sie macht ein rundes Brandloch in mein Shirt. Ein Brandloch für Lena, denke ich.
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AND NOW THE END IS NEAR AND SO I FACE THE FINAL CURTAIN Frank Sinatra gilt als Erfinder des Konzeptalbums und ich habe eine Spieluhrversion von diesem Lied. Sie klingt scheusslich und die Spieluhr ist inzwischen kaputt. Bitch, können wir was aus dem 21. Jahrhundert hören, bitte, ich kann die Jammerscheisse nicht ab. Lena wirft mit ihrer Zigarette nach mir. Sie macht ein perfekt rundes Brandloch in mein Shirt. Ein Brandloch für Lena, denke ich. Ich antworte nicht und zünde mir selbst eine Kippe an. Ich starre die Uhr auf der Radioanzeige an und versuche auszurechnen, wie lange wir schon unterwegs sind. Zehn Stunden? Fünfzehn? Schon länger als ein Tag? Wozu gibt es eigentlich Zeitzonen?, frage ich zwischen Sinatras Gejammer. 23
Lena antwortet nicht. Mein Magen macht Geräusche. Ich suche im Handschuhfach nach Koks oder Speed oder irgendetwas. Meine verschwitzten Finger beflecken die darin liegenden Dokumente. Kein Koks. Kein Speed. Ich zünde mir erneut eine Kippe an. Kati setzt sich auf, sie sieht aber auch im wachen Zustand eher tot aus. Die Haare liegen flach am Kopf an und ihr Gesicht ist noch bleicher als meins. Wo sind wir? Niemand antwortet. Sie streckt den Kopf nach vorne zwischen uns und starrt uns abwechselnd an. Dann nimmt sie mir das Handy aus der Hand und stellt etwas anderes an. Ich versuche nicht hinzuhören, erkenne aber, was es ist. Beziehungsweise, dass ich es kenne. Keine Ahnung, was das ist. Ich kann die verschiedenen Subgenres nicht unterschieden. Es gibt nur zwei Arten von Techno: Der, der immer gleich klingt, und der, zu dem man auch tatsächlich tanzen kann. Irgendwo an meinen Schläfen bricht mein Hirn aus und wandert Richtung Himmel. Ich liege neben Lena im Bett und sie ist die schönste Frau der Welt. Es ist stickig in dem kleinen Zimmer, die Fenster geschlossen. Auf der Couch neben dem Bett liegt Kati in eine Decke eingewickelt und hält mit zitternden Händen ihr Smartphone. Zwischendurch linst sie zu uns rüber. Mein Arm ist um Lenas Hüfte gelegt und dort, wo wir uns berühren, ist unsere Haut noch nässer und glitschiger. Ich mag das und streiche mit meinem Arm den Schweiss auf ihrer Hüfte in alle Richtungen. Lena wacht davon auf, und im Gegensatz zu mir mag sie das nicht.
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Sie befreit sich aus der Umarmung und verlässt das Zimmer. Ich drehe mich auf die andere Seite und starre aus dem Fenster. Ich sehe nicht viel ausser der gegenüberliegenden Häuserfassade in Grün. Im Zimmer nebenan geht die Dusche an. Ich setzte mich auf und ziehe mich an. In meiner Hosentasche finde ich Restkoks von letzter Nacht und schmiere es mir aufs Zahnfleisch. Es hilft nichts. Draussen ist es noch wärmer als erwartet. Ich schwitze Wasserfälle. Ich laufe die riesige Strasse so lange entlang, bis ich fast zusammenbreche. Mein Rachen wird mit Schmirgelpapier bearbeitet. Ich setzte mich ins nächste Café nach draussen und bestelle in brüchigem Spanisch und mit Händen und Füssen Kaffee und Wasser. Ich stecke mir eine Kippe an. Nach dem ersten Zug muss ich mich fast übergeben. Als das Wasser kommt, kippe ich das Glas in einem Zug hinunter und bestelle ein neues. Der Kellner blickt mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche. Umständlich stehe ich auf und ziehe es hervor. Da hat es auch schon aufgehört zu vibrieren. Ein Anruf in Abwesenheit. Rufnummer unbekannt. Wer in der fuckingfucking Hölle ruft mich mit unterdrück ter Nummer an, ich sollte dieses Handy dringend los werden, es macht ja doch nur abhängig und eigentlich,
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FOTO: CLAUDIA HERZOG
JA EIGENTLICH, hat mich doch schon wirklich sehr lange keine WIRKLICH wichtige Information über diesen Weg erreicht und sowieso, was erreicht mich überhaupt noch. Irgendwann sitzen Lena und Kati auch da. Ich fahre heute zurück, sagt Lena. Ich starre in ihre riesigen Pupillen und sage: Bist du immer noch high? Sie zuckt mit den Schultern. Kati sagt nichts. Ich beuge mich über den Tisch zu Lena und möchte sie küssen, aber sie stösst mich weg. Hey!, sage ich. Der Teer unter mir beginnt sich zu wellen. Auf und ab trägt es meine Füsse und meinen Stuhl. Ich finde den Strand drei Stunden lang nicht. Als das Wasser meine Füsse berührt, denke ich an Lenas Schweiss und an Wassernixen. 2018 ist der letzte Tag deines Lebens. Mein Hirn hat sich als Mond an den Himmel geklebt. OLGA L AKRITZ wurde zwischen Umzugskisten geboren, was keine Metapher ist, aber gerade so gut könnte es eine sein. Sie hat ihr Philoso phiestudium im ersten Semester abgebrochen und ist auch allgemein an vielem gescheitert. Sie studiert momentan am Literaturinstitut in Biel.
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Kreuzworträtsel Wer rätselt, gewinnt: Finden Sie das Lösungswort und ðschicken Sie es zusammen mit Ihrer Postadresse an: Surprise Strassenmagazin, Münzgasse 16, 4051 Basel oder per E-Mail mit Betreff Rätsel 455 an info@surprise.ngo
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Tipp: Das Lösungswort kommt in einem der Texte dieser Ausgabe vor. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden unter den richtigen Einsendungen ausgelost und persönlich benachrichtigt. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt.
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Sudoku Füllen Sie die leeren Felder mit den Zahlen von 1 bis 9. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile, in jeder Spalte und jedem der neun 3ð×ð3-Blöcke nur ein Mal vorkommen. Die Lösungen finden Sie in der nächsten Surprise-Ausgabe.
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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm
Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?
Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.
Eine von vielen Geschichten 01
Waldburger Bauführungen, Brugg
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Rhi Bühne Eglisau
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
04
Philanthropische Gesellschaft Union Basel
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Mitarbeitende Forbo Siegling CH, Wallbach
06
TopPharm Apotheke Paradeplatz
07
Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
08
RLC Architekten AG, Winterthur
09
Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
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LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil
11
VXL, gestaltung und werbung, Binningen
12
Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich
13
Brother (Schweiz) AG, Dättwil
14
Kaiser Software GmbH, Bern
15
Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
16
Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar
17
Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel
18
Maya-Recordings, Oberstammheim
19
Cantienica AG, Zürich
20
Madlen Blösch, Geld & so, Basel
21
Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern
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Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz
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Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich
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InhouseControl AG, Ettingen
25
Infopower GmbH, Zürich
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo
Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.
Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus
Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.
Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.
Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!
Wir alle sind Surprise BILD: ZVG
Surprise Talk
«Nervige Tonqualität» Ich höre den Surprise-Podcast sehr gerne. Spannend, nicht zu lang. Richtig guter Teaser. Schon mehrmals erinnerte ich mich vor dem Verkäufer an den Podcast und kaufte (auch deswegen) die aktuelle Ausgabe. Leider nerve ich mich aber immer über die Tonqualität. Ein kleiner Mehraufwand würde sich meiner Meinung nach lohnen. M. VON WARTBURG , Nidau
#450: Krise? Kunst!
«Zufällig»
Strassenmagazin
Ich war Anfang Juni in Athen, im Gepäck hatte ich die Surprise-Ausgabe über Athen. Meine Gastgeberin Katerina Filopoulou, die auch an der Konferenz teilnahm, zeigte mir daraufhin mit ihrem Mann Kostas das Café des griechischen Strassenmagazins Shedia. Das Foto von uns ist dort entstanden. Im Café werden Handarbeiten aus alten Heften verkauft, sehr schöne Sachen. Später kaufte ich die Shedia-Ausgabe Nr. 71 an der Metrostation Piräus. Darin entdeckte ich ein Foto von Katerina mit einem Surprise-ð Verkäufer beim HB Zürich. Die Strassenmagazine verbinden auch die Lesenden! P. WISKEMANN , Zürich
Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktionð Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Amir Ali (ami), Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99ð redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.chð
Surprise 455/19ð
Die Verkäuferinnen und Verkäufer von Surprise sind zurückhaltend, freundlich, motiviert und dankbar und nie aufdringlich. Dafür möchte ich ihnen allen Danke sagen und ein grosses Lob aussprechen. Und an die Redaktion: Die Artikel sind immer abwechslungsreich und spannend! M. ARNOLD, ðHitzkirch
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel
«Danke»
Ständige Mitarbeitð Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash,Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Martina Caluori, Vanessa Ive, Milena Keller, Olga Lakritz, Sunil Mann, Jessica Michaels, Milena Moser, Gian Snozzi, Ulrike Ulrich
Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenðverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehð migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.
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Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik
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Druckð AVD Goldach Papierð Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflageð 25 700 Abonnementeð CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:ðPC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
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Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo
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FOTO: AURORA DA RUA
Internationales Verkäuferinnen-Porträt
«Ich respektiere die Grenzen meiner Kunden»
Jede gute Verkäuferin hat ihr Geheimnis. Das von Bete ist sehr leicht zu erraten. Der Schlüssel sind ihre ðlachenden Augen, ihre starke Stimme und ihr ausdrucksvolles Auftreten. Ihre Kunden brauchen sich nur wenige Minuten mit ihr zu unterhalten, um zu wissen: Betes Geheimnis ist ihre Freundlichkeit. Sie gestikuliert, wenn sie spricht, wählt die richtigen Worte und nimmt ihren Kunden die Befangenheit. Niemand kann Betes Charme widerstehen. So hat sie 2010 ihren ersten Kunden gewonnen, als sie mit dem Verkauf von Aurora da Rua anfing. Der Verkauf des Strassenmagazins war ihre erste Arbeitserfahrung, nachdem sie zehn Jahre auf der Strasse gelebt hatte. «Es war mein Weg ins Paradies», erzählt Bete. «Ich fing an, meine Finanzen zu sortieren, bekam meinen Zahnersatz, eröffnete ein Sparkonto und kaufte mir ein Mobiltelefon.» Sie ist wortgewandt und ein ðArbeitstier. Daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sie schnell ein Angebot für einen festen Job bekam. Heute feiert die frühere Obdachlose ihr siebenjähriges Jubiläum als Vermittlerin in eð inem christlichen ðSozialprojekt namens Levanta-te e Anda (deutsch: «steh auf und geh los»). Trotz ihrer fð esten Arbeit hat Bete nicht aufgehört, Aurora da Rua zu verkaufen. In ihrer Freizeit verkauft sie zudem Unterwäsche, Parfüm und Kosmetikartikel. Das Verkaufen ist Betes Berufung. Während ihrer Zeit bei Aurora da Rua hat sie ihre eigenen Erfahrungen in einem Verkaufsleitfaden niedergeschrieben. «Ich habe das Strassenmagazin in den Bussen verkauft, in denen ich fuhr, in den Geschäften, die ich betrat, und sogar bei Arztbesuchen», erzählt sie. «Einmal hat der Arzt aufð gehört, mich zu untersuchen, um das Magazin zu lesen. Danach sagte er: ‹Dona Bete, gib mir zehn von diesen Magazinen!› Ungefähr zur gleichen Zeit habe ich meiner Chefin die Ausgabe gezeigt, in der ich erzähle, was ich machen würde, wenn ich Präsidentin von Brasilien wäre. Das hat ihr gefallen, und sie hat mir auf einen Schlag 50 Magazine abgekauft!» Bete bricht in Lachen aus, während sie diese Geschichten erzählt. Ein weiteres Wort, dass man zu Betes Marketinglexikon hinzufügen muss, ist Spontaneität. Wo auch immer sie ist, ihr improvisierter Verkaufsstand ist immer dabei. «Meine Tasche ist mein Stand, mein virtueller Laden», lacht sie. Sie verkauft ganz natürlich, mit der Leichtigkeit und der Magie von jemandem, der Kaninchen aus ei30ð
Nach zehn Jahren auf der Strasse von Salvador de Bahia begann die Brasilianerin Bete 2010 als Verkäuferin des Strassenmagazins Aurora De Rua zu arbeiten.
nem Hut zieht. «Ich mag es nicht, Gefühle oder Begeisterung vorzutäuschen», sagt Bete. «Ich versuche immer, aufgeschlossen zu sein und den Kauf für meine Kunden zu einem schönen Moment zu machen.» Bete spricht über das Verkaufen wie jemand, die die ðnötige Erfahrung hat und von ihrem Gebiet wirklich etwas versteht. Ihr Beruf als Verkäuferin hat sie nicht nur in die Gesellschaft integriert, sie konnte auch eine Fähigkeit ausbauen, die ihr schon immer lag: das ðGeschenk, Menschen zu begeistern. Jetzt plant sie, ihr Studium fortzusetzen, ein Diplom zu machen und ðVorlesungen zum Thema Verkaufen zu halten. Für dieð jenigen, die es interessiert, hat Bete dazu noch einen Tipp: «Ein Wort, an das du deine Kunden nie erinnern darfst, ist nein», erklärt sie. «Du musst ihre Grenzen ðrespektieren und darfst sie zu nichts überreden. Du musst sie einfach überzeugen. So werden sie dich vermissen und zu dir zurückkommen. Denk daran: Du brauchst den Kunden mehr als einmal. Es geht also nicht nur um das Verkaufen, sondern darum, ihn für dich zu gewinnen.» Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von AUROR A DA RUA / INSP.NGO
Aufgezeichnet von VANESSA IVE Übersetzt von JESSICA MICHAELS Surprise 455/19
5 3 4 7 9 98 52 61 46 2 7 6 2 1 3 44 79 15 88 9 Lösungen der Rätsel aus Ausgabe 454 9 1 8 6 2 85 27 33 54 1 2 7 1 8 4 73 85 56 29 6 Kreuzworträtsel Sudoku 4 5 6 9 7 6119 1 68 42 93 3 6 5 2 4 8 3 9 7 1 2 5 3 4 8 7 43 9 38 1 79 6 82 5 2 5 52 2 73 6 11 49843 7976 4 S S K E M R K 1 8 7 5 2 9 6 3 4 8 3 4 9 7 6 2 5 1 E U R O P A F R U C H TWA S S E R 713 84 8 92 3 66 6 9 53 72 4 8 51 6 6 8 139 62 99 3 275 95 7 147 12 4 8 P E I NF ERNAL B T ER 5 2 4 3 6 1 7 8 9 7 5 4 1 2 9 6 8 96 1 69 8 47 7 55 2 3 3 45 6 24 8 98 5 7 1123 2 L MU T I G E T HOS I I I 1 8 4 8 2 3 4 1 9 6 7 3 4 1 7 9 8 2 6 5 9 5 3 7 8 1 63 254 7 F G RANDEN H S I SA L 8 6 9 2 1 5 3 4 7 5 2 4 8 3 9 5 86 32 E BB E R QU I T T M S T E R 54 1 7 39 8 4 6 7239 714 687 13 43179181 8 676 25 9 5 217 59 6 L V I S UM A UMS O H U 2 6 5 3 8 77 14 59 61 3 GEHEN A E RGRUENDEN POT N R I ND P T T AE D 8 3 1 9 2 344 66 27 95 1 9 6 8 3 7 5 4 2 1 1 4 5 9 6 8 2 7 S J ENA Z I P E ATOL L 19 2 379 84 4 5 17 6 5 98 7 59 8 33 2 I A SAA TGV T L I L L E 6 2 86 4431 5 4 5 7 2 6 1 9 3 8 2 8 6 1 4 7 9 5 3 ME I S E O POKA L C R EG 6 9 2 1 4 8 7 5 3 6 3 9 1 4 7 8 2 7 1 6 4 9 5163 85 92 38 7 M L UNAR D PHRAS E 5 3 1 7 2 6 8 4 9 9 2 3 7 8 4 6 5 PR I VAT S HE I L ERDE 8 7 4 5 3 9 1 6 2 8 4 7 6 2 5 1 3 9 784332 2994 8 24 8 92 6 58 7 36 1 4 1 615 5 15 7 B L A N K E S R A WA M I 3 4 5 8 1 2 6 9 7 4 3 9 2 6 1 5 7 8 OM B E B A U U N G T I V O L I 8 1 57963 5146 6 73 1 65 4 99 3 22 8 5 7 72 2 83 4 SEN E Leicht
Lösungswort: BRATKARTOFFELN Die Gewinner werden benachrichtigt.
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raetsel.ch 349926
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Mittelschwer
STAUB
I NS
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F
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Teuflisch schwer
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raetsel.ch 423996
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Kultur
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CAFÉ SURPRISE
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BEGLEITUNG UND BERATUNG
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SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen 455/19ð und aufSurprise die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie.
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