Strassenmagazin Nr. 456 9. bis 22. August 2019
CHF 6.–
davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden
Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass
Selbstbestimmung
«Wer bin ich auf dieser Welt?» Fabian Schläfli kämpft um sein Recht auf Autonomie - und vor Gericht um sein Erbe Seite 8 Surprise 456/19
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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstrasse 149 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse 76 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstrasse 2 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a
Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise 2
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TITELBILD: ROLAND SCHMID
Editorial
Unabhängigkeit Wer schon einmal temporär eingeschränkt war, zum Beispiel durch einen Gips am Arm, weiss gut, wie schwer es uns Erwachsenen fällt, um Hilfe zu bitten. Da verzichtet man vielleicht lieber auf die tägliche Dusche, als sich vom Partner waschen zu lassen. Unabhängig sein, autonom entscheiden: Daran hängen unser Stolz und unser Selbstwertgefühl. Surprise-Verkäufer Fabian Schläfli macht die Spannung zwischen dem Bedürfnis nach Selbstbestimmtheit und der Abhängigkeit von anderen auf besondere Weise Mühe. Er ist aufgrund eines Geburtsgebrechens dauerhaft beeinträchtigt und deshalb bei zahlreichen Tätigkeiten auf Hilfe angewiesen. Genossen hat er das noch nie, aber hingenommen. Doch seit er sich nicht mehr sicher ist, ob die Hilfe auch zu seinem Besten geschieht, will er lieber selber scheitern, als Opfer des Unver mögens anderer zu werden. Lesen Sie seine Geschichte ab Seite 8.
4 Aufgelesen 5 Vor Gericht
Amour fou mit Folgen
6 Moumouni …
... ist gefangen
7 Die Sozialzahl
Armutsrisiko Scheidung
8 Selbstbestimmung
Fabian Schläfli kämpft um sein Recht
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Verabschieden Sie mit uns unsere Gerichts reporterin Isabella Seemann. Auf Seite 5 lesen Sie ihre letzte Gerichtskolumne im Surprise. Wir danken ihr herzlich für die langjährige gute Zusammenarbeit. Neu wird Yvonne Kunz alle zwei Wochen den Fokus nicht mehr ausschliesslich aufs Strafrecht richten, sondern vermehrt auch Rechtsbereiche beleuchten, mit denen vor allem Armutsbetroffene häufig in Konflikt kommen. Und auf den Fortsetzungskrimi «Agglo- Blues» folgt die «Tour de Suisse»: In seiner neuen Kolumne wird der Zürcher Autor Stephan Pörtner Orte besuchen, an denen Surprise verkauft wird, und sie in Miniaturen porträtieren. Eine Postkarte schickt er auch dazu – die erste Folge auf Seite 27. SAR A WINTER SAYILIR
Redaktorin
14 Stadtentwicklung
26 Veranstaltungen
28 SurPlus Positive Firmen
20 Sudan
27 Neu: Tour de Suisse
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
Die Zukunft des BASF Engagiert für Strassenkinder
24 Festival
Sie wissen, was passiert
25 Die Schweiz schreibt
Wer stellt wen wie dar?
Pörtner in Wädenswil
30 Surprise-Porträt
«Eine eigene Familie, das ist mein grösster Traum»
31 Lösungen der Rätsel aus Ausgabe 455
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Aufgelesen
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Auf der roten Liste neue Arten entdeckt, in der Mehrzahl Wirbellose. Und da Wirbellose 97 Prozent aller Tierarten ausmachen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass viele von ihnen gänzlich unentdeckt bleiben, schon wieder ausgestorben sind oder aber, dass die Anzahl der akut bedrohten Arten wesentlich höher liegt als angenommen.
FOTO: ZOÎ REEVE
FOTO: DAVID CLODE
BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE
FOTO: WEXOR TMG
FOTO: SMIT PATEL
Rund eine Million Tier- und Pflanzenarten sind akut vom Aussterben bedroht, sagt der neue Bericht des Weltbio diversitätsrates IPBES. Besonders treffe es Amphibien, Riffkorallen, Haie und Meeressäugetiere. Die hohe Zahl ist als Alarmsignal zu verstehen, und doch liegt die Dunkel ziffer gemäss Experten viel höher. IPBES geht bei seiner Hochrechnung von rund 8,1 Millionen Arten auf der Erde aus, von denen bisher allerdings erst 1,7 Millionen wissenschaftlich erfasst sind. Jährlich werden 10 000–15 000
Manche bedrohte Tierarten sind uns präsenter als andere.
FOTO: JORGE LEDESMA/PEATÓN
Neues Strassenmagazin in Peru Anfang Juli erblickte ein neues Mitglied der StrassenmagazinFamilie das Licht der Welt: Peatón, «der Fussgänger». Es wird von bisher zwei Verkaufenden für 4 Nuevo Soles (rund 1,20 Franken) auf den Strassen der nordperuanischen Stadt Piura verkauft. Ästhetisch orientiert sich das Magazin an Mi Valedor aus Mexico City, Hilfe bekam Gründer Jorge Ledesma auch von den argentinischen Kollegen von Hecho en Bs As sowie von Fernando Vidal, dem kürzlich verstorbenen Chefredaktor des Uruguayer Magazins Factor S. Wie seine südamerikanischen Pendants und Surprise ist Peatón auch Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen INSP.
PEATÓN, PERU
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Vorurteilen folgen Taten
Jeder vierte Deutsche befürwortet, dass bettelnde Obdachlose aus Fussgängerzonen «zu entfernen» seien. Das sagt eine neue Studie der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung. Jede Zweite glaubt, dass Langzeitarbeitslose kein Interesse daran hätten, einen Job zu finden. 63,8 Prozent finden es «empörend, wenn sich die Langzeitarbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen».
Vor Gericht ASPHALT, HANNOVER
Fortlaufende Statistik
Nordrhein-Westfalen ist das bisher einzige deutsche Bundesland, das einen Versuch gestartet hat, Wohnungslosigkeit fortlaufend statistisch zu erfassen. Im Mai dieses Jahres besuchte deshalb eine Forschungsgruppe der Fachschule Dortmund Schlaf-, Treff- und Strassenmagazin-Verkaufsplätze sowie Notunterunterkünfte, Tafeln und Suppenküchen im Dortmunder Stadtgebiet. Dabei gaben 606 der dort Befragten an, ohne eigene Wohnung oder gar völlig ungeschützt auf der Strasse zu leben.
BODO, BOCHUM/DORTMUND
Arm und Reich
Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer. Das ist das Ergebnis des «Global Wealth Report» des Beratungsunternehmens Boston Consulting Group. Demnach stieg die Zahl der Millionäre in den vergangenen zehn Jahren um 460 000 auf 22,1 Millionen. Diese haben inzwischen mehr als die Hälfte des privaten Finanzvermögens angehäuft – und sind damit reicher als die übrigen 7,7 Milliarden Menschen der Welt.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
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Amour fou mit Folgen Das Thermometer zeigt 35 Grad. Der Angeklagte zupft am T-Shirt, das an seinem trainierten Körper klebt, und wischt sich die schweissnassen Hände an den schwarzen Jeans ab. Er sei jetzt wieder mit Leonora* zusammen, sagt Murat* bei der Befragung zu seiner Person. Leonora ist eine der Geschädigten in diesem Verfahren. Allerdings hat sie am Morgen des Verhandlungstags eine Desinteresseerklärung eingereicht. Freiheitsberaubung ist aber ein Offizialdelikt, weshalb Murat gleichwohl vor der Anklagebank steht. Nun erzählt er dem Richter, dass er nicht mehr mit Leonora zusammen sein wolle und nach der Verhandlung mit ihr Schluss machen werde. «Ich verstehe nicht», sagt der Richter trocken. «Ich verstehe es auch nicht», antwortet der 21-jährige Albaner. «Ich liebe sie, aber sie ist die falsche Frau für mich, sie tut mir nicht gut.» An einem kalten Montagabend im Februar traf sich Leonora mit einem befreundeten Paar bei einem Aussichtspunkt über Zürich. Murat stellte ihr nach, er glaubte, der Kollege sei ihr Neuer, und sah rot. Es kam zum Streit. Murat packte Leonora, warf sie ins Auto, prügelte sie, beschleunigte von Null auf 75, überfuhr dabei fast die Bekannten, und raste mit ihr durch die Stadt. So schildert es die Staatsanwaltschaft und fordert wegen mehrfacher Freiheitsberaubung – ein ähnlicher Vorfall fand bereits wenige Tage zuvor statt –, Gefährdung des Lebens und grober Verkehrsverletzung eine bedingte Freiheitsstrafe von 24 Monaten
und einen Landesverweis von 5 Jahren. «Herrn Murat fällt es schwer, sozial verträglich zu handeln und seine Emotionen zu zügeln», führt die Staatsanwältin aus. In den zehn Jahren, in denen er in der Schweiz lebt, sei es ihm nicht gelungen, den Respekt und den Umgang mit Frauen den hier üblichen Gepflogenheiten anzupassen. Der Macho bricht in Tränen aus. «Hat jemand ein Nastuch?», fragt der Richter in die Runde. Die Gerichtsreporterin wühlt in ihrer Handtasche und reicht dem Angeklagten über die Schranken hinweg eine Packung Taschentücher. «Ich bin nicht das Monster, das hier beschrieben wird», schluchzt er. «Ich wollte nur mit Leonora reden.» Sein Verteidiger zeichnet das Bild einer leidenschaftlichen Beziehung, einer «Amour fou». An jenem Abend seien seinem Mandanten die Pferde durchgegangen. «Aber sein Macho-Gehabe wird sich sicher auswachsen.» Nach mehrstündiger Beratung spricht der Richter Murat der mehrfachen Nötigung und der groben Verletzung der Verkehrsregeln schuldig und bestraft ihn mit einer 17-monatigen bedingten Freiheitsstrafe. Der Landesverweis fällt dadurch weg. Das milde Urteil kompensiert er mit einer gehörigen Standpauke. «Sie müssen an sich schaffen, Kamerad!», sagt er und empfiehlt Murat ein Anti-Aggressionstraining. «Sie müssen lernen, wie man eine Beziehung führt.» Und führt als positives Beispiel seine eigene 30-jährige Ehe an. «Freiheit kann nur in Freiheit Freiheit sein.» Eine Frau habe das gleiche Recht auszugehen, wann und mit wem sie wolle, wie er. «Schreiben Sie sich das hinter die Ohren!» * persönliche Angaben geändert ISABELL A SEEMANN ist Gerichtsreporterin
in Zürich. 5
ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
und so blieben die kurzen Slots, die er fürsorglich für meinen Redebeitrag bereitgestellt hatte, ungefüllt. Irgendwann schaffte ich es, mich aus dem Gespräch zu winden: Ich hatte eine alte Bekannte entdeckt und sie mit übertriebener Geste begrüsst, um meinem Gesprächspartner klarzumachen, dass ich nun ein wichtigeres Gespräch zu führen hatte. Er versuchte noch ein paar Mal, in meiner neuen Interaktion zu intervenieren, jedoch erfolglos, denn die Devise meiner neuen Gesprächspartnerin war: Wer Luft holt, hat verloren.
Moumouni …
… ist gefangen Ich bin immer mal wieder in unangenehmen Gesprächen gefangen, und es regt mich auf: Leute, die selbst nicht zuhören wollen, sich keinen Austausch erhoffen, sondern einfach einen Raum beanspruchen, den ich ihnen eigentlich nicht gewähren will. Letztens traf ich auf einer Veranstaltung gleich zwei solcher Menschen, die mich auf dem Weg zum Apéro abpassten und mit ihrem Gelaber gefangen nahmen. (Liebe Lesende, Sie dürfen hingegen selbstverständlich selbst entscheiden, ob Sie weiterlesen wollen oder nicht.) Die erste Person war einer dieser Männer – und man sah es an der Art, wie er seine Brust herausdrückte –, auf die es nur zwei Reaktionen gibt: Entweder man lässt sich berieseln oder man rennt verzweifelt gegen sie an, so wie 6
eine Taube gegen eine Scheibe fliegt, die kein Stück nachgibt. Konfrontativ und besserwisserisch sprach er mit grossen Gesten und lauter Stimme und versuchte, mich dazu zu bewegen, ihm zuzustimmen, was ich nicht mit mir vereinbaren konnte. Ich überlegte, wie es wäre, mit ihm zu streiten, und verfiel in ein leises «Rukediguu»: unmöglich. Nicht nur, weil man nicht gewinnen kann – also seine Meinung nicht ändern (denn Männer wie er wollen nichts von jungen Frauen wie mir lernen) –, sondern auch, weil der Zweifel an seinem Wissen wohl das einzige war, das ihn noch mehr zum Reden anspornte als eine einfach neben ihm stehende Frau. Also liess ich ihn reden und reden. Pausen liess er nur für zustimmende Kom mentare, die ich ihm nicht geben wollte,
Nun hatte ich mit ihr zu kämpfen: Sie ist eine jener Personen, die reden, damit sie anderen nicht zuhören müssen. Was sie sagt, ist immer intelligent, nie von Zweifeln berührt und immer mindestens so weit verständlich, dass man weiss, dass sie recht hat. Sie spricht deutlich und präzise und schneidet mit der Stimme durch die Luft wie der Rotor eines Ventilators. Sie will, dass man ihr folgt, und sie macht, dass man ihr zuhört. Unwillig hörte ich mir ihren belehrenden Monolog an, der wie ein einziges Argument klang – als hätte ich ihr widersprochen, was ich nie wagen würde. Denn wenn man ihr tatsächlich widerspricht, klammert sie sich fest und lässt nicht mehr los, bis man selbst aufgibt wie ein Beutetier im Griff einer Würgeschlange. Ich weiss das von früheren Interaktionen. Ich machte mir einen Spass daraus, ihr nicht mehr ernsthaft zu antworten oder trotzig in die andere Richtung zu schauen, um sie zu irritieren – aber wirklich spassig war das nicht. Irgendwann liess sie von mir ab und bedankte sich für das Gespräch. Ich wusste nicht, welches Gespräch sie meinte, und nahm mir vor, zuhause ein Plädoyer für eine rücksichtsvolle Gesprächskultur zu schreiben: Hört auf, Menschen einfach vollzulabern!
FATIMA MOUMOUNI Redet selbst viel und gern. Im Schlaf sogar ähnlich rücksichtslos wie die oben beschriebenen Charaktere.
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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2018): SCHEIDUNGSSTATISTIKEN, NEUCHÂTEL
Die Sozialzahl
ablösen können, steht eine allmähliche Rückzahlung der bezogenen Sozialhilfegelder im Raum. Verbessern sich die wirtschaftlichen Verhältnisse des Vaters, muss die Mutter in einem langwierigen Verfahren die Anhebung der Alimente beantragen. Das kann dauern.
Armutsrisiko Scheidung Zwei von fünf Ehen werden wieder geschieden. 2018 registrierten die Zivilstandsämter schweizweit 16 542 Scheidungen. Geschieden wird immer, am häufigsten aber nach 5 bis 9 Jahren. Doch auch nach 20 und mehr Ehejahren wurden 2018 noch über 5025 Paare geschieden. In fast der Hälfte aller Scheidungen waren Kinder unter 18 Jahren involviert. Insgesamt erlebten mehr als 12 000 Kinder das staatlich geregelte Auseinandergehen ihrer Eltern. 10 Prozent von ihnen waren jünger als 5 Jahre alt, ein weiteres Drittel zwischen 5 und 9 Jahre alt. Scheidungen haben gravierende wirtschaftliche Konsequenzen für die Familienhaushalte. Sie gehören darum zu den grössten Armutsrisiken in der Schweiz, in aller Regel trifft es die Mütter und ihre Kinder. Das hat mit den geltenden gesetzlichen Gegebenheiten zu tun. Noch immer ist es in den meisten Familien der Vater, der das grösste Erwerbseinkommen zum Familienhaushalt beisteuert. Ihm werden darum Alimentenpflichten auferlegt, während die Mutter zumeist die Betreuung der Kinder übernimmt. Der Vater muss also zumindest für den Unterhalt der Kinder sorgen. Allerdings kennt diese Alimentenpflicht eine Grenze. Der Vater darf nicht stärker als bis zu seinem Existenzminimum belastet werden. Die Mutter muss ein allfälliges Manko tragen und sieht sich dann gezwungen, zusätzliche Unterstützungsleistungen von der Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. In der Folge bleibt auch die Rückerstattungspflicht an ihr hängen. Sollten sich also die wirtschaftlichen Verhältnisse der Mutter deutlich verbessern und sie sich von der Sozialhilfe
Was sind die Alternativen zu dieser diskriminierenden Situation? Im Zusammenhang mit der Neuregelung des Unterhaltsrechts wurde über eine Mankoteilung diskutiert. Die Alimen tenverpflichtung wäre nicht mehr begrenzt worden, sondern hätte sich an den notwendigen Ausgaben der Mutter und der Kinder zu orientieren gehabt. Dies hätte allerdings dazu führen können, dass unter Umständen nicht nur die Mutter, sondern auch der Vater Sozialhilfeleistungen beziehen würden. Die Kan tone wehrten sich mit Erfolg gegen diese Gleichstellung von Vater und Mutter im Scheidungsfall. Sie fürchteten einen höheren administrativen Aufwand. Eine andere Möglichkeit ist die Einführung von Ergänzungsleistungen für Working-Poor-Familien. Auf Bundesebene wurde dieser Vorschlag vor geraumer Zeit abgelehnt. Einige Kantone wie das Tessin, Genf oder Solothurn kennen aber diese Bedarfsleistung. Ergänzungsleistungen für Working- Poor-Familien lösen das Problem der Mankoteilung nicht, aber sie führen zu einer wirtschaftlichen Besserstellung der armutsbetroffenen Familien, und die Rückzahlungspflicht entfällt. Vorstösse in diese Richtung sind in weiteren Kantonen wie Zürich oder Baselland unterwegs. Sie würden auch für etwas mehr Gender-Gerechtigkeit im Scheidungsfall sorgen.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Anzahl Scheidungen nach Ehedauer, 2018 Paare:
4003
4000
3154 3000
2387 2000
2014
1973
1525 1000
786 377
Ehejahre:
0–4
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5–9
10–14
15–19
20–24
25–29
30–34
35–39
178 40–44
101
31
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45–49
50–54
55–59
60+
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Schläfli geht vor Gericht Selbstbestimmung Surprise-Verkäufer Fabian Schläfli erbt über 100 000 Franken, als seine Mutter stirbt.
Aufgrund eines Geburtsgebrechens kann er nicht lesen und schreiben. Weshalb er erst Jahre später feststellt: Viel Geld aus der Erbschaft ist verschwunden. TEXT DIANA FREI FOTOS ROLAND SCHMID
Fabian Schläfli, Surprise-Verkäufer am Basler Bahnhof SBB, ist seit einiger Zeit auch Drehorgelmann. «Ich habe dich gesehen, als du gespielt hast», sagt Anette Metzner vom Surprise Vertriebsbüro zu ihm. Fabian winkt ab. «Ist es dir peinlich? Musst du noch üben?», fragt sie. Schläfli schweigt, man weiss nicht, wieso. Nur so viel: Er ist deswegen mit einer Bäckerei in einen Streit geraten. Weil er dort stört, wenn er spielt. Man will ihn nicht, das ist sein 8
Gefühl. Die Drehorgel hat ihn 4350 Franken gekostet, die muss er nun amortisieren. Es wäre neben dem SurpriseVerkauf ein zusätzliches Berufsfeld, nachdem er immer wieder versucht hat, eine in seinen Augen «normale» Stelle zu bekommen. Sein Traum wäre Waren aufzufüllen im Coop oder in der Migros, oder Logistiker, Möbelpacker. Der erste Arbeitsmarkt. Der würde bedeuten, dass man ihn ernst nimmt. Surprise 456/19
starb, erbte er etwas über 100 000 Franken. Damals war er noch ein Kind. Als er erwachsen wurde, stellte er fest: Der grösste Teil davon war weg. Nur etwa 35 000 Franken waren laut Anwalt übriggeblieben. Schläfli hatte jahrelang nichts davon gewusst, dass sein Vermögen stetig schrumpfte. «Es wächst mir alles über den Kopf», sagt er und hält sich an der Stehlampe neben dem Stuhl fest, obwohl er sitzt. Es geht ihm ums Geld, ja. Aber die Sache hat auch mit dem Gefühl zu tun, von anderen abhängig zu sein. Und unterdessen hat Schläfli immer stärker den Eindruck, übers Ohr gehauen worden zu sein.
Die Drehorgel hat sich Fabian Schläfli als weitere Arbeitsmöglichkeit angeschafft.
Schläfli arbeitet in einer Behindertenwerkstätte, er bekommt IV und Hilflosenentschädigung, weil er wegen einer Schädigung bei der Geburt nicht lesen und schreiben kann. Momentan hofft er, dass man die Hilflosenentschädigung heraufsetzen wird, weil er vor fünf Jahren von einem Auto angefahren wurde. Schläfli hinkt seither, das Bein schmerzt, und nach sechs Operationen kann man nichts mehr machen. Der Unfall war fremdverschuldet, die körperlichen Folgen und der Streit um finanzielle Unterstützung bleiben an ihm hängen. Die eigentliche Geschichte aber ist eine andere – und doch immer wieder dieselbe. Es geht darum, ausbaden zu müssen, was andere falsch gemacht haben. Und es geht zusätzlich um die Frage, ob das alles auch damit zu tun hat, dass Schläfli nicht lesen und schreiben kann. Er sitzt jetzt im Sitzungsraum von Surprise in Basel, hat einen ganzen Berg Akten mitgenommen und weiss auswendig, was auf welcher Seite steht. Als seine Mutter Surprise 456/19
«Das Erbe ist ja da» Seit er zweijährig war, wuchs Schläfli bei einer Pflegefamilie auf. Die Eltern hatten ihre eigene problematische Geschichte, weshalb sie gezwungen waren, Fabian fremdzuplatzieren. Er bekam einen Vormund. Trotzdem hat er mit dem leiblichen Vater bis heute immer noch guten, regelmässigen Kontakt. Seine leibliche Mutter starb 1999, er war zwölf Jahre alt. Die Erbschaft zahlte die Vormundschaft auf ein Konto ein, als der Nachlass abgewickelt wurde. Mit dem Geld beglich sie die laufenden Rechnungen, Schläfli konnte nicht darüber verfügen. Die Ergänzungsleistungen, die er bislang bezogen hatte, wurden eingestellt, weil er nun eigenes Vermögen hatte. Der Grabstein der Mutter, die Kosten für die Sonderschule und für die Pflegefamilie wurden aus der Erbschaft beglichen – was auch rechtmässig war bis zu einem Grundstock von etwa 90 000 Franken. Von da an aber hätte der Amtsvormund die Ergänzungsleistungen des Kantons Solothurn neu beantragen müssen – was aber nicht geschah. Ob die Ergänzungsleistungen tatsächlich gewährt worden wären, ist nicht sicher, aber auch nicht unwahrscheinlich. Ganz verhindert hätten sie den Vermögensabbau nicht. Das Gesetz verlangt, dass auch vom Vermögen gezehrt wird. Die Vormundschaft zehrte aber zu hundert Prozent. «Möglicherweise fand der Vormund einfach, das Erbe ist ja da, man kann weiterhin davon brauchen», sagt Schläfli heute. Schläflis damaliger Vormund hatte Einblick in die Erbschaft und hätte wissen müssen, wann wieder Anträge auf Ergänzungsleistungen fällig geworden wären. Das war denn auch Bestandteil der Klage gegen die Einwohnergemeinde Zuchwil, die auf Schläflis Wunsch hin angestrengt wurde. Sie wurde aber abgewiesen. Eine Klage gegen den Kanton Solothurn wurde ebenfalls abgewiesen. Der Fall ist kompliziert, und es fielen im Verfahren einige Sätze, die Schläfli nicht mehr aus dem Kopf gehen. Die Argumente der Gegenseite, dass Herr Schläfli selbst schuld sei, weil er nichts gemerkt habe. Er, der nicht lesen und schreiben kann. Er, der darauf vertrauen muss, dass ihm diejenigen helfen, die von Amtes wegen dafür da sind. Er erinnert sich, dass der Gemeindepräsident von Zuchwil in der Schlichtungsverhandlung missmutig bemerkte, man müsse sich hier «um den Fall eines Analphabeten» kümmern. Vielleicht war es nicht als die Beleidigung gemeint, als die Schläfli sie auffasste, aber die Bemerkung fällt ihm oft wieder ein. 9
Der Satz rührt an die Frage des Selbstwerts von einem, den man als Drehorgelmann nicht vor der Bäckerei haben will. Von einem, der ein Handicap hat und ab und zu das Gefühl, er sei allen eine Last und nie jemandem eine Hilfe. Und von einem, der täglich einen fremdverschuldeten Unfall ausbaden muss, indem er den pochenden Schmerz im Bein aushält. «Wenn ich mich ausgenutzt und verarscht fühle, denke ich oft: Was mache ich hier eigentlich überhaupt noch? Wer bin ich auf dieser Welt?», sagt Fabian. Er unterbricht sich und spricht dann in der dritten Person weiter über sich selbst: «Manchmal weiss ich gar nicht, wieso man dieser Person denn überhaupt noch eine Rente ausbezahlt.» Das Vermögen oder das Selbstwertgefühl: Ganz sicher ist nicht, was für ihn im Zentrum steht. Klar ist aber, dass beides eng miteinander verbunden und mit den Jahren weniger geworden ist. Schläfli will juristisch recht bekommen, und er will menschlich zu seinem Recht kommen. Er will, dass eine Redaktion seine Geschichte publiziert, er will, dass der Anwalt den Fall ans Bundesgericht weiterzieht. Er kann sie nicht lesen, aber er kennt seine Akten. Die juristischen Details. Er benutzt die richtigen Termini, er hakt nach. Dass er mit seinen Papieren und Rechnungen immer schon aufs Amt musste, um sich helfen zu lassen, machte auch früher alles «extrem kompliziert». Dass er aber darunter leidet, nicht lesen und schreiben zu können, das ist neu. «Ich gehe jeden Tag arbeiten, aber werde ausgenutzt. Dieses Gefühl hatte ich früher auch manchmal, aber es war nie so lähmend wie seit dem Tag, als der Bericht kam, die Ergänzungsleistungen seien jahrelang nicht bezahlt worden. Da fühlte ich mich wie der letzte Hund.» Schläfli hält sich nun nicht mehr an der Stehlampe fest, sondern greift mitten im Gespräch zum Telefon und ruft das Verwaltungsgericht an. Er will wissen, was der aktuelle Stand ist, nachdem sein Anwalt letzten Freitag Stellung genommen hat. Er will wissen, was im Kanton Solothurn nun passiert. Er will wissen, ob er eine Kopie der neusten Akten haben kann. Und wann der nächste Gerichtstermin stattfindet. Er wäre durchaus einer, der seine Unterlagen selber genau prüfen würde, wenn er denn könnte. «Ich hatte festes Vertrauen in die Gemeinde Zuchwil, die die Anträge hätte machen sollen. Aber das Vertrauen ist weg. Ich bin vorsichtiger geworden. Ich habe das Gefühl, den Entscheidungen von anderen ausgeliefert zu sein. Ich frage mich ständig: Wem kann ich noch glauben?» Schläfli kann sich artikulieren. Seine Gefühle, seine Fragen, seine Forderungen. Das Gesetz hat sich unterdessen geändert Beim Recherchegespräch bei seinem Anwalt in Solothurn will Schläfli dabei sein. Bei diesem Termin wird auch klar, dass der Fall unterdessen auf einer Ebene gelagert ist, die wenig mit persönlichem Rechtsempfinden zu tun hat – weder mit dem von Schläfli noch mit dem jedes anderen Laien. «Wir haben einen Fall, der bis ins Jahr 2006, 2005 oder 2004 zurückgeht – wir wissen nicht genau, wo die Geschichte beginnt», sagt sein Anwalt. «Zudem gab es verschiedene Wechsel, juristische wie faktische. Wir hatten anfangs eine Vormundschaft, die vom Kanton Solo10
thurn in den Kanton Baselland gewechselt hat und später in eine Verbeistandung überging. Gleichzeitig haben wir per 1. Januar 2013 ein neues Zivilgesetzbuch mit Neuerungen in Bezug auf das Erwachsenenschutzrecht bekommen. Das Regime, unter dem Herr Schläfli stand, hat also in mehrfacher Hinsicht gewechselt. Und hier liegt die Schwierigkeit des Falls begraben.» Es sind viele Jahre vergangen, und es gibt niemanden mehr, der in der jetzigen juristischen Situation eindeutig einklagbar wäre. Der Anwalt wie auch der bis vor Kurzem zuständige Beistand in Basel stehen auf Schläflis Seite und geben bereitwillig Auskunft, möchten aber nicht namentlich genannt werden – auch weil sie befürchten, dass der Fall eine Projektionsfläche für Schuldzuweisungen von Dritten bieten könnte, weil bei einer vereinfachten Darstellung leicht falsche oder einseitige Rückschlüsse gezogen werden könnten. Es ist schwer zu sagen, wer den zentralen Fehler gemacht hat. Es kam, wie es gekommen ist. Der Sauerstoffmangel bei der Geburt, der Verkehrsunfall, die «verpass-
Schläfli stand jahrelang unter Vormundschaft der Gemeinde Zuchwil. Sein Vater Bruno unterstützt ihn aber, wo er kann.
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ten» Ergänzungsleistungen. Wer ist schuld? Schläfli hatte im Kanton Solothurn verschiedene Amtsvormünder, es gab etliche Wechsel. «Ein Vormund entscheidet alles für dich», sagt Schläfli. «Man führt zwar Gespräche, aber wenn er findet, ein GA brauchst du nicht, ein Velo auch nicht, und er wisse auch nicht, wieso du alleine wohnen solltest, dann entscheidet er über deinen Kopf hinweg.» Schläfli bekam jeweils die Jahresberichte seinen Fall betreffend, aber er konnte sie nicht lesen. Weil der Vormund ihm sagte, es sei alles in Ordnung, liess Schläfli sie auch nicht von anderen prüfen. 2018 finden die Gerichtsverhandlungen statt, die Schläfli einforderte. Er hat es geschafft, sich gezielt Hilfe zu holen, um die nötigen Schritte in die Wege zu leiten. Allein: Um seine Erbschaft geht es dabei kaum. «Der eigentliche Fall wird voraussichtlich gar nicht zentral sein», prognostiziert sein Anwalt schon bald. Denn die Punkte, die zunächst geklärt werden müssen, sind rein prozessuale Fragen. So ist nicht einmal klar, ob man den Fall nach altem oder neuem Recht beurteilen muss. Im Zivil-
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«Der eigentliche Fall wird voraussichtlich gar nicht zentral sein», prognostiziert der Anwalt schon bald. FABIAN SCHL ÄFLI
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gesetzbuch stehen die Bestimmungen zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, hier gab es 2013 eine Gesetzes änderung. Das neue Recht sagt: Die Behörde ist zuständig – egal, wer was gemacht hat. Und das alte Recht sagte: Die involvierten Personen sind einklagbar. Die zuständigen Behörden bestehen in Schläflis Fall sowohl aus der Einwohnergemeinde als auch aus der sogenannten Sozialregion – einem Zusammenschluss von zwei Gemeinden, die für die Aufgaben in Zusammenhang mit der Sozialhilfe zuständig sind. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass sie als Behörden nach altem Recht gar nicht einklagbar sind. Sind in Schläflis Fall aber tatsächlich die Einzelpersonen verantwortlich, ist der Fall bereits verjährt. Da es sich aber bei Ergänzungsleistungen um eine dauerhafte Massnahme über Jahre hinweg handelt, die bis ins Heute reicht, besteht eine gewisse Chance, dass neues Recht anwendbar und die Behörde als solche doch einklagbar ist. Aber das Gericht entscheidet im Zivilverfahren: Die Behörde ist nicht einklagbar. Und nach altem Recht ist die Sache verjährt.
«Ich habe das Gefühl, den Entscheidungen von anderen ausgeliefert zu sein. Ich frage mich ständig: Wem kann ich noch glauben?» FABIAN SCHL ÄFLI
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«Er schien unter Druck zu sein» «Schläfli kam im Frühjahr 2016 mit dem Erbschaftsinventar seiner Mutter zu mir», sagt der Basler Beistand. «Er schien unter Druck zu sein, weil da eine relativ hohe Summe als Nachlass angegeben war, und er sagte: ‹Das Geld ist nicht mehr da.› Er hatte die Unterlagen erst jetzt zusammen mit seinem Vater angeschaut.» Der Beistand versucht zu beruhigen, er weiss, dass ein Vermögensverzehr nicht unmöglich ist. Schläfli wandte sich trotzdem relativ schnell von sich aus an einen Anwalt, der fand, die Sache müsste in der Tat geprüft werden. Die Beistandschaft machte daraufhin eine Grundrecherche in Schläflis Heimatgemeinde Zuchwil und kam zum Schluss, dass möglicherweise ein Ergänzungsleistungsanspruch nicht früh genug geltend gemacht wurde. Schläfli wollte schnell ein Ergebnis sehen, er wollte ein gerichtliches Verfahren. Der Beistand sagt: «Die Chancen schienen relativ schlecht, und es war klar, dass durch die Verfahrenskosten Schulden entstehen könnten. Aber da es so stark seinem Willen entsprach, die Sache zu prüfen, wäre es eine Ungerechtigkeit gewesen, es nicht zuzulassen.» Zumal das Erwachsenenschutzrecht die Selbstbestimmung betont. Schläfli meint rückblickend: «Ich hatte die Hoffnung, dass man etwas machen kann. Am Anfang sagten alle, wir probieren juristisch etwas zu erreichen, es gibt eine Chance. Und jetzt zieht sich alles ewig in die Länge. Das macht mich wütend und traurig.» Sein Anwalt sagte schon früh: «Ich sehe die Chancen auf Erfolg, da bin ich immer ehrlich, sehr gering. Aber mir scheint, das ist ein Fall, den man nicht einfach liegenlassen darf. Herrn Schläfli muss jemand helfen. Und wenn die Hilfe nur darin besteht, dass man dieses Verfahren vor Gericht bringt und ihm Gehör verschafft.» Er erinnert sich an den Moment, als der Präsident der Schlichtungsbehörde sagte, wenn das effektiv so passiert sei, dann sei das Verfehlen höchst bedenklich. «Das gibt Surprise 456/19
Herrn Schläfli natürlich das Geld nicht zurück. Aber mindestens können wir sagen: Wir sind nicht allein mit der Sicht, die wir haben.» Zwischen Schutzbedarf und Eigenständigkeit Schläfli will die Dinge jetzt in die eigene Hand nehmen. «Ich brauche keine Leute mehr, die mir helfen, wenn sie es sowieso nur falsch machen. Da kann ich das ganze Zeug genauso gut selber erledigen», sagt er. Das ist sein Fazit aus der Geschichte. Er hat es Anfang Jahr geschafft, sich aus der Beistandschaft zu lösen, indem er sich durch einen Antrag an die KESB gerichtliches Gehör verschaffte. Der ehemalige Beistand hatte sich zwar gegen die Aufhebung der Beistandschaft ausgesprochen: «Ich kann nicht komplett dahinterstehen», sagt er. «Einige Faktoren zeigen, dass er im Rahmen seines Schwächezustandes – wie man das juristisch nennt – einen Schutzbedarf hat.» Trotzdem ist Schläfli nun grundsätzlich selbständig. Aber die Institutionen, die ihn ambulant unterstützen, sind verpflichtet, eine Gefährdungsmeldung an die KESB zu machen, wenn sie merken, dass die Situation schwierig wird. «Schläflis Anspruch, immer selbständiger zu werden und sich von sämtlichen Hilfeleistungen
abzukoppeln, ist für mich in der Theorie verständlich, und ich kann es persönlich nachvollziehen», sagt der Beistand. «Auf der anderen Seite können wir seine Behinderung leider nicht komplett wegdiskutieren.» Schläfli organisiert sich mit Unterstützung einer privaten Organisation jetzt allein. Er muss sein Geld selbst einteilen und dabei den Überblick über die komplexe Situation mit Ergänzungsleistungen und Rückerstattungen der Krankenversicherung behalten. Er muss seine Zahlungen, amtlichen und juristischen Angelegenheiten im Griff haben. Eine Herausforderung für einen, der die Leistungsabrechnungen und Erstattungsverfügungen nicht selbst lesen kann. «Ich weiss, was auf mich zukommt», sagt Schläfli. «Vielleicht werde ich Stress haben. Aber ich muss keine Angst mehr haben, dass die Sachen falsch erledigt werden.» Jahrelang hatte er nicht einmal Abstimmungsunterlagen bekommen. Das änderte sich, als die Vormundschaft in eine Beistandschaft umgewandelt wurde. Schritte wie dieser sind ihm wichtig. Es bedeutet, dass er ein eigenverantwortlicher Mensch geworden ist. Der Gerichtsfall ist unterdessen geschlossen. Schläfli hat ihn verloren.
Fabian Schläfli geht seinen Weg. Begonnen hat alles in Zuchwil.
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FOTO: JEAN-CLAUDE BLANC
Humbug in Basel Stadtentwicklung Basel soll wachsen: im armen Norden auf ehemaligen
Industriearealen. Das schürt Verdrängungsängste im Nachbarquartier. TEXT BENJAMIN VON WYL
Künstlerin Big Zis im Humbug, das mehr sein soll als eine verrauchte Konzerthalle. 14
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Nach sieben Jahren Stillstand wird wieder gearbeitet. Und zwar unter Zeitdruck. Noch immer gibt es viel zu tun in der Halle. Was konkret ansteht, ist mit Kreide auf eine Schultafel geschrieben: Kabel müssen verlegt, Wände gestrichen, Türen eingebaut werden. Die Handwerker lieben ihren Arbeitsplatz: die Fensterfront, den Kran, die übergrossen Lüftungen, den Holzboden mit den unzähligen Ritzen. Viele von ihnen arbeiten gratis. Erst seit ein paar Wochen können sie sich frei bewegen. Bei den ersten Besuchen bekam das Kernteam, eine Handvoll Leute im Spannungsfeld zwischen Kulturaktivismus und -unternehmertum, noch einen Aufpasser zur Seite gestellt. Nun trennt ein Zaun drei Gebäude vom restlichen Werkareal der BASF. Seither darf man auf dem Areal rauchen und trinken. Beides ist entscheidend für das Geplante. Eine Bartheke und erste Scheinwerfer deuten bereits darauf hin. Doch noch tönt Classic Funk aus den Boxen eines Macbooks, noch ist undenkbar, dass hier in
zweieinhalb Wochen 300 Menschen tanzen sollen. Dass das Humbug dann ein mittelgrosses Konzertlokal ist, befristet auf vorerst fünf Jahre. Sieben Jahre stand das Werkareal der BASF leer, eine der Öffentlichkeit unzugängliche No-go-Area nach Jahrzehnten als Kunststoffwerkstatt der chemischen Industrie, zuletzt der BASF. «Kunststoff – CIBA – Rohrbau» und eine längst nicht mehr gültige Telefonnummer stehen auf Schildern in der Halle. Das wurde in den Fusions- und Übernahmewirren der 1990er- und 2000er-Jahre nicht mehr angepasst. Noch immer schirmt eine von Stacheldraht gekrönte Mauer das Gebiet ab. Aber das Tor zum Klybeck, dem Quartier, das in den letzten hundert Jahren um die Industrieareale gewachsen ist, steht jetzt offen. Platz für Vielfalt Mittagspause im Restaurant Platanenhof, auf der anderen Seite der Mauer. Etwa fünfzehn Leute, Junge und Alte, sitzen an einer
Sieben Jahre stand das BASF-Areal leer. 16
langen Tafel: Handwerker von der Baustelle, Nachbarn aus der Genossenschaft. Alle packen sich reichlich Salat, Fleischkäse und Ofenkartoffeln auf ihre Teller. Die Wirtin Charlotte Wirthlin hat gekocht und sitzt mit am Tisch. Sie schätzt die geselligen Handwerkermittagessen, es erinnert sie an früher. Ohnehin ist die Baustelle auch ihr Projekt. Sie gehört zum vierköpfigen Projektleitungsteam des Humbug, wirkt sowohl im Programm als auch im Gastronomischen mit. Vor dem Humbug hat das Team noch nie zusammengearbeitet, alle bringen sie ihre eigenen Erfahrungen mit – ihre Netzwerke, technischen Kenntnisse oder eine Vorliebe für jene Subkultur, die in verrauchten Kellern oder besetzten Häusern stattfindet. Das Humbug hingegen ist eine Halle, und die will gefüllt werden. Sie muss mehr Leute ansprechen als ein verrauchter Konzertkeller. Darin ist sich das Kernteam, zu dem auch Wirthlin gehört, einig. Hier sollen möglichst viele verschiedene Menschen einen Platz haben, so die Selbstdefinition, hinter die sich das Team stellt. Auch die Zukunft hält es sich offen: Man beginne jetzt. Wohin es sich entwickelt, was man weiterführt, was dazukommt, wird sich zeigen. Dafür gibt es ein Vorbild für das Selbstverständnis und den Umgang im Team: das selbstverwaltete Traditionslokal Hirscheneck. Wie das «Hirschi» will das Humbug so wenig Hierarchie wie möglich haben und nur so kommerziell sein wie nötig. Gäste, denen das Geld für ein Konzert fehlt, will man nicht abweisen. Eine Stange Bier kostet fünf Franken. Tiefer gehe nicht, wenn man faire Löhne zahlen wolle. Aber jetzt, auf der Baustelle, arbeiten fast alle ehrenamtlich: Velokuriere, Studentinnen, Zirkusmitarbeiter, Eventtechniker oder gelernte Handwerker – etwa die Hälfte von ihnen lebt im benachbarten Quartier. Um die sechzig Freiwillige geben insgesamt 3200 Stunden ihrer Freizeit her. Höchste Sozialhilfequote Draussen spielen Kinder innerhalb der Arealmauer, die nun für alle passierbar ist. Auf der anderen Seite der Mauer liegt das bunteste und ärmste Quartier Basels. Knapp vierzehn Prozent der 7200 Bewohnerinnen beziehen Sozialhilfe, die höchste Quote der Stadt. Während die Einwohner des reichen Bruderholz-Quartiers im Schnitt 18 000 Franken Vermögenssteuer abdrücken, sind es im Klybeck weniger als Surprise 456/19
FOTOS: FLAVIA SCHAUB
«Vielleicht gibt es hier mehr Menschen, die Probleme haben, aber ich spüre einen enormen Zusammenhalt.» CHARLOT TE WIRTHLIN
200 Franken. Wenn nun im Klybeck gebaut wird, werden die Mieten steigen – und dass hier gebaut wird, ist klar. Das Quartier steht im Fokus der Stadtentwicklung, spätestens seit bekannt wurde, dass die Industrie ihre Standorte hier ganz aufgibt. Wenn auf den Arealen von BASF und Novartis eine Fläche von 300 000 Quadratmeter frei wird und die Mauern verschwinden, soll hier «ein neuer lebendiger Stadtteil» entstehen, schwärmt der Richtplan. Die Stadt Basel wächst, und das ist durchaus gewollt: Die Regierung plant, bis 2035 Wohnraum für zehntausende Menschen zu schaffen. Ein Gutteil davon soll hierherziehen. Eine neue Tramlinie ist geplant, auch die Haltestelle einer S-Bahn, die es noch gar nicht gibt. Ein Sechstel des Areals soll ans Gewerbe gehen, konkret steht die Idee für ein Life- Science-Zentrum im Raum. Bereits im Herbst 2016 wurde die Quartierbevölkerung nach ihrer Meinung gefragt. Denn dieses Mal will man es richSurprise 456/19
tigmachen, nicht wie bei früheren Arealentwicklungen. «Keine zweite Erlenmatt» und «kein Erlenmatt-West-Geklotze» schrieben Teilnehmerinnen der allerersten Infoveranstaltung im Klybeck auf Post-its. Auf dem Gebiet des ehemaligen Güterbahnhofs der Deutschen Bahn, neben der Autobahn, ist seit 2011 ein neues Quartier entstanden. Vielen Baslerinnen gilt die Erlenmatt als tote Schlafstadt. Die Autobahn stört es nicht, wenn nebenan überdurchschnittlich viele Expats einziehen. Im Klybeck ist das anders: Das Areal grenzt auf beiden Seiten an bestehende Quartiere. «Die Identität der umliegenden bestehenden Quartiere soll mit der Arealentwicklung Klybeck» erhalten bleiben, heisst es im Richtplan. Aber das Versprechen ändert nichts daran, dass Verdrängungsängste real werden könnten. Manche Eigentümer wetten schon jetzt auf die Zukunft: Fünfzig Mieterinnen in einer nahen Seitenstrasse erhielten bereits letztes Jahr die Kündigung. Totalsanierung
durch die neuen Eigentümer, eine Immobilienfirma, die laut ihrer Homepage in «Schweiz – Österreich – Osteuropa» aktiv ist. Auch eine Genossenschaft hat um die Häuser mitgeboten. Deren Kaufangebot, knapp sieben Millionen Franken, war den Vorbesitzern zu niedrig. Weil es sonst jemand anders macht Dem Humbug-Team ist klar, dass auch ihr Konzertlokal das Quartier hipper macht und sie Teil dieser Prozesse sind. Sie haben sich trotzdem für das Humbug entschieden – weil es sonst jemand anders machen würde. Sie wollen einen Platz schaffen, wo sich Leute begegnen, die sich sonst nicht begegnen würden. Jemand anders würde vielleicht bloss an den Umsatz denken. An Umsatz muss aber auch das Humbug-Team denken: Das Humbug ist eine kommerzielle Zwischennutzung. Manche Eigentümer setzen auf Zwischennutzungen, um Besetzungen zu verhindern. Andere erhoffen sich eine Wertsteigerung des Bodens. Als die 17
Organisieren Zwischennutzungen: Pascal Biedermann und Christoph Peter von «unterdessen».
Zwischennutzung vergeben wurde, war die Eigentümerin einer der grössten Chemiekonzerne der Welt: die BASF. Treiben hier gutmeinende Zwischennutzer die Gentrifizierung an und ein Weltkonzern profitiert? Die Platanenhof-Wirtin Charlotte Wirthlin sitzt wieder an der langen Tafel im geschlossenen Restaurant. An diesen Tagen ist sie viel beschäftigt, aber sobald sie zu erzählen beginnt, strahlt sie Gemütlichkeit aus. Die Sechzigjährige ist vor 27 Jahren hierhergezogen, fast ebenso lange führt sie den Platanenhof. Sie hatte nie vor, so lange im Klybeck zu bleiben, aber sie hat das Quartier lieben gelernt. «Es ist ein bisschen dörflich – wenn etwas ist, muss man nicht weit rennen», sagt sie. Vielleicht gebe es hier mehr Menschen, die Probleme haben als anderswo, aber sie spüre auch einen enormen Zusammenhalt. Bald ist sie dreissig Jahre am selben Ort. Anfangs habe sie noch morgens um neun Uhr geöffnet, pünktlich fürs Handwerkerznüni. Viele Stammgäste arbeiteten bei der Chemie. Aber die Indus18
trie zieht sich zurück, ist schon fast weg. Der Platanenhof bleibt. Pop-up-Konzepte, bei denen man sich dauernd neu erfinden muss, sind überhaupt nicht ihr Ding. «Das ist das Gegenteil von dem, was ich mache», sagt Wirthlin. Das Humbug könne man aber nicht mit einem Pop-up-Restaurant vergleichen. Fünf Jahre seien immerhin eine gewisse Dauer. Auf dem Areal sei schon jetzt eine Art Dorfplatz entstanden, sagt Wirthlin und schwärmt von den spielenden Kindern, den Vereinen, den Kreativen und Künstlerinnen. «Es ist ein gutes Gewürfel.» «Wir sind neidisch» 29. März, Eröffnungsabend des Humbug. Es spielen Big Zis, Puts Marie und die Freiburger Band Malaka Hostel. Viele Leute sind gekommen, manche haben Dosenbier mitgebracht. Einige sparen sich den Konzert eintritt und verbringen eine feuchtfröhliche Nacht auf dem neuen Dorfplatz. Wie die pensionierten Chemiearbeiter wollen sie das Areal erleben. «Es ist schon krass, mein
ganzes Leben lang war das zugesperrt», sagt ein Dreissigjähriger und betrachtet die ruhenden Hallen. Das Humbug ist gut isoliert, Musik dringt keine nach draussen. Drinnen begrüsst der Frontmann von Malaka Hostel, nach den ersten Liedern bereits verschwitzt: «In Freiburg haben wir so was nicht. Es ist die perfekte Grösse! Wir sind neidisch.» Grünes Licht, rotes Licht, den Hallenkran kann man im Halbdunkel nur noch erahnen. Tanzende Menschen, lange Wartezeiten an der Bar, der Andrang ist gross. Dem Humbug gehören die Nächte, jeweils von Donnerstag bis Samstag. Aber es ist nur eine von vielen Zwischennutzungen auf dem Areal: Vereine wie «Migranten helfen Migranten» und Kreativbetriebe haben Büros, Künstler Ateliers bezogen. Vermittelt hat das die darauf spezialisierte Organisation «unterdessen». Auch in deren Konzeptpapier ist vom Dorfplatz die Rede. Eine Oase und ein Begegnungsort soll er sein. «Unterdessen»-Mitgründer Pascal Biedermann und Projektleiter Christoph Peter empfangen in ihrem temporären Büro gegenüber vom Humbug. Peter erzählt von einem ungewohnt grossen Interesse an der Zwischennutzung auf dem BASF-Areal und von «offensichtlich nicht an einem Atelier interessierten» Teilnehmenden an der ersten Besichtigungstour: pensionierte Chemiearbeiter, die die Gelegenheit nutzen wollten, das Areal nach Jahrzehnten wiederzusehen. «Unterdessen» vertrete einen pragmatischen Idealismus, erklärt Biedermann. Man wolle nicht Räume füllen, damit sie gefüllt sind, sondern herausfinden, was die Quartierbevölkerung bewegt. «Es gibt Zwischennutzungsunternehmen, denen das alles egal ist – und von denen grenzen wir uns klar ab.» Aber trotzdem treiben Zwischennutzungen die Gentrifizierung an – oder? «Ja, das ist so», sagt Biedermann. «Wenn ein Eigentümer eine tolle Zwischennutzung hat, hofft er auf eine Wertsteigerung des Bodens und der Umgebung. Auch hier im Klybeck bin ich der Überzeugung, dass unsere Zwischennutzung einen Gentrifizierungseffekt haben kann.» Man dürfe das aber nicht überschätzen. «Logisch haben wir hier einen Effekt. Alles, was die Situation verbessert, ist eine Aufwertung. Aber ist das ein Grund, keine Zwischennutzungen zu machen?» Über Jahrzehnte war das Areal unzugänglich. Wäre es besser, die Halle wäre, statt sieben, zwölf oder mehr Jahre leer geSurprise 456/19
FOTOS: FLAVIA SCHAUB
standen? Niemand würde diese Frage bejahen. «In der Zwischennutzung können sich Bedürfnisse aus dem Quartier schon heute zeigen. Bestenfalls kann man das in die Zukunft tragen. Das ist für mich der wichtige Punkt», sagt Biedermann. Die eigentliche Frage ist also, ob und wie der Kanton diese Bedürfnisse aufnimmt. «Wir spüren, dass sich gerade vieles auf diese Zwischennutzung projiziert, aber eigentlich ist wichtiger, was hier langfristig passiert», sagt Christoph Peter. «S-Bahn, Tramlinie, ein komplett neues Quartier, die entscheidende Frage ist: Wem gehört der Boden? Ich wäre dafür, dass die Stadt der BASF das ganze Areal abkauft.» Kaufen um jeden Preis? Es ist Sommer, die Stadt hat das Areal nicht gekauft. Viel ist passiert. Die BASF und die Novartis wollten schon lange verkaufen. In der Antwort auf die parlamentarische Anfrage eines SP-Grossrats von Anfang 2019 steht: «Der Regierungsrat ist der Ansicht, dass die Strategie ‹Kaufen um jeden Preis› nicht verfolgt werden sollte.» Der Kanton müsse nicht Landeigentümer sein, um seine Interessen einzubringen. Für einen Sechstel des Areals hat sich der Kanton ein Vorkaufsrecht gesichert. Diese 50 000 Quadratmeter wolle man auch erwerben, teilte eine Sprecherin des Kantons noch im April mit. Novartis verkauft seine 160 000 Quadratmeter an die Central Real Estate Basel AG, eine Immobilienfirma, ausgestattet mit Investorengeldern unter anderem von der Zuger Pensionskasse und der Baloise-Versicherungen. 425 Millionen Franken hat die Central Real Estate gemäss der Zeitung bz Basel bezahlt. Das erfuhr die Öffentlichkeit Ende Mai. Der Kanton Basel-Stadt hatte noch nicht mal ein Angebot gemacht. Anfang Juli war dann klar: Basel-Stadt geht leer aus, warum auch immer. Vorkaufsrecht hin oder her. Die Areale von BASF kauft Swisslife. Die Zwischennutzungen haben die Tore des Betriebsareals geöffnet. Der Stacheldraht und die Mauer stören – und doch ist nun öffentlicher Raum, was jahrzehntelang unzugänglich war. Die Zwischennutzungen sind auch das, was von den Beteiligungsveranstaltungen bereits spürbar ist. Den etwa hundert Quartierbewohnern, die gekommen sind, waren sie ein Anliegen. Auf zig Post-its forderten sie: Es braucht Vereinsräume, neue Begegnungs- und Kultur orte oder Zwischennutzungen, die zu DauSurprise 456/19
ernutzungen werden können. Nur etwas wurde noch häufiger genannt: genossenschaftliche und bezahlbare Wohnungen. Aus diesen Beteiligungsveranstaltungen ist auch der Verein Zukunft Klybeck hervorgegangen. Er betreibt «Stadtentwicklung von unten» und will nicht dem Goodwill der Investoren vertrauen. Für die Volksinitiative «Basel baut Zukunft« hat er sich mit Einzelpersonen aus SP, Grüne und BastA! zusammengetan. Ihre Initiative will fünfzig Prozent gemeinnützige Bewirtschaftung in die Verfassung schreiben und die Areale sollen CO²-Neutralität erreichen – nicht nur jene im Klybeck, sondern alle künftigen Arealentwicklungen. Die Unterschriftensammlung beginnt im August. Die entscheidende Frage ist, wem der Boden gehört, hat Christoph Peter gesagt. Die Ini tiative will die andere entscheidende Frage beantworten: Was passiert hier langfristig? Das Humbug lockt ein junges und alternatives Publikum aus der ganzen Stadt an und mit ihm auch jene, die wohlhaben-
der sind und sich gerne jung und alternativ fühlen. Aber ziehen sie deswegen gleich hierher? Das Humbug-Publikum ist ein Klacks gegen das Versprechen auf die Zukunft – Wohn- und Arbeitsraum für Zehntausende, eine S-Bahn-Station, das Wachstumszentrum von Basel-Stadt –, das bereits im Richtplan enthalten war. Durch den Verkauf an Swisslife und die Central Real Estate ist dieses Wachstumsversprechen wohl noch grösser geworden. Im Kontrast zu den Zukunftsszenarien erscheinen die Zwischennutzungen wie Bullerbü, wie Garanten der Beständigkeit. Und vielleicht werden ja nicht alle ein Ablaufdatum haben: Wird aus manchen Zwischennutzungen gar eine Dauernutzung, wie es die Quartierbewohnerinnen einst an den Beteiligungsveranstaltungen gewünscht haben? Der Vertrag des Humbug dauert fünf Jahre. Weiter darf und kann das Team nicht denken. «Aber schön wäre es schon», sagt Charlotte Wirthlin, die Popup-Konzepte eben nicht mag.
Treiben hier Zwischennutzende die Gentrifizierung an und ein Weltkonzern profitiert?
Fünfzig Prozent gemeinnützige Bewirtschaftung wünscht sich eine Initiative. 19
Eine Stunde Arabisch, eine Stunde Englisch und viel Bewegung: Unterricht fĂźr Strassenkinder am Sit-in. 20
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Grenzen der Freiheit Sudan In einem riesigen Protestcamp im Herzen der Hauptstadt Khartum schufen
Aktivistinnen und Aktivisten auch Angebote für Strassenkinder. Nach dem blutigen Ende des Sit-ins versuchen sie, sich weiter um die Kinder zu kümmern. TEXT ARMIN KÖHLI FOTOS MUHAMMAD SALAH
SUDAN
Eigentlich war nur eine weitere grosse Demonstration geplant, an diesem 6. April 2019. Schon seit Ende Dezember waren die Menschen im Sudan auf die Strasse gegangen, immer mehr, immer öfter. Sie forderten Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit – und damit in der Konsequenz nichts weniger als den Sturz der Militärdiktatur, die das Land seit dreissig Jahren beherrschte. Als am 6. April in der Hauptstadt Khartum also erneut Zehntausende demonstrierten, griffen Spezialeinheiten des Geheimdienstes und der Armee die Demo mit Tränengas und Schusswaffen an. Doch die Menschen harrten aus, schützten sich mit Barrikaden und verteidigten sich auch mit Steinen. Bis zum 11. April dauerten diese Auseinandersetzungen. Danach musste sich das Regime vorerst geschlagen geben, denn die Menschen liessen sich nicht vertreiben. So entstand im Herzen Khartums, direkt vor dem Verteidigungsministerium und dem Hauptquartier der Polizei, ein riesiges Protestcamp. Tag und Nacht hielten Demonstrierende von nun an das Gelände besetzt. An diesem Sit-in protestieren alle, die unter der Diktatur gelitten haben. Aus dem ganzen Land sind sie gekommen, aus dem Grossraum Khartum, aus den Provinzen, selbst aus den entlegenen Gebieten, in denen Krieg und Bürgerkrieg herrschen. Die ganze Vielfalt des Sudans versammelt sich hier, Teppich an Teppich, Zelt an Zelt. Überall hängen Transparente und Fahnen. Auf kleinen Bühnen werden Musik, Tanz und politische Reden geboten. Die Menschen bleiben stehen und schauen zu, klatschen mit, rufen Parolen, applaudieren. Ärztinnen und Ärzte haben kleine Kliniken eingerichtet. Gekocht wird in Gemeinschaftsküchen, in der «Küche der Revolutionäre» und der «Küche der guSurprise 456/19
ten Leute». Fast alle Gruppen haben ihr Zelt beschriftet: die Gewerkschaft der Designer etwa, die Feministinnen und auch die Sportler für die Revolution haben ihr eigenes Zelt. Freie und geschützte Zone Und dann gibt es die Zelte für die Kinder. Natürlich habe das Sit-in auch die Strassenkinder von ganz Khartum angezogen, erzählt der Aktivist Muzafer Abdalrahman. Denn das Sit-in bietet eine freie und geschützte Zone, mit tausenden Menschen, die herzlich und fröhlich füreinander sorgen. Niemand soll hier vergessen gehen, und genügend Essen und Getränke gibt es auch. Bald entstehen am Sit-in deshalb kleine Projekte, die sich um die Strassenkinder kümmern. Die Initiative «Wir sind für sie da – Kinder des Sit-ins» etwa beherbergt Waisenkinder und Obdachlose, aber auch Kinder aus verarmten Familien. Insgesamt 64 Kinder leben Mitte Mai in diesem Zelt. «Wir wollen diesen Kindern auch helfen, sich zu entwickeln», sagt Abdalrahman. Der 30-jährige Elektroingenieur Abdalrahman war von Anfang an bei den Protesten dabei. Nach dem Studium war er zur Weiterbildung ins Ausland gegangen. Doch zurück im Sudan fand er dennoch nur schlecht bezahlte Jobs, «nicht genug zum Leben», wie er sagt. Seit dem 8. April ist er ununterbrochen am Sit-in aktiv, hier kümmert er sich um Licht und Strom. Er könne dies dank der Unterstützung seiner Familie durchhalten, sagt er, und: «So geht es fast allen hier.» Abdalrahmans Vater ist Anwalt und erhält einen respektablen Lohn. Seine Mutter arbeitete bis 2013 bei der Uno. Sein Bruder ist ebenfalls Ingenieur, eine Schwester Pharmazeutin, die zweite Schwester unterrichtet am 21
In Khartum protestierte vor allem die gebildete Mittelschicht.
Muzafer Abdalrahman möchte anderen zu Bildung verhelfen.
British Institute. Alle haben einen Uni-Abschluss. «Am Sit-in möchten wir unsere Erfahrungen an weniger Gebildete weitergeben», sagt er. «Deswegen organisieren wir nun Kurse für Kinder und Erwachsene.» Während in anderen Städten vor allem Arbeiter und Arbeiterinnen die ersten Proteste, Streiks und Demonstrationen organisierten, waren es in Khartum hauptsächlich die unabhängigen Berufsverbände von Ärzten, Journalistinnen, Ingenieurinnen, Anwälten und Lehrerinnen. Sofort beteiligten sich auch Studenten und Uni-Dozentinnen am Aufstand. Das Regime schloss die Universitäten deshalb schon unmittelbar nach Beginn der Demonstrationen. Doch die an das Sit-in angrenzenden Fakultäten öffneten ihre Türen für die Proteste trotzdem und machten ihre Hörsäle und Toiletten zugänglich. Himmel und Hölle Auch die 23-jährige Islam Dafallah hat an der Uni studiert, und zwar Technik. Seither arbeitet sie als Betreuerin in einer Privatschule. Am Sit-in engagiert sie sich als Freiwillige bei einer Initiative für Strassenkinder mit dem Slogan «Die Kinder der Revolution brauchen Zuwendung». In ihrem Zelt leben nun etwa fünfzehn Jungen und zehn Mädchen. «Die Jungen sind selber ans Sit-in gekommen», erzählt sie, «die Mädchen haben wir von den einschlägigen Plätzen im Stadtzentrum hierhergeholt.» Sie betreut und unterrichtet die Kinder. «Wir beginnen um acht Uhr mit Kaffee, dann gibt es Frühstück, dann folgt der Unterricht. Als Erstes lesen wir aus dem Koran, danach machen wir Sport: Die 22
Jungen spielen hier vor dem Zelt Fussball, die Mädchen spielen ‹Himmel und Hölle› oder hüpfen einfach.» Danach gebe es je eine Stunde Arabisch und Englisch, und den ganzen Tag immer wieder Bewegung und Sport. Dafallah engagiert sich seit Mitte April am Sit-in. Zuerst half sie in der zentralen Küche und unterstützte auch die Elektriker. «Dann hörte ich von dieser Initiative», sagt sie, «und seither arbeite ich hier mit. Zuerst ging ich jeden Tag wieder nach Hause, aber seit Anfang Mai bin ich die ganze Zeit hier.» Ausser ihr helfen weitere zehn Männer und vier Frauen bei dieser Initiative. «Wir haben uns bei der zentralen Küche registrieren lassen und erhalten nun Essen und Getränke für uns und die Kinder.» Gefragt, warum sie sich überhaupt den Protesten angeschlossen habe, antwortet Dafallah: «Weil es dem Land so schlecht geht, in jeder Hinsicht. Ich musste ins Spital, aber sie haben mich abgewiesen, weil ich nicht genug Geld hatte. Selbst mit einer Versicherung hätte es nicht für die nötige Behandlung gereicht.» Dazu komme die allgegenwärtige Korruption und Willkür. Ihr Vater habe in einem Materiallager der Polizei gearbeitet, doch plötzlich sei er des Diebstahls beschuldigt und verhaftet worden. Nach drei Monaten Gefängnis sei er arbeitslos geworden. Und sie fügt an: «Unter Freiheit verstehe ich, dass du freiheraus sagen kannst, was immer du sagen willst. Und das Gefühl von Action – dass ich tun und etwas unternehmen kann, ohne dass sich jemand einmischt oder mich daran hindert.» Die Projekte für die Strassenkinder am Sit-in werden durch Spenden finanziert. Dafallah sagt, sie wolle ihre Initiative mithilfe Surprise 456/19
eines Anwaltes offiziell registrieren lassen. Und wenn das Sit-in einmal vorbei sei, beabsichtigten sie, ein Haus in Khartums Schwesterstadt Omdurman zu mieten. «Sabrin» (geduldig, standhaft) soll dieses Zentrum für Strassenkinder heissen. «Ich werde dann zurück zur Arbeit an der Schule gehen, aber die Initiative als Freiwillige weiter unterstützen. Und vielleicht haben sie ja eines Tages genug Geld, um mich anzustellen.» Am Rand des Protestgeländes in Khartum steht eine Parole an der Wand gemalt, die leicht ironisch verheisst: «Hier ist die äusserste Grenze der Freiheit.» Tatsächlich dauerte diese Freiheit genau bis zum 3. Juni. An diesem Tag greifen Sondereinheiten des Militärs das Sit-in mit Schusswaffen an. Sie brennen die Zelte und Stände nieder und räumen das Gelände. 128 Tote hat das Zentralkomitee der sudanesischen Ärzte seither dokumentiert. Dutzende Leichen werden von den Milizionären einfach in den Nil geworfen. Von den Kindern schafften es viele zu flüchten. Aktivistinnen und Aktivisten können etwa fünfzehn Kinder aus den brennenden Zelten retten und in ein Spital bringen. In der Folge gelingt es der Opposition, mit einer Kampagne des zivilen Ungehorsams das Land drei Tage lang stillzulegen. Die Proteste werden weitergeführt mit Informationsständen, Quartiertreffen, Versammlungen in Dörfern und Städten, landesweiten abendlichen Demonstrationen, Predigten in den Moscheen. Am 5. Juli einigen sich das Militär und die Opposition schliesslich auf den Übergang zu einer zivilen Regierung im Sudan. Wenn dieses Abkommen hält, kann in Omdurman vielleicht auch das Zentrum «Sabrin» entstehen.
«Unter Freiheit verstehe ich, dass du freiheraus sagen kannst, was immer du sagen willst.» ISL AM DAFALL AH, AK TIVISTIN
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Sie wissen, was passiert Festival Am Zürcher Theaterspektakel liefern zwei Stücke mit jugendliche Protagonistinnen
und Darstellern Erklärungsansätze, warum sich die junge Generation Protestbewegungen wie #metoo oder dem Klimastreik anschliesst.
Eine nackte Sexpuppe liegt auf der Bühne. Bald gesellen sich neun Mädchen im Teenageralter, eine von ihnen mit einer Babypuppe im Arm, zu ihr und das Publikum erfährt, was es bedeutet, in einem Land wie Chile weiblich zu sein. Es folgt eine erschütternde Aufzählung: Wie viele von ihnen schon Zeuginnen geworden sind, als der Vater die Mutter bespuckt hat. Wie viele von ihnen als Huren beschimpft oder auf der Strasse belästigt worden sind. Oder wie viele von ihnen bereits eine illegale Abtreibung hinter sich haben. Das Stück «Paisajes para no colorear» (dt. nicht auszumalende Landschaften) der chilenischen Theatergruppe La Re-Sentida basiert auf Interviews mit über hundert Mädchen und Frauen über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt. Daraus wählten die Macherinnen reale Fälle aus, die durch die jugendlichen Darstellerinnen eine kraftvolle Stimme erhalten. Im Spannungsfeld zwischen dem aufblasbaren Erwachsenenspielzeug und der so unschuldig wirkenden Säuglingspuppe wird klar, dass die chilenische Gesellschaft jungen Frauen offenbar zwischen Hure und Heiliger kaum andere Entfaltungsmöglichkeiten bietet, ausser sich in ein Leben als willenlose Puppe zu fügen. Mit diesem mutigen Stück mischt sich in die Gleichstellungsdebatte die Perspektive minderjähriger Mädchen, die unter eingeschränkten Bildungschancen oder restriktiven Abtreibungsgesetzen besonders stark leiden. «Kinder und Jugendliche sind nicht oft auf der Bühne zu sehen. In einem Stück wie ‹Paisajes par no colorear› trifft die Erkenntnis, wie gut schon ganz junge Menschen über ernste Themen Bescheid wissen, viele Erwachsene wie ein Schock», sagt Maria Rössler, seit zwei Jahren Mitglied der Programmgruppe des Theaterspektakels. «Kinder möchte man so lange wie möglich vor allem Schlechten schützen. Hier nun zu sehen, mit wie viel Klarsicht und Scharfsinn Jugendliche die Widersprüche auf der Welt unverblümt benennen, kann heilsam sein und bewirken, dass man der Weltsicht von Minderjährigen in Zukunft mehr Gehör schenkt.» Protestbewegungen gegen ungerechte Systeme Etwas zu sagen haben auch die Kinder und Jugendlichen, die im australischen Stück «We all know what’s happening» die Geschichte der Insel Nauru erzählen, wo die australische Regierung Flüchtlingslager finanziert, um die wachsenden Migrationsströme auf Abstand zu halten. In der auf den ersten Blick niedlichen Verpackung eines Schultheaters geht es bald ans Eingemachte. Die sieben 24
FOTO: NICOLÁS CALDERÓN
TEXT MONIKA BETTSCHEN
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jungen Protagonistinnen und Protagonisten aus Melbourne spielen unter der Leitung der Theatermacherinnen Samara Hersch und Lara Thoms Gleichaltrige, die auf der pazifischen Insel festsitzen und von einem besseren Leben träumen. «Zugleich ist das Stück ein im Zeitraffer erzählter Streifzug durch die Kolonialgeschichte und berichtet am Beispiel von Nauru vom Raubbau an der Natur», sagt Maria Rössler. «Sowohl das chilenische als auch das australische Projekt lassen erkennen, warum sich Kinder und Jugendliche, die selbst noch keine politische Stimme haben, Protestbewegungen gegen ungerechte Systeme anschliessen.» Dass das Zürcher Theaterspektakel, das selber während den Jugendunruhen in den Achtzigerjahren entstanden ist, zu seinem 40-jährigen Bestehen der Jugend einen so grossen Platz im Programm gibt, widerspiegelt den aktuellen Zeitgeist. «Kennzeichnend für unsere Zeit ist Surprise 456/19
Die Schweiz schreibt Baobab Books klopfen den deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchmarkt auf kulturelle Stereotypen ab.
eine politische Jugend, die ihre Zukunft in die eigene Hand nehmen will und ihre Standpunkte aktiv vertritt: an Stras senprotesten, in ihren Familien und auch in der Kultur», sagt Maria Rössler. «Das Theaterspektakel springt damit nicht auf Trends auf, sondern reflektiert das Weltgeschehen. Wir möchten über alle Gesellschafts- und Generationengrenzen hinweg mit hochkarätiger Bühnenkunst aus aller Welt Denkprozesse in Gang setzen.» Entsprechend will das Zürcher Theaterspektakel ein Festival für alle sein. So können Festivalgäste zum Beispiel mit dem Kauf eines Soli-Tickets auch armutsbetroffenen Menschen den Eintritt in eine Aufführung ermöglichen.
Baobab Books hat ein interkulturelles Verlagsprogramm, leistet Vermittlungsarbeit in Schulen oder Bibliotheken und gibt jedes Jahr eine Liste mit Leseempfehlungen für den deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuchmarkt heraus: den Kolibri. Die Kriterien dafür sind auch unter literaturwissenschaftlichem Gesichtspunkt interessant: «Welche Rolle nehmen Vertreterinnen und Vertreter von Minderheiten ein?» und «Wie und warum werden brutale Situationen geschildert?» Oder: «Wer hat das Recht, sich selbst darzustellen? Wer wird von anderen dargestellt?» Nur etwa ein Drittel der Publikationen landen auf der Kolibri-Empfehlungsliste. «Es ist bemerkenswert, wie häufig stereotype Darstellungen auch heute noch sind», sagt Sonja Matheson, Geschäftsführerin von Baobab Books. «In den letzten Jahren ist eine Flut von Fluchtgeschichten erschienen, aber selten sind sie von Geflüchteten selbst geschrieben. Sehr präsent sind gut gemeinte Bücher, die europäische Autoren aus einer emotionalen Betroffenheit schreiben und nicht selten einen Mitleids-Effekt bedienen.» Der Kolibri hat mit seiner 25. Ausgabe aktuell ein Jubiläum zu feiern. Baobab Books gibt deshalb eine Publikation mit sieben Geschichten von zehn nichteuropäischen Autorinnen und Illustratoren heraus, die in der Schweiz, in Deutschland oder Österreich auf je ganz eigene Art angekommen sind. Viele von ihnen haben mit ihrer Kunst neu Fuss gefasst. Da ist der Comiczeichner Koostela aus Brasilien, der nach Europa kam, weil er sich hier in seinem Metier besser verstanden fühlt als in seiner Heimat. Oder die Griechin Chrysa Chouliara, die in einer Fabel eigene biografische Fragen thematisiert, die ebenso sehr philosophische sind: Wer definiert, wer ich bin? Wer bestimmt, wo ich zu leben habe? Auch das iranische Geschwisterpaar Zaeri hält den Finger auf Zuschreibungen, die andere machen. Denn eine Frage, die zu den wichtigsten unserer Zeit gehört, lautet: Wer teilt wem welche DIANA FREI Rolle zu?
«Zürcher Theaterspektakel», Do, 15. August bis So, 1. September. Solitickets werden nach Voranmeldung unter Tel. 044 415 15 50 oder contact@theaterspektakel.ch abgegeben. theaterspektakel.ch
«Ein neues Kapitel – sieben Geschichten über das Ankommen», Hg. Baobab Books, und «Kolibri» sind kostenlos online bestellbar. Die Liste der Kriterien und der Fragenkatalog stehen ebenfalls online. baobabbooks.ch
FOTO: BRYONY JACKSON
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1+2 La Re-Sentida: «Paisajes par no colorear» 3 Samara Hersch und Lara Thoms: «We all know what’s happening»
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ILLUSTRATION : TILL LAUER
FOTO: JORGE SÁNCHEZ / GAM
Wer stellt wen wie dar?
BILD(1): MUSEUM RIETBERG, BILD (2): ZVG BILD (3): ENRIQUE MUÑOZ GARCÍA
Veranstaltungen Zürich «Spiegel – Der Mensch im Widerschein», Ausstellung, bis So, 22. September, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Mi bis 20 Uhr, Museum Rietberg, Gablerstrasse 15. rietberg.ch
Spiegel I (siehe auch Winterthur). In der Kunst ist das Selbstbildnis, das Spiegelbild, die Erforschung des eigenen Gesichts seit der Renaissance ein eigenes Genre – bis heute. In etlichen Religionen ist der Spiegel eine Metapher für die eigene Seele und muss entsprechend sauber gehalten werden. Aber auch in der Magie, wie sie in Fantasy-Geschichten vorkommt, ist der Spiegel ein beliebtes Motiv, denn etwas unheimlich ist er ja schon: Er verkehrt die Seiten, bildet ab und reflektiert zugleich, ist zerbrechlich und unergründlich. In Mittelalter und Früher Neuzeit wurden Personifikationen der Weisheit oft mit Handspiegel dargestellt: Weise ist, wer sich selbst erkennt. Genau umgekehrt war der Spiegel aber aus nachvollziehbaren Gründen auch Attribut der Todsünde Eitelkeit. Das Museum Rietberg präsentiert die jahrtausendealte Kulturgeschichte des Spiegels und spannt den Bogen vom alten Ägypten bis zu Kunst und Spielfilm von heute. Es sind Werke von Künstlern und Fotografinnen der 1920er-Jahre bis heute zu sehen, unter anderem von Laurie Anderson, Nan Goldin, Vivian Maier, Zanele Muholi, Bill Viola und William Kentridge. DIF
Bern und Langnau am Albis «Diplomsommer 2019», Hochschule der Künste Bern, Abschlussarbeiten Theater: «Die Raben», Do, 29. August und Fr, 30. August, je 20 Uhr, HKB, Zikadenweg 35, Bern; «Pfadfinden – Häsch Schiss?», Fr, 30. und Sa, 31. August, je 20.45 Uhr, Turbine Theater, Langnau am Albis. hkb.bfh.ch turbinetheater.ch Einige Abschlussarbeiten der HKB sind schon über die Bühne, zwei Produktionen verlängern den Sommer aber noch auf je sehr eigene Art: Wintertage, an denen man vor lauter Nebel kaum etwas zu erkennen vermag, sind für Julius Kastner keine Wetterlage, sondern ein Zustand, den man in sich trägt. Entsprechend bezeichnet er seine Masterarbeit «Die Raben» als «Projekt im August über den Dezember in mir». Paulina Quintero nimmt die Zuschauer derweil mit auf einen Themenweg und fragt mit ihrer Abschlussarbeit: «Spinnsch oder
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Häsch Schiss?» Das Stück handelt von der Schönheit des Unheimlichen und von der Unschuld der Angst, der abendliche Spaziergang verbindet Kunst, Wissenschaft und Spiritualität. In der Kulisse des Spinnerei-Areals mit seinem denkmalgeschützten Fabrikgebäude in Langnau am Albis werden die Besucherinnen und Besucher in eine schaurig-schöne Atmosphäre geführt. DIF
Basel «Work.Space. Wie wir arbeiten», Vortragsreihe zur Arbeitswelt, Raphael Gielgen, Do, 22. August, Stephan Sigrist, Do, 29. August, Do, 5. September und weitere Daten bis 13. Dezember, jeweils 18 Uhr, Schauraum B, Austrasse 24, Eintritt frei. schauraum-b.chw Der technologische Fortschritt hat eine gesellschaftliche Debatte rund um die Zukunft der Arbeit angestossen. Was, wie und wo werden wir in
zwanzig Jahren arbeiten? Referenten, die sich auf unterschiedlichste Arten mit der Zukunft der Arbeitswelt auseinandersetzen, geben in der Vortragsreihe «Work.Space» Antworten. «The next Economy Ecosystem – wie die vor uns liegende Ökonomie die Architektur der Arbeit verändern wird» heisst der Vortrag von Raphael Gielgen, Trendscout Future of Work der Vitra AG. Er besucht mehr als hundert Unternehmen, Universitäten und Start-ups im Jahr, die Zukunft von Arbeitsplätzen ist sein Forschungsgebiet. Nun präsentiert er eine Landkarte der Trends und Muster einer neuen Welt. Stephan Sigrist, Gründer und Leiter ThinkTank W.I.R.E, spricht über Thesen zur Arbeitswelt der Zukunft. Er analysiert seit vielen Jahren Entwicklungen in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft und beschäftigt sich schwergewichtig mit den Folgen der Digitalisierung. Carlo Fabian, Präsident Schwarzer Peter Basel, und Yvonne Bürgin, Gassenarbeiterin und Co-Geschäftsleiterin Schwarzer Peter Basel, klären über den «Arbeitsort auf der Gasse» auf. Der Schwarze Peter ist ein Verein für Gassenarbeit, die Referenten forschen, lehren und arbeiten unter anderem intensiv im Suchtbereich. DIF
Winterthur «Spiegeleien», Sonderausstellung 2019, täglich 10 bis 17 Uhr, Technorama, Technoramastrasse 1. technorama.ch
Spiegel II (siehe auch Zürich). Spiegel und Spiegelungen sind als Phänomen ästhetisch und als Motiv inhaltlich bereits eine spannende Sache, im Technorama werden sie aber natürlich auch als physikalisches Faszinosum zelebriert und wissenschaftliche Zusammenhänge dabei auseinandergenommen. So reflektiert das Exponat «Kaltlicht-Wärmereflex» das Licht selektiv nach Temperatur, und der «Radarspiegel» zeigt, dass die Wellenlänge des Lichts und die Feinheit der Oberfläche aufeinander abgestimmt sein müssen, damit es zum Spiegeln kommt. Trotzdem gibt’s auch viel Kunst. Im «Dual Mirror» von James Seawright kann man
nur das Gesicht des Partners sehen, und der «Non Facial Mirror» der koreanischen Künstler Shin Seung Back und Kim Yong Hun verweigert sich den Blicken seiner Betrachter. Ivan Moscovitch, Meisterentwickler ungewöhnlicher Rätsel, zeigt ein kniffliges Spiegelwürfel-Puzzle, und der Glasbläser Bernd Weinmayer lässt einen in ein Meer leuchtender Glasquallen eintauchen. DIF
Biel «Robert Walser-Sculpture», Präsenzprojekt von Thomas Hirschhorn, Place de la Gare, bis So, 8. September. robertwalser-sculpture.com
«Robert Walser ist ein Held, weil er das Kleine, das Unbeachtete, das Schwache, das Unwichtige, das Unernste beschrieben hat, weil er es ernst genommen hat und sich dafür interessiert hat», schreibt der Künstler Thomas Hirschhorn. Nun wird er also bis im September jeden Tag von 10 Uhr morgens bis 10 Uhr abends in Walsers Vaterstadt in einer eigens aufgebauten Installation zugegen sein und diesem Helden auf diese Art ein Denkmal setzen. Obwohl Denkmal wohl das falsche Wort ist. Die Robert Walser-Sculpture ist nicht Torso und Marmor, sondern eine neue Art von Skulptur im öffentlichen Raum, die Erlebnisse, Begegnungen und Freundschaften ermöglichen soll. Hirschhorn kennt sich aus mit installativen Arbeiten im öffentlichen Raum: Er hat in anderen Städten Strassenaltäre für Piet Mondrian, Otto Freundlich, Raymond Carver und Ingeborg Bachmann errichtet und sich an seinem Gramsci-Monument in der New Yorker Bronx zusammen mit Bewohnern der dortigen Sozialsiedlung abgearbeitet. Die Robert Walser-Sculpture steht allen kostenlos offen, es finden täglich mehr als dreissig Ereignisse statt. Robert Walser begegnet man in Lesungen, Spaziergängen, Ateliers, im Kinderprogramm, in Vorträgen, in Foren oder in Theaterform. Es sind um die 200 Bielerinnen und Bieler daran beteiligt: Stadtoriginale, Institutionen, Literatinnen, Experten. DIF
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der anderen Seite der Strasse, macht man es sich auf dem Vorplatz an der Sonne gemütlich. Der Eingang aber trotzt auch zur Mittagszeit als Schatteninsel der sich rundum verbreitenden Wärme. Schaukästen werben für Wohneigentum. «Das Glück in den eigenen vier Wänden», «Zu Hause im Glück», «Haus mit Herz für glückliche Kinder und Eltern» lauten die Anzeige-Überschriften. Daneben winkt der Nothelferkurs mit einem Fahrschulgutschein für 100 Franken bei der Fahrschule, die im nächsten Aushang für Auto- und Töff-Fahrkurse wirbt. Immobilien und Mobilität. Wer sich niederlässt, muss sich fortbewegen. Das Gemeindegebiet ist weitläufig, der Bus fährt an grossen Wohnblöcken vorbei und an Einfamilienhäusern: schmucken Einfamilienhäusern. Für die volljährig gewordenen Jugendlichen steht der Erwerb eines Führerausweises offenbar weit oben auf der Prioritätenliste. Sie müssen raus aus der Idylle.
Tour de Suisse
Pörtner in Wädenswil Surprise-Standorte: Zugerstrasse 6, Oberdorfstrasse 27-31 Einwohnerinnen und Einwohner: 24 455 Sozialhilfequote in Prozent: 2,6 Anteil 1-Personen-Haushalte in Prozent: 34,1 Anzahl Scheidungen (2018): 39
«Schmuck» ist das Wort, das einem zu Wädenswil in den Sinn kommt. Ein schmuckes Städtchen am schönen Zürichsee, der Blick schweift über das Wasser bis hin zu den Alpen. Ein gut erhaltenes Altstädtchen mit kleinen Läden. Äusserst schmuck, malerisch gar, wenn auch etwas verschlafen an diesem Frühlingstag, an dem endlich einmal die Sonne scheint. Wenn die Sonne scheint, gibt es bekanntlich auch Schatten, und im Schatten liegt um diese Zeit der Eingang zum Einkaufszentrum. Die Temperatur ist deutlich tiefer als auf der anderen Seite der Strasse, abweisend, unangenehm, die vor dem Kiosk im Wind wehende Glace-Karte ein Affront. Der Eingang, etwas begrünt durch halb preisig angebotene Topfpflanzen, eine Auswahl Kräuter aus der Region und Surprise 456/19
Gartenerde in Säcken, die daran erinnern, dass wir hier auf dem Land sind, hat etwas Wuchtiges, fast Brutales. Hier wurde geklotzt. Ein Betondach auf etwa sechs Meter hohen Säulen bildet eine Art Laube, die nichts Lauschiges, nichts Schmuckes mehr hat. Strenge Funktionalität, dies ist kein Ort zum Verweilen. Zielstrebig betreten die Menschen das Einkaufszentrum, die meisten gekleidet in diese dünnen, gesteppten Daunenjacken in allen erdenklichen Farbvarianten, die sich innert weniger Jahre zum festen Bestandteil der Alltags- und Freizeituniform gemausert haben. Immer praktisch, selten schön. Selbst die Aussentische des Restaurants sind verwaist, nur vereinzelte Raucher nehmen hastig ihren Kaffee ein, gewohnt, auf die unwirtlichen Plätze verwiesen zu werden. Wenige Meter entfernt, auf
«Mo bis Sa 8–20 Uhr» steht auf einer der mächtigen Säulen. Die Öffnungszeiten sind gleichmässig, die Publikums frequenz nicht. Überdimensioniert wirkt das Geschäft an diesem Dienstag, am Samstag wird es brechend voll sein, werden die Vorräte aufgefüllt und die Verkaufsräume gestürmt. Nicht die des auf der anderen Seite, auf der Sonnenseite gelegenen neo-schmucken Zentrums Oberdorf. Sie stehen leer. Grosse Ladenflächen, in denen nichts angeboten wird. Nichteingetretene Synergieeffekte wahrscheinlich. Offen haben ein Geschäft für Seniorenbedarf und ein Fitness-Studio namens Schmucki-Fit.
STEPHAN PÖRTNER Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm
Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?
Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.
Eine von vielen Geschichten 01
Waldburger Bauführungen, Brugg
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Rhi Bühne Eglisau
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Philanthropische Gesellschaft Union Basel
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Mitarbeitende Forbo Siegling CH, Wallbach
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TopPharm Apotheke Paradeplatz
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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
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RLC Architekten AG, Winterthur
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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
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LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil
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VXL, gestaltung und werbung, Binningen
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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich
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Brother (Schweiz) AG, Dättwil
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Kaiser Software GmbH, Bern
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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar
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Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel
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Maya-Recordings, Oberstammheim
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Cantienica AG, Zürich
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Madlen Blösch, Geld & so, Basel
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Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern
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Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz
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Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich
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InhouseControl AG, Ettingen
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Infopower GmbH, Zürich
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo
Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.
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Wir alle sind Surprise Stadtrundgang Bern
#453: Im Abseits
«In den Stundenplan»
«Bringt niemandem etwas» Mit Interesse und Gewinn kaufe und lese ich Surprise seit vielen Jahren. Die Geschichte von Daniel Krähenbühl berührt mich und gibt mir zu denken. Ich frage mich, warum Sie diese Geschichte so einseitig schreiben. Weshalb konfrontieren Sie das zuständige Sozialamt nicht mit Herrn Krähenbühls klarer Ansage, dass er sich mehr immaterielle Unterstützung wünscht? Subtil wird da der Schwarze Peter dem System zugeschoben und eine weitere Opfergeschichte erzählt. Wem bringt das etwas? Niemandem, am wenigsten Herrn Krähenbühl. Weshalb unterstützen Sie ihn nicht dabei, diesen Baggerschein nachzuholen? Weshalb begleiten Sie ihn nicht aufs Amt? Weshalb fragen Sie ihn nicht, was es ihm bringt, sich als Opfer zu fühlen?
G. KÜMIN, Wädenswil
Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Amir Ali (ami), Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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U. KOBEL, Bern
Stadtrundgang Zürich
«Sachlicher Gesamtüberblick» Die Führung mit Stadtführer Hans Rhyner war sehr interessant: die eigene Geschichte, der Lebenslauf, und wie Arbeitgeber und Institutionen weitergeholfen haben. Trotzdem erhielten wir einen sachlichen Gesamtüberblick und hörten nicht nur die persönliche Geschichte. Die Führung war abwechslungsreich, kurzweilig und gut verständlich. Die vielen Sitzgelegenheiten habe ich persönlich sehr geschätzt.
M. KUNZ , Uster
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel
Nach der wunderbar geführten Tour bleibt die Erkenntnis, es hat und sollte für alle Platz haben. Ich bin froh, dass man sich in Bern auf unsere Parkbänke hinlegen kann – im Gegensatz zu Zürich und Basel. Die Surprise Stadtrundgänge sollte man meiner Meinung nach in den Stundenplan unserer Schulen einbauen. Ich danke herzlich für diese spannende Tour und bin froh, dass Stadtführer Roger Meier seinen Humor trotz der vielen Schicksalsschläge nicht verloren hat.
Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Muhammad Salah, Flavia Schaub, Roland Schmid, Benjamin von Wyl Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach
Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort
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FOTO: ZVG
Surprise-Porträt
«Eine eigene Familie, das ist mein grösster Traum» «Vor einem Jahr um diese Zeit arbeitete ich an einem der schönsten Orte der Stadt, im Restaurant Waldrain auf dem Basler Hausberg Chrischona. Doris und Daniel Balliet, das Wirteehepaar, sind wunderbare Menschen, das Team war toll und die Arbeit gefiel mir. Ich war eine Art Dienstleister für alles: Ich putzte, machte den Abwasch, räumte auf, half mit, wo man mich brauchte. Jeden Tag gab ich mein Bestes, und mein Chef zeigte mir, dass er dankbar war für meine Arbeit. Das tat mir gut. Damals dachte ich nicht, dass ich bald wieder Surprise verkaufen würde. Ich stamme aus Rumänien, wo ich zusammen mit meinem Zwillingsbruder in einem Heim aufwuchs. Mein Vater war immer wieder im Gefängnis. Meine Mutter war schon früh vor seinen Schlägen geflüchtet und hatte sich in Portugal ein neues Leben aufgebaut. Ich traf sie erst wieder, als ich neunzehn war. Mein Bruder und ich schlugen uns mehr oder weniger alleine durch. Mit dreizehn hatte ich eine erste schwere Krise und begann, nach einem Sinn zu suchen. Ich lernte einen amerikanischen Missionar kennen, der mir Gott näherbrachte. Ich spürte: Das ist es! Aber so einfach war es dann doch nicht. Ich hatte immer wieder Krisen und mit zwanzig stürzte ich regelrecht ab. Ich zog nach Rom, stahl, trank, ging auf den Strich. Ich hatte Gott verlassen und wollte mich umbringen. Heute bin ich froh, habe ich es nicht getan. Als ich es in Rom nicht mehr aushielt, ging ich wieder nach Rumänien und fand zurück zu mir selbst. Aber such’ mal Arbeit in Rumänien! Es gibt fast keine Stellen, und wenn du etwas findest, ist der Lohn lausig. Deshalb beschloss ich 2016, mein Glück in der Schweiz zu versuchen. Ich habe an verschiedenen Orten temporär gearbeitet, und als ich eine Weile nichts fand, ging ich zu Surprise. Ein Bekannter hatte mir davon erzählt. Ich bekam einen Platz am Bahnhof Basel und verkaufte gleich am ersten Tag viele Hefte. Die Arbeit machte mir Spass, und deshalb machte ich weiter. Unterkunft fand ich bei christlichen Organisationen, die mich unterstützten. Ich habe mich gefühlt wie in einer grossen Familie. Einer der Pastoren und seine Frau haben mir immer mehr Arbeiten übertragen. Als sie sahen, wie zuverlässig ich bin, haben sie mich auch Freundinnen und Freunden empfohlen. Dazu gehörten eben auch die Wirte vom Waldrain, die mich 30
Stefan Zsolt Adam, 27, hatte eine schwierige Kindheit in Rumänien, heute verkauft er Surprise in Basel und freut sich darüber: «Surprise ist wie eine grosse Familie.»
dann einstellten. Doch nicht einmal ein Jahr später liessen sie sich pensionieren, und das Restaurant musste renoviert werden. Das ganze Team war traurig. Ich versuchte, das nicht zu zeigen, doch eine Kollegin musste weinen. Mein Chef hat sie in die Arme genommen und getröstet. Er ist ein wirklich guter Mensch. Natürlich suchte ich danach wieder Arbeit, aber ich fand keine Stelle. Deshalb begann ich wieder, Surprise zu verkaufen. Nicht, dass mich das stören würde. Ich mag diesen Beruf sehr. Surprise ist wie eine grosse Familie, und das tut mir gut. Das hat wahrscheinlich mit meiner Kindheit zu tun. Mein grösster Traum ist es denn auch, selbst eine Familie zu gründen. Dafür bete ich jeden Tag.»
Aufgezeichnet von GEORG GINDELY Surprise 456/19
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Lösungswort: WASCHBECKEN Die Gewinner werden benachrichtigt.
Mittelschwer
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Mittelschwer
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Kultur
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Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
BEGLEITUNG UND BERATUNG
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Entlastung Sozialwerke
Teuflisch schwer
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN Information
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Erlebnis
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SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen 456/19 und aufSurprise die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie.
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