Strassenmagazin Nr. 466 03. bis 16. Januar 2020
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Rassismus
«Woher kommst du?» Rahel Bains möchte, dass sich ihre Tochter nicht erklären muss. Seite 8 Surprise 466/20
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Kultur Kultur
Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste
STRASSENSTRASSENCHOR CHOR
CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE
Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke
BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG
Unterstützung Unterstützung
Job Job
STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information
SURPRISE SURPRISE WIRKT WIRKT
ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten
STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL
Expertenrolle Expertenrolle
SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel
Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
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Erlebnis Erlebnis
TITELBILD: AUS DEM FAMILIENALBUM VON RAHEL BAINS
Editorial
Ähnlich, aber nicht gleich Niemand mag es, doch alle tun es: Wir stecken einander die ganze Zeit in Schubladen, achten peinlich genau darauf, wie er oder sie denkt, redet, isst, liebt, sich kleidet. Dabei haben Stereotypen auch ihr Gutes. Sie helfen eine Welt zu vereinfachen, die immer komplexer wird. Doch manchmal haben Stereotypen ein hässliches Gesicht. Dann geht es nur darum, im Gegenüber einen «Anderen» zu sehen, von dem man sich abgrenzt und den man abwertet. Rassismus ist so eine widerliche Fratze. «Damals meinten manche Leute, einige Menschen seien mehr wert als andere. Deshalb teilte man sie in Rassen ein. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie das auch heute noch tun.» Rahel Bains schreibt diese Zeilen in einem Brief an ihre Tochter (ab Seite 8). Sie weiss zu gut, wie es ist, die «Andere» zu sein – allein wegen ihres Aussehens. Und wie man zum blossen Stellvertreter für eine ganze Gruppe wird. Wer nur in Stereotypen denkt – «die Schwarze», «der Muslim» –, verliert den Menschen
4 Aufgelesen 5 Vor Gericht
Nestlé natürlich 6 Moumouni …
... und die Gier 7 Die Sozialzahl
Care-Arbeit für Angehörige 8 Woher kommst du?
Brief an meine Tochter
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16 Grundeinkommen
Geschenktes Geld
aus dem Blick. Und wer den Menschen nicht mehr sieht, dem verkümmert sein Mitgefühl. So gefährlich einfach ist das. Wie anders? Wir müssten wohl mehr das «Wir» vor Augen haben und auf Gemeinsamkeiten achten, statt auf Differenzen zu pochen. Grosse Worte, ja. Zum Glück gibt es von diesen Gemeinsamkeiten viele. Unsere Verwundbarkeit zum Beispiel. Egal woher du kommst, wie ich aussehe, was er denkt oder wofür sie einsteht, wir alle sind verletzlich. Das ist kein statisches, gleichförmiges «Wir», sondern eines der Vielfalt: Wir alle ähneln einander, doch niemand gleicht dem anderen. Auch davon ist in Rahel Bains’ Brief die Rede, der am Ende, finde ich, an uns alle ge richtet ist. Doch lesen und schauen Sie selbst. KL AUS PETRUS
Redaktor
22 Kino
Schnitt für Schnitt 24 Kino
Sternenstaub auf Kollisionskurs 26 Buch
Mal Held, mal Störenfried 26 Schweiz schreibt
Ein letzter Gruss für Einsame
27 Tour de Suisse
Pörtner in Baden 26 Veranstaltungen 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt
«Meine Tochter fand ich auf der Strasse»
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ILLUSTRATION: BEA DAVIES
Aufgelesen
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Der «König der Vagabunden» Gregor Gog (1891–1945), Gründer der Internationalen Bruderschaft der Vagabunden und Chefredaktor der wohl ersten deutschsprachigen Strassenzeitung Der Kunde, war eine schillernde Figur der Weimarer Republik. Nun hat der Avant-Verlag die Lebensgeschichte des Organisa tors des Ersten Internationalen Vagabundenkongresses als Comic herausgebracht. Nachdem er von den Nazis kurz nach der Machtübernahme in ein Konzentrationslager gesteckt worden war, floh Gog am Heiligabend 1933 in die Schweiz, reiste aber über Paris weiter in die Sowjetunion. In sein Tagebuch schrieb er: «Die Landstrasse verlor sich im Dschungel faschistischer Barbarei (…). Konzentrationslager, Zwangsarbeit und Prügel: Die deutsche Bourgeoisie hat uns das schon immer gewünscht.» Gog verstarb 1945 in Taschkent.
BODO, BOCHUM/DORTMUND
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Historisch
In der DDR wurden Obdachlose und andere sogenannte Asoziale zwangsuntergebracht. Besonders ab 1961 nahm die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit zu, man orientierte sich an den sowjetischen «Parasiten paragraphen». Demnach wurde Betteln, sogenannte Arbeitsscheu, Prostitution oder die Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung «durch asoziale Lebensweise» mit Erziehungsaufsicht, Gefängnis oder Aufenthaltsbeschränkungen sanktioniert. Unangepasste Jugendliche wurden in «Jugendwerkhöfe», also Umerziehungslager für Jugendliche, gesteckt.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
Steigende Altersarmut
2006 waren 10,3 Prozent der deutschen Rentner von Armut betroffen, heute sind es 15,6 Prozent. Das ist eine Steigerung von 51 Prozent. Allein die Zahl der Empfangenden von Alters-Hartz-IV stieg innerhalb von zehn Jahren um 40 Prozent. Wird jetzt nichts unternommen, um den Trend aufzuhalten, könnte laut Bertelsmann-Stiftung in zwanzig Jahren jeder fünfte Rentner von Armut betroffen sein. FIFTYFIFTY, DÜSSELDORF
Rigide Flüchtlingspolitik
Ungarn hat einen 175 Kilometer langen Zaun an der Grenze zu Serbien hochgezogen, um Migranten davon abzuhalten, in das EU-Land zu gelangen. Die Abschottungspolitik von Staatschef Viktor Orbán scheint aufzugehen: Immer weniger Geflüchtete versuchen über Serbien nach Ungarn zu kommen. Trotz sinkender Zahlen verfolgt die Regierung nach wie vor eine rigide Flüchtlingspolitik. 2018 wurden 608 Asylanträge gestellt, anerkannt wurden nur 9 Prozent.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
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Vor Gericht
Nestlé natürlich Schweiz, Land der Schokolade. Elf Kilo gönnt sich die durchschnittliche Schweizerin pro Jahr; nur die Deutschen sind noch grössere Schoggimäuler. Viele führende Player im Markt sitzen in der Schweiz. Barry Callebaut zum Beispiel, der weltgrösste Kakaoverarbeiter, dessen Erzeugnisse sich in einem Viertel aller Schokoladenprodukte finden. Lindt & Sprüngli ist im Hochpreissegment die globale Nummer eins. Und Nestlé: Der grösste Lebensmittelkonzern der Welt stellt einige der meistverkauften Marken her wie KitKat, Smarties, Cailler. Ein süsses Milliardengeschäft. In bitterer Armut, von unter zwei US-Dollar pro Tag, leben hingegen die Kakaofarmer in Westafrika. Von dort stammen 70 Prozent der globalen Ernte. Die Farmer bekommen weniger als 10 Rappen pro Tafel, wie NGOs berechnet haben. Das reicht den Bauernfamilien nicht, um die Produktion zu modernisieren oder Hilfskräfte anzuheuern. Die Folge: Hunderttausende Kinder arbeiten in den Plantagen. Regelmässig decken Journalisten Fälle von verschleppten Kindern auf. Wobei «aufdecken» das falsche Wort ist – man braucht nur hinzusehen. Dass es in der Wertschöpfungskette von Kakao zu Menschenrechtsverletzungen kommt, ist unbestritten. Auch die Schokoladenkonzerne räumen dies ein. Sie sollen von den illegalen Praktiken aber nicht nur wissen, sondern sie fördern. Das sagen sechs ehemalige malische Kindersklaven, die Nestlé 2005 in den USA verklagt haben. Sie waren 10 bis 14 Jahre alt,
als sie in den 1990ern entführt und in die Elfenbeinküste verkauft wurden. Die Anklageschrift schildert, wie sie jahrelang bis zu vierzehn Stunden am Tag sechs Tage die Woche ohne Bezahlung schufteten. Beaufsichtigt von bewaffneten Wächtern, verprügelt, ausgepeitscht, eingesperrt. Gegessen haben sie nur Reste, schlafen mussten sie auf dem nackten Boden. Man zwang sie, den eigenen Urin zu trinken. Nestlé & Co. könnten durch ihre Marktmacht den Bauern die Preise diktieren, so die Kläger. Wer besonders günstig produziere, werde belohnt. Damit schaffe Nestlé die Voraussetzungen dafür, dass es überhaupt zu Zwangsarbeit, unmenschlicher Behandlung und Folter komme. Dafür müsse der Konzern zur Verantwortung gezogen werden. Das ist in den USA aufgrund des «Alien Tort Statute» möglich. Dieses besagt, dass Verstösse gegen das Völkerrecht vor einem US-Gericht eingeklagt werden können, auch wenn die Beteiligten nicht US-Bürger sind und die Ereignisse im Ausland stattgefunden haben. Seit nunmehr fünfzehn Jahren hält Menschenrechtsanwalt Terence Collingworth der Übermacht der Konzernanwälte stand und erstreitet den malischen Geschädigten durch alle Instanzen das Recht auf einen Prozess. In seinen Rechtsschriften erinnert er die Konzerne an ihre eigenen Versprechen, freiwillig für fairen Kakao zu sorgen. Er ist der Ansicht, dass es nur mit gesetzlichem Zwang geht. So wie es die Konzernverantwortungsinitiative verlangt, über die wir bald abstimmen. Die Sorgfaltspflicht würde dann explizit genau solche strukturellen Risiken umfassen. Unsere Pralinen wären dann vielleicht teuer. Aber wetten, sie würden besser schmecken? Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich 5
ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING
Der hier schwitzt, die hier isst, der hier hat Schuppen, die ist möglicherweise nett, aber … Endlich hier, ein Platz, also vier Plätze nur für mich. Gier ist das ständige Fragen nach dem WLAN-Code. Oder, noch schlimmer, gar nicht angewiesen sein auf den WLANCode, weil man grenzenlos Datenvolumen abonniert hat. Gier ist alles haben und alles wollen, und alles haben zu können und wollen zu dürfen, ohne zu merken, dass die Welt einem nicht gehört. Gier ist die Romantisierung von armen Künstler*innen, von kranken Künstler*innen. Gier ist das Furzen der Kühe, das Grapschen der Männer und noch schlimmer: Altherrenwitze. Weil zum Grapschen, zum Paygap, zum unsicheren Heimweg dann auch noch nach einem Lachen verlangt wird. Lach doch mal, Mädchen! Gier ist, alles sagen dürfen zu wollen, ohne als Arschloch zu gelten. Wenn ich Gier höre, denke ich an die Sachen, auf die ich verzichten will. Vielleicht, um im Himmel dann so richtig zu völlern und zu vögeln. Oder auch, um nicht so gierig zu wirken. Wenn ich an Gier denke, vergesse ich manchmal, dass sich meine Gier an ganz anderen Orten materialisiert. Meine Gier findet in Bangladesch in einer Kleiderfabrik statt, in einer kongolesischen Coltanmine, im Lager von Zalando, im Starbucks, in meiner Cola, in meinem Nestlé-Joghurt.
Moumouni …
… und die Gier Ich habe letztens eine Kollegin gefragt, was ihre Vorsätze fürs neue Jahr sind, und sie sagte mir, sie wolle «etwas asketischer, nicht mehr so gierig» leben. Dann zeigte sie mir Bilder von einem Yoga-Retreat, und ich kam irgendwie nicht umhin, das nicht auch ein bisschen gierig zu finden: Es war sehr teuer und versprach ein «authentisches Erlebnis». Und doch: «nicht mehr so gierig» sein ist eigentlich ein schöner Vorsatz. Jetzt musste ich mir also Gedanken über die Gier machen. Wenn ich Gier höre, denke ich als Allererstes an Essen. An Essen und essen. Ans Happy Meal mit dem Spielzeug, das niemand braucht, an einen Burger mit extra Käse und grossen Pommes und einer rieeesigen Cola. An all den Zucker, auch im Ketchup – und unbedingt Mayo dazu, vielleicht auch noch den geilen BBQ-Dip. Ich denke an den Doppelwhopper, den 6
ich nie esse, ausser ganz selten, und dann hab ich auch ein schlechtes Gewissen, ich schwöre! Ich denke an den Big Mac, der mir geschmeckt hat, bis mir schlecht geworden ist und ich mir dachte: Was ist noch schlimmer, als einen Burger zu essen? – Einen Burger zu kaufen und nicht mal aufzuessen. Also wegen des toten Tiers oder so. Dann denke ich an «ich darf mir doch mal was gönnen», dann an einen Brownie, an zwei Brownies, und morgen vielleicht noch einen. An tropfende Eiscreme und das ewige «sich zu fett finden» im Schwimmbad, auf der Sommerwiese, am Strand.
Und wir gieren nach Sicherheit. Wir machen uns zwar über das Klima Gedanken, hoffen dann aber doch lieber, Elon Musk erfindet uns was Krasses, das gleichzeitig megacool designt ist UND die Welt rettet. Etwas, das wir kaufen können, weil wir megaviel Geld haben. Gier ist ein Privileg. Gier ist die Sucht nach unseren Privilegien. Gier ist, seine Sucht nicht zu kennen. Gier ist die Völlerei in Ignoranz. «Man wird ja wohl noch völlern dürfen.»
Aber Gier ist auch: jeden Tag eine Avocado essen. Wenn ich Gier höre, denke ich daran, wie ich durch den Zug streife auf der Suche nach einem Viererabteil für mich allein.
FATIMA MOUMOUNI wünscht ein frohes Neues und eine magere Avocado für die weniger fetten Jahre!
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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BEDÜRFNISSE UND BEDARF VON BETREUENDEN ANGEHÖRIGEN NACH UNTERSTÜTZUNG UND ENTLASTUNG . BUNDESAMT FÜR GESUNDHEIT, BERN, 2019
Die Sozialzahl
Care-Arbeit für Angehörige Immer mehr Menschen in der Schweiz werden immer älter. Diese «Gesellschaft des langen Lebens» stellt in ihrer Dynamik zwei grosse gesellschaftliche Herausforderungen dar: Zum einen geht es um die Sicherung der materiellen Altersvorsorge, zum an deren wächst der Bedarf an Betreuung und Pflege. Seit langem wird ein Mangel an Pflegepersonal beklagt, der sich in den nächsten Jahren weiter zuspitzen wird. Wenig Beachtung findet bis heute die Betreuung älterer Menschen. Dabei wird sie von vielen Betroffenen früher benötigt als eine medizinische Pflege. Diese Betreuung wird vor allem von Angehörigen geleistet. Eine erste gesamtschweizerische Umfrage zeigt, dass rund 543 000 Personen ab 16 Jahren ihnen nahestehende Menschen betreuen, was einem Anteil von 7,6 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Am stärksten engagieren sich die 50- bis 64-Jähri gen, in dieser Altersgruppe steigt der Anteil auf 12,2 Prozent. Überproportional hoch ist auch der Anteil der Rentnerinnen und Rentner mit 8,6 Prozent. Hier geht es um die Unterstützung der Lebenspartnerinnen und Lebenspartner. Betreuung kann vieles bedeuten. Am häufigsten gaben die Be fragten an, dass sie finanzielle und administrative Aufgaben für ihre Angehörigen übernehmen (38 Prozent), gefolgt von Koor dinations- und Planungsarbeiten (23 Prozent), Hilfe im Alltag und Haushalt (23 Prozent) sowie emotionale und soziale Unter stützung der Angehörigen (21 Prozent). Dabei werden in vielen Betreuungsverhältnissen verschiedene Aufgaben gleichzeitig wahrgenommen, weshalb Mehrfachnennungen möglich waren.
Das überraschendste Ergebnis der Befragung ist der geringe Un terschied zwischen den Geschlechtern. Der Anteil der Frauen an allen, die Angehörige betreuen, beträgt «nur» 54 Prozent. Zwar betreuen Frauen ihre Angehörige mit einer etwas höheren zeitlichen Intensität als Männer. Doch selbst bei den verschie denen Aufgaben liegen die Anteile von betreuenden Frauen und Männern erstaunlich nahe beieinander. So bieten 50 Prozent der Männer und 55,5 Prozent der Frauen ihren Angehörigen häufig oder fast immer emotionale und soziale Unterstützung. Finanzielle und administrative Hilfe leisten 51 Prozent der Männer und 52,1 Prozent der Frauen. Die Betreuung von Angehörigen kann zu neuen Erfahrungen führen, stolz und zufrieden machen. Doch für viele ist sie auch eine Belastung. Die Betreuenden schätzen ihre Gesundheit ein wenig schlechter ein als die durchschnittliche Bevölkerung. Weil viele ihr Arbeitspensum reduzieren, kommen finanzielle Sorgen dazu. Zudem fehlt Zeit für die eigene Familie und für Freunde. Die Betreuung älterer Menschen ist ohne Angehörige nicht denkbar. Heute nicht und auch morgen nicht. Deshalb gebührt diesem Engagement dringend mehr gesellschaftliche Aner kennung zu widmen. Verbales Schulterklopfen reicht da nicht. Wir sollten uns über eine bessere Vergütung dieser unentgelt lichen Care-Arbeit Gedanken machen.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Anzahl betreuende Angehörige nach Alter 250 000
215 000
200 000
166 000
150 000
134 000 100 000
50 000
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16 – 15
26 – 49
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FOTOS: ZVG
Rahel Bains als kleines Mädchen mit ihrem Papa beim Iglu bauen. Dieses und auch alle folgenden Bilder stammen aus ihrem Familienalbum. Surprise 466/20
Nie wieder Wurzel-Smalltalk Rassismus Rahel Bains hat einen Brief an ihre Tochter geschrieben. Er handelt von Herkunft und Heimat, von Ausgrenzung und Zugehörigkeit – und ist an uns alle gerichtet. TEXT RAHEL BAINS
Weisst du noch, als wir neulich das alte Buch über Pippi Lang strumpf gelesen haben, das wir am Strassenrand gefunden hat ten? Plötzlich musste ich kurz innehalten, weil da stand, Pippis Papa sei der «König aller Neger». Das fühlte sich – aus vielen Gründen – nicht richtig an. Aber ich wusste nicht, wie ich dir das erklären sollte. Darum habe ich Pippis Papa kurzerhand zum «König des Dschungels» ernannt. Und deshalb schreibe ich dir diesen Brief. Du lebst in einer Blase. Einer Blase aus rostroten Tonziegeln, blassgelben Fassaden, Türmchen, Erkern und grünen Holztüren, vor denen im Frühling die Magnolienbäume blühen – dazwischen breite Wiesen, auf denen dein kleiner Bruder laufen gelernt hat. Dein, unser kleiner Kosmos. Ein Kosmos, in den du nach einem langen Tag in der Schule hineinschlüpfst und mit deiner besten Freundin um die hundertjährigen, verwinkelten Häuser ziehst und wo wir an lauen Sommerabenden gemeinsam mit unseren Nach barn im Garten an langen Holztischen sitzen. Wo alles gut ist. Doch seit rechte Kräfte wieder erstarken und die Hemm schwelle immer mehr sinkt, fremdenfeindliches Gedankengut in aller Öffentlichkeit kund zu tun, müssen sich vor allem junge Menschen mit Migrationsgeschichte mit der Ambivalenz von Hei mat und Herkunft, Zugehörigkeit und Ausgrenzung auseinan dersetzen. Und das noch mehr als vor wenigen Jahren. Eine von über 8000 Schweizer Rahels Es ist von Alltagsrassismus die Rede und von «Racial Profiling». Weisst du, Alltagsrassismus bedeutet, dass manche Menschen an dere nur aufgrund ihres Aussehens oder eines anders klingenden Nachnamens beurteilen und ausschliessen. Doof, nicht? Manchmal weiss ich gar nicht, wie ich das alles erklären soll. Auch wenn man immer denkt, Mütter würden alles wissen und erklären können. Früher habe ich im Bus ab und zu bewusst ganz laut Schwei zerdeutsch gesprochen, um in letzter Sekunde dem Stempel, dem man als Frau mit brauner Haut aufgedrückt bekommt, zu entwi schen. Ich frage mich, ob auch du einmal das Gefühl haben wirst, fehl am Platz zu sein. Und eine Beklommenheit spüren wirst, die sich breitmacht, wenn im Bus alle Augen auf dich gerichtet sind – und das wohlgemerkt nicht in jenem kleinen Toggenburger Dorf, wo ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht habe, sondern in der Stadt. Und ich frage mich, ob du hoffen wirst, dass du nicht im negativen Sinne ständig in den Fokus deiner Mitmenschen rückst. Surprise 466/20
Als du an der letzten Fasnacht mit schwarzen Tüpfchen auf den Wangen und einem Plüschanzug mit Leomuster losgezogen bist, marschierte keine fünfzig Kilometer entfernt eine Gruppe in weissen Kutten mit der Aufschrift «KKK» und brennenden Fackeln in der Hand umher. «KKK» steht für einen Geheimbund mit Namen Ku-Klux-Klan. Er wurde vor mehr als 150 Jahren im Süden der Vereinigten Staaten mit dem Ziel gegründet, Dun kelhäutige zu unterdrücken. Moment, das war jetzt untertrieben, denn eigentlich haben sie noch viel schlimmere Sachen mit ihnen angestellt. Aber dazu ein anderes Mal mehr. Ein paar Tage später, da war die Fasnacht längst vorbei, nannte ein alter Mann ein Mädchen mit Kopftuch «eine beschis sene Muslimin, die man verbrennen soll». Sie erwiderte ruhig: «Ich bin in der Schweiz geboren und Schweizerin.» Ich kenne diesen Satz. Also den Letzteren. Auch ich musste mich schon so erklären. Und das, obwohl nicht nur ich, sondern alle unmittelbaren Vorfahren meines Vaters in der Schweiz ge boren sind. Obwohl ich Rahel heisse und eine von 8283 Frauen in der Schweiz bin, die diesen Namen tragen. Dennoch spre chen viele Leute, die mich kennenlernen, zuerst einmal Hoch deutsch mit mir, danach wollen sie wissen, woher ich «wirklich» stamme. Sie fragen das, weil ich – so wie du – schwarze Augen habe, dunkle Haare und eine Hautfarbe, für deren Beschrei bung den meisten nicht viel anderes in den Sinn kommt als: Milchschokolade. Was dann folgt, ist eine komplexe Erklärung, die ich mitt lerweile wie ein Roboter immer und immer wieder nach dem gleichen Muster abspule. «Also», sage ich dann, «meine Mutter kam in den Siebzigerjahren als vierjähriges Waisenkind aus Vietnam zu einer gut situierten Schweizer Familie nach St. Gal len. Es wird jedoch vermutet, dass ihr biologischer Vater auf grund ihrer dunklen Haut und dem krausen Lockenkopf Afro amerikaner war. Vietnamkrieg und so, du weisst schon. Er war wahrscheinlich Soldat. Ja genau, nicht wirklich romantisch, im Gegenteil. Und nein, sie kann kein Vietnamesisch und war seit ihrer Flucht auch nicht mehr dort. Ein Bedürfnis, das Ganze aufzuarbeiten? Hat sie nicht. Mein Vater? Der stammt aus dem Toggenburg.» Ein «Negerdörfli» mitten in Zürich Ich bin froh, dass du noch nie Wurzel-Smalltalk führen muss test. In unserer Siedlung nahe dem Waldrand, in jenem Stadtteil, 9
wo die Sonne am längsten scheint und sich abends der Fuchs in die Gartenbeete setzt, weiss jeder, wer du bist. So wolltest du im Gegensatz zu deinem kleinen Bruder auch noch nie wissen, weshalb deine Hautfarbe so ist, wie sie ist. Doch stell dir vor: Dort, wo heute das Letzigrund-Stadion steht, das du nachts von deinem Fenster aus leuchten siehst, war vor fast hundert Jahren nur eine Wiese. Die Letziwiese. Auf ebendieser standen im Sommer 1925 rund zwanzig notdürftig eingerichtete Holzhütten mit Dächern aus Stroh. 74 Frauen, Kin der und Männer aus Westafrika gewährten neugierigen Schwei zern Einblick in ihren Alltag. Das «Negerdörfli» war mit über 50 000 Eintritten ein Publikumsmagnet und nicht das einzige seiner Art. Solche «Völkerschauen» waren damals nichts Unge wöhnliches und gründeten – wenn auch in erster Linie auf Sensationslust – in vielen Fällen wohl auch auf echtem Interesse. Wahrscheinlich beruht mindestens die Hälfte aller Anfragen bezüglich meiner Her kunft ebenfalls darauf und nicht auf dem bewussten Willen, die Nichtzugehörigkeit oder sogar meinen Ausschluss aus der Ge sellschaft deutlich zu machen – auch wenn es am Ende den gleichen Effekt hat. Und auch wenn also die Neugierde und Faszination am Fremden und Exotischen scheinbar tief im Menschen verwurzelt ist, schlagen sie letztlich oft in Ablehnung um. «Geht zurück nach Hause!» ist zum Beispiel so ein Satz, der gerne und oft von Menschen verwendet R AHEL BAINS wird, die andere Menschen ausgrenzen. Jene «Völkerschauen» standen in direktem Zusammenhang mit der Kolonialzeit, diesem unschönen und teils in Vergessen heit geratenen Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Auch die Schweiz spielte darin eine Rolle. Selbst wenn sie nie eigene Kolonien besass, haben Schweizer Unternehmer trotzdem vom Sklavenhandel profitiert und dabei ein Vermögen verdient. Man besass aber nicht nur schwarze Liftboys und gelangte wie ein Wunder an Kakao, den du so gerne magst, sondern pflegte auch das «Bastrock»-Stereotyp, sprich den ideologischen Rassismus. Weisst du, manche Leute meinten damals, einige Menschen seien mehr wert als andere. Deshalb teilte man sie in Rassen ein. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie das – und sei es unbe wusst und ohne böse Absicht – auch heute noch tun.
mutter gibt dir ein Gefühl von Geborgenheit. Und erinnerst du dich noch daran, wie wir auf Grosspapis Insel deinen sechsten Geburtstag gefeiert haben? Wie wir in Grosstante Marbas Wohn zimmer Kuchen und Eiscreme gegessen und am Ende alle zu Shakira getanzt haben, während draussen die Sonne auf die Mangobäume brannte? Kurze, aber kostbare Szenen sind das. Was denkst du: Ist Heimat zwingend an einen Ort gebun den? Oder bloss an Erinnerungen und Erfahrungen? Gibt es vielleicht sogar mehrere Zuhause? Und wer bestimmt, wer welchen Ort sein Zuhause, seine Heimat nennen darf? Der Wunsch nach Geborgenheit und Zugehörigkeit scheint ein menschliches Grundbedürfnis zu sein. Schon in den frü hesten indogermanischen Sprachen existierten Wörter, welche die Bedeutung von Zuhause, Siedlung, materieller und spiritueller Sicherheit um fassen. Eine Philosophin nannte die Ver wurzelung das wohl «wichtigste und gleichzeitig am meisten verkannte Gefühl der menschlichen Seele». Der Wunsch nach einem Zuhause sei nicht nur tief in jedem einzelnen von uns verankert, son dern auch in unserem kollektiven Unbe wussten. Dieser Wunsch bestimme, wer wir sind und wie wir die Gesellschaft se hen, in der wir leben. Manchmal macht es mich traurig, dass in meiner und damit auch in deiner zwei ten «Heimat» Vietnam keine Grossmutter mit tiefen Runzeln im Gesicht auf uns war tet und auch keine Onkel oder Cousinen, die uns Geschichten von vergangenen Zeiten erzählen. Würden wir nach Vietnam reisen, was noch keiner von unserer Familie getan hat, dann wohl wie all jene Backpacker, die sich von Glo betrotter eine Reiseroute zusammenstellen lassen.
«Pantone 59-5 C: das ist deine Hautfarbe. Nicht braun, carameloder milchschokoladenfarben, sondern einfach nur: 59-5 C.»
Was ist Heimat? Dank einer Mutter aus dem Muotathal und einem Vater, der sein Leben lang als Rastafari auf einer winzigen Insel im karibischen Meer lebte, nennen alle deinen Papa ebenfalls eine «interessante Mischung». Als ich mit ihm neulich am Fluss entlang spazierte, zeigten zwei Jungs, wohl so alt wie du, mit dem Finger auf uns: «Guck mal, das sind Asylanten.» Das macht mir Angst. Angst, dass die Spirale niemals enden wird. Dass auch du dich in eini gen Jahren mit einem «Äxgüsi, ich cha imfal Schwizerdütsch» erklären musst. Dass sich das Gefühl, fremd zu sein im eigenen Land – dem einzigen Land, das man wirklich kennt – auf die nächste Generation überträgt. Unsere Siedlung ist 37 408 Quadratmetern gross. Jeder ein zelne Quadratmeter bedeutet für dich Heimat, ist dir ein Zuhause. Aber auch der wild wuchernde Garten vor dem Haus deiner Gross 10
Zu Hause wartete Oma mit dem Nachtisch auf uns Die einzige Verbindung zu unserem asiatischen Hintergrund, der durch deinen Urgrossvater – du weisst schon, den unbe kannten Soldaten – zu einem afroamerikanischen Hintergrund mutierte, ist die Erinnerung meiner Mutter, wie sie in Vietnam als dreijähriges Mädchen alleine auf einer Schaukel sitzt und an einer Bananenschale knabbert. Über ihr sind Leuchtkörper – wohl Raketen –, die durch den Himmel rauschen. Den Rest bezeichnet sie als grosses schwarzes Loch. «Ich hätte vergan genes Jahr die Chance gehabt, zum ersten Mal nach fast fünfzig Jahren nach Vietnam zu reisen. Und was habe ich gemacht? Ich bin nach Hawaii geflogen», erzählte mir sie neulich. Manchmal muss man wohl verdrängen, um zu überleben. Was mir bleibt, das ist die Schweiz. Und dieses Gefühl. Ein Gefühl, das ich als Kind nicht kannte. Als ich so alt war wie du, besuchte ich oft die Eltern meines Vaters in jenem kleinen Dorf, in dem man sich an sonnigen Tagen gleich unterhalb des Säntis wähnt. In jenem Tal, in dem unsere Vorfahren seit Generationen lebten. Einmal durfte ich Opa in die Berge begleiten. Durchs Fernglas beobachteten wir Gämse und Hirsche und suchten den mit Laub übersäten Waldboden nach abgeworfenen Hirsch geweihen ab. «Schau, das sind die sieben Churfirsten», sagte er auf der Heimfahrt, während der Fahrtwind meine schwer zu Surprise 466/20
zähmende Lockenmähne durcheinanderwirbelte. «Hinterrugg, Schibenstoll, Zuestoll, Brisi, Frümsel, Selun.» Zuhause wartete Oma mit dem Nachtisch, den gab es immer. Ich schlich oft ins Schafzimmer von Opa und Oma, um in der schwarzen, mit einem goldenen Rand verzierten Schmuck schatulle zu stöbern. Wenn ich dann vor dem ovalen Spiegel stand, sah ich keine Hautfarbe, sondern ein ganz normales Mäd chen mit Perlenketten um den Hals und dunkelgrünen Plastik clips an den Ohren, die immer ein wenig zwickten. Das war meine Blase. Während in deiner Blase Vögel zwit schern und Blumen blühen, herrschen draussen Wut und Angst. Wut über kriminelle Ausländer. Angst vor ungebremster Migra tion. Wut darüber, dass man als über 50-jähriger Stellensuchen der keinen Job mehr findet. Angst vor der Digitalisierung und den Folgen des Klimawandels. Wut über die Lethargie der Politiker. Oder über einen 27-Jährigen, der in einer neuseeländischen Mo schee über fünfzig Muslime erschiesst. Angst vor einem weiteren Angriff der «Gegenseite». Ein Gefühl der Ohnmacht angesichts der allseits verhärteten Fronten. Und über allem schwebt die Tatsache, dass es uns hier in der Schweiz doch ganz gut geht. Eigentlich.
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Weder Groll noch Wut «Ausgrenzung» – dieser Begriff scheint seit jeher am Leben dei ner Oma zu haften wie der Kaugummi an der Sohle deines lila Turnschuhs. Zäh und hartnäckig. Dass sie später auch in der Schweiz beim Krippenspiel in ihrer Rolle als «Mohrenkönig» Melchior jedes Jahr aufs Neue erklären musste, weshalb ihre Haut so schwarz sei, hat sie genauso wenig gestört wie die «Neger! Neger!»-Schmährufe ihrer Klassenkameraden. Und auch gegen den Patienten, der sie, als sie später als Krankenpflegerin arbei tete, mit «Fahr ab, du schwarzer Teufel!» wegscheuchte, hegt sie keinen Groll. «Ich nehme meine Hautfarbe gar nicht wahr», sagte sie mir neulich in ihrem breiten St. Galler Akzent, den sie wohl nie mehr ablegen wird. «Ich bin in einer Schweizer Familie gross geworden, also bin ich Schweizerin», so ihre pragmatische Schlussforderung. «Weisst du, sobald du nicht der gängigen Norm entsprichst, beginnen die Menschen dich zu stigmatisieren und zu schubladisieren – das kann man ohnehin nicht ändern. Wut hilft da nicht weiter.» Vielleicht sind die Leute hier müde, darüber nachzudenken, was okay ist und was nicht. Vielleicht haben sie sich einfach schon genug aufgeregt. Darüber, ob man jetzt «Mohrenkopf» sagen darf oder nicht. Ob man sich an der Fasnacht mit gutem Gewissen das Gesicht schwarz anmalen und sich eine Afro-Perücke über den Kopf stülpen darf – so wie die Kinder anno 1979. Vielleicht haben sie auch einfach keinen Bock mehr, sich für ihre Grosseltern zu entschuldigen, die finden, Schwarze seien halt Neger, die habe man schon immer so bezeichnet, und überhaupt sei das doch gar nicht böse gemeint.
«Woher kommst Du?» Meine Tochter, ich bin gespannt auf Deine Antwort.
Rahel Bains FOTO: KLAUS PETRUS
Ein Leben in Schubladen Hier also ein weiterer Erklärungsversuch: Stecken uns die Mit menschen – allein aufgrund äusserlicher Merkmale wohlge merkt – in eine Schublade, weil sie sich sonst in dieser immer komplexer werdenden Welt nicht mehr zurechtfinden? Nehmen wir die Schublade «schwarz». Falle ich mit meinem Viertel afroamerikanischen Blutes bereits in diese Kategorie? Und was ist mit deinem Onkel, meinem Bruder und seiner ei gentlich hellen Haut, die im Sommer einen olivfarbenen Teint hat? Ist auch er schwarz, obwohl auf den ersten Blick weiss? Und was ist das eigentlich für eine limitierte Auswahl an Be zeichnungen für unsere immer buntere und gemischtere Welt? Eine, die fest daran glaubt, dass Schwarz und Weiss gar nicht existieren, ist Angélica Dass. Die Fotografin stammt aus Brasi lien, ein aufgrund seiner jahrhundertelangen Einwanderung multiethnisches Land, will heissen: In diesem Land sind mehr unterschiedliche Hautfarben vereint, als du dir vorstellen kannst. Angélica Dass hat diese Farben für ein Kunstprojekt in einer Art Katalog festgehalten. Damit möchte sie beweisen, wie vielfältig wir alle sind und wie veraltet unsere bisherige – viel zu simple – Kategorisierung von Menschen ist. Pantone 59-5 C. Gemäss dem Farbsystem von Angélica Dass ist das deine Hautfarbe. Nicht braun, caramel- oder milchscho koladenfarben, sondern einfach nur: 59-5 C. Wenn ich wütend bin, stelle ich manchmal doofe Vergleiche an. Ich sage dann, dass du verwöhnt bist. Oder dass du an deine Oma denken sollst, die vor mehr als vierzig Jahren aus dem vom Krieg versehrten Vietnam flüchtete. Alleine, ohne Mama und ohne Papa. Was du nicht weisst: Bevor sie mit weiteren 8000 Vietnamesen, Kambodschanern und Menschen anderer Natio nen Indochinas in die Schweiz kam, galt sie zuhause aufgrund ihrer dunklen Haut, der breiten Nase und dem krausen Haar als «Kind des Krieges». Als Besatzungskind, das von einem US-Sol daten gezeugt und von einer einheimischen Frau geboren wurde. Die ungefähr 15 000 «Amerasians», die sich in der Nachkriegs zeit auf den Strassen Saigons durchschlagen mussten, waren geächtet. Ihre oft europäisch oder – besser gesagt – amerika
nisch anmutenden Gesichtszüge verrieten ihre Herkunft auf den ersten Blick. Unentdeckt zu bleiben war keine Option, sie wurden gehänselt und geschlagen, manchmal warf man Steine nach ihnen.
Rahel Bains wurde 1989 in St. Gallen geboren und wohnte nach einem Zwischenstopp im Toggenburg beinahe ihre ganze Kindheit am Ufer des Zürichsees. Derzeit lebt sie mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Kindern in einer vor hundert Jahren gebauten Siedlung nahe dem Wald, wo die Kinder im Sommer in Scharen um die Häuser ziehen und die Nachbarn bis spät in die Nacht gemeinsam an langen Holztischen sitzen. Das journalistische Rüstzeug holte sich die 30-Jährige, die seit zehn Jahren als Redaktorin tätig ist, an der Schweizer Journalistenschule MAZ in Luzern. Sie liebt Bücher und alte Filme, die Berge und den Sommer in der Stadt – in dem alles möglich scheint.
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«Wenn ich vor dem Spiegel stand, sah ich keine Hautfarbe, sondern ein ganz normales Mädchen mit Perlenketten um den Hals.» R AHEL BAINS
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«‹Ausgrenzung› – dieser Begriff scheint seit jeher am Leben deiner Oma zu haften wie der Kaugummi an der Sohle deines lila Turnschuhs. Zäh und hartnäckig.» R AHEL BAINS
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Direkt aufs Telefon: So einfach erhalten die Dorfbewohnenden ihr Grundeinkommen.
Der grosse Test Grundeinkommen In Kenia erhalten Tausende Menschen ein kleines
Monatsgehalt, ohne dass sie dafür etwas tun müssen. Es ist das weltweit grösste Experiment mit dieser Art der Unterstützung. TEXT MARKUS SPÖRNDLI FOTOS BRIAN ONGORO
KENIA
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Umgerechnet 22 Franken erhält Mary Akoth im Monat, dazu arbeitet sie noch als Hausangestellte.
Als Mary Akoth davon erfuhr, dass sie fortan jeden Monat Geld geschenkt bekommen würde, bekam sie es mit der Angst zu tun. «Mein Leben lang musste ich immer hart arbeiten, um überhaupt zu überleben. Und dann kommt da jemand vorbei und sagt, füllt dieses Formular aus, dann erhaltet ihr Geld. Einfach so, ohne etwas dafür zu tun. Ich war mir sicher: Entweder ist es eine Lüge – oder wir werden noch teuer dafür bezahlen.» Mary Akoth lebt in Magora, einem Dorf im Siaya County im Westen Kenias, nicht weit vom riesigen Victoriasee und fünfzig Kilometer von der Grossstadt Kisumu entfernt. Ein Dorf in dieser Gegend ist manchmal kaum als solches zu erkennen, es stellt nicht unbedingt eine gewachsene Gemeinschaft dar und die Grenzziehung zum Nachbardorf ist zuweilen willkürlich. Die Häuser in Magora haben Wände aus Lehm und Dächer aus Wellblech, manchmal aus Stroh. Sie stehen weit auseinander. Jede der 65 Familien besitzt ein Landstück, auf dem sie wohnt, wo sie ein paar Hühner und Surprise 466/20
«Ich war mir sicher: Entweder ist es eine Lüge – oder wir werden noch teuer dafür bezahlen.» MARY AKOTH
anderes Kleinvieh hält sowie Felder mit Mais, Getreide und Gemüse bestellt. Ein Dorfzentrum gibt es nicht, Gemeinschaftsräume ebenfalls kaum, ausser einer Schule. Selbst spirituell eint die Bewohner und Bewohnerinnen des Dorfes wenig: Sie gehören mindestens einem Dutzend verschiedenen christlichen Kleinkirchen an. Mitten in Magora steht ein Wohngebäude, das deutlich robuster und grösser gebaut ist als die umliegenden Häuschen. Dort serviert Mary Akoth einer Betagten gerade eine Tasse Tee. Die 37-Jährige arbeitet für die reichere Familie in deren Haus und auf deren Feldern. Dafür be-
kommt sie umgerechnet 20 Franken im Monat. Seit drei Jahren erhält Akoth dazu noch einmal etwa 22 Franken auf ihr Mobiltelefon überwiesen – so wie ihr Mann, der sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Und so wie alle im Dorf, die über achtzehn Jahre alt sind. Das Experiment Akoth und die anderen erwachsenen Einwohner und Einwohnerinnen von Magora waren die Ersten, die von der US-amerikanischen Organisation GiveDirectly ein Grundeinkommen erhalten haben. Das Dorf heisst eigentlich anders; GiveDirectly verlangt, dass keine Ortsnamen genannt werden, «um die Empfänger zu schützen». In Magora testete GiveDirectly mit einem Jahr Vorlauf, was das philanthropische Unternehmen ab November 2017 in 197 kenianischen Dörfern durchführte: das weltweit grösste Experiment mit einem Grundeinkommen. Während zwölf Jahren sollen rund 20 000 Menschen in Kenia ein garantiertes Einkommen von umgerechnet 22 17
Ausruhen können sich die Menschen in Magora trotzdem nicht: Sie müssen weiterhin fürs Überleben arbeiten.
Franken pro Monat erhalten. Das ist ungefähr der Betrag, den man auf dem Land zum Überleben braucht. Die Idee, jedem ein Einkommen zu garantieren, das zumindest die Grundbedürfnisse abdeckt, ist so alt wie umstritten. Als sozialpolitisches Instrument ist es bisher noch von keinem Staat eingeführt worden. In der Schweiz wurde die Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen» im Juni 2016 von 77 Prozent der abstimmenden Bevölkerung verworfen. Die Regierung im indischen Bundesstaat Sikkim hat vor einiger Zeit angekündigt, spätestens 2022 allen 610 000 Bürgern und Bürgerinnen ein garantiertes Einkommen zu geben. Einzelne Versuche mit einem (allerdings nicht allgemeinen) Grundeinkommen gibt es hingegen bereits. In der kanadischen Kleinstadt Dauphin erhielten in den Siebzigerjahren die ärmsten Einwohner jahrelang einen monatlichen staatlichen Zuschuss. In Finnland wurden 2000 Arbeitslosen während zwei Jahren rund 560 Euro pro Monat ausgezahlt. In der ka18
Es wurde befürchtet, dass die Geldgeschenke nicht zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse führen werden. lifornischen Stadt Stockton bekommen derzeit 125 Menschen mit tiefem Einkommen während achtzehn Monaten 500 Dollar auf ihre Kreditkarte überwiesen. Die Folgestudien zu diesen Versuchen sind positiv. In Dauphin gingen die Kinder länger zur Schule, die Menschen waren weniger krank, fühlten sich besser und arbeiteten trotzdem nicht weniger. In Stockton wird das zusätzliche Einkommen tatsächlich für Grundbedürfnisse wie Lebensmittel ausgegeben und nicht wie von manchen befürchtet für Alkohol und Drogen. Und auch in Finnland fühlten sich die unterstützten Arbeitslosen gesünder, konzentrierter und weniger gestresst.
Der Versuch von GiveDirectly bewegt sich nun aber in einer ganz anderen Dimension. Das Experiment in Kenia erreicht viel mehr Menschen, es hat eine deutlich längere Laufzeit, und es steht sämtlichen Erwachsenen in den ausgewählten Dörfern zu, ist also tatsächlich bedingungslos und allgemein. Eine erste Folgestudie von Abhijit Banerjee, der kürzlich den Ökonomie-Nobelpreis erhielt, soll im kommenden Jahr erscheinen. Auch in Kenia wird zuweilen befürchtet, dass die Geldgeschenke nicht zwangsläufig zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensverhältnisse führen werden. Sondern den Anreiz setzen könnten, weniger zu arbeiten sowie mehr Alkohol und andere Drogen zu konsumieren. Mary Akoth kam es nie in den Sinn, weniger zu arbeiten. «Wir können ja auch so nur knapp für die Schulgebühren aufkommen.» Der Schulbesuch inklusive Lehrmittel und Mittagessen von drei Kindern kosten mehrere hundert Franken pro Semester – dies, obwohl die öffentlichen Schulen Surprise 466/20
Plista Aloo, 71, braucht ihr Grundeinkommen für die Enkel – und spendet an die Kirche.
offiziell kostenlos sind. Damit sie vor Semesterbeginn das Schulgeld zusammenbekommt, zahlt Akoth die Hälfte des Grundeinkommens in eine Spargruppe ein, die sie mit vier weiteren Frauen gegründet hat. Jede bringt monatlich den gleichen Betrag ein, und jede erhält einmal alle fünf Monate den gesamten einbezahlten Betrag. Kenianer und Kenianerinnen nennen diese Art von Mikrobanking «merry-go-round»: Karussell. Teure Schulbildung Auch alle anderen Eltern von Schulkindern in Magora sagen, dass sie einen Grossteil des Grundeinkommens für die Schulkosten aufwenden. Das kann als Investition in die Bildung betrachtet werden – oder als Kompensation für das Versagen des kenianischen Staats, den Schulbesuch nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Wirklichkeit kostenfrei zu machen. Möglicherweise besuchen dank Grundeinkommen mehr Kinder die Sekundarschule, die freiwillig ist. Aber andererseits haben die Surprise 466/20
Behörden dadurch noch weniger Anreiz, das öffentliche Schulsystem zu verbessern. Als Mary Akoth vor drei Jahren die erste Monatsrate überwiesen erhielt, wurde sie von GiveDirectly gefragt, was sie mit dem zusätzlichen Einkommen vorhabe. Akoth plante damals, zu sparen und später ein Geschäft zu gründen. Doch solche Träume haben sich längst zerschlagen. «Seither ist die älteste Tochter in die Sekundarschule gekommen, und die ist teurer als die Primarschule», sagt Akoth. Für Plista Aloo ist das Sparen ein wenig einfacher. Die 71-jährige Frau lebt allein in ihrem Häuschen. Ihr Ehemann starb vor über achtzehn Jahren, ihre sechs Kinder haben längst eigene Familien. Von ihrem Grundeinkommen zahlt sie einen Beitrag an die Schulkosten der Enkelinnen und Enkel spendet an ihre Kirche – und spart den Rest für Notfälle. Vor einer Weile hatte Aloo immerhin rund 120 Franken auf der Seite. Jahrelang hatte sie dafür gespart. Dann wurde sie krank, musste ins Spital – und weg war ihr Erspartes.
So fliesst das Zusatzeinkommen bei fast allen Einwohnern und Einwohnerinnen in den alltäglichen Überlebenskampf. Das Grundeinkommen ist ein wichtiger individueller Zustupf, doch zu einer gemeinschaftlichen Entwicklung trägt es kaum bei. Ein Dorf wie Magora, wo fast alle ihren Lebensunterhalt als Kleinbauern verdienen, hätte Investitionen in die Landwirtschaft bitter nötig. Bisher ist jede Kleinbäuerin auf sich allein gestellt. «Mein Mann und ich haben früher auch Landwirtschaft betrieben», sagt Mary Akoth. «Aber wir hatten keine guten Erträge.» Seither liegt ihr Land brach. Selbst erfolgreichere Kleinbauern geben an, dass sie jederzeit mit Missernten rechnen müssten, da die Regenfälle in den letzten Jahren oft ausgeblieben sind. «Wir bräuchten ein Bewässerungssystem und landwirtschaftliche Beratung», sagt einer. Die Dorfgemeinschaft schafft es nicht, das Staatsversagen zu kompensieren. Durch das Grundeinkommen fliesst eigentlich jeden Monat eine beachtliche 19
Kennedy Aswan hat in Magora das Amt des Dorfältesten inne: «Das Geld aus Nairobi reicht für unsere Dorfsschule nicht aus.»
Summe nach Magora. Doch bisher hat niemand versucht, die zusätzlichen Mittel zu bündeln und etwa die landwirtschaftliche Produktion gemeinsam zu verbessern und zu vermarkten. Beliebt in Silicon Valley Das ist auch nicht weiter erstaunlich, denn im Konzept des Grundeinkommens ist eine Umwandlung der individuellen Hilfe in kollektives Handeln nicht vorgesehen. Es geht vielmehr von soliden gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen aus. Deshalb würde in Industrieländern wie der Schweiz, Finnland oder den USA ein allgemeines Grundeinkommen weitgehend die bisherigen Sozialleistungen wie Arbeitslosen- und Sozialhilfe ersetzen. Begründet wird ein solcher Schritt zur Rationalisierung der Sozialsysteme oftmals mit demografischen und globalwirtschaftlichen Trends, etwa mit der Überalterung der Gesellschaft und der Digitalisierung der Arbeitswelt. Die Idee eines allgemeinen Grundeinkommens ist darum gerade bei denen beliebt, die den 20
digitalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft vorantreiben: bei den Pionieren digitaler Technologie im kalifornischen Silicon Valley. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg oder Tesla-Chef Elon Musk sind davon überzeugt, dass die USA früher oder später ein allgemeines Grundeinkommen einführen werden, das wegen des prognostizierten Wegfalls vieler Arbeitsplätze zu einer Notwendigkeit werde. Der Tech-Unternehmer Andrew Yang, der sich in den Vorwahlen als Kandidat der US-Demokraten immer noch Chancen auf eine Nominierung für die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr ausrechnen kann, stützt seine Kampagne in weiten Teilen auf die Vision, jedem amerikanischen Erwachsenen 12 000 Dollar pro Jahr zu schenken. Gewisse Philanthropen im Silicon Valley sehen direkte Geldtransfers auch als Allheilmittel für die globale Armutsbekämpfung. Tech-Milliardäre gehören denn auch zu den grössten Spendern von GiveDirectly. Vor vier Jahren stiess Pierre Omidyar, Mitbegründer der digitalen Han-
delsplattform eBay, das Grundeinkommensexperiment in Kenia mit einer Spende von einer halben Million Dollar an. Mittlerweile beträgt das Budget für dieses Projekt 30 Millionen Dollar. Experten – etwa Pranab Bardhan von der University of California in Berkeley – halten dagegen, dass ein Grundeinkommen in einem Entwicklungsland wie Kenia eine andere Funktion habe als in einem Industrieland. Hier, wo ein viel grösserer Teil der Bevölkerung mit extremer Armut, Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsbedingungen konfrontiert ist, sollte ein Grundeinkommen andere Massnahmen zur Bekämpfung der Armut ergänzen und nicht ersetzen. In Kenia gibt es ambitionierte staatliche soziale Programme, bei denen etwa Waisenkinder und alte Menschen Geld von der Regierung erhalten. Und es gibt Schulstipendien für die ärmsten Familien. Darauf weist auch Kennedy Aswan hin, der in Magora seit sieben Jahren als Dorfältester amtet – obwohl er erst vierzig Jahre alt ist. «Seit wir ein GrundeinSurprise 466/20
Möglichst viele Setzlinge züchten: Kleinbauern wie Edwin Onyango Onywero müssen jederzeit mit Missernten rechnen.
kommen erhalten, gehen mehr Kinder in weiterführende Schulen», sagt Aswan. Er sitzt in seinem Aufenthaltsraum und hofft, dass nach dem Ende des GiveDirectly-Experiments der kenianische Staat das Grundeinkommen weiter auszahlt. Vorher müsse die Regierung aber wirklich ihr Versprechen auf kostenlose Bildung einlösen, meint Aswan. «Das Geld aus Nairobi reicht nicht aus für unsere Dorfschule; wir mussten zusätzliche Lehrer anstellen.» Um sich für ein Schulstipendium zu bewerben, musste man traditionellerweise ein Formular beim «Chief’s Office» einreichen. Dieses vertritt die Zentralregierung in einem Gebiet, das über ein Dutzend Dörfer umfasst. Man brauchte die Unterschriften des Schulvorstehers, einer religiösen Autorität – und des Chiefs selbst. Um an ein Stipendium zu gelangen, waren also gute Beziehungen vonnöten. Das ist zwar nach einer politischen Dezentralisierung seit Jahren nicht mehr Surprise 466/20
«Seit wir ein Grundeinkommen haben, gehen mehr Kinder in weiterführende Schulen.» KENNEDY ASWAN
der Fall. Aber kaum jemand im Dorf weiss das, wie der Dorfälteste und verschiedene andere Bewohner und Bewohnerinnen bestätigen. Ob ein Grundeinkommen Menschen aus der schlimmsten Armut führen kann, ist die eine Frage. Eine ganz andere Frage ist, wie es bei einer Einführung im ganzen Land finanziert werden könnte. Für die Industrieländer erwarten Tech-Visionäre zwar einen Abbau der Arbeitsplätze, der aber einer hohen Wertschöpfung durch hochproduktive Roboter und andere digitale Errungenschaften gegenüberstehen würde. Der Staat könnte einen Teil davon abschöpfen und über das
Grundeinkommen umverteilen – so zumindest lautet die schöne Theorie. Doch in den Entwicklungsländern können nicht einmal die grössten (oder naivsten) Optimisten auf eine ähnliche finanzielle Basis hoffen. Kenia ächzt schon jetzt unter einem Schuldenberg von gegen sechzig Milliarden Franken. Um das zu ändern, bräuchte das ostafrikanische Land – wie auch viele andere Entwicklungsländer – eher eine politische als eine technische Revolution. So ist auch noch völlig unklar, ob die Initiative von GiveDirectly eines Tages ausgeweitet oder überhaupt irgendwie weitergeführt werden kann. Mary Akoth in Magora macht sich darüber nicht zu viele Gedanken. Die Angst, dass sie irgendwann für die arbeitsfrei erhaltenen Überweisungen wird büssen müssen, ist längst verflogen. Aber falls die monatlichen Zahlungen eines Tages wieder versiegen, werden Akoth und ihre Familie auch nicht verzweifeln: «Dann kommt bestimmt eine andere Chance.» 21
Anna Tschannen und Arold Huber.
Urs Saurer.
Schnitt für Schnitt Kino Der Schweizer Dokumentarfilm «Im Spiegel» zeigt Geschichten von Obdachlosen. Und auch immer wieder die Hände von Anna Tschannen: Die Baslerin schneidet Wohnungslosen seit über zehn Jahren die Haare.
«Uaah, ein Engel!», sagt Anna Tschannen und verzieht das Gesicht zur Grimasse. Die Baslerin ist Mitinitiantin des Films «Im Spiegel». Während achtzig Minuten ver mittelt der Dokumentarfilm von Regisseur Matthias Af folter die Perspektiven und Lebensgeschichten von Ob dachlosen in Basel. Es ist ein ruhiger, poetischer Film, in dem vor allem die Protagonistinnen und Protagonisten selbst erzählen. Meist verfolgt sie eine Kamera, filmt von hinten über die Schultern – bei Spaziergängen am Rhein ufer oder beim Vorbereiten des Schlafplatzes in einer Ein buchtung der Stadtmauer etwa. Frontal sieht man die Por trätierten, darunter den Surprise-Verkäufer Urs Saurer und die Surprise-Stadtführerin Lilian Senn, meist durch den Spiegel. Richtig lange vor einem Spiegel sitzt man beim Coif feur, das wusste schon Mani Matter. Die Szenen beim Haare schneiden sind Ausgangspunkt und Zentrum des Films. Anna ist die Coiffeuse. Seit über zehn Jahren schnei det sie Obdachlosen und Armutsbetroffenen die Haare. Weshalb sie das tut, erfahren wir nicht. Sie ist oft im Bild, manchmal nur als Schemen, manchmal sieht man nur ihre Hände bei der Arbeit. Die Anna aus dem Film strahlt etwas Mysteriöses aus. Wohl deshalb nannten sie an der Premiere letztes Jahr an den Solothurner Filmtagen man che Zuschauer einen Engel. «Uaah, ein Engel» – Anna will eben weder als Helfende noch als Übersinnliche in Erin nerung bleiben. Sie will den Menschen, denen sie die Haare schneidet, auf Augenhöhe begegnen. Im Film spricht sie meist dann, wenn sie eine Frage stellt. Sie stellt viele Fragen – aber es sind Fragen aus kom plett unterschiedlichen Kategorien. Die einen Fragen sind 22
jene einer Dienstleisterin: Wie soll die Frisur denn werden? Kurz, lang – wie sollen die Haare fallen? Die anderen Fra gen sind jene der Coiffeuse als Vertraute. Es ist ein Kli schee, dass in Coiffeursalons viel geredet und getratscht wird. Die eigene Qualität dieser Coiffeurgespräche entsteht wohl aus der Zwittersituation zwischen Nähe und Distanz. Jemand berührt die eigenen Haare, schneidet sie ab. Das bedingt Vertrauen, schafft Vertrautheit. Gleichzeitig trifft man seine Coiffeuse oder seinen Coiffeur nur während dieser Momente vor dem Spiegel. Haare schneiden in der Kirche Aber Anna stellt keine stereotypen Coiffeurfragen. Es ist spürbar, dass sie nicht auf Zeitvertreib sinnt, sondern nur fragt, was sie wirklich wissen will. Dass sie die Ge schichte jener, durch deren Haare ihre Hände in diesen Momenten fahren, wirklich hören will. Was treibt Anna um? Weshalb schneidet sie seit über einem Jahrzehnt Obdachlosen die Haare? Aus ihrem Mund klingt es, als hätte es sich einfach so ergeben: Sie habe einmal dem Leiter die Heroinabgabestelle die Haare geschnitten, ihm währenddessen diese Idee vorgeschlagen. Und dann ein fach damit begonnen. Schon immer habe sie schnell be merkt, wenn jemand nicht bloss über die Strasse geht, sondern auf der Strasse lebt. Wer keine Wohnung habe, sei meist ein feinfühliger und eigensinniger Mensch, sagt Anna. Diesen Eigensinn, den bewundere sie. Aber Schutzlosigkeit sei der Preis dafür. Kein Schutz gegen über der Witterung; kein Schutz aber auch im übertra genen Sinn: Wo gehört man hin? Sie sehe da auch eine Verbindung zu sich selbst. Am Anfang ihrer Fragen stand Surprise 466/20
FOTOS: ROYAL FILM
TEXT BENJAMIN VON WYL
Lilian Senn und Heiko Schmitz.
Markus Elhady.
nämlich eine Erfahrung, die ihr selbst den Boden unter den Füssen weggezogen hat: der unerwartet frühe Tod ihrer Mutter. Wo lebst du? Wovon lebst du? Was arbeitest du sonst? Anna stellt nicht nur im Film viele Fragen. Wo lebt denn, wovon lebt denn, was arbeitet sie denn sonst? Anna lebt mit ihrer Familie im Basler St. Johann. Was sie sonst tut, erfordert viele Worte: Sie wirkt mit bei Tanzprojekten, ist Maskenbildnerin, gibt Theaterkurse für geistig Behinderte und arbeitet eben als Coiffeuse. Jeden zweiten Dienstag schneidet sie Armutsbetroffenen im Rahmen der Lebens mittelhilfe von «Tischlein Deck Dich» die Haare, an jedem anderen Dienstag weiteren Obdachlosen. Im Rahmen von «Tischlein Deck Dich» arbeitet sie in der Offenen Kirche Elisabethen, wo sie ihren mobilen Coiffeursalon auch je den Freitag für zahlende Kundschaft öffnet. Direkt unter die monumentalen Buntglasfenster platziert sie ihren Spiegel. Und das Plakat mit dem Text von Mani Matters «Bim Coiffeur». Gefüllt mit den Geschichten anderer Menschen Die Coiffeursituation, die Haare und ihre Symbolik. Anna interessiert das. «Haare wachsen einfach weiter. Sie hö ren nie auf», sagt sie. Alles fliesst: ein Symbol für die Welt. Vor Kurzem habe sie am Bahnhof jemanden mit langen Rastas angesprochen, gefragt, ob sie ihm die Haare schneiden dürfe. «Er antwortete: ‹Nein, sie sind das Ein zige, was man mir gelassen hat.›» Das fasziniert Anna. Sie will am Thema dranbleiben, die Sache mit den Haaren weiterentwickeln. Auch Obdachlosen will sie weiterhin die Haare schnei den. Obwohl, momentan, da sei sie etwas gefüllt mit den Geschichten anderer Menschen. «Es macht etwas mit dir, wenn dir Leute über ihre Abgründe erzählen.» Die seien dann bei dir, bleiben bei dir. Sie muss lachen, als sie sich daran erinnert, wie ein Pärchen, ehemalige Kundschaft, jeweils bei ihr die Konflikte mit der jeweils anderen Per son ausgebreitet hat. Nun ist sie also manchmal eine stille Coiffeuse und erarbeitet wortlos die Frisuren ihrer zah lenden und nicht zahlenden Kundschaft. Anna sagt, manchmal sei es anstrengend, nun wegen des Kinofilms in der Öffentlichkeit zu stehen. Aber viel leicht hilft ihr der Film ja dabei, manche der gesammelten Surprise 466/20
Geschichten wieder loszulassen. Jene Geschichten, die auf der Leinwand erzählt werden: Urs Saurers Auswande rungspläne, die Liebesgeschichte von Lilian Senn. Wie man eine traumatische Kindheit nicht verdrängt, sondern ver arbeitet. Wie man obdachlos und gleichzeitig ein küm mernder Vater sein kann. Und wie man auf Basel blickt, wenn man auf der Strasse oder in der Notschlafstelle lebt. «Ich bin nicht angetreten, um einen Dokfilm zu machen», sagte Anna ganz am Anfang des Gesprächs. «Mir ging es darum, dass sie ihre Perspektive erzählen können. Der Film hat sich dann als das beste Mittel dafür abgezeichnet.»
Matthias Affolter: «Im Spiegel», CH 2019, 82 Min. Läuft ab 14. Januar im Kino. Vorstellungen in Anwesenheit von Mitwirkenden und Filmcrew: Di, 14. Jan., 19.45 Uhr, Stattkino Luzern; Mi, 15. Jan., 18.30 Uhr, Riffraff Zürich; Sa, 18. Januar, 18.30 Uhr, Cinématte Bern; So, 19. Jan., 11.30 Uhr, Atelier Basel. Der Film ist in Kooperation mit Surprise entstanden.
Protagonisten von Surprise Im Spätherbst 2019 reiste Urs Saurer ein zweites Mal nach Kamerun. Aktuelle Fotos zeigen ihn fröhlich mit einer Bananenstaude über der Schulter durch üppiges Grün stapfen. Diesmal hat er die Malaria-Prophylaxe-Tabletten dabei. Wieder in der Landwirtschaft arbeiten zu können, war ihm das Restrisiko einer erneuten Erkrankung wert. Lesen Sie Urs Saurers Kampf mit der Malaria in den Heften 431 bis 433/18 in unserem Online-Archiv nach. Lilian Senn hat inzwischen – trotz ihrer Betreibungen – von einer Wohnungsbaugenossenschaft eine Wohnung angeboten bekommen, nachdem ihre Geschichte im Strassenmagazin Surprise publik wurde. Sie zog direkt aus der Wohnungslosigkeit in ihre eigenen vier Wände, ihr Partner Heiko Schmitz lebt unterdessen – nach dreieinhalb Jahren Obdachlosigkeit und einigen Monaten in einem Wohnheim – mit ihr zusammen. Die beiden haben am 11.11. 2019 in Basel geheiratet. Mehr über ihre Liebesgeschichte erfahren Sie im Heft 427/18.
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Sternenstaub auf Kollisionskurs Kino In seinem ersten Spielfilm «Les particules» lässt der franko-schweizerische Regisseur Blaise Harrison die Gefühlswelt eines Gymischülers verrücktspielen – teilchenbeschleunigt vom Genfer CERN.
Kaum merklich verformt sich der Acker boden unter dem Pays de Gex an der Grenze zwischen der Schweiz und Frank reich. Der 17-jährige Pierre-André (Tho mas Daloz), von allen nur P. A. genannt, ist der Einzige, der das Phänomen auf der Fahrt zu einer CERN-Besichtigung be merkt. Es scheint ein unterirdischer Ma gnet auf die Erdoberfläche einzuwirken, sodass in den Ackerfurchen eine leichte Krümmung entsteht, die wenig später wieder verschwindet. Kaum merklich vollzieht sich auch der Wandel von P. A. vom Jungen zum Erwach senen. Auf der einen Seite albert er mit seinen Freunden herum, auf der anderen Seite verändern sich sein Körper und seine Gefühlswelt. Da ist dieses Mädchen, Roshine (Néa Lüders), das alle paar Stunden aus uner klärlichen Gründen ohnmächtig wird und ihm gesteht, dass auch sie «komische Dinge» sieht. Und da sind diese Erschei nungen, die nur er allein sieht: Vogel schwärme, die sich zu Wolken formieren, Lichtpunkte und Schneeflocken, die wie Sternenstaub vor seinen Augen tanzen 24
und sich unter dem Einfluss von psyche delischen Pilzen zu seltsamen Figuren verdichten. Regisseur Blaise Harrison fin det eindrückliche Bilder, um das Gefühl der Isolation auszudrücken, von dem das Heranwachsen oft begleitet wird. Die leise Melancholie, wenn man den Eindruck hat, dass einen niemand versteht. Oder aber die elektrisierende Erkenntnis, dass es da vielleicht doch jemanden gibt, der die ei gene Verwirrung nachvollziehen kann. Je manden wie die geheimnisvolle Roshine. Wenn sie und P. A. sich auf dem Flur be gegnen, bewegen sie sich aufeinander zu, als wären sie Teilchen im CERN-Beschleu niger hundert Meter unter ihren Füssen. Es wird eine Energie freigesetzt, dass die Deckenbeleuchtung erlischt. Unerklärli che Vorgänge reihen sich aneinander und geraten ausser Kontrolle. «Wir wollen ver stehen. Das liegt in der Natur des Men schen, und das hier ist ein gutes Beispiel», sagt ein CERN-Wissenschaftler zu den Schülern, als sie zu Beginn des Films dicht neben dem gewaltigen Beschleunigungs tunnel stehen. Die Rätsel des Universums und des Lebens selbst entfalten sich vor
ihnen in Form von Konsolen mit zahllosen Schaltern. Langsame Kamerafahrten durch den winterlichen Wald erzeugen in Kombination mit einem raffinierten Sounddesign ein Gefühl, als würde die Zeit tatsächlich gedehnt und gekrümmt. Blaise Harrison, der bisher Dokumentar filme gedreht hat und nun mit «Les par ticules» seinen ersten Spielfilm präsen tiert, bleibt bei einem dokumentarischen Stil, bricht ihn aber gekonnt mit fantasti schen Elementen. Der 39-jährige Regis seur ist eine Entdeckung der wohl be kanntesten Regisseurin dieses Landes, der Franko-Schweizerin Ursula Meier und ih rer Kollegen Jean-Stéphane Bron, Lionel Baier und Frédéric Mermoud. Ihre Pro duktionsfirma Bande à part Films in Lau sanne fördert Harrison seit Jahren. Er ar beitet auch als Kameramann.
Blaise Harrison: «Les particules», CH/F 2019, 98 Min., mit Thomas Daloz, Néa Lüders, Salvatore Ferro u. a. Läuft ab 9. Januar im Kino. Surprise 466/20
FOTOS: CINEWORX
TEXT MONIKA BETTSCHEN
ILLUSTRATION : TILL LAUER
Mal Held, mal Störenfried Buch Der Roman «Frei» erzählt von der Sehnsucht
nach Freiheit und von individueller Verantwortung im Kalten Krieg und in der Gegenwart.
FOTO: ZVG
Berlin, 13. August 1961. Die DDR beginnt mit dem Mauerbau, um die Massenflucht aus dem «Arbeiter- und Bauernpara dies» zu stoppen. In Westberlin beschliesst der Medizinstu dent Janus Emmeran noch am selben Tag, nicht tatenlos zuzusehen, sondern Fluchthelfer zu werden. Bereits am nächsten Tag holt er eine junge Frau über die Grenze. Zwei Monate nach dem Mauerbau ist die Grenze die am besten gesicherte der Welt. Doch die Gruppe, der sich Janus anschliesst, verfügt über eine komplett ausgerüstete Pass fälscher-Werkstatt. Hunderten gelingt so die abenteuerliche Flucht. Janus wird zum Fulltime-Fluchthelfer. Für Studium, Musik und Beziehungen bleibt ihm kaum Zeit. Er arbeitet Tag und Nacht, sucht immer wieder nach Möglichkeiten, um die Grenzer auszutricksen, schleust Leute durch die Kanalisation, versteckt sie hinter dem Armaturenbrett eines Cadillacs oder unter einem Kastenwagen. Dabei trotzt er allen Gefahren. Er wird bespitzelt, verra ten, ein Tunnel stürzt ein, ständig muss er damit rechnen, entführt zu werden, einmal entgeht er nur knapp dem Tod. Andere haben weniger Glück, werden erschossen oder lan den im Gefängnis. Zudem machen Politiker und Presse den Fluchthelfern das Leben schwer. Erst als Helden gefeiert, gelten sie ab Ende 1963 – nachdem der Berliner Senat mit der DDR über ein Passierscheinabkommen für Ost-Berlin verhandelt – als Störenfriede, die das prekäre Gleichgewicht im Kalten Krieg gefährden. Doch Janus hält jahrelang durch, bevor er 1968 als Facharzt nach Amerika geht. Viele Jahre später kehrt er, inzwischen 77 Jahre alt, vier Kinder, geschieden, nach Berlin zurück. Seine Visitenkarte bringt sein Leben auf den Punkt: Fluchthelfer, Arzt, Chro nist. Durch eine Kontaktanzeige lernt er die 30 Jahre jüngere Verlegerin Colette kennen, die aus dem «ehemaligen Drü ben» kommt. In dieser Ost-West-Beziehung wird Janus’ Vergangenheit lebendig. Eine Vergangenheit, die ihn wieder einholt, als er einer jungen Syrerin Unterschlupf gewährt. Die Schriftstellerin Roswitha Quadflieg und der ehema lige Fluchthelfer Burkhart Veigel haben den Roman «Frei» gemeinsam verfasst, gemeinsam historische Fakten und Fiktion anschaulich verknüpft. Durch das Ineinander von Zeitgeschichte und Lebensgeschichten gelingt es ihnen nicht nur, ein wichtiges Kapitel der deutschen Geschichte lebendig erfahrbar zu machen. Sie zeigen zudem, wie ak tuell die Fragen zu Freiheit und individueller Verantwortung auch heute noch sind. CHRISTOPHER ZIMMER
Christopher Zimmer: Roswitha Quadflieg, Burkhart Veigel: Frei. Roman Europa Verlag 2018, CHF 29.90
Ein letzter Gruss für Einsame Die Schweiz schreibt In Gedichtlesungen erinnert ein Literaturprojekt an Menschen, die ohne Angehörige bestattet werden. Es ist eine bedrückende Tatsache, dass immer wieder Menschen zur letzten Ruhe gebettet werden, ohne dass sich dabei Familie und Freunde von ihnen verabschie den. Einsamkeit, neben dem Tod wohl das grösste Tabu unserer Zeit, äussert sich hier besonders brutal: Keine Trauergemeinde, die sich an gemeinsame Momente oder an die prägenden Stationen eines erloschenen Lebens erinnert. Niemand da, der einen Kranz nieder legt. Wenn sich nach dem Tod keine Angehörigen fin den lassen, werden solche Verstorbenen «von Amtes wegen» in einem Gemeinschaftsgrab bestattet, wobei oft nur Mitarbeitende des Friedhofes und des Fried hofsamtes anwesend sind. Inspiriert von einem niederländischen Schwes ter-Projekt des Dichters Bart F. M. Droog initiierte die Dichterin Melanie Katz deshalb vor drei Jahren das Pro jekt «Das einsame Begräbnis», zuerst in Zürich, später auch in Basel, Winterthur und Luzern. Aktuell unter stützen die Stadt Zürich und private Stiftungen die Arbeit der Dichterinnen und Dichter. Neben Melanie Katz schreiben derzeit Martin Bieri, Klaus Merz, Ger hard Meister, Martina Clavadetscher und andere auf der Basis einer persönlichen Recherche Texte für die einsam Verstorbenen. Diese werden während der Bei setzung am Gemeinschaftsgrab verlesen. «Wir möch ten den Verstorbenen durch den Akt der Gedichtlesung Würde verleihen, zeigen, dass man ihrer am Le bensende gedenkt, und sie auf ihrem letzten Weg be gleiten», sagt Melanie Katz. Die Gedichte werden auch online publiziert und erinnern so über den Friedhof hinaus an diese «vergessenen» Leben. Häufig hätten Personen, die ihre letzte Reise ein sam antreten müssten, schwierige Biografien, die zum Beispiel von Krankheit oder sozialen Problemen durch zogen seien, so Katz. «Bei meinen Recherchen besuche ich den Wohnort der Verstorbenen und spreche, wo dies möglich ist, auch mit Nachbarn oder Bekannten. Diese Eindrücke lasse ich beim Schreiben auf mich einwirken. Nur so kann ich einem Text über einen ver storbenen Menschen die nötige Tiefe geben.»
MONIK A BET TSCHEN
«Das einsame Begräbnis», literarisches Projekt und Abschiedsritual: einsamesbegraebnis.ch Surprise 466/20
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BILD(1): LERIN/HYSTAD, 2019, BILD(2): MATHILDE SALVE, BILD(3): TONJASCHJA ADLER
Veranstaltungen Scuol GR «Electronic Flow(er)», Ausstellung, bis So, 19. April, Do bis So, 15 bis 18 Uhr, Nairs 509, Scuol. nairs.ch
Allein der Ort lohnt den Besuch bereits: Die Fundaziun Nairs befindet sich im historischen Badehaus des Kurorts Scuol-Tarasp. Direkt am Ufer des Inns und sehr idyllisch. Die Ausstellung Electronic Flow(er) sucht nach Zugängen zur Natur, aber mit technischen Mitteln. Im Mittelpunkt stehen Klanginstallationen und audiovisuelle Arbeiten. Eine davon ist «Electronic Flora – Engadin» des schwedisch-norwegischen Kunst- und Musikduos Lerin / Hystad. Die beiden verwenden Aufzeichnungen von Biosignalen: Der elektronische Puls einer Zirbelkiefer (Pinus cembra) wird über einen modularen Synthesizer übertragen, sodass der Baum Noten, Melodien und Rhythmen in der Musik steuern kann. Und damit letztlich bestimmt, wie sich die Videoarbeit gestaltet. DIF
Pfäffikon SZ «Abhängig?», Ausstellung, bis So, 22. März 2020, Di bis So, 11 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Vögele Kultur Zentrum, Gwattstrasse 14. voegelekultur.ch
«Wer, wie, von wem oder wovon» lautet der Untertitel der Ausstellung «Abhängig?». Abhängigkeiten können persönlicher, politischer, gesellschaftlicher oder auch materieller Natur sein – in Form von Drogen oder Geld etwa. Das Thema ist facettenreich, es geht dabei sowohl um Eigenverantwortung als
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auch um Beziehungen. Die Abhängigkeit hat meist einen negativen Anstrich, gerade in Gesellschaften, die das Credo hochhalten, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Der Mensch ist allerdings ein Beziehungswesen, was es grundsätzlich mit sich bringt, dass er sich in Abhängigkeiten begibt. Die Ausstellung ist in Zusammenarbeit mit der F+F Schule für Kunst und Design Zürich entstanden. Denn der Nachwuchs ist schliesslich auch abhängig davon, dass ihn die Etablierteren wahrnehmen. DIF
einen Auftrag von Radio Paris bei sich: eine Moritat über den Schurken Fantômas. 2020 bringt die Gare du Nord eine Hörspiel-Musical-Performance von Oliver Augst auf die Bühne: Weill trifft dabei auf das deutsch-französische Pop-Duo Stereo Total und Realität (Weills Pariser Exil) auf Fiktion (Fantômas). Und in «Ødipus REC.» stellen sich Fragen wie: Sind wir vom ständigen Fluss visueller Informationen verblendet? Oder: Was wäre, wenn wir nur hören könnten – wie Ödipus nach seiner Selbstblendung? DIF
Zürich «Einfach Zürich», Dauerausstellung, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 19 Uhr, Landesmuseum Zürich, Museumstrasse 2, freier Eintritt; «Spuk im Ritterhaus», Fr, 24. Januar, 19 bis 20.30 Uhr, Ritterhaus Bubikon,Ritterhausstrasse 35, Bubikon, anmelden unter: info@ritterhaus.ch; «Zwischen Nagelmaschinen und Klaviersaiten», Sa, 25. Jan., Nagelfabrik «Nagli», St. Gallerstrasse 138, Winterthur.
«Einfach Zürich» vermittelt auf erfrischende Art Zürcher Kulturgeschichte. Zum einen mit einer permanenten Ausstellung im Landesmuseum und zum anderen mit vielen Einzelprojekten im ganzen Kanton. Im Ritterhaus Bubikon können Kinder zwischen acht und zehn Jahren mit einem wärmenden Punsch einen geheimnisvollen Abend verbringen, und in der Nagelfabrik «Nagli» in Winterthur gibt’s Industriegeschichte in Form einer performativen Installation: Wild hämmernde Maschinenkolosse aus der Gründungszeit speien Nägel im Sekundentakt aus und füllen die Luft mit dem Geruch von Maschinenfett. Mit Führungen und Nagelschmieden für die ganze Familie am Nachmittag und Konzert mit dem Zürcher Klavier-Ensemble Kukuruz Quartett am Abend. DIF
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Basel «Kurt Weill jagt Fantômas», Hörspiel-Musical-Perfor mance mit Liedern von Kurt Weill, Mi, 8. Januar, 20 Uhr; «Ødipus REC.» – The Navidsons, Sa/So, 18./19. Jan., jeweils 20 Uhr, Gare du Nord, Schwarzwaldallee 200 (im Badischen Bahnhof). garedunord.ch Als Kurt Weill in einer stürmischen Nacht im März 1933 mit einem schwarzen Mercedes Benz das Hôtel Jacob in Saint-Germain-desPrés erreicht, hat er die Skizzen für
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Eine Art Bushaltestelle aus Holz ist mit «Aus Freude am Menschen» angeschrieben. Sie dient als Treffpunkt für alle, was wahrscheinlich heisst: Randständige oder Leute, die sonst nirgends richtig willkommen sind. Die Verhaltensregeln sind in einem Ehrencodex – welch gewichtiges Wort – zusammengefasst. Darin wird der zugehörige WC-Container erwähnt. Der ist mit Holzpanelen als Blockhütte zurechtgemacht, wahrscheinlich für den Weihnachtsmarkt. In dem Unterstand wird geraucht, und wie es aussieht nicht nur Tabak. Die Raucher haben einen schweren Gang, als sie an die Feuerschale zurückkehren. Vielleicht haben sie nun wirklich mehr Freude an den Menschen oder zumindest weniger Ärger mit ihnen und über sie.
Tour de Suisse
Pörtner in Baden Surprise-Standorte: Bahnhofplatz, Baden Einwohnerinnen und Einwohner: 19 230 Sozialhilfequote in Prozent: 2,1 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 27 1642 zuletzt als Hexen verfolgt: Maria Bodmer und Barbel Zingin
Wenn die Tage kürzer werden und irgendwo mehr als drei Leute pro Tag vorbeikommen, findet an diesem Ort mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Weihnachtsmarkt statt. So auch hier, am Bahnhof Baden. Noch sind die Buden nicht geöffnet, weder das Kerzenziehen noch das Karussell, erst gegen Abend wird es losgehen. Fonduetaugliche Temperaturen und glühweinheischender Nebel sind bereits vorhanden. An der Spanischbrötlibahn-Haltestelle wurde ein kleiner Kulturbahnhof eingerichtet. Für den nächsten Tag ist die sehr empfehlenswerte Band Robertson Head Music Machine angekündigt. Die Fonduehütte ist ab 17 Uhr geöffnet, es gibt Badener Bier-Fondue und Künter Bio-Fondue, und warum auch nicht. An den Tischen davor nehmen Jugendliche, Kantonsschüler dem Aussehen nach, auf die Schnelle ihr MitSurprise 466/20
tagessen ein. Sie kennen nichts anderes und werden wohl ihr ganzes Arbeits leben hindurch das Mittagessen möglichst effizient verzehren. Lunch is for losers. Dahinter, an der Feuerschale, trifft sich die Dosenbierfraktion, sie hat Zeit, hier geht es lebhaft zu. Die Tannenbäumchen stehen etwas unmotiviert und windschief herum, als wären sie nicht ganz freiwillig hier, was sie ja auch nicht sind. Sie stünden wohl lieber im Wald, als einen auf Wald zu machen, mit dem für sie gewiss ungewohnten Holzschnitzelboden. Die Päckchen bringt an diesem Tag nicht der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten, sondern der Pöstler mit seinem gelben Transporter, der das malerische Weihnachtsdorf zweimal durchquert, bis er die Adresse findet.
Eine Holzskulptur mit Weihnachtssternen wetteifert mit einem überdimensio nierten Plastikcornet, das etwas saisonuntypisch vor einem Café steht, um die Hoheit über die Ästhetik im öffentlichen Raum. An den Abfalleimern hängen A4-Blätter mit Hinweisen wie «Bitte füttern» oder «Bin für jeden Dreck zu haben». Ein etwas schiefer Spruch, der natürlich heissen müsste: «Bin für jeden Sch... zu haben». Das ginge aber zu weit und würde die Botschaft verfälschen. Diese immerhin wirkt, alle benutzen die Kübel. Abends, nach ein Paar Gläsern Glühwein oder einem Besuch in der Brennhütte, wo die lokalen Schnäpse ange boten werden, ändert sich das vielleicht. Da kann es spät werden oder sentimental oder eben so weit kommen, dass jemand den Kübel nicht mehr trifft. Oder ihn zu sich nach Hause einlädt. Anm. d. Red.: Offensichtlich ist dieser Text vor dem Jahreswechsel entstanden. Wir fanden ihn trotzdem schön und dachten: Ein bisschen Weihnachten ist immer.
STEPHAN PÖRTNER Der Zürcher Schriftsteller besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
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Maya-Recordings, Oberstammheim
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Wortstark, Zürich
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Praxis Carry Widmer, Wettingen
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DD4U GmbH, IT Projektierung und Beratung
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Gemeinnützige Frauen Aarau
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Cantienica AG, Zürich
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Hervorragend AG, Bern
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Beratungsgesellschaft f. die 2. Säule AG, Basel
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Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich
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Echtzeit Verlag, Basel
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Waldburger Bauführungen, Brugg
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Rhi Bühne Eglisau
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Philanthropische Gesellschaft Union Basel
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Mitarbeitende Forbo Siegling CH, Wallbach
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TopPharm Apotheke Paradeplatz
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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
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RLC Architekten AG, Winterthur
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VXL, gestaltung und werbung, Binningen
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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
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Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.
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Wir alle sind Surprise Stadtrundgang Zürich
Stadtrundgang Bern
«So ganz nebenbei»
«In den Stundenplan einbauen»
Stadtrundgang Basel
#463: Spätfolgen des Hitzesommers
«Bewegt»
«Umweltschutz»
Ich bin zutiefst bewegt. Der Rundgang mit Danica Graf und Lilian Senn hat mir gezeigt, wie schnell man unverschuldet aus dem sozialen Netz fallen kann.
Meiner Meinung nach ist es seit Jahren generell verboten, Gartenabfälle zu verbrennen, Hitzesommer hin oder her. (Umweltschutz!) Die Abfälle gehören kompostiert.
Die Tour war super: Stadtführer Hans Peter Meier ist kompetent, weiss sehr viel, kann alle Fragen beantworten. Er hat uns zu neuen Einsichten und einem anderen Blick auf die Stadt und ihre Menschen verholfen. Die Stationen sind klug gewählt, sodass sich am Ende der Tour alles zu einem Gesamtbild zusam menfügt. Die Mischung aus persönlich Erlebtem, Fakten und Hintergrundinformationen ist abwechslungsreich und informativ. Wir haben einen guten Einblick in die Geschichte der letzten gut fünfzig Jahre aus dem sozialen Blickwinkel bekommen und gelernt, wie vielfältig die Initiativen und Institutionen sind, die «auf der Gasse» arbeiten. Dass er, so ganz nebenbei, auch noch eine kunstgeschichtliche Anekdote hervorzauberte, nämlich uns die wechselhafte Geschichte der Pyramide auf dem Helvetiaplatz erzählen konnte und sogar einiges über das Gesamtwerk des Künstlers sagte, hat uns überrascht. Kurz: Wir waren begeistert, einige der Teilnehmenden haben sofort den Wunsch gehabt, die Erkundung ein anderes Mal auf einer anderen Tour fortzusetzen.
E. BAUER, ohne Ort
H. DEMIRDEN, Zürich
Nach der von Stadtführer Roger Meier wunderbar geführten Tour bleibt die Erkenntnis, es hat – und sollte – für alle Platz haben. Ich bin froh, dass man sich in Bern auf unsere Parkbänke hinlegen kann. Die Sozialen Stadtrundgänge sollte man meiner Meinung nach in den Stundenplan unserer Schulen einbauen. Ich danke Roger Meier herzlich für diese spannende Tour und bin froh, dass er seinen Humor trotz der vielen Schicksalsschläge nicht verloren hat. U. KOBEL, Bern
G. JANSER, Rheinfelden
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Rahel Bains, Eva Mell, Brian Ongoro, Markus Spörndli, Benjamin von Wyl Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach
Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort
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FOTO: KLAUS PETRUS
Surprise-Porträt
«Meine Tochter fand ich auf der Strasse» «Seit eineinhalb Jahren verkaufe ich in Brugg das Strassenmagazin. Die Leute, die bei mir kaufen, unterhalten sich manchmal etwas länger mit mir und wollen wissen, wie es mir geht. Wenn sie mich mal zwei Wochen lang nicht sehen, fragen sie, ob ich krank war. Seit sechs Monaten kann ich Surprise aber nicht mehr regelmässig verkaufen, denn mein Mann und meine acht Kinder aus Somalia sind jetzt bei mir in der Schweiz. Ich lebe seit dreieinhalb Jahren hier. Ich bin alleine übers Mittelmeer nach Europa gekommen. In der Schweiz war ich zunächst oft im Spital. Auf der Flucht hatte ich kaum etwas zu essen, deshalb musste ich mich häufig übergeben und hatte gesundheitliche Probleme. In Somalia konnte ich nicht mehr bleiben, denn dort, wo ich herkomme, herrscht die Terrormiliz Al-Shabab. Ich habe in meinem Dorf viel gesehen: Sie haben zum Beispiel eine Frau geköpft, ihr Kopf lag auf der einen Seite der Strasse, ihr Körper auf der anderen. Mein ältester Sohn ist jetzt sechzehn Jahre alt, meine älteste Tochter ist vierzehn. Sie habe ich als Baby auf der Strasse gefunden. Ich habe sie mitgenommen und gestillt. Niemand wusste, zu welcher Familie sie gehört. Also haben mein Mann und ich uns als Eltern eintragen lassen. Ich bin froh, dass meine Kinder und mein Mann jetzt bei mir in der Schweiz sind. Denn Al-Shabab kam immer wieder zu ihnen nach Hause, als ich schon in der Schweiz war. Das war bedrohlich. Schliesslich sind sie geflohen, zuerst nach Kenia, dann durften sie zu mir nach Brugg kommen. Damit sie einreisen konnten, musste eine Abstammungsuntersuchung gemacht werden. Aber auch meine nichtleibliche Tochter durfte in die Schweiz kommen, ich habe den Behörden alles erklärt. Für die Untersuchung muss ich nun 3000 Franken bezahlen, jeden Monat 150. Das ist viel Geld, vor allem, weil ich nun viele Kinder zu versorgen habe. Alle acht Kinder brauchen Kleidung, Essen und so weiter. Ich bekomme Sozialhilfe und verkaufe Surprise, wenn es geht. Aber immer wieder ist eines der Kinder krank. Sie begreifen noch nicht, dass es in der Schweiz so kalt ist, aus Somalia kennen sie ja nur die Hitze. Auch in der Schule gibt es immer wieder Schwierigkeiten. Meine Kinder müssen noch Deutsch lernen und haben immer wieder Probleme mit Mitschülern. Bevor meine Familie kam, hatte ich genug Geld. Ich konnte mal ein Billett für den Zug kaufen, für Shampoo, Creme und so weiter. Aber jetzt ist es schwierig. Mein Mann kann hier noch nicht arbeiten. Er lernt gerade die 30
Leyla Osman, 34, ist aus Somalia vor Krieg und Terror geflohen. In Brugg verkauft sie Surprise – und ist froh, dass ihre Familie seit kurzem endlich bei ihr ist.
Sprache und hat ausserdem eine schwere Verletzung am Bein, die durch eine Bombe in Somalia verursacht wurde. Er kann vor Schmerzen kaum schlafen und auch nicht viel laufen. In Somalia hat er in einer Autogarage gearbeitet. Als ich noch in Somalia war, hatte ich von 5 Uhr morgens bis 23 Uhr abends in einem Restaurant gearbeitet und dort auch gekocht. Die ersten zwei Jahre in der Schweiz habe ich in Kaiseraugst gelebt. Dort habe ich einmal für viele Menschen gekocht. Alle haben sich darüber gefreut, und es hat mir viel Spass gemacht. Ich koche zum Beispiel Sambusas, das sind gefüllte Teigtaschen. So eine Arbeit würde mir gefallen. Aber jetzt müssen erst einmal meine Kinder Deutsch lernen und das Leben in der Schweiz verstehen. Ich bin sehr froh über die Hilfe, die wir hier bekommen. Mir haben die Ärzte am Anfang im Spital sehr geholfen, jetzt bekomme ich in einer Kirche regelmässig Hilfe mit Dokumenten, die ich nicht gut verstehe, und ich kann dort auch mit anderen zusammen Deutsch lernen. Auch eine Schweizer Freundin habe ich, sie heisst Cecilia. Ich kenne sie noch aus Kaiseraugst aus einer Kirche. Sie hat mir und vielen anderen Ausländern schon oft geholfen.»
Aufgezeichnet von EVA MELL Surprise 466/20
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