Kino Regisseur Edgar Hagen begleitet Jonas und Helena, beide sind geistig und körperlich eingeschränkt.
Sein Dokumentarfilm «Wer sind wir?» erzählt nicht nur von ihnen, sondern auch von uns selbst. INTERVIEW DIANA FREI
Edgar Hagen, in einem persönlichen Text erzählen Sie am Anfang Ihres Films von Ihren Erinnerungen an behinderte Menschen, die Sie als Kind als eine Art Ausserirdische wahrnahmen und die für Sie faszinierend waren. Der Film hat den gleichen Grundton. War diese Perspektive Ihre Prämisse oder die Erkenntnis nach der Recherche? Edgar Hagen: Wahrscheinlich beides. Ich habe die tiefe Überzeugung, dass diese Menschen dazugehören und ein Teil von uns sind. Es war aber auch ganz wichtig für mich zu sehen, dass die Eltern von Jonas und Helena in etwas hineingeraten sind, das sie nicht wollten. Niemand wünscht sich ein behindertes Kind. Die Frage ist nun aber: Was machen sie daraus? Das ist ein sehr konstruktiver Ansatz. Das ist auch dramaturgisch interessant. Du bist mit etwas konfrontiert, was du nicht wolltest. Den Weg dann zu gehen, die Probleme zu überwinden, ist das, was eine Geschichte in Gang bringt. Helena und Jonas sind in ihrem Ausdruck beide eingeschränkt. Sie reagiert unberechenbar, er kann nicht reden. Der Fachpsychologe im Film sagt: «Wenn ich etwas vermitteln will, dann versuche ich es, bis es mir gelingt.» Muss man dazu Wissen haben? Eine spezielle Fähigkeit? Oder ein bestimmtes Weltbild? Ich denke, es geht um eine Bereitschaft. Mir fällt auf, dass ich unter den Leuten, die in diesem Bereich arbeiten, extrem offene Leute treffe. In der Schule ist es nicht ein Lehrplan, der Jonas’ Teilnahme möglich macht. Sie haben es einfach ausprobiert. Die 24
Frage war: Ist es okay, wenn Jonas zu euch kommt? Sie sagten: Ja. Und dann haben sie sich überlegt: Wie müssen wir das organisieren, damit es funktionieren kann? Das ist ein experimenteller Zugang, der mir gefällt. Sie sind ein Stück weit aus ihrem Plan ausgebrochen. Wer kleine Kinder hat, weiss, dass man eigentlich permanent stört, wenn man sich auffällig benimmt. Im Film sind viele Menschen zu sehen, die sich nicht konform verhalten. Ist Ihnen das Stören als Thema auch begegnet? Es gibt eine Szene im Schuhgeschäft, die die Mutter gefilmt hat, als Helena noch ein Kind war. Wir sehen in dieser Szene, wie Veronika, die Mutter, an ihre Grenzen stösst. Das im Film darzustellen war wichtig, um ein reales Bild zu geben. Bevor ich zu filmen begann, war Veronika am Anschlag und wusste nicht mehr weiter. Helena ging auf sie los und fing an, ihr die Haare auszureissen. Sie brachte die Tochter dann auch in die Psychiatrie. Ich begann sie zu begleiten, als Helena von zuhause wegging, ins Wohnheim. Ich finde, das ist ein spannender Punkt: Sie übergibt die Tochter in dem Moment der Gesellschaft. Die Frage stellt sich nun: Was machen wir mit diesen Menschen? Einer allein kann das nicht schaffen. Es braucht Netzwerke. Das ist bei Jonas genauso. Die Eltern sagen, dass sie allein völlig überfordert waren. Ich wollte einen Film über den Teil machen, der uns allen gehört: Was machen wir mit Helena, mit Jonas? Das Stören lag in dem Sinn davor, bevor der Film einsteigt. Surprise 468/20
FOTOS: CINEWORX
«Aus dem Plan ausgebrochen»