Charity statt Steuern Amazonâ Der Onlinegigant Amazon kassiert Milliarden Gewinne, zahlt aber keine Steuern. DafĂŒr eröffnet
er an seinem Hauptsitz in Seattle eine Notunterkunft fĂŒr Obdachlose. Echte Hilfe oder bloss PR? TEXTâ GERD SCHILDâFOTOSâ MATT LUTTON
Der Onlinehandelsgigant Amazon öffnet seine TĂŒren fĂŒr Obdachlose: Im FrĂŒhjahr eröffnet mit «Maryâs Place Family Center» eine Notunterkunft im neu gebauten BĂŒrokomplex von Amazon in Downtown Seattle. Auf acht Etagen und fast 6000 Quadratmetern NutzflĂ€che sollen hier temporĂ€r 275 VĂ€ter, MĂŒtter und Kinder unterkommen. Ziel ist es, wohnungslosen Familien eine sichere Basis zu bieten, von der aus sie möglichst schnell in regulĂ€re Wohnungen ziehen können. Manche sehen in der Zusammenarbeit der Hilfsorganisation Maryâs Place mit dem Wirtschaftsgiganten Amazon einen Pakt mit dem Teufel. Marty Hartman, als Leiterin von Maryâs Place fĂŒr die neue Notunterkunft verantwortlich, lĂ€sst sich aber auf solche Vergleiche nicht ein. «Es ist ein Geschenk», sagt sie. In einem Image-Video sieht man sie mit John Schoettler, der bei Amazon fĂŒr Bauprojekte zustĂ€ndig ist. «Wir sind alle Nachbarn, wir leben alle zusammen in der Stadt», sagt Schoettler da. Die Notunterkunft wird von Maryâs Place gefĂŒhrt, zahlreiche Amazon-Mitarbeiter sollen als Ehrenamtliche mitwirken. FĂŒr die betroffenen Familien ist die Diskussion ĂŒber das FĂŒr und Wider einer Zusammenarbeit mit Amazon wohl zweit rangig: Da die zahlreichen NotunterkĂŒnfte in der Stadt aus allen NĂ€hten platzen, sind sie fĂŒr jede neue temporĂ€re Unterkunft dankbar. Auch wenn der Wechsel von der Strasse in den Glaspalast mit Blick auf die Spheres, das gigantische Amazon-GewĂ€chshaus, manche Betroffene seltsam anmuten mag. Amazon ist in Seattle in den letzten Jahren enorm gewachsen. Weit mehr als 50â000 Mitarbeitende hat der Konzern in der Stadt im Bundesstaat Washington heute, das ist zehnmal mehr als vor zehn Jahren. Gleichzeitig belegt der OnlinehĂ€ndler in Seattle mehr als ein FĂŒnftel der gesamten BĂŒroflĂ€che der Stadt. Trotzdem zahlte der Konzern einem Bericht des US-amerikanischen Instituts fĂŒr Steuer- und Wirtschaftspolitik (ITEP) zufolge schon im zweiten Jahr in Folge keine Steuern auf den US-Gewinn, der sich von 5,6 Milliarden Dollar im Jahr 2017 auf 11,2 Mil8
liarden Dollar im Jahr 2018 fast verdoppelt hat. Das letzte Jahrzehnt war auch fĂŒr Seattle eine Zeit der Rekorde. Seit 2010 ist die Bevölkerung mit 136â000 NeuzuzĂŒgen stĂ€rker angestiegen als in den dreissig Jahren zuvor - die am schnellsten wachsende Grossstadt der USA. Und nicht nur die Bevölkerung nimmt zu: Auch das mittlere Haushaltseinkommen stieg seit 2010 um 33â000 Dollar auf heute 93â500 Dollar und liegt damit deutlich ĂŒber dem landesweiten Wert von knapp 62â000 Dollar. «Seattle is dying» WĂ€hrend viele also immer besser verdienen und ihr Essen in den neuen Restaurants und schicken Arkaden geniessen, die hier im Wochentakt eröffnen, werden andere an den Rand gedrĂ€ngt. Die Durchschnittsmiete in Seattle liegt mittlerweile bei 2000 Dollar im Monat. Selbst Menschen, die einer regulĂ€ren Arbeit nachgehen, verlieren aufgrund der kontinuierlich steigenden Preise ihre Behausung. Es gibt in Seattle und Umgebung mehr als 11â000 Wohnungslose, rund die HĂ€lfte von ihnen lebt direkt auf der Strasse. RegelmĂ€ssig lĂ€sst die Stadt illegale Zeltlager rĂ€umen. Gleichzeitig nimmt der Hass gegen Menschen zu, die auf der Strasse leben. Mitarbeitende von Hilfsorganisationen berichten ĂŒber Beschwerden aus der Bevölkerung: Es geht um Abfall, um die Zelte in den Parks der Stadt, um die Angst vor Drogen. Eine TV-Dokumentation von 2019 hat dabei einen Nerv getroffen. Ihr Titel «Seattle is dying» prognostiziert plakativ den Tod der Stadt. Produziert von einem Lokalsender, lĂ€sst die Sendung Anwohnerinnen, Polizisten, GeschĂ€ftsleute und Touristinnen das Bild einer Stadt zeichnen, in der man sich unter anderem wegen der Obdachlosen, wegen Gewalt und Drogen nicht mehr gefahrlos bewegen könne. Die Doku bildet eine grundlegende Verunsicherung ab, ausgelöst durch die immensen VerĂ€nderungen. Dabei glĂ€nzt Downtown Seattle heute mehr denn je, die Zahl der Verbrechen ist in allen relevanten Bereichen geringer als etwa Anfang der 1990er-Jahre. Gleichzeitig nimmt das BedrohungsgefĂŒhl in der Bevölkerung zu. Wer am Abend durch die Strassen von Seattle spaziert, sieht an jeder Ecke die Zeichen des Surprise 468/20