Surprise Nr. 468

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Charity statt Steuern Amazon Der Onlinegigant Amazon kassiert Milliarden Gewinne, zahlt aber keine Steuern. Dafür eröffnet

er an seinem Hauptsitz in Seattle eine Notunterkunft für Obdachlose. Echte Hilfe oder bloss PR? TEXT  GERD SCHILD FOTOS  MATT LUTTON

Der Onlinehandelsgigant Amazon öffnet seine Türen für Obdachlose: Im Frühjahr eröffnet mit «Mary’s Place Family Center» eine Notunterkunft im neu gebauten Bürokomplex von Amazon in Downtown Seattle. Auf acht Etagen und fast 6000 Quadratmetern Nutzfläche sollen hier temporär 275 Väter, Mütter und Kinder unterkommen. Ziel ist es, wohnungslosen Familien eine sichere Basis zu bieten, von der aus sie möglichst schnell in reguläre Wohnungen ziehen können. Manche sehen in der Zusammenarbeit der Hilfsorganisation Mary’s Place mit dem Wirtschaftsgiganten Amazon einen Pakt mit dem Teufel. Marty Hartman, als Leiterin von Mary’s Place für die neue Notunterkunft verantwortlich, lässt sich aber auf solche Vergleiche nicht ein. «Es ist ein Geschenk», sagt sie. In einem Image-Video sieht man sie mit John Schoettler, der bei Amazon für Bauprojekte zuständig ist. «Wir sind alle Nachbarn, wir leben alle zusammen in der Stadt», sagt Schoettler da. Die Notunterkunft wird von Mary’s Place geführt, zahlreiche Amazon-Mitarbeiter sollen als Ehrenamtliche mitwirken. Für die betroffenen Familien ist die Diskussion über das Für und Wider einer Zusammenarbeit mit Amazon wohl zweit­ rangig: Da die zahlreichen Notunterkünfte in der Stadt aus allen Nähten platzen, sind sie für jede neue temporäre Unterkunft dankbar. Auch wenn der Wechsel von der Strasse in den Glaspalast mit Blick auf die Spheres, das gigantische Amazon-Gewächshaus, manche Betroffene seltsam anmuten mag. Amazon ist in Seattle in den letzten Jahren enorm gewachsen. Weit mehr als 50 000 Mitarbeitende hat der Konzern in der Stadt im Bundesstaat Washington heute, das ist zehnmal mehr als vor zehn Jahren. Gleichzeitig belegt der Onlinehändler in Seattle mehr als ein Fünftel der gesamten Bürofläche der Stadt. Trotzdem zahlte der Konzern einem Bericht des US-amerikanischen Instituts für Steuer- und Wirtschaftspolitik (ITEP) zufolge schon im zweiten Jahr in Folge keine Steuern auf den US-Gewinn, der sich von 5,6 Milliarden Dollar im Jahr 2017 auf 11,2 Mil8

liarden Dollar im Jahr 2018 fast verdoppelt hat. Das letzte Jahrzehnt war auch für Seattle eine Zeit der Rekorde. Seit 2010 ist die Bevölkerung mit 136 000 Neuzuzügen stärker angestiegen als in den dreissig Jahren zuvor - die am schnellsten wachsende Grossstadt der USA. Und nicht nur die Bevölkerung nimmt zu: Auch das mittlere Haushaltseinkommen stieg seit 2010 um 33 000 Dollar auf heute 93 500 Dollar und liegt damit deutlich über dem landesweiten Wert von knapp 62 000 Dollar. «Seattle is dying» Während viele also immer besser verdienen und ihr Essen in den neuen Restaurants und schicken Arkaden geniessen, die hier im Wochentakt eröffnen, werden andere an den Rand gedrängt. Die Durchschnittsmiete in Seattle liegt mittlerweile bei 2000 Dollar im Monat. Selbst Menschen, die einer regulären Arbeit nachgehen, verlieren aufgrund der kontinuierlich steigenden Preise ihre Behausung. Es gibt in Seattle und Umgebung mehr als 11 000 Wohnungslose, rund die Hälfte von ihnen lebt direkt auf der Strasse. Regelmässig lässt die Stadt illegale Zeltlager räumen. Gleichzeitig nimmt der Hass gegen Menschen zu, die auf der Strasse leben. Mitarbeitende von Hilfsorganisationen berichten über Beschwerden aus der Bevölkerung: Es geht um Abfall, um die Zelte in den Parks der Stadt, um die Angst vor Drogen. Eine TV-Dokumentation von 2019 hat dabei einen Nerv getroffen. Ihr Titel «Seattle is dying» prognostiziert plakativ den Tod der Stadt. Produziert von einem Lokalsender, lässt die Sendung Anwohnerinnen, Polizisten, Geschäftsleute und Touristinnen das Bild einer Stadt zeichnen, in der man sich unter anderem wegen der Obdachlosen, wegen Gewalt und Drogen nicht mehr gefahrlos bewegen könne. Die Doku bildet eine grundlegende Verunsicherung ab, ausgelöst durch die immensen Veränderungen. Dabei glänzt Downtown Seattle heute mehr denn je, die Zahl der Verbrechen ist in allen relevanten Bereichen geringer als etwa Anfang der 1990er-Jahre. Gleichzeitig nimmt das Bedrohungsgefühl in der Bevölkerung zu. Wer am Abend durch die Strassen von Seattle spaziert, sieht an jeder Ecke die Zeichen des Surprise 468/20


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