3 minute read

Vor Gericht

Next Article
Surprise-Porträt

Surprise-Porträt

Versteckte Armut 625 000 Rentnerinnen und Rentner, die Anspruch auf Grundversiche rung im Alter haben, holen sich in Deutschland diese Unterstützung nicht. Das sind mehr als die bundesweit 566 000 Seniorinnen und Senioren, die derzeit Geld vom Sozial - amt bekommen. Studien zufolge verzichten die Menschen vor allem aus Scham oder Unkenntnis dar auf, Hilfe zu beantragen. Demnach würden 88 Prozent Geld anneh - men, falls die Auszahlung vertraulich erfolgt, aber nur 58 Prozent, wenn andere davon erfahren.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Leben ohne Krankenversicherung In Deutschland leben 80 000 Menschen ohne Krankenversicherung, viele von ihnen sind Obdachlose oder Sans-Papiers. Die Dunkelziffer dürfte höher sein, da diese Men schen statistisch kaum erfasst werden. Der Verein «Aufsuchende medizinische Hilfe für Wohnungs lose Bochum» versorgt in Bochum Betroffene. Neben Problemen wie Atemwegserkrankungen oder Ent zündungen habe das Team oft mit psychischen Problemen zu tun, sagt Hans-Gerd Schmitz, der als Arzt zweimal pro Woche ehrenamtlich für den Verein auf Bochums Strassen unterwegs ist. «Es ist schwer zu sagen, ob die Leute wegen dieser Probleme auf der Strasse gelandet sind, oder ob das Leben auf der Strasse zu diesen Problemen geführt hat.» Oft könne den Menschen vor Ort geholfen werden, in Notfällen aber würde man sie in ein Krankenhaus bringen. Auch für diese Kosten kann der Verein dank Spendengeldern aufkommen.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

Vor Gericht Capitalize it!

Hoffentlich sind Sie nüchtern, denn gleich geht es um viele Zahlen. Um eine Million Joints. Pro Tag. So viel wird in der Schweiz gekifft. Dies gemäss einer soeben veröffentlichten Studie der Stiftung Sucht Schweiz, der Universität Lausanne und Unisanté. Eines ist damit sicher: «Die Prohibition funktioniert nicht sehr gut.» So drücken es, sehr freundlich, die Studien-Autoren aus. Wie schlecht, zeigt der Blick in die po lizeiliche Kriminalstatistik. 2018 wurden 35 728 Straftaten betreffend den Konsum illegaler Substanzen verzeichnet. Die Mehrheit, also 18 186, entfiel auf Hanf. Nehmen wir einmal an, dass es rund 300 000 starke Konsumenten sind, die diese Million Joints rauchen, jeweils drei, vier am Tag: Nur 18 werden erwischt. Nicht das einzige Missverhältnis. Wie die Studie weiter feststellt, ist Cannabis volumenmässig zwar der grösste Markt verbotener Drogen. Doch der Umsatz liegt mit jährlichen 340 bis 500 Millionen Franken tiefer als beim Kokain. Dort werden in der Schweiz mit fünf Tonnen pro Jahr 490 bis 620 Millionen umgesetzt. Nimmt man als Äquivalent zum Joint eine Linie Koks à zwanzig bis dreissig Milligramm an, wären dies auch fast eine halbe Million Lines am Tag. Doch wegen Kokain-Konsums gab es 2018 nur 5374 Verzeigungen.

Die Studie gewährt auch Einblick in die Cannabis-Produktion und den Markt. Eine Besonderheit ist die Vielfalt der Akteure. Importierte und einheimische Ware halten sich die Waage. Häufige Herkunftsländer sind Spanien, die Niederlande oder Albanien. Der Grossteil des hiesigen Anbaus stammt aus grösseren Anlagen – doch ein überraschend hoher Anteil von zehn Prozent ist Marke Eigenanbau. Personen mit ein paar Pflanzen auf dem Balkon liefern also Stoff für 100 000 Joints am Tag. Eine veritable Volksbewegung!

Und doch kann die Schweiz keinen klaren Umgang damit finden: 1951 wurde Cannabis auf die Liste der verbotenen Betäubungsmittel gesetzt – der Konsum blieb erlaubt. 1975 wurde auch dieser verboten – mit Straffreiheit bei kleinen Mengen zum Eigenkonsum. Auch das Stimmvolk ist unentschieden: 1997 lehnte es ein Totalverbot von Cannabis mit 71 Prozent ab. Ein Jahr später erteilte es mit 73 Prozent der generellen Straffreiheit beim Betäubungsmittelkonsum eine Abfuhr. Ebenso unschlüssig sind die Räte in Bern. 2001 schlug der Bundesrat vor, Cannabis zu legalisieren. Der Nationalrat trat nicht darauf ein. Erst 2008 konnte eine sehr zögerliche Freigabe für medizinischen Hanf verabschiedet werden. Derweil hat sich von Kanada bis Uruguay die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein legaler, aber regulierter Markt gegenüber der Repression Vorteile hat. Etwa Steuereinnahmen. Dem US-Bundesstaat Washington spülte der Cannabis-Handel 2017 315 Millionen in die Kassen, mehr als der Alko hol. Das Geld investiert der Staat vor allem ins Gesundheitssystem. Das wäre doch auch eine Idee für die Schweiz: Cannabis freigeben und besteuern, dann die Einnahmen in die Prämienverbilligung stecken. Stattdessen doktert man immer noch mühsam an einer breiteren Zulassung von Medizinalhanf herum. Letzten Juni hat der Bundesrat dazu mal wieder eine Vorlage in die Vernehmlassung geschickt. Wieder werden Jahre vergehen. Derweil vor allem Kriminelle weiter vom Verbot profitieren.

This article is from: