Surprise 484/20

Page 7

Mittendrin, aber nicht dabei Familie Interlaken bietet alles fĂŒr die perfekte Ansichtskarte aus

der Schweiz: Berge, Seen, Swissness. Doch auch im schönen Berner Oberland leben Familien in Armut – mit massiven Folgen fĂŒr die Kinder. Ein Besuch bei Familie Boganovic*. TEXT  ANDRES EBERHARD

Der Höheweg in Interlaken ist zwar nicht, was sein Name verspricht: Alpenpanorama hat er nicht zu bieten. DafĂŒr Souvenir­ shops, Luxusboutiquen und edle Hotels. Die Promenade verlĂ€uft vom Bahnhof West zum Bahnhof Ost. Von dort fĂ€hrt ein Inter­ city direkt nach Berlin. Die Berge, die Aare, die Lage: Das 5600-Einwohner-StĂ€dtchen ist ein Vorzeigeort fĂŒr Tourist*innen – vor allem aus arabischen LĂ€ndern, Indien und China. Auf der Fotoplattform Instagram ist Interlaken das beliebteste Sujet der Schweiz, noch vor dem Matterhorn. Zu­ mindest vor Corona boomte das GeschĂ€ft mit der Swissness. LĂ€uft man vom Bahnhof Ost nicht auf dem Höheweg, sondern in die andere Rich­ tung, gelangt man ein paar Querstrassen weiter zur Wohnung der sechsköpfigen Fa­ milie Boganovic*, die unter der Armuts­ grenze lebt. Wenn Interlaken die perfekte Schweizer Ansichtskarte ist, dann ist dieser Ort deren RĂŒckseite. Holztreppe, zweiter Stock, Kathleen Hennessy klingelt. Sie ist Sozialarbeiterin und besucht die Familie seit rund einein­ halb Jahren fast jede Woche. Vor drei Jahren war Jana, die Mutter, handgreiflich gewor­ den gegenĂŒber ihrer Tochter, der 16jĂ€hrigen Valentina. Die Tochter zeigte die Mutter an, die Kindes- und Erwachsenen­ schutzbehörde (Kesb) schaltete sich ein. Die Behörden beauftragten die örtliche Firma Qualifutura mit einer Familienbegleitung. Ziel ist die sozial-berufliche Integration der Kinder. Hennessy ĂŒbernahm den Auftrag im Mandat. «Anfangs war es schwierig, das Vertrauen von allen zu gewinnen», wird sie spĂ€ter erzĂ€hlen. Mittlerweile sei sie aber beinahe ein Teil der Familie. «Die Eltern hören auf mich und setzen einiges um – auf eine Art, die fĂŒr sie stimmt.» Surprise 484/20

Die Eltern stehen gemeinsam in der TĂŒr, HĂ€nde werden hingestreckt, «darf man?», fragt Vladi, der Vater, aber da ist es schon zu spĂ€t. Gemeinsam setzt man sich aufs tiefe Sofa im Wohnzimmer, es riecht frisch geputzt, ein Flatscreen-TV dominiert den Raum. «Interlaken ist die beste Stadt fĂŒr uns», sagt Vladi. «Wir brauchen kein Auto, um einzukaufen oder zum Arzt zu gehen.» Nur die Ă€lteren Kinder, ergĂ€nzt Jana, wĂŒr­ den lieber in einer Grossstadt leben. Das Ehepaar war nach dem Bosnienkrieg in den 1990er-Jahren zuerst nach Deutsch­ land geflĂŒchtet, dann in ein Asylzentrum in der NĂ€he. Seit 2005 lebt die Familie im Zentrum von Interlaken. «Isch mini Idee gsi» Jana und Vladi haben vier Kinder, alle woh­ nen sie – zumindest offiziell – noch zu­ hause. «Bei den Ă€lteren beiden haben wir viele Fehler gemacht», sagt Jana. Dem 19-jĂ€hrigen Sohn hĂ€tten sie zu viele Frei­ heiten gewĂ€hrt, der 16-jĂ€hrigen Tochter zu wenige. Der Sohn geriet auf Abwege, war in SchlĂ€gereien verwickelt. Zum Zeit­ punkt des Besuchs haben die Eltern seit zehn Tagen nichts von ihm gehört, viel­ leicht sei er bei Freunden. «Ich habe alles fĂŒr ihn gemacht, wahrscheinlich zu viel», sagt die Mutter. «Ich selbst hatte eine Scheiss-Kindheit. Deshalb wollte ich, dass er es besser hat.» Tochter Valentina erlebte das Gegenteil. Als sie in die PubertĂ€t kam, musste sie al­ les ĂŒbernehmen, wofĂŒr die Eltern keine Zeit hatten: kochen, putzen, waschen, sich um die kleinen Geschwister kĂŒmmern. Beide Eltern arbeiteten zu diesem Zeit­ punkt hundert Prozent. Wie schon zuvor ihr grosser Bruder brach auch Valentina die Schule ab. Seit eineinhalb Jahren ist sie

zuhause, ohne Abschluss, ohne Perspekti­ ven und ohne Freund*innen, wie sie selbst sagt. Die Mutter sagt: «Ich habe sie ĂŒber­ fordert, sie hatte nie Zeit fĂŒr sich. Ich habe ihr sogar verboten, Freunde zu treffen und auszugehen.» Die Hoffnungen liegen nun auf den 12-jĂ€hrigen Zwillingen. «Auf sie passen wir besser auf», sagt Jana. Ihr Wohl steht auch im Zentrum der Familienbegleitung von Kathleen Hennessy. Die beiden JĂŒngeren sollen eine normale Kindheit erleben, die Schule besuchen, Hobbys haben, irgend­ wann eine Ausbildung machen, Geld ver­ dienen – also all das, was viele andere Kin­ der haben und was bei den Älteren danebenging. Valentina kommt ins Wohnzimmer, sie ist gerade erst aufgestanden, obwohl es schon nach 14 Uhr ist. Als sie hört, worum es geht, fragt sie etwas unglĂ€ubig: «Haben wir denn hier ĂŒberhaupt Kinderarmut?» Als man ihr bestĂ€tigt, dass die Familie als armutsbetroffen gilt, sagt sie: «I weiss nid», und denkt nach. «Es isch sicher nid luxuriös. Aber es isch akzeptabel.» Bei Armut denkt Valentina an die Fe­ rien in Bosnien – Menschen, die kein Dach ĂŒber dem Kopf oder zu wenig zu essen ha­ ben. In der Schweiz sind Obdachlose zwar seltener und weniger sichtbar. DafĂŒr ist Geld umso wichtiger, um dazuzugehören. Wer nichts auf dem Konto hat, kann sich so manches Hobby, den Besuch im Restau­ rant oder den Wochenendausflug mit Freund*innen nicht leisten. Selbst der Zahnarztbesuch kann zu teuer sein. Auch Kinder laufen so Gefahr, zu Aussensei­ ter*innen werden. In der Schweiz haben 660 000 Men­ schen Probleme, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Familie Boganovic gehört 7


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.