Strassenmagazin Nr. 489 4. bis 17. Dezember 2020
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Advent
Wir warten alle An der Kasse und beim Zahnarzt. Auf Normalität und auf Weihnachten. Nur warten wir nicht alle gleich.
Wir schreiben KULTUR. Wir leben KULTUR. Wir sind KULTUR. Vor dem Jahr 2020. Durch das Jahr 2020. Nach dem Jahr 2020. Mit dem Surprise zusammen bilden mehr als ein Dutzend eigenständige Kulturmagazine den «Kulturpool». Mit ihren Regionen bestens vertraut, betreiben die Magazine engagierten Kulturjournalismus und erreichen gemeinsam 921’260 Leserinnen und Leser in der ganzen Deutschschweiz und im Fürstentum Liechtenstein. Allerdings steht einigen von uns das Wasser bis zum Hals, anderen schwappt es bereits übers Kinn. Unterstütze deshalb jetzt das Kulturmagazin Deines Vertrauens. Das geht am einfachsten mit einem Abo oder mit einem Unterstützungsbeitrag. (*)
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ProgrammZeitung Kultur
im Raum Basel
TITELBILD: CORINA VÖGELE
Editorial
Wartezeit Eigentlich war da schon vor einem halben Jahr einfach mal der Gedanke: Und im Advent warten wir dann auf Weihnachten. Machen wir doch ein Feiertagsheft übers Warten. Wir fanden es passend, weil wir seit Anfang Jahr kollektiv in einem Wartezustand stecken. Wir warten auf einen Impfstoff, wir warten auf Normalität. Es ist ein Warten, das vordergründig für alle das gleiche ist und doch ganz unterschiedliche Dinge auslöst: Stress bei den einen, Einsamkeit bei den anderen, ein Nachdenken über das Mensch-Tier-Verhältnis oder über unser Zusammenleben ganz allgemein bei den nächsten. Das Warten hat ein Eigenleben. Die Lücke im alltäglich selbstverständlichen Zeitfluss löst etwas aus. Empfindungen, fokussierte Wahrnehmungen, Gedanken, eine Haltung. Das Thema hat mit den Tagen und Wochen immer mehr an Tiefe gewonnen. Uns wurde bewusst, wie viel gerade die Themen, die wir als Strassenmagazin im Auge zu behalten versuchen, mit Warten zu tun haben.
Illustrationen
4 Aufgelesen 5 Fokus Surprise
Selbstbestimmt wartet es sich anders 6 Soziologie
«Hier, ich bestimme über die Zeit»
Da sind zum Beispiel Arbeitswelten, in denen die Einteilung von Warten und Losdüsen völlig fremdgesteuert ist. In der Welt der Velokuriere noch nicht einmal mehr von einem Chef, sondern von einer App. Dann sind da natürlich auch die Wartezeiten unserer Verkäufer*innen, die sie alle auf ihre eigene Art zu nutzen und gedanklich zu füllen wissen. Oder da sind Asylsuchende, die auf ihren Bescheid warten. In ihren Schilderungen erzählen sie vom Druck, den das Warten auslöst. Und vom Versuch, eine Haltung dazu zu finden. Warten zu müssen, bedeutet oft Ohnmacht, das mussten wir mit diesem Heft lernen. Aber das Warten auf Weihnachten immerhin sehen wir genauso rosarot, wie unser Cover ist. Denn, das bestätigt auch der Soziologe im Interview: Wir brauchen das Warten im Advent – als Entschleunigung im gehetzten Arbeitsalltag. Wir wünschen Ihnen eine erfüllte Wartezeit. DIANA FREI
Redaktorin
14 Zwangsadoption
Das lange Warten auf Wiedergutmachung 18 Öffentlicher Raum
Surprise verkaufen bedeutet Warten 22 Asylwesen
Warten auf Bescheid Corina Vögele hat dieses Heft illustriert. Sie studierte Visuelle Kommunikation an der Hochschule Luzern. Sie arbeitet als selbständige Illustratorin für verschiedene Printmedien, Verlage und Agenturen.
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26 Alltagsphänomen
Der verlorene Glanz des Wartsaals 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
12 Digitalisierung
Velokuriere sind vom Algorithmus gesteuert
30 Internationales Verkäufer*innen-Porträt
«Mir ist nie langweilig»
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Aufgelesen
FOTOS: JOANNE ZUHL
News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Hängen gelassen Will, der seinen Nachnamen lieber für sich behalten möchte, lebt in einem Wohnwagen in der 97th Avenue in Portland, Oregon. Der 63-Jährige besass einmal eine Autowerkstatt in der Nachbarschaft, heute kümmert er sich um die Gemeinschaft der Wohnungslosen, die sich hier angesiedelt hat. Seit 2017 ist er selbst einer von ihnen. «Ich hatte immer Geld», sagt Will. «Jetzt bekomme ich 1000 US-Dollar im Monat.» Die durchschnittliche Miete für eine Einzimmerwohnung in Portland beträgt rund 1400 US-Dollar. Zudem stehen für 100 Haushalte mit geringem Einkommen gerade mal 27 bezahlbare Wohnungen zur Verfügung. Will ist enttäuscht: «Ich habe mein ganzes Leben lang gearbeitet, ich besass eine Werkstatt, in Gottes Namen! Ich habe Steuern für neun Leute gezahlt, über dreissig, fast vierzig Jahre. Ich hätte nie gedacht, dass es dazu einmal kommen würde, verrückt. Meine Regierung hat mich hängen lassen.»
STREET ROOTS, PORTLAND
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Mehr als 690 Millionen Menschen leiden weltweit an chronischem Hunger. Allein 114 Millionen Kinder sind infolge chronischer Unterernährung zu klein für ihr Alter. Dabei wirke Corona beim Thema Hunger wie ein Brandbeschleuniger, sagt Mathias Mogge, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Welthungerhilfe. Zu den Risikogruppen gehörten – weitgehend unabhängig vom Alter – auch all jene, die unter prekären Umständen leben, medizinisch kaum versorgt werden und an Hunger oder Unterernährung leiden. Man befürchtet zudem, dass sich das Virus in Krisenländern unkontrollierter verbreitet. Das Ziel der internationalen Staatengemeinschaft, in den nächsten zehn Jahren den Hunger weltweit zu besiegen, könnte noch unrealistischer werden, befürchtet Mogge.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
Weniger Sozialwohnungen
1,14 Millionen öffentlich geförderte Wohnungen zählte das Bundesinnenministerium 2019, rund 39 000 weniger als im Jahr zuvor. Das steht im krassen Widerspruch zur Nachfrage: Der Deutsche Mieterbund schätzt den landesweiten Bedarf an günstigen Wohnungen für Bürger*innen mit niedrigem Einkommen auf über sechs Millionen.
BODO, DORTMUND
Steuern für Tampons
20 Prozent Steuern zahlen Frauen in Österreich für Monatshygieneartikel. Bei 10 000 bis 17 000 Tampons oder Binden in einem Leben summiert sich das zu einem beträchtlichen Betrag. Die «Tamponsteuer» soll daher gesenkt werden. In Ländern wie Kanada oder Irland wurden Steuern für Damenhygieneartikel inzwischen abgeschafft.
MEGAPHON, GRAZ
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Fokus Surprise
Selbstbestimmt wartet es sich anders «Warten» bedeutet laut Duden «dem Eintreffen einer Person, einer Sache, eines Ereignisses entgegensehen, wobei einem oft die Zeit besonders langsam zu vergehen scheint». Erinnern Sie sich, wie Sie als Kind oder Jugendliche*r oft einfach nur gewartet haben? Auf den Bus nach Hause, auf die Gutenachtgeschichte im Bett, auf den Besuch des Nachbarskindes. Stundenlang. Wie schafften wir das nur ohne die kurzweiligen gedanklichen Ausflüge in die Welt der sozialen Medien, News-Apps oder Handy-Games? Tempi passati. Dass wir als Erwachsene in unserer Freizeit das Warten verlernt haben, ist nicht erstaunlich. Die sozialen Netzwerke trimmen uns auf ständige Verfügbarkeit und der kontinuierliche Nachrichtenfluss gibt einem das Gefühl, stets etwas zu verpassen – gerade in Zeiten einer globalen Pandemie. Und doch bin ich geneigt zu sagen: Das sind Luxusprobleme. Denn das Warten von uns Privilegierten unterscheidet sich fundamental vom Warten sozial benachteiligter Menschen. Während wir auf etwas warten, das in naher Zukunft mit grosser Sicherheit eintreffen wird, warten unsere Surprise-Verkäufer*innen, Chorsänger*innen, Stadtführer*innen und Strassenfussballspieler*innen meist lange Zeit und ohne Perspektive. Sie sind oft auch vollkommen vom Entscheid anderer, meist von Behörden, abhängig. Diese Ohnmacht spüren Menschen ohne Schweizer Pass – und zu denen gehört der Grossteil unserer Verkäufer*innen – besonders stark. Hinzu kommen bei ihnen sprachliche Probleme und der immense Druck, den ihr Aufenthaltsstatus mit sich bringt. Wir tun unser Bestes, diesen Menschen in ihrem Sinne zu helfen. Doch oft müssen auch wir warten – bis die Behörde wieder antwortet, bis das richtige Formular am richtigen Ort landet, bis die Umstände stimmen. Ich bewundere die stoische Ruhe, mit der viele armutsbetroffene Menschen Entscheiden über ihr Schicksal gegenüberstehen. Warten ist für sie normal.
FOTO: RUBEN HOLLINGER
Corona schwächt die Hungernden
«Ich bewundere die stoische Ruhe, mit der viele Armutsbetroffene Entscheiden über ihr Schicksal gegenüberstehen.»: Jannice Vierkötter.
Auch die Arbeit als Strassenmagazinverkäufer*in bringt viel Warten mit sich: das Warten auf die Kundschaft, auf ein Gespräch, auf Begegnungen. Ja, das Warten sei anstrengend, sagen mir die Verkäufer*innen oft, doch sie schätzten die selbstbestimmte Arbeit auf der Strasse und fühlten sich dort als Teil der Gesellschaft. Mit dem Coronavirus und dem Rückzug der Menschen aus dem öffentlichen Raum hat die Ohnmacht leider bei vielen Verkäufer*innen wieder zugenommen. Deshalb will ich Ihnen, liebe Leserin und Leser, besonders in dieser schwierigen Zeit danken für Ihre Treue und Solidarität. Ohne Sie gäbe es Surprise nicht. Was uns 2021 bringen wird? Wir wissen es nicht. Auch hier heisst es: Warten wir einmal ab. Doch jetzt wünsche ich Ihnen erst einmal eine besinnliche Vorweihnachtszeit. Ich hoffe, Sie können sie im – kleinen – Kreis Ihrer Liebsten feiern und nach diesem hektischen Jahr etwas Energie tanken. Alles Gute. JANNICE VIERKÖT TER,
Geschäftsleiterin Surprise
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«Wer Macht und Geld hat, kann das Warten vermeiden» Soziologie Warten bedeutet Ohnmacht, entschleunigt aber auch
in einer sich immer schneller drehenden Welt. Soziologe Andreas Göttlich über die Wirkungsweise des Wartens im Alltag. INTERVIEW DIANA FREI
Herr Göttlich, ich würde behaupten: Wer aus bescheidenen Verhältnissen stammt, lernt schnell, dass er sich hinten anzustellen hat. Stimmt das? Tendenziell würde ich sagen: Ja. Wir lernen alle, wo man sich anstellen muss. Wenn man beigebracht bekommt, dass man einer bestimmten sozialen Schicht angehörig ist, in der man zu warten hat, dann gehört das zur Sozialisation. Wenn man das für sich akzeptiert, dann gerät man dementsprechend genau in diesen Habitus, in die Gewohnheit des Wartens. Man denkt nicht mehr darüber nach, das Gefühl bleibt haften: So ist es halt. Es kann natürlich auch zu einer Gegenhaltung führen, das sehen wir bei der jüngeren Generation zum Teil, die sich gegen solche Tendenzen auflehnt. Aber ich würde sagen, das ist die Ausnahme. Im Allgemeinen scheint das systematische Wartenlassen ganz gut zu funktionieren. Umgekehrt sieht man, dass die, die privilegiert sind und entsprechende finanzielle Mittel haben, das Warten oftmals umgehen können. Wir kennen es von den VIPs am Flughafen, die Surprise 489/20
in der «Fast Lane» beim Check-in durchlaufen können. Es gibt mittlerweile den Beruf des sogenannten Codista, des Schlangestehers. In Italien hat jemand ein ganzes Geschäftsfeld darauf aufgebaut. Das ist eine Dienstleistung: Ich warte für Sie auf einer Behörde, einem Amt, und Sie geben mir Geld dafür. Wenn man Macht oder Geld hat, kann man das Warten vermeiden. Sie sagen, eine Betrachtung des Wartens gibt Aufschlüsse über Wertvorstellungen und Machthierarchien. Genau. Betreffend Wertvorstellungen kann man sagen: Indem wir auf etwas warten, bestimmen wir das Ziel als irgendwie bedeutsam für uns. Wir würden nicht auf etwas warten, das für uns nicht bedeutsam ist. Was Macht anbelangt, gibt es vor allem in der Politik Situationen, in denen man Personen warten lässt. Früher hat man das viel stärker angewandt. Monarchen haben Leute, die aus anderen Ländern zu ihnen geschickt wurden, oft warten lassen. Das war eine offene Machtdemonstration, man 7
zeigte: Hier, ich bestimme über die Zeit. Das ist in der heutigen Politik nicht mehr so verbreitet. In einer modernen Gesellschaft, in der wir nach dem Gleichheitsprinzip leben, finden wir es aber in versteckten Formen. Was muss man sich darunter vorstellen? Es gibt eine Studie eines argentinischen Soziologen, der die Situation auf Sozialämtern in Buenos Aires untersuchte. Also an Orten, wo die ärmere Bevölkerung hingeht,
sich an sie und unterscheidet sich damit auch von der darauffolgenden Generation. Jede Generation verinnerlicht damit auch eine andere Erwartungshaltung als Wert. Dann kann ich in einer beschleunigten Welt eigentlich gar nicht versuchen, ein geduldigerer Mensch zu werden. Das wird schwierig. Es gibt immer eine Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Individuum. Wir wachsen in einer Gesellschaft mit Werten auf, die uns beigebracht werden. Die Gesellschaft geht in uns ein, und umgekehrt wird die Gesellschaft von uns Individuen gebildet. Der Anspruch, schnell zu sein, wird an uns herangetragen, zum Beispiel im beruflichen Kontext. Wir empfinden das als Zwang. Umgekehrt äussern wir den gleichen Druck aber auch gegenüber anderen Leuten. Sobald wir Kunde sind, wollen wir, dass wir das Paket möglichst rasch bekommen, das wir irgendwo bestellt haben. Wir sind den Dingen ausgesetzt, treiben sie aber auch selbst voran. Wenn die gesellschaftlichen Umstände mir nicht ein Stück weit entgegenkommen, werde ich nicht viel Erfolg haben mit dem Versuch, geduldiger zu werden.
«Wenn die gesellschaftlichen Umstände mir nicht entgegenkommen, werde ich kaum geduldiger werden können.» ANDREAS GÖT TLICH
um Anträge auf Arbeitslosenunterstützung oder Kindergeld zu stellen. Es zeigte sich, dass dort mit der Zeit der Leute sehr unbedacht umgegangen wird. Man legt wenig Wert darauf, dass etwas schnell geht. Prozesse werden oft verzögert. Man schiebt Computerprobleme vor, vertagt Entscheide, sagt den Wartenden, sie sollen in der nächsten Woche wiederkommen. Der Soziologe fand darin eine ganz gezielte Machtdemonstration, eine Technik, um den Leuten zu vermitteln: Ihr seid nicht so wichtig im Staat, eure Anliegen sind nicht so relevant. Diese Botschaft ist unterschwellig, aber sie kommt an. Das ist eine Machtausübung, die nicht offen geschieht, aber trotzdem wirksam ist. Sobald es um sozial höhere Schichten geht, muss vieles schneller gehen, weil davon auch die Wirtschaft profitiert. Ob wir Zeit zu warten haben, hängt auch von der Gesellschaft ab, in der wir leben. In einer traditionell ländlichen Welt müssen die Bäuer*innen nun mal auf die Ernte warten, während im modernen Geschäftsalltag alles schnell erledigt werden soll. In der modernen Gesellschaft spielt die Beschleunigung eine grosse Rolle, die damit zusammenhängt, dass es Rationalisierungsschübe gab. Die E-Mail hat die Kommunikation im Vergleich zum Briefverkehr um ein x-Faches beschleunigt und damit auch die Erwartungshaltung, dass man auf eine Antwort nicht lange warten will. Zudem hat sich in der modernen Gesellschaft ein neues Verständnis von Zeitnutzung durchgesetzt. Der Soziologe Max Weber führte es auf die protestantische Ethik zurück, also auf eine religiöse Idee. Der Protestantismus betrachtete die alltägliche Lebensführung als Dienst zu Ehren Gottes. Darin steckt ein Effizienzdenken, das wir säkularisiert und in unser Berufsleben eingebaut haben. Aber ich glaube, dass vor allem Machbarkeitsvorstellungen das Warten verändern. Technik verändert Machbarkeitsgrenzen. Das sind historische Perspektiven, das passiert nicht von heute auf morgen. Die nächste Generation wächst wieder mit einer bestimmten Technik auf, man gewöhnt 8
Welchen Einfluss hat denn das politische System auf unser Warten können, Warten müssen? In der UdSSR und ihren ehemaligen Satellitenstaaten hat das politische und ökonomische System zu Warteerfahrungen geführt, die ganze Generationen gemacht haben. Es war eine Lebenswirklichkeit, die die Menschen in ihrem Alltag begleitete. Es gibt Studien, die zu quantifizieren versuchten, wie viel die Menschen gewartet haben. Sie sind auf mehrere Stunden pro Tag gekommen, etwa in Wartesituationen in Kaufhäusern, in Lebensmittelläden. Das hängt natürlich direkt mit dem System zusammen. Auch bei Corona spielt das politische System in Bezug aufs Warten eine Rolle, aber in einem ganz anderen Sinn. In einer Demokratie gibt es gewisse Prozesse, bis man zu politischen Beschlüssen gelangen kann. Am Ende haben wir dann ein Ergebnis, das in der Bevölkerung legitimiert ist. Aber es dauert seine Zeit. Das merken wir jetzt, wenn wir die Situation in der Schweiz oder Deutschland mit einem zentral gelenkten Staat wie China vergleichen, wo einfach alles von einem Tag auf den anderen beschlossen werden kann. Das Regierungs- oder Herrschaftssystem hat auch hier unmittelbare Auswirkungen auf das Warten. Wenn sich Menschen in einem politischen System gefangen fühlen, gibt es dann einen bestimmten Punkt, an dem man nicht mehr zu warten bereit ist? Diesen Moment kann man theoretisch benennen, aber wann er sich konkret verwirklicht, kann man schlecht voraussagen. Viele Studien sagen, der Arabische Frühling wäre ohne die sozialen Medien und auch die Verbreitung der entsprechenden Geräte nicht möglich gewesen. Die Sättigung der Bevölkerung mit einer bestimmten Technik kann also eine Voraussetzung sein. Oft sind es auch chaSurprise 489/20
rismatische Führungsfiguren, die aussprechen, was in der Menge latent schon vorhanden war. Martin Luther King war für die Bürgerrechtsbewegung der USA ein solches Sprachrohr. Es kann das Auftauchen einer einzelnen Figur sein, die dem Kollektiv eine Geltung verschafft. Aber reden wir hier überhaupt noch vom Warten? Ist das ein Wartezustand, der ein Ende gefunden hat? Ja, durchaus. Martin Luther King hat selbst ein Buch geschrieben mit dem Titel «Why we can’t wait» – «Warum wir nicht warten können». Er hat den Gesellschaftszustand selbst als Wartezustand empfunden und hat ihn auch so beschrieben. Das Buch ist auch in dem Sinn rezipiert worden. Die Selbstwahrnehmung der handelnden Personen in der Bürgerrechtsbewegung war die von Wartenden. Beim Warten läuft Zeit ab. Insofern ist es eigentlich etwas Ungeheuerliches, wenn Menschen warten müssen. Oder wenn die einen die anderen warten lassen. Geht es dabei auch um das Stehlen von Lebenszeit? Das ist ein plausibler Gedanke. Ob das in der konkreten Situation von Menschen auch so empfunden wird, müsste man allerdings empirisch untersuchen. Dass man das Leben vom Ende her denkt, ist in der Existenzphilosophie aufgekommen. Hier hat man auch den Gedanken vom Warten auf den Tod ausformuliert. Die Idee, dass dem eigenen Leben ein Ende gesetzt ist, sorgt automatisch für Zeitknappheit. Wenn Sie gläubige Christin sind, heisst das für Sie, dass nach dem Tod noch etwas anderes kommt. Eine bessere Welt, die ewig ist. Das relativiert diesen Zeitdiebstahl gewissermassen. Die Zeitknappheit zum Tod hin ist ein historisch neuerer Gedanke, der von vielen Philosophen so formuliert worden ist. Ob er aber aus den Höhen der philosophischen Abstraktion herunterdiffundiert in den Alltag, weiss ich nicht. Gelegentlich vielleicht schon. Vielleicht wirkt das Warten müssen dann als noch grössere Beleidigung. Ich würde aber vermuten, dass die allermeisten Personen daran eher nicht denken.
Wir haben nun viel vom Warten als Ohnmacht geredet. Jetzt in der Adventszeit ist Warten aber das pure Gegenteil, nämlich etwas Seelenwärmendes. Es fällt auf, dass es hier stark von unmodernen Elementen geprägt ist: Kerzen in der Stube, Guetzlirezepte aus dem Mittelalter, Vintage-Familienbildchen aus dem 19. Jahrhundert oder aus den häuslichen Fünfzigerjahren. Weshalb ist das eigentlich alles so rückwärtsgewandt? Ich denke, dass hier eine entschleunigte Welt zelebriert wird. Das hat aber nicht nur mit dem Warten zu tun. Wenn ich mich entscheide, meine Plätzchen selbst zu backen und sie nicht im Kaufhaus zu kaufen, dann ist das ein Konsumaufschub, insofern ist das Warten involviert. Aber das Plätzchenbacken ist vor allem ein Handwerk, wir machen das vielleicht mit den Kindern und haben ein Gemeinschaftserlebnis. Warten ist nur eine Facette davon. Es ist eine Reaktion darauf, dass die Beschleunigung an eine Grenze gekommen ist, mit der die Belastbarkeit von Individuen erreicht ist. Das äussert sich in Form von physischem wie psychischem Stress, der krank machen kann. Beschleunigung senkt auch die Bereitschaft, den Dingen ‹ihre› Zeit zu geben, sich auf sie einzulassen, was uns von ihnen entfremdet. Warten kann hier der sprichwörtliche Sand im Getriebe sein, der uns die Möglichkeit gibt, die Dinge nicht bloss unter dem Gesichtspunkt schneller Verwertung zu sehen, sondern andere, zum Beispiel ästhetische Seiten an ihnen zu entdecken. Daher brauchen wir solche Entschleunigungsoasen gerade in der Weihnachtszeit immer mehr.
ANDREAS GÖT TLICH, lebt in Konstanz und lehrt als Soziologe an der dortigen Universität. Er forscht seit mehreren Jahren zu den vielen Facetten des Wartens und arbeitet zurzeit an einem Buch darüber.
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FÜHRT DESIGN ZU REICHTUM? Surprise 489/20
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Bis die App klingelt Digitalisierung Sie radeln täglich bis zu hundert Kilometer durch die Stadt.
Liefern Essen, Laborproben und verlorene Schlüsselbunde. Und werden dabei von Algorithmen und Apps gesteuert. Unterwegs mit drei Velokurieren. TEXT FLORIAN WÜSTHOLZ
Jeden Tag um 11 beginnt die Primetime. Dann melden sich die Mägen in den Büros der Stadt. Und dann steigt Simon* in Zürich Altstetten auf das E-Bike, auf dem Rücken einen grossen, orangen, würfelförmigen Rucksack. Er verbindet sein Smartphone mit der Powerbank in der Jackentasche und startet Scoober – eine «Shift Planner»-App, die Kurierfahrer*innen die Arbeit einteilt. Simon ist 29, Velokurier, bereits während des Studiums fuhr er für ein Kurier-Startup. Mittlerweile arbeitet er für Eat.ch und versorgt in den nächsten zwei Stunden die Menschen in Zürich mit geliefertem Essen. Nachdem er sich in der App als verfügbar markiert hat, wartet er. Nach ein paar Minuten klingelt die App, ein Lieferauftrag erscheint auf Simons Display. Die App zeigt ihm den Weg zum Restaurant und die voraussichtliche Ankunftszeit an. «Wir Velokuriere sind wie kleine Drohnen, vom Algorithmus gesteuert», sagt Simon. Handschuhe anziehen, losfahren. Nach wenigen Minuten kommen wir beim Restaurant an der Langstrasse an. Absteigen, abschliessen, Maske auf. Doch das Essen ist noch nicht bereit – eine Verwechslung in der Küche. Also zückt Simon sein Handy. Neben ihm steht ein weiterer Velokurier und wartet ebenfalls auf eine Lieferung, das Handy in der Hand. «So sehen wir Velokuriere beim Warten aus», witzelt Simon. «Das Smartphone in der Hand, das Kabel geht zur Powerbank in der Jackentasche.» Simon ist bei der Arbeit die ganze Zeit per GPS überwacht. Das zehrt am Akku. Die App – und damit Eat.ch – weiss jederzeit genau, wo er sich befindet. Ist er zur Kundin unterwegs, erhält diese eine SMS: «Ihre Bestellung wurde dem Kurier übergeben. Verfolgen Sie die Bestellung hier.» «Ich fühle mich schon ziemlich überwacht», meint Simon. «Aber gleichzeitig habe ich auch den Eindruck, dass es völlig egal ist, wenn ich mal zu spät komme oder nach erfolgter Lieferung noch ein paar Minuten Pause mache, bevor ich der App die Lieferung bestätige.» Keine Kontaktperson erreichbar Diese Intransparenz ist typisch für die per Algorithmus gesteuerten Velokurier*innen bei Eat.ch oder Uber Eats. Es gibt keine Kontaktperson. Wie Aufträge verteilt werden, ist völlig unklar. Und was für Auswirkungen effizientes oder schludriges Arbeiten hat, weiss niemand. «Der eigentliche Chef ist der Algorithmus», sagt Simon. Dabei hat er einigermassen Glück – bei Eat.ch hat er einen Monatsvertrag, erhält Fahrrad und Ausrüstung, ist versichert. «Aber wir Kuriere dürfen pro Woche höchstens zehn Stunden arbeiten.» Der genaue Grund dafür ist unklar. Weil aber die meisten Menschen über Mittag und am Abend Essen bestellen, käme man ohnehin nicht auf eine volle Arbeitswoche. «So verdiene ich 1000 Franken im Monat.» Ganz anders geht es Keynan*. Er sitzt auf einer Mauer an der Aarbergergasse in Bern, raucht und wartet auf den nächsten Auf12
trag. Der 32-Jährige kommt aus Somalia und arbeitet für Uber Eats. Wobei das nicht wirklich stimmt, denn Uber Eats will partout kein Arbeitgeber sein. So schreibt zum Beispiel SRF: «Der Tech-Gigant Uber kämpft mit seinen Vermittlungsdiensten weltweit rechtlich dagegen an, in irgendeiner Form als Arbeitgeber eingestuft zu werden – mit allen Verpflichtungen und Rechten.» Offiziell bietet Uber Eats nur eine digitale Plattform an. Wären die Kurier*innen fest angestellt, würde das angeblich einen Flexibilitätsverlust bedeuten. Das Beispiel von Simon zeigt aber, dass er als Angestellter genauso flexibel ist wie ein Uber-Eats-Kurier. «Das System ist willkürlich, intransparent und unvorhersehbar», sagt Keynan. Seit etwa Mai fährt er für Uber Eats und trägt dabei das gesamte Risiko auf den eigenen Schultern. Er braucht ein eigenes Velo und eine Versicherung. Geht etwas schief, bleibt es an ihm hängen. «Bei Schnee fahre ich nicht, das ist mir zu gefährlich», sagt er. Bezahlt wird er nur für den Weg vom Restaurant zur Kundin. Hin- und Rückweg werden nicht verrechnet. Kein Wunder, warten er und die anderen Kurier*innen für Uber Eats an der Aarbergergasse, denn hier sind die meisten Restaurants. Diese Scheinselbständigkeit und die prekären Arbeitsbedingungen sind auch der Gewerkschaft Syndicom ein Dorn im Auge. Das Geschäftsmodell von Uber fördere die Prekarisierung in der gesamten Branche. Und weil Kurierleistungen ein riesiges Wachstum verzeichnen, betrifft das immer mehr Menschen. Wenigstens im Kanton Genf gilt Uber Eats mittlerweile gesetzlich als Arbeitgeber und muss damit Sozialleistungen bezahlen und Arbeitsverträge ausstellen. Das entsprechende Urteil geht aus einem Vorstoss der Genfer Regierung hervor, gegen den sich Uber Eats erfolglos gewehrt hat. Essen wegwerfen geht schneller In Bern ist das noch nicht so. So verdient Keynan pro Stunde etwa zehn Franken. Wer nicht jeden Auftrag annimmt und in den Stosszeiten arbeitet, kommt kaum über die Runden. Trotzdem fährt Keynan jeden Tag fast hundert Kilometer. Immer aus der Innenstadt in die Quartiere und wieder zurück. Alles wird von der UberEats-App gesteuert, die ihn den ganzen Tag herumkommandiert. Bei einem Problem – wenn etwa die Hausnummer fehlt oder das falsche Essen zubereitet wurde – könnte er sich an eine Supportnummer wenden. Doch die sitzt irgendwo im Ausland, minutenlange Warteschleife am Telefon inbegriffen. «Am Ende können die sowieso nichts machen», sagt Keynan. «Manchmal werfe ich dann das Essen einfach weg. Eine Verschwendung, aber was will ich machen.» Es geht schneller. «Warten kostet Geld.» Eine Viertelstunde plaudern wir, immer wieder fahren andere Kurier*innen vorbei. Irgendwann hat er ausgeraucht. Und dann endlich vibriert Keynans Smartphone. Er zieht den Lieferrucksack an und tritt in die Pedale. Surprise 489/20
«Velo drei», sagt Tyler Mangold ins Funkgerät an seinem Rucksack. «Ja, Tyler», kommt die Bestätigung aus der Zentrale des Velokurier Bern. «Ich bin jetzt wieder leer an der Könizstrasse», meldet Tyler zurück. «Ok, gib mir einen Moment», rauscht es zurück. Der 33-jährige Tyler fährt seit acht Jahren für den Velokurier Bern – eine Genossenschaft, bei der alle siebzig Kurier*innen gleich viel verdienen: rund 22 Franken netto in der Stunde. Nicht viel, aber anständig. Und vor allem arbeiten hier alle als Team zusammen: Die Disponent*innen verteilen die Aufträge, lotsen die Fahrer*innen durch die Stadt und durch den Tag. Über einen offenen Funk sind alle miteinander verbunden. «Radio Velokurier Bern», scherzt ein Kurier am Esstisch, wo sich die Kurier*innen zwischen und nach ihren Schichten für den sozialen Austausch treffen. Geht etwas schief, kann schnell Unterstützung angefordert werden. Irgendjemand ist meist in der Nähe und kann zum Beispiel ein dringendes Päckchen mit Laborproben übernehmen. «Ich bin gerne den ganzen Tag auf dem Velo», sagt Tyler. «Manchmal komme ich in einen Flow, wenn die Aufträge gut verteilt sind und ich von einem Ort zum anderen düsen kann.» Tyler ist, wie viele andere der Truppe, Velokurier mit Herzblut. Sein Lastenvelo hat er selbst zusammengebaut, er kennt jedes Gässchen, jede geheime Abkürzung. «Zeit ist unser Kapital», erklärt Tyler. «Wir unterstützen uns gegenseitig im Team, damit alles reibungslos funktioniert.» Wenn eine Lieferung innert dreissig Minuten bei der Kundin sein muss, müsse man teilweise an die eigenen körperlichen Grenzen gehen, insbesondere bei schlechtem Wetter. Wenn Tyler auf eine Lieferung wartet, die mit dem Zug kommt, dreht er sich am Bahnhof eine Zigarette, füllt ein paar Frachtenscheine aus und schaut vielleicht aufs Handy. «Im Winter ist es hier manchmal verdammt kalt und windig», meint Tyler. «Da schauen wir, dass wir irgendwie warm bleiben können.» Mit den Jahren haben die Kurier*innen des Velokurier Bern ein Netz mit Partner*innen aufgebaut und wissen, wo sie schnell einen Kaffee trinken oder sich auf einer Heizung den Hintern wärmen können. Während wir über die Lorrainebrücke fahren, entdecke ich zwei Vogelfedern an seiner Satteltasche. «Ein Glücksbringer?», frage ich. «Ach, die», lacht Tyler. «Die hat mir mein Sohn da angemacht, in einer ruhigen Minute.» Und saust davon. * Namen geändert
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FÜHRT REICHTUM ZU DESIGN? Surprise 489/20
«Scheinselbständigkeit ist ein Problem» Arbeitsbedingungen Die Gewerkschaft Syndicom
beobachtet die Kurierdienste kritisch. David Roth, wie viele Velokurier*innen arbeiten aktuell in der Schweiz? Das ist schwierig zu sagen. Es gibt Hunderte, die unter Vertrag stehen, ohne überhaupt eine Stunde im Monat zu arbeiten. Das liegt an den grossen Schwankungen im Kurierbereich. Im Moment ist die Nachfrage wegen der Pandemie gerade sehr hoch, aber das kann sich schnell ändern. Wir gehen aber davon aus, dass es im Kuriermarkt etwa zweitausend Vollzeitstellen gibt. Jedoch arbeiten nur die wenigsten Kurier*innen Vollzeit. Wie entwickelt sich die Situation für die Velokurier*innen? Sie entwickelt sich derzeit in einem ungeheuren Tempo. Fast monatlich kommen Firmen auf den Markt oder verschwinden wieder. Viele davon haben wenig Ahnung vom Schweizer Arbeitsrecht. Teilweise, weil sie aus der Techbranche neu in die Logistik einsteigen. Manchmal aber auch, weil es sich bloss um Schweizer Niederlassungen von internationalen Multis handelt. So sind die Kurier*innen oft eher algorithmisch gesteuerte Manövriermasse als individuelle Mitarbeiter*innen. Viele Velokurier*innen sind prekär oder als Scheinselbständige beschäftigt. Wie lässt sich das ändern? Die Scheinselbständigkeit ist ein Problem, das zum Glück zunehmend verschwindet. Denn die Behörden gehen vermehrt dagegen vor. Es ist aber höchste Zeit, dass das Bundesgericht endlich das lang ersehnte Urteil hinsichtlich des Status von Uber als Arbeitgeber fällt und diese Art von Scheinselbständigkeit definitiv verbietet. Was muss sich bei den Arbeitsbedingungen ändern? Das Hauptproblem ist die sehr geringe Planungssicherheit für die Kurier*innen. Oft wissen sie nicht, ob sie im nächsten Monat überhaupt noch arbeiten können, weil sie häufig über Stundenlohnverträge ohne festes Pensum angestellt sind. Hier wird das unternehmerische Risiko komplett auf die Fahrer*innen abgewälzt. Umso wichtiger ist ein Gesamtarbeitsvertrag, um den Kurier*innen Planungssicherheit und minimale Einsatzdauern zu garantieren. Zurzeit erarbeiten wir deshalb eine Eingabe für eine allgemeine Verbindlichkeit für die gesamte Branche. So müssten sich alle an dieselben Spielregeln halten. DAVID ROTH ist Zentralsekretär Logistik bei der Gewerkschaft Syndicom und SP-Kantonsrat in Luzern.
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Gestohlene Babys Zwangsadoption Über Jahrzehnte wurden chilenische Kinder ohne Einverständnis der Eltern
zur Adoption in die USA und nach Europa weggegeben. Heute suchen die Betroffenen nach ihren Familienangehörigen, hoffen auf Wiedergutmachung – und warten auf Gerechtigkeit. TEXT MALTE SEIWERTH
«Ich wuchs als Einzelkind auf», erzählt Marisol Rodríguez. Von Zeit zu Zeit sprach die Mutter davon, dass sie im Winter 1972 eine zweite Tochter zur Welt gebracht hatte, angeblich eine Totgeburt. Doch es gab kein Grab, ihre Mutter hatte das Kind nach der Geburt nicht einmal gesehen. Die Ärzt*innen im Krankenhaus sagten damals, sie würden den Leichnam zu Forschungszwecken mitnehmen. Eine Aussage, welche die Mutter von Marisol Rodríguez nie hinterfragte. In jenen Jahren gab es eine hohe Kindersterblichkeit, viele Mütter verloren bei der Geburt ihr Kind. Marisol Rodríguez wurde 1974 geboren und wuchs in einem Armenviertel von Santiago de Chile auf, ihre Mutter war alleinerziehend. Ehelos und arm zu sein, war nicht gut angesehen. Als Marisol älter wurde, engagierte sie sich politisch, studierte an der Universität und begann auch dort zu arbeiten. Dabei beschäftigte sich die Mathematikerin auch mit Geschichten aus dem Nachbarland Argentinien über verschleppte Kinder während der dortigen Militärdiktatur. Das war 2014. Damals erschien auf dem chilenischen Rechercheportal CIPER eine Reportage zu zwei Kindern, die als Totgeburt deklariert und in Wirklichkeit zur Adoption freigegeben worden waren – aus Chile. Die Geschichte ähnelte auf grausame Weise jener ihrer Mutter, fand Rodríguez. «Da begann ich zu forschen. Ich vermutete, dass meine Schwester ebenfalls illegal adoptiert worden sein könnte.»
Menschenrechtsverletzungen in Chile Am 11. September 1973 putschte das Militär gegen die demokratische Regierung unter dem Sozialisten Salvador Allende. In den Folgejahren baute sie ein Terrorregime auf, das weltweit für seine gravierenden Menschenrechtsverletzungen bekannt war. Erst eine Protestwelle im Land selbst und internationaler Druck ermöglichten 1990 ein demokratisches Ende der Diktatur. Jedoch geschah dies mit dem Kompromiss, die hohen Offiziere nicht direkt zu belangen. Erst mit der Zeit kam nach und nach das realen Ausmass der Menschenrechtsverletzungen zutage. Bis heute finden in Chile Prozesse gegen Verantwortliche statt.
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Die chilenische Historikerin Karen Alfaro widmet sich diesem Thema seit mehreren Jahren. Ihr eigentliches Forschungsgebiet ist die Geschichte von Frauen in ländlichen Gebieten, doch während einer Feldforschung erzählte ihr eine Interviewpartnerin, dass eine Sozialarbeiterin während der Militärdiktatur «Babys raubte». Alfaro wurde stutzig und begann, sich dem Thema intensiver zu widmen. Und stellte fest: Dahinter steckte ein ganzes System. Vor der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet, die von 1973 bis 1990 das Land mit eiserner Hand beherrschte, hatte es bereits vereinzelte Fälle dieser Art von Menschenhandel gegeben. Ohne rechtliche Verfolgung war ein System für Adoptionen ohne Einverständnis der Eltern aufgebaut worden. In jedem Empfängerland wurde mit anderen Ansprechpartner*innen und -organisationen zusammengearbeitet: in Italien mit der katholischen Kirche, in den USA mit den Mormonen oder in Schweden mit dem dortigen Sozialdienst. Die Militärdiktatur machte daraus dann staatliche Politik: Es ging um Zwangssterilisationen und Kinderraub mit dem Ziel, «die arme Bevölkerung an sich zu reduzieren», so die Historikerin Karen Alfaro. Sie erzählt von Bussen der chilenischen Polizei, die durch Armenviertel fuhren und reihenweise Kinder mitnahmen. Später hiess es, die Kinder seien «verlassen aufgefunden» worden. Ahnungslose Adoptiveltern Rodríguez suchte im Internet nach ihrer Schwester. Dabei traf sie auf Adoptivkinder aus Europa und den USA, die nach ihren leiblichen Eltern in Chile suchten. Gemeinsam gründeten sie eine Facebookgruppe mit dem Namen
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«Hijos y Madres del Silencio», zu Deutsch «Kinder und Mütter der Stille». So entstand ein riesiges Netzwerk, das bis heute über 200 Zusammenkünfte organisieren konnte. Auch in der Schweiz gibt es vereinzelte Betroffene, von denen allerdings niemand zur Auskunft gegenüber Surprise bereit war. Rodríguez geht von bis zu 50 000 Kindern aus, die zwischen den 1950er-Jahren und etwa dem Jahr 2000 ihren Müttern weggenommen wurden; mehr als 20 000 allein während der Militärdiktatur von 1973 bis 1990. Unzählige Eltern erlebten ähnliche Geschichten wie Rodríguez’ Mutter. Karen Alfaro und Marisol Rodríguez berichten von Sozialarbeiter*innen, Ärzt*innen, Richter*innen, Pfarrern und Staatsbeamt*innen, die systematisch Papiere fälschten und Kinder ausser Landes schafften. Die meisten von ihnen wurden zur Adoption nach Europa und Nordamerika vermittelt. Sofía, die ihren richtigen Namen lieber nicht nennen möchte, wuchs in einem reichen Haushalt in Norditalien auf. Sie spricht nur gebrochen Spanisch, erst in den letzten Jahren hat sie erlernt, was eigentlich ihre Muttersprache wäre. Sofía wusste, dass sie in Chile geboren wurde und adoptiert worden war. Allerdings erfuhr sie erst mit zwanzig, wie ihre Adoption abgelaufen war. Über Videoanruf erzählt sie die Geschichte so: Ihre leibliche Mutter lebte Anfang der 1990er-Jahre allein, arm und schwanger in einer südlichen Hafenstadt in Chile. Eine reiche Frau habe der Schwangeren eine Stelle in ihrem Haushalt in der Hauptstadt Santiago angeboten. Dort habe man ihre
Mutter davon überzeugt, sie solle ihr Kind doch nach der Geburt zur Adoption freigeben. Sie könne ja in Kontakt mit ihrem Kind bleiben, während sich eine wohlhabende Familie um das Kind kümmern würde. Ihre Mutter liess sich darauf ein. Doch nach der Geburt und Übergabe des Babys wurde sie entlassen und hörte nie wieder von der reichen Frau oder ihrem Kind. Angeblich hatte die Frau schon vorher Kontakt mit den Adoptiveltern in Italien gehabt. Diese hingegen wurden im Glauben gelassen, sie würden durch ihre Tat einem armen Kind eine bessere Zukunft verschaffen, und bezahlten rund 44 000 Franken für die Vermittlung. Die leibliche Mutter bekam nichts. Suche nach Zugehörigkeit Ähnlich erging es auch Richard, der wie Sofía lieber anonym bleiben möchte. Er war etwa sechs Jahre alt und lebte mit seinem Vater auf der Strasse, erzählt er über Videoanruf, als eines Nachts die Polizei auftauchte und ihn mitnahm. Ein paar Monate wurde er auf einem Hof untergebracht und musste auf dem Feld arbeiten, bis irgendwann ein reiches europäisches Ehepaar mit einem Pfarrer auftauchte. Das Ehepaar begutachtete ihn und nahm ihn mit nach Italien. Dort erlebte er, was er als alltäglichen Rassismus und Ausgrenzung bezeichnet. Seine Adoptiveltern «waren keine schlechten Menschen, aber unfähig, mich aufzuziehen», erzählt Richard. Noch sehr jung lief Richard von zuhause weg und schloss sich einer rechtsextremen Gruppierung an. «Ich wollte dazugehören, irgendwo.» Über das Internet und die chilenischen Behörden suchte er nach seinem Vater. Vom dortigen Einwohneramt erhielt er eine Todesanzeige. Kurz nachdem sie seinen Sohn mitgenommen hatten, soll er auf der Strasse erfroren sein. Erst dieses Jahr, während des Lockdowns, startete Richard einen neuen Versuch der Herkunftsforschung und stiess auf die Facebookgruppe «Hijos y Madres del Silencio». Dort half man ihm, seine Mutter und Schwester ausfindig zu machen. Innerhalb weniger Monate lernte er Spanisch und baute trotz der Ferne eine innige Beziehung mit seiner Schwester auf. «Seitdem wir voneinander
Die Militärdiktatur betrieb Kinderraub auch mit dem Ziel, die arme Bevölkerung an sich zu reduzieren.
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wissen, rufen wir uns fast täglich an. Es ist, als ob wir uns schon immer gekannt hätten.» Richard hofft, bald mitsamt seiner eigenen Familie nach Chile zu ziehen. Sofía konnte ihre Familie bereits besuchen. Sie erzählt, wie sie Ende 2019 nach Chile flog und dort ihre Familie kennenlernte. Sie wurde von ihnen am Flughafen mit einem riesigen Spruchband «Bienvenida a Chile» empfangen. Vor Ort forschte sie nach ihrer Adoptionsgeschichte und fand die Frau, die damals die Adoption organisiert hatte. Ihre leiblichen Geschwister hatten zwar hin und wieder nach ihr gesucht, allerdings irgendwann die Hoffnung aufgegeben. In offiziellen Registern waren ihr Name und sämtliche Daten verändert worden; eine Rückverfolgung war deshalb zum Scheitern verurteilt. Erst der Kontakt über die Facebookgruppe ermöglichte die Zusammenkunft. Sofía erzählt von viel Zuneigung und Liebe. Gleichzeitig blieb ihr die leibliche Mutter immer etwas fern. Sie trug sich lange Zeit mit dem Gedanken, nach Chile zu ziehen, und beschloss dann doch, in Italien zu bleiben. Schliesslich hat sie dort heute ihre eigene Familie. Sie sei irgendwie ein Teil beider Länder, gleichzeitig aber auch nicht, so beschreibt sie es.
Das Kind ähnelt der Mutter sehr, darf sogar ihren Nachnamen tragen. Und doch ist es in einer anderen Welt aufgewachsen.
Der Sohn, ein Fremder «Viele stellen sich das Wiedersehen als einen Moment der Freude vor, doch es birgt auch Tücken», meint Karen Alfaro. Bei ihrer Arbeit hat sie viele Zusammenführungen erlebt. Beispielsweise sei es für ältere Frauen, die plötzlich herausfinden, ein weiteres Kind zu haben, nicht immer einfach, dieses auch so zu akzeptieren, wie es ist. Das Kind ähnelt ihnen sehr, es darf nach heutiger Rechtslage sogar den ursprünglichen Nachnamen beanspruchen. Und doch
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ist es in einer anderen Welt aufgewachsen. «Eine Frau vom Land erzählte mir verzweifelt, dass ihr Sohn kein Fleisch isst und sagt, dies sei Mord. Damit tue er ihr sehr weh.» Der erwähnte Sohn lebt vegan und ist in einer Stadt in den Niederlanden aufgewachsen. Auch Marisol Rodríguez ist sich der psychologischen Unwägbarkeiten bewusst. Sie koordiniert viele Wiedersehen und macht als Sprecherin der Gruppe politische Arbeit mit Parlamentarier*innen. Derzeit tagt im Kongress eine Kommission zu den unfreiwilligen Adoptionen, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Aufgrund der enormen Anzahl von Fällen und der derzeitigen politischen Krise in Chile ziehen sich die Ermittlungen hin. Die Betroffenen fordern Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Der Staat solle die Kosten der Zusammenkünfte zahlen und die Betroffenen psychologisch begleiten. Bisher hat die Regierung lediglich versprochen, eine Gen-Datenbank aufzubauen, um Zusammenführungen zu erleichtern. In der Facebookgruppe gibt es täglich neue Einträge von Adoptivkindern, die ihre Eltern suchen. In manchen Ländern wie Italien oder Schweden gibt es mittlerweile Dutzende von bestätigten Fällen. Marisol Rodríguez geht davon aus, dass es in Chile auch heute noch Fälle von Menschenhandel gibt, auch wenn der Staat mittlerweile nicht mehr involviert ist. Sie kann bis ins Jahr 2002 Zwangsadoptionen nachweisen. Auch Sofía ist beunruhigt: Über Video erzählte sie von ihrem Besuch bei der Frau, die ihre eigene Adoption organisiert hatte. Sie habe dort ein Baby gesehen, dass möglicherweise auf Adoptiveltern wartete. Von Marisol Rodríguez’ Schwester fehlt bis heute jegliche Spur.
MASTER DESIGN hkb.bfh.ch Surprise 489/20
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«Warten muss man ja ständig» Öffentlicher Raum Verkaufen heisst, auf Kund*innen zu warten.
Wer das auf der Strasse tut, wird Teil eines kollektiven Alltags.
«Langweilig wird mir fast nie» TINU JOST, 59, verkauft seit zwölf Jahren Surprise in Bern.
«Ich laufe hin und her und bete dabei» HAIMANOT GHEBREMICHAEL , 47, verkauft seit elf Jahren Surprise in Bern.
«Das Warten beim Verkauf hat sich mit Corona verändert, ich muss jetzt viel länger warten, bis ich wieder ein Heft verkaufe. Um es mir zu verkürzen, laufe ich jeweils ein wenig hin und her und bete dabei. Ich bitte den Vater im Himmel, dass er mir hilft, eine gute Arbeit zu finden, damit ich für meinen sechzehnjährigen Sohn und mich eine grössere Wohnung mieten kann. Wir leben, seit er vor einem Jahr in die Schweiz gekommen ist, zu zweit in einer Studiowohnung. Die Arbeitssuche ist jedoch sehr schwierig für mich, weil ich nur die Aufenthaltsbewilligung F habe. Viele Firmen winken da gleich ab und sagen, ich solle wiederkommen, wenn ich die B-Bewilligung habe. Die bekommt man in der Regel aber erst, wenn man genug verdient – es ist eine Zwickmühle. Bleibt also hoffen, beten und warten.» 18
«Ich versuche, mit Vergnügen zu warten» TESFAI GHIRMAI, 69, verkauft seit neun Jahren Surprise in Bern.
«Wenn du etwas verkaufen willst, musst du akzeptieren, dass du warten musst, bis Kundschaft kommt. Die Wartezeit ist vom Verkaufsplatz, dem Wetter und dem Inhalt des Magazins abhängig. An manchen Verkaufsstandorten ist die Wartezeit sehr lang, anstrengend und ermüdend. Aber da ich das weiss, versuche ich, mit Vergnügen zu warten. Und ich hole mir ab und zu einen Kaffee vom nahegelegenen Take-away. Die Leute fragen mich an meinem Standplatz am Hauptbahnhof Bern oft nach dem richtigen Gleis, nach Informationen über Busse und Taxis. Manchmal sehe ich Leute mit vielen oder schweren Taschen, dann zeige ich ihnen, wo die Aufzüge sind. Es gibt Blinde und Sehbehinderte, die die richtigen Treppen und Wege finden. Es kommt aber vor, dass sie den Ort verfehlen. In solchen Situationen sage ich: ‹Wenn Sie möchten, führe ich Sie dorthin, wo Sie hinmüssen.›»
Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN
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BILD(1): KLAUS PETRUS, BILD(2): RUBEN HOLLINGER, BILD(3): SUSANNE KELLER
«Das Warten beim Surprise-Verkauf macht mir überhaupt nichts aus. Ich bin meistens Montag bis Samstag ungefähr von 11 bis 14 Uhr vor der Coop-Filiale Brunnmatt und muss sagen, langweilig wird mir fast nie. Da kommen immer wieder Leute vorbei, man grüsst sich, spricht ein bisschen über dieses und jenes. Manchmal hebe ich Papier vom Boden auf und werfe es in den Abfall. Dann hüte ich für Leute, die im Coop einkaufen wollen, die schwere Kommissionentasche, das Kindervelöli oder auch den Hund. Grosse Mühe hat mir das Warten hingegen in der Lockdown-Zeit bereitet, als zweieinhalb Monate Schluss war mit dem Heftverkauf. Ich habe die Kontakte so vermisst, dass ich jeweils extra von Münsingen, wo ich wohne, zum Brunnmatt-Coop gefahren bin, um meine Einkäufe dort zu erledigen.»
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«Kinder entdecken mich und winken» «Ich schaue zu, wie die Pflanzen wachsen oder die Vögel fressen»
WERNER HELLINGER, 67, verkauft
seit neun Jahren Surprise in Basel und Pratteln BL.
«Und plötzlich ist es geschehen»
«Ich singe im Surprise Strassenchor. Im Moment können wir uns zur Probe nicht treffen, aber wir überbrücken die Wartezeit mit Proben übers Internet. Zuerst war mir das nicht so geheuer. Aber jetzt versuche ich immer teilzunehmen, weil es mir guttut. Ich leide unter Angstzuständen. Das war schon vor Corona so. Ich weiss, dass ich mit mir geduldig sein muss. Manchmal warte ich einfach ab, schaue zu, wie die Pflanzen wachsen oder die Vögel fressen. Wahrscheinlich warte ich zu viel. Im Moment erleben wir alle eine sehr intensive Zeit. Die Weihnachtszeit, Corona, persönliche Dinge: Überall warten wir auf etwas. Ganz wichtig ist jetzt die Nähe von Menschen, die man auch beim Telefonieren erleben kann. Humor ist auch sehr wichtig. Und wenn man aktiv und kreativ bleibt, erscheint die Wartezeit nicht mehr so lang.»
«Ich warte auf einen besseren Verkaufsplatz»
R ADOMIR PRIJIĆ, 29, verkauft seit zweieinhalb Jahren Surprise in Basel und ist momentan in einer Auszeit.
«Mehr als zwei Jahre lang habe ich am Bahnhof SBB in Basel Surprise verkauft. Seit Kurzem nehme ich mir eine Auszeit. Zum Teil gab es beim Verkauf grössere Zeitabstände zwischen einzelnen Kunden*innen. Aber ich habe nie darauf gewartet, dass jemand kommt. Ich habe den Leuten Kunststücke vorgeführt oder sie mit Blicken, Bewegungen und Gesten angelockt. Wieso soll ich auf etwas warten, wenn ich selbst die Initiative ergreifen kann? Ich habe meine Zeit auch immer wieder mit Denken vorbeiziehen lassen. Ich habe darüber nachgedacht, was auf der Welt geschieht und wie man manche Dinge besser angehen könnte. Warten ist für mich nichts Passives. Es findet immer eine Veränderung statt. Du wartest, es hat sich etwas getan. Du wartest noch ein bisschen, es hat sich wieder etwas getan. Du wartest wieder, und plötzlich ist es geschehen.»
FR ANCESCA BASSI, 68, singt seit vier Jahren im Surprise Strassenchor in Basel.
TAOUFIK NAFFATI, 58, verkauft seit einem Jahr Surprise in Münchenstein und Bottmingen BL.
«Im Moment warte ich darauf, dass ich einen besseren Ort für den Heftverkauf bekomme. Am liebsten verkaufe ich am Freitag, aber da steht kein guter Platz zur Verfügung. Ich sitze im Rollstuhl. Deshalb brauche ich eine spezielle Toilette in der Nähe. Der Verkauf läuft gut. Ich lächle, bin immer freundlich und verkaufe am Tag ungefähr 30 Hefte. Manchmal schicken Mami oder Papi die Kinder, um bei mir ein Surprise zu kaufen. Ich hoffe nur, Corona ist nicht mehr allzu lange da. Mit Maske ist es für mich jetzt etwas anstrengender, die Hefte zu verkaufen, aber es geht. Und ich habe eigentlich nie das Gefühl, dass ich beim Verkauf auf etwas warten muss.»
Aufgezeichnet von EVA MELL
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BILD(4): LUCIA HUNZIKER, BILD(5+7): KLAUS PETRUS, BILD(6): MATTHIAS WILLI, BILD(8): BODARA, BILD(9): DIANA FREI, BILD(10): ZVG
«Seit Corona ist der Heftverkauf ungefähr um die Hälfte eingebrochen. Aber ich warte einfach und lasse mich jedes Mal davon überraschen, wie es laufen wird. Während ich warte, beobachte ich alles, was um mich herum passiert. Kinder entdecken mich und winken, ich winke zurück. Hunde kommen und bellen auch mal. Manchmal habe ich aber das Gefühl, es läuft gar nichts und niemand interessiert sich für die Hefte. Und dann kommt doch jemand. Ich habe am Spalenberg einige Stammkunden. Ich halte mit ihnen gerne einen Small Talk. Das schafft Verbundenheit. Warten muss man ja ständig: beim Zahnarzt, aufs Trämmli, auf bessere Zeiten. Ich denke, es ist das Beste, dabei gelassen zu bleiben. Kürzlich, als ich mit meinen Heften wartete, sagte jemand: ‹Sie lächeln immer so freundlich.› Das ist doch ein Kompliment.»
«Ich warte auf Kunden, die mich zum Lachen bringen»
«Warten kann etwas Wertvolles sein»
L JIL JANA A ZIROVIC, 65, verkauft seit elf Jahren Surprise in Uster.
«Das Leben hat mich gelehrt, geduldig zu sein. Darum warte ich auf nichts Spezifisches, nehme die Tage so, wie sie kommen. Ich verkaufe seit elf Jahren Surprise, da muss man schon immer wieder mal auf Kunden warten. Aber dieses Warten ist im Vergleich zu meinem früheren Leben erträglich. Mein erster Mann – und meine erste grosse Liebe – starb im Alter von 42 Jahren an Krebs. Mein zweiter Mann hat mich während der Ehe sehr schlecht behandelt und von einem Tag auf den anderen verlassen, nachdem ich ihn jahrelang gepflegt habe. Wie könnte ich mich also über das Warten beim Verkauf beschweren, insbesondere da ich weiss, dass irgendwann immer eine*r meiner lieben Kund*innen vorbeikommt, sich nach mir erkundigt und mich zum Lachen bringt?!»
PE TER CONR ATH, 56, ist seit 2007 als Verkäufer und seit 2014 als Stadtführer für Surprise tätig.
«Warten bedeutet für mich Zeit, in der ich meinen Gedanken nachgehen kann. Für mich ist das eine wertvolle Zeit, vorausgesetzt, sie dauert nicht zu lange. Mehrere Stunden die Beine in den Bauch stehen, ohne spannende Gespräche – das passiert mir im Alltag zum Glück nicht oft. Ich sage immer: Ein langjähriger Surprise-Verkäufer ist auch ein Pfarrer – es kommen meistens Leute vorbei, die einem das Herz ausschütten oder einfach einen Schwatz halten wollen. In den Zeiten dazwischen beobachte ich das Geschehen um mich herum. So lernt man viel über die Gesellschaft. Im Moment fällt auf, wie sich die Leute aus dem Weg gehen, wenn jemand keine Maske trägt, oder wie die Leute gegen Weihnachten immer gehetzter werden. Daher ein Tipp: Warten als Anti-Stress-Therapie sehen – als Zeit für sich und seine Gedanken.»
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«Ich habe gemerkt, wie schön es ist, auf nichts warten zu müssen» URS HABEGGER, 64, verkauft seit zwölf Jahren Surprise in Rapperswil-Jona.
«Früher wartete ich in meiner jugendlichen Ungeduld auf dies und das – auf eine gute Karriere zum Beispiel. Mit dem Älterwerden habe ich gemerkt, wie schön es ist, auf nichts warten zu müssen und die Dinge so zu nehmen, wie sie kommen. Für mich ist Warten etwas Emotionales – vor meiner ersten Augen-Operation hatte ich zum Beispiel grosse Erwartungen. Als diese misslang, verlor ich meinen guten Job, meine Wohnung und noch mehr Augenlicht. Am Anfang war das schwer zu akzeptieren. Aber vieles im Leben ist für etwas gut, und vieles ist gut so, wie es ist. Ohne unerwartete Lebenswendungen wäre ich wohl nie Strassenmusikant, Kinderliederschreiber oder Surprise-Verkäufer geworden und hätte viele wunderbare Erfahrungen und Begegnungen nicht gehabt und nicht erlebt. Ich möchte nichts davon missen.»
Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER
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Im Transitraum Asylwesen Im Bundesasylzentrum Basel warten Migrantinnen
und Migranten bis zu vier Monate auf ihren Asylentscheid. Das alte Leben liegt hinter ihnen, das neue hat noch nicht begonnen. TEXT SIMON JÄGGI
Am Rand von Basel liegt das Bundesasylzentrum Bässlergut. Hundert Meter von der Landesgrenze zu Deutschland entfernt, mitten im urbanen Nirgendwo. Das Zentrum verschmilzt mit dem angrenzenden Ausschaffungsgefängnis. Hohe Betonmauern, Stacheldraht, Kameras. Auf den angrenzenden Geleisen rollt der Fernverkehr nordwärts. Insgesamt existieren in der Schweiz sechzehn Bundesasylzentren. Sie sind die erste Anlaufstation für Asylsuchende. Bis ihr Gesuch entschieden ist, bleiben die Frauen, Männer und Kinder in diesen Unterkünften – für eine Dauer von bis zu vier Monaten. Rund vierzig Prozent aller Gesuche werden abgelehnt, und die Menschen müssen wieder aus der Schweiz ausreisen. Die Asylsuchenden dürfen die Zentren von neun Uhr am Morgen bis abends um acht Uhr verlassen. Es ist ein Ort, der so überall in Europa sein könnte. Auf dem ganzen Kontinent befinden sich zehntausende Geflüchtete auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Viele von ihnen harren in provisorischen Unterkünften und Lagern aus. Es handelt sich um «Nicht-Orte», wie sie der Ethnologe Marc Augé beschrieben hat. Orte, die sich dadurch auszeichnen, dass sie für Menschen nicht zu einem Zuhause werden. Es sind Transitzonen, die Anonymität und Einsamkeit kreieren. Das Warten, die Ungewissheit und Hoffnung sind dabei ständige Begleitung. Ihre Zeit verbringen die Frauen und Männer im Bundesasylzentrum Bässlergut mehrheitlich ausserhalb des Zentrums. Spazierend die Strasse entlang oder im Waldstück, das an das Zentrum angrenzt. Ein Naherholungsgebiet für die Stadtbevölkerung, wo Dogsitter*innen mit ihren Hunden spazierengehen und Mitarbeiter*innen der nahen Unternehmen über Mittag auf der Finnenbahn ihre Runden drehen. In einer Umgebung, wo alle und alles in Bewegung ist, erscheinen die Wartenden wie aus der Zeit gefallen, gefangen in einem Transitraum. Hinter ihnen liegt die Vergangenheit, vor ihnen eine ungewisse Zukunft. Ob diese in der Schweiz sein wird oder ob sie ihre Suche nach einem besseren Leben fortsetzen müssen, entscheiden die Behörden. Die Herkunftsländer der Asylsuchenden bleiben in den folgenden Porträts zu ihrem Schutz teilweise ungenannt.
«Was fehlt, sind Möglichkeiten, etwas zu tun» «Ich kann nicht erklären, wie schwierig die Reise hierher war. Ich habe Afghanistan wegen des Krieges verlassen. Es liegt eine sehr schwierige Zeit hinter mir. Ich lebte in Griechenland auf der Strasse, sah mich dem Tod gegenüber. So geht es Tausenden von Menschen. Gerade warte ich auf den Termin für die Anhörung bei den Behörden. Das ist alles sehr anstrengend. Ich habe Alpträume, wie ich in mein Land zurückgeschafft werde. Jeden Tag sitzt du im Camp und denkst, denkst, denkst. In der Nacht wird es noch schlimmer. Viele Menschen haben psychische Probleme. Es ist keine gute Situation hier. Es gibt oft Streit im Camp. Gewisse Leute trinken zu viel Alkohol, sie kommen betrunken zurück, streiten miteinander, prügeln sich. Stell dir vor, du hast dein normales Leben: Arbeit, Familie, Freunde. Und plötzlich verändert sich alles. Du musst flüchten und wirst zu einer anderen Person. Du weisst nie, was als Nächstes kommt. Du erreichst Westeuropa, und die Ungewissheit bleibt. Das Warten ist nicht einfach, aber du hast keine Wahl. Was fehlt, sind Möglichkeiten, etwas zu tun. Ich habe einen Master in Informatik, ich würde gerne arbeiten, weiter lernen. Das würde mir helfen, damit ich mich besser fühle. Das Camp ist wie ein Gefängnis. Die meiste Zeit verbringe ich mit meinem Telefon im Internet. Ich schaue Videos, lese Bücher. Manchmal gehe ich spazieren, besuche die Stadt und komme zurück. Gerade lese ich ein Buch über Atheismus von Richard Dawkins, einem Theologen. Ich lerne auch
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etwas Deutsch. Ich warte darauf, dass ich ein neues Leben beginnen kann. Ein normales Leben, so wie es andere Menschen auch haben. In meiner Heimat war das nicht möglich. Ich bin Atheist und musste meine innere Realität lange versteckt halten. Niemand verlässt seine Familie und Freunde ohne Grund. Sie sind das Wichtigste im Leben. Ein neues Leben zu beginnen, ist hart. Du musst die Sprache lernen, einen Job finden und die Regeln der Gesellschaft kennenlernen. Die ersten Jahre werden schwierig sein. Ich muss aber zuerst abwarten und sehen, wie die Behörden in meinem Fall entscheiden. Manchmal wünschte ich, ich wäre hier geboren. Das Traurige ist, dass ich hier alleine bin. Und ich weiss nicht, ob ich bleiben kann. Meine Zukunft liegt nicht mehr in meinen Händen, die Behörden werden entscheiden. Sie werden mich anhören und dann einen Entscheid treffen. Was passiert, falls ich nicht hierbleiben kann? Darüber kann ich nicht nachdenken. Dann gibt es keine weitere Option für mich. Ich habe alles hinter mir gelassen.» ISMAIL , 29
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Nicht alle Probleme lassen sich mit Abstand lösen...
«Das Camp ist wie ein grosser Warteraum» «Ich kam hierher, weil ich Sicherheit suchte. Wäre es in meinem Land sicher für mich, würde ich dorthin zurückgehen. Aber ich will mich nicht immer umdrehen und schauen müssen, ob mir jemand folgt. Meine Familie lebt bereits in der Schweiz, meine Eltern und Geschwister. Ich hatte sie drei Jahre nicht mehr gesehen. Das Camp ist wie ein grosser Warteraum. Zu Beginn kam es mir vor wie ein Gefängnis. Die Securitas klopfen um halb 7 am Morgen an die Tür, dann gehe ich runter zum Frühstück. Es gibt zwei Stück Brot, ein Stück Käse, eine Margarine und zwei kleine Konfitüren. Unsere Zimmer bleiben tagsüber geschlossen. Zuerst gehe ich in ein kleines Café nebenan. Ein Treffpunkt, wo Asylsuchende aus dem Camp sich aufhalten können. Später gehe ich oft im Wald spazieren. Es ist für mich, als ob ich dort alle Probleme aus dem Camp hinter mir lassen kann. Ich höre Musik, fühle mich frei. Im Wald sehe ich viele Menschen, die mit ihren Hunden spazieren oder Sport treiben. Spätestens um fünf Uhr komme ich zurück ins Camp. Ich lese ein Buch bis halb 7, dann gibt es Abendessen. Meistens Reis oder Pasta mit Hühnerfleisch, manchmal etwas Gemüse. Aber meistens Reis. Dazu gibt es Tee. Es ist genug für jemanden wie mich, der Gewicht verlieren möchte. Danach sitzen wir zusammen, trinken Tee und reden miteinander. Um halb 11 bringen sie uns in die Zimmer. Dann schlafen wir. Es ist ein aussergewöhnlicher Ort. Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern treffen hier aufeinander. Ich versuche zu allen nett zu sein, denn ich kenne ihre Geschichten nicht. Ich mache mir Notizen zu allem, was ich erlebe. Einige Tage zuvor gab es eine Schlägerei im Camp, das habe ich aufgeschrieben. Alle Leute, die ich treffe, haben Geschichten zu erzählen. Diese will ich aufschreiben, vielleicht entsteht daraus irgendwann ein Buch.
Ob kleine oder grosse Hände. Wir sind da! Mit Ihrer Spende unterstützen Sie uns dabei! PC 87-80100-5
Ich bete und wünsche jeden Tag, dass ich hierbleiben kann. Wenn sie mich aus der Schweiz wegschicken, werde ich traurig sein und wütend. Aber ich kann nichts tun ausser zu warten. Wenn ich in der Schweiz bleiben kann, möchte ich wieder bei meiner Familie leben, mein Studium in Rechtswissenschaften fortsetzen. Und irgendwann hätte ich gerne eine kleine Katze.»
www.diealternative.ch ELIF, 20
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«Ein sicherer Ort, das ist momentan am wichtigsten» «Ich betrachte das Camp an erster Stelle als sicheren Zufluchtsort für meine Frau, unsere Tochter und mich. Wir kamen in die Schweiz, weil es eine starke Demokratie ist. Im Moment geniessen wir die gemeinsame Zeit. In meinem Land war ich bedroht. Ich verbrachte sechzehn Monate im Gefängnis und war weit weg von meiner Familie. Wir sind sehr erleichtert, dass wir hier in Sicherheit leben können. Das Leben im Camp ist nicht einfach. Wir teilen einen Raum mit drei Familien und haben fast keine Privatsphäre. Immerhin ist es ein sehr sicherer Ort, für uns ist das im Moment am wichtigsten. Wenn wir kein Treffen mit dem Anwalt und keine Anhörung bei den Behörden haben, verbringen wir den Tag draussen. Wir gehen in die Stadt oder spazieren im Wald. Um 12 Uhr gibt es Mittagessen, Abendessen um 18 Uhr. Wer um 20 Uhr nicht zurück ist, muss die Nacht an einem anderen Ort verbringen. Am nächsten Tag beginnt alles wieder von vorne. So ist das Leben im Camp. Wir haben manchmal Angst, was weiter passieren wird. Aber wir sind voller Hoffnung. Wir erzählen den Behörden keine Lügen, keine einzige. Wir haben ihnen unsere Dokumente gegeben und werden ihre Fragen beantworten. Wie der Entscheid ausfällt, darauf habe ich am Ende keinen Einfluss. Das entscheiden die Behörden. Wenn wir eine Aufenthaltsbewilligung erhalten, starten wir ein neues Leben in der Schweiz. Als Erstes wollen wir die Sprache lernen. Wir sind beide Anwälte, meine Frau und ich, und würden auch gerne in diesem Bereich arbeiten. Wenn wir einen negativen Entscheid erhalten, suche ich einen anderen Ort für mich und meine Familie. Was mich stark hält, ist die Hoffnung, dass wir hier ein neues Leben beginnen können. Dabei muss ich besonders stark sein, denn ich trage die Verantwortung für meine Frau und meine Tochter. Meine Hoffnung, mein Glaube, meine Familie. All das macht mich stark und widerstandsfähig gegen Schmerz. Ob ich traurig bin oder glücklich, ändert nichts daran, wie die Behörden am Ende entscheiden werden. Für den Moment habe ich die Möglichkeit, Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Also versuchen wir, glücklich zu sein. So gehen wir mit der Situation um.» BER AT, 33
«Eigentlich habe ich mega Stress» «Ich bin fast drei Monate in der Schweiz. Die Behörden haben mein Gesuch bereits abgelehnt. Ich war zuvor sechs Jahre in Deutschland. Wegen dem Dublin-System muss ich dorthin zurück. Eigentlich habe ich mega Stress. Jeder Tag ist gleich. Man kann sagen, ich packe mein Leben nicht. Zu viel Stress, so ist das. Vor zwei Monaten war ich im Krankenhaus, weil ich das nicht mehr ausgehalten habe. Ich bekam Kopfschmerzen, mein ganzer Körper tat mir weh. Ich habe ein Fenster zerschlagen, einen Schrank kaputt gemacht. Ich begann Leute zu beleidigen, die Securitas, die Mitarbeiter. Dann hatte ich ein Gespräch mit einem Psychiater. Der sagte mir, ich solle ein paar Tage im Spital bleiben und mich erholen. Erst seit zwei Wochen bin ich wieder zurück im Camp. Ich bekomme Medikamente, damit geht es mir etwas besser. Vor allem für Menschen aus Nordafrika ist es schwer hier. Ich komme aus Algerien, ich habe kein Recht auf Asyl oder eine Aufenthaltsbewilligung. Dazu kommen Probleme mit der Familie, kein Geld, keine Beschäftigung. Was macht man im Leben? Ich denke viel an meine Familie, nach sechs Jahren in Europa. Sie fragt, was machst du? Was ist dein Plan? Hast du Arbeit? Vor einer Woche hatte ich den Termin mit dem Staatssekretariat für Migration. Sie bereiten für mich eine Reise nach Deutschland vor. Ich fliege von hier nach Berlin. Ich habe ein Papier unterschrieben, dass ich die nächsten drei Jahre nicht mehr in die Schweiz zurückkomme. Jetzt warte ich auf dieses Ticket. Ich bin in Europa, weil ich arbeiten möchte. Ich könnte putzen, auf der Baustelle arbeiten. Ich hatte gehört, in Europa gäbe es mehr Arbeit als in meiner Heimat. Jetzt bin ich seit sechs Jahren in Europa, habe Deutsch gelernt und trotzdem keine Arbeit gefunden. In Deutschland konnte ich eine Ausbildung anfangen, aber ich durfte sie nicht fertig machen, weil mein Asylantrag abgelehnt wurde. Meine Zukunft? Keine Ahnung. Jetzt fliege ich nach Deutschland, dann schaue ich weiter.» MUSTAPHA , 33
* Namen geändert
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Auf der Suche nach der verlorenen Wartezeit Alltagsphänomen Wartsäle scheinen ein Relikt aus einer vergangenen Zeit
zu sein. Vielleicht, weil niemand mehr richtig Zeit fürs Warten hat. TEXT STEPHAN PÖRTNER
«Im wartsaal isch gheizt, sitzt e ma, won e stumpe roukt wo stinkt, und list ds amtsblatt», sang Mani Matter in einer anderen Zeit. Stumpenrauchende Männer sind ebenso rar geworden und werden ebenso wenig vermisst wie das Amtsblatt, von dem früher die Legende ging, man könne in der Schweiz jede Beiz betreten, ein Glas Wasser und das Amtsblatt verlangen, das einem sodann kostenlos und für unbestimmte Dauer zur Verfügung gestellt werden müsse. Was nicht stimmte. Was aber stimmte war, dass im Wartsaal geheizt war und geraucht werden durfte. Was Wartesäle in meiner Jugend zu beliebten Treffpunkten machte, gerade im Winter. Viel Zeit verbrachten wir in jenem einer Vorortgemeinde, in der meine Freunde wohnten. Wenn das gemütliche Beisammensein zu laut wurde, kam der erboste Stationsvorstand aus seiner über dem Wartsaal liegenden Wohnung herunter und warf uns hinaus. Einmal kam gar die Polizei, weil das, was wir rauchten, auch stank, aber keine Stumpen waren. Mit dem Update der Vororts- zu einer S-Bahn wandelten sich auch die Bahnhofstrukturen. Die Wartsäle wichen einheitlichen Glasboxen auf den Perrons. Sie waren transparent, lichtscheues Gesindel, das den Wartsaal zweckentfremden wollte, wurde so erfolgreich vergrault. In dem Wartsaal jener Gemeinde ist heute eine 24-Stunden-Spitex untergebracht, bestimmt eine sinnvollere Nutzung. An meinem Heimbahnhof, dem letzten vor der Stadtgrenze, prangen «Diensteingang»-Aufkleber an der verschlossenen Tür. Der Blick durchs Fenster zeigt noch den schönen Fischgrät-Parkettboden, in der Ecke steht ein Schrubber in einem Eimer. Die Hälfte des Wartsaals ist mit grauen Boxen zugebaut worden, der Raum sieht ungenutzt aus, was auch daran liegen mag, dass vor etwa einem Jahr der Schalter abgeschafft wurde. Die Bäckerei ist pleitegegangen. Seit über zwei Jahren hängt die Tafel im Schaufenster, die Feierabendbrot anpreist, obwohl hier schon lange Feierabend ist. Der Bahnhof Stadelhofen ist einer der meistbenutzten der Schweiz. Er wurde spektakulär umgebaut. In der Schalterhalle stand einst ein roter Filmautomat. Für 20 Rappen konnten Ausschnitte lustiger Schwarzweissfilme mit Charlie Chaplin oder Laurel und Hardy angeschaut werden. Ein Vorläufer von Youtube, mit zigmillionen mal kleinerer Auswahl. Es war nicht alles besser früher. Der Wartsaal befand sich links davon, auch dort sind heute Diensträume eingerichtet, durch das Fenster ist eine Heizanlage zu sehen, es wird also noch geheizt, einfach nicht der Wartsaal, dafür die im selben Gebäudeteil untergebrachten Schalter. Im anderen Teil des Bahnhofs gibt es einen Starbucks. Der Starbucks ist so etwas wie der moderne Wartsaal und wird von traditionellem Wartsaalpersonal wie Schüler*innen, Student*innen und Rentner*innen genutzt. Gratis ist allerdings nur das Wifi, und Surprise 489/20
das nur für zahlende Gäste. Wahrscheinlich wird ohnehin nicht auf Züge gewartet, die fahren im Viertelstundentakt, sondern Zeit überbrückt, meistens am Bildschirm. Nur eine Dame blättert in einem Magazin, wie man nur in Wartezimmern, etwa in Arztund Zahnarztpraxen, in Magazinen blättert, in der Hoffnung auf Ablenkung, die sich doch nicht einstellen will. Wer sich keinen Kaffee leisten kann oder mag, wartet im zugigen Eingangsbereich auf wenig einladenden Metallbänken. Panoramaaussicht im Untergrund Im grössten und schönsten Bahnhof des Landes weist tatsächlich das hübsche Wartsaal-Piktogramm den Weg. Eine Person, die mit einem Koffer unter einer Uhr sitzt. Es wäre jammerschade, würde es verschwinden, ebenso wie jenes der Bahnhofshilfe, die im selben Zwischengeschoss untergebracht ist, in dem es wenig einladende Steinbänke gibt, die von Jugendlichen benutzt werden, im Gegensatz zu den beiden kunstledernen Massagesesseln. Der Wartsaal ist als «Warteraum» beschriftet, zu Recht, ein Saal ist es nicht, sondern ein Raum mit einer Art Kinobestuhlung, der Blick ist auf drei Bildschirme gerichtet, auf denen die Abfahrtszeiten bekannt gegeben werden. Auf Ankommende wartet hier offenbar niemand. Dafür steht eine Abfall-/Recycling-Station zur Verfügung. Vorhanden ist die angekündigte Uhr. Eine Bahnhofsuhr ohne Sekundenzeiger, jede Minute rückt der Zeiger klickend vorwärts. Koffer hat aber niemand dabei. In der Ecke wacht diskret die Videokamera. Seitlich fällt der Blick auf die oberen Geschosse der Hardhochhäuser, weit unten das Letzigrundstadion, dahinter die Stadt und die Hügel. Ein Panoramafoto, das um die Ecke weitergeht und die Illusion vermittelt, man befinde sich hoch über der Stadt, obwohl der Raum unterirdisch liegt. Auf der anderen Seite ist die Fensterfront mit Aussicht auf das Apothekenprovisorium. Ab und zu schlendern Passanten*innen vorbei. Es ist eine ruhige Ecke im umtriebigen Bahnhof. Fünf Menschen warten. Einer liest einen Bahnprospekt. Eine junge Frau packt ihre Einkäufe aus, ein Parfüm, eine andere schaut ins Handy. Zwei Frauen unterhalten sich leise, wie es sich gehört. Warteräume sind Ruhezonen, fast wie Bibliotheken. Doch das Gespräch wird im Verlauf lebhafter und es wird herzhaft gelacht. In der Apotheke werden Plastikcontainer angeliefert. Wartesäle verschwinden, weichen Lounges, offen nur für Raucher *innen oder Erstklasspassagiere. Warten ist längst nicht mehr Teil des Alltags, sondern ein Ausnahmefall, der nur eintritt, wenn die Planung versagt. Pläne werden angepasst, es wird umdisponiert, Wartezeit wird vermieden. Niemand hat Zeit zu warten. Die beiden fröhlichen Frauen gehen exakt um sieben Minuten vor halb. Der Mann steht auf, legt den Prospekt zurück und verlässt ebenfalls den Warteraum. Draussen wartet das Leben. 27
IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01
Madlen Blösch, Geld & so, Basel
02
onlineKarma, Online-Marketing mit Wirkung
03
Gemeinnützige Frauen Aarau
04
Shinsen AG, Japanese Food Culture, Zürich
05
Halde 14, Baden
06
Markus Böhmer, Bildhauer, Birsfelden/Basel
07
AnyWeb AG, Zürich
08
Kaiser Software GmbH, Bern
09
SPEConsult GmbH, Jona
10
Düco Wahlen AG, PVC + ALU-Sockelleisten
11
Yolanda Schneider, Logo!pädin, Liebefeld
12
Maya-Recordings, Oberstammheim
13
Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich
14
Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
15
Echtzeit Verlag, Basel
16
Beat Hübscher, Schreiner, Zürich
17
Dietke Becker, Physiomovimento, Männedorf
18
Stefan Westermann Immo DL, Lützelflüh
19
Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern
20
Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
21
Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
22
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
23
Brother (Schweiz) AG, Dättwil
24
Senn Chemicals AG, Dielsdorf
25
Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo
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Wir alle sind Surprise
#486: «Die EU kuscht vor Rassisten»
Stadtrundgang
#484: 144 000 Kinder
«Doppelmoral»
«Toll trotz Corona»
Einmal mehr arbeitet und Surprise mit einer Doppelmoral: Gross wurde der sog. «Genderstern» angekündigt, nur um im aktuellen Titelblatt keine Verwendung zu finden: «Die EU kuscht vor Rassist*innen» ist vermutlich Ihrer Ansicht nach nicht politisch korrekt, da ja sicher nur Männer Rassisten sein können. Aber Hauptsache, politisch korrekt die angebliche Gleichberechtigung via unleserlichen Sonderregeln fordern.
Gestern Vormittag durften wir mit Markus Christen einen sehr eindrücklichen und spannenden Rundgang in Basel besuchen. Es hat mich beeindruckt aber auch berührt, mit welcher Offenheit Markus uns seine Geschichte anvertraut hat. Es war ein sehr authentisch gestalteter Morgen, gespickt mit Fachwissen, Witz und viel Empathie. Danke dafür! Toll, dass es trotz Corona möglich war, diesen durchzuführen.
«Berichten statt jammern»
A . HAFNER, ohne Ortsangabe
Anm. d. Red. Die Headline ist eine direkte Aussage von Herrn Ziegler und er hat nicht Rassist*innen (also mit Pause) gesagt. Er bezieht sich bei der fraglichen Stelle im Interview auf eine Aufzählung von Parteien, Parteiführern wie Orbán und Salvini und meint damit eine Menge organisierter Menschen, keine Individuen. Das rechtfertigt das generische Maskulinum gewissermassen, weil es hier um Gruppen und nicht Einzelwesen mit ausdifferenzierten Geschlechtsidentitäten geht.
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Dina Hungerbühler, Lucia Hunziker, Susanne Keller, Eva Mell, Sara Ristić, Malte Seiwerth, Milica Terzić, Corina Vögele, Matthias Willi, Florian Wüstholz Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik
J. HÄNER, ohne Ortsangabe
Ich kaufe und lese Ihr Magazin gerne, nicht zuletzt wegen der sympathischen Verkäufer*innen. Es gefällt mir, dass nicht gejammert und gefordert wird nach dem Leitspruch «in der reichen Schweiz», sondern berichtet wird. Ich verbiete mir Überlegungen, weshalb jemand in Bedrängnis gerät, vermute allerdings, dass selbst ein festes Einkommen für alle – wie hoch muss es sein? – nicht alle Probleme lösen wird. R. DÄHLER, Zürich
Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassenverkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name
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Internationales Verkäufer*innen-Porträt
«Mir ist nie langweilig» «Ich hörte vom serbischen Strassenmagazin Liceulice, als ich keine Arbeit mehr hatte und mir das Geld ausging. Da wandte ich mich an die Herausgeber*innen, und sie gaben mir ein Exemplar zum Lesen. Der Artikel, der mich am meisten beeindruckte, handelte von Menschen, die früher viel besassen und nun alles verloren haben. Ich erkannte mich in ihnen wieder, und so begann ich, das Magazin auf der Strasse zu verkaufen. Geboren wurde ich in einem Dorf im Norden Serbiens. Nach dem Abitur studierte ich in Belgrad Rechtswissenschaften. Einen Abschluss habe ich nicht, obwohl ich damals nur noch zwei Prüfungen hätte absolvieren müssen. Dann arbeitete ich in einer Fleischerei. In den 1990er-Jahren ging es der Firma immer schlechter, viele Angestellte wurden entlassen; ich konnte bleiben. Nach der Bombardierung Serbiens im Jahr 1999 wurde das Unternehmen dann aber ganz geschlossen. Danach war ich in verschiedenen Privatunternehmen tätig, bis vor sechs Jahren ein Unglück geschah: Ich wurde beim Überqueren der Strasse von einem Auto angefahren, seitdem habe ich mit posttraumatischem Stress zu kämpfen. Nach einem weiteren Unfall am Arbeitsplatz wurde ich mehrere Monate krankgeschrieben. Mein Arbeitgeber verlängerte zwar meinen befristeten Arbeitsvertrag, doch als dieser auslief, wurde ich entlassen. Seitdem finde ich keine Stelle mehr. Ich bereue, dass ich meinen Uni-Abschluss nicht gemacht habe. Den Preis dafür bezahle ich bis heute. Sehen Sie, wo ich gelandet bin? Auf der Strasse – allein. Ich hatte einen guten Job und wollte nicht zurück an die Universität. Ich glaube, es war einfach Überheblichkeit, ich dachte, einen Abschluss brauche ich nicht. Wer konnte schon vorhersagen, dass es so enden wird? Ich wurde in meinem Leben oft von Menschen enttäuscht, die ich für meine Freunde hielt. Eines musste ich lernen: Hast du kein Geld mehr, sind auch deine Freunde weg. Früher lieh ich den Leuten Geld, ich versuchte zu helfen, wo immer ich konnte. Kam jemand zu mir und fragte mich: ‹Hast du einen Kaffee?›, sagte ich: ‹Nimm meinen.› Doch als ich selbst Hilfe brauchte, war plötzlich niemand mehr da. Inzwischen bin ich zum Schluss gekommen: Ich lebe, um zu arbeiten, und ich arbeite, damit ich weiter durchs Leben gehen kann. Und ich versuche, immer etwas zu tun, ich nutze jede Gelegenheit, um zu stricken, zu häkeln oder zu 30
Jovanka Obradović, 62, bereut bis heute, dass sie keinen Uni-Abschluss hat. Dafür ist sie überzeugt, dass sich jedes Problem lösen lässt.
lesen; mir ist nie langweilig. Während des CoronaLockdowns habe ich viel gestrickt, vor allem Pullover und Blusen. Das habe ich auch getan, um mich abzulenken. Natürlich macht mir das Virus Angst. Bei Liceulice habe ich neue Freunde gefunden, wir verstehen und respektieren einander, das ist mir wichtig. Seit ich hier bin, fühle ich mich glücklicher. Es ist so viel besser zu arbeiten, als zuhause zu sitzen und auf bessere Tage zu hoffen. Nach der Lockerung der Corona-Massnahmen konnte ich es kaum erwarten, wieder zu arbeiten und die anderen Strassenverkäufer*innen zu treffen, denn ich habe sie sehr vermisst. Am meisten Zeit verbringe ich mit Svetlana; sie ist etwa gleich alt wie ich, und auch sie verkauft das Strassenmagazin. Wir haben eine wunderbare Zeit zusammen und reden oft über die Schwierigkeiten des Lebens und wie man sie meistern kann. Ein Rezept dazu gibt es leider nicht. Aber wir sind beide davon überzeugt, dass sich ein Problem nur dann lösen lässt, wenn man sich genügend Zeit lässt, auf den richtigen Moment wartet und den richtigen Weg findet, um mit ihm umzugehen.
Aufgezeichnet von MILICA TERZIĆ Übersetzt von KL AUS PETRUS Mit freundlicher Genehmigung von LICEULICE / INSP.NGO
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Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude
Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BERATUNG
Unterstützung
Job
STRASSENMAGAZIN
Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten
STRASSENFUSSBALL
Erlebnis
Expertenrolle
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
Information
Perspektivenwechsel
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