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«Der Impfstoff allein löst das Problem nicht»

Pandemie Wissenschaftsjournalist Kai Kupferschmidt glaubt, der vieldiskutierte Impfstoff gegen SARS-CoV-2 bringe einiges an Normalität zurück. Ein bisschen müssen wir allerdings noch durchhalten.

INTERVIEW SARA WINTER SAYILIR

Kai Kupferschmidt, wie lange müssen wir noch warten, bis die Pandemie nicht mehr unseren Alltag bestimmt?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Die Impfstoffe kommen ja jetzt und ich bin zuversichtlich, dass sie uns helfen werden, die Ausbreitung des Virus in den Griff zu bekommen. Aber das dauert. Die Menge wird zunächst begrenzt sein und der Schutz-Effekt für die Gesellschaft wird sich nur langsam bemerkbar machen. Ich denke, die Impfungen und das wärmere Wetter zum Sommer hin werden gemeinsam einen grossen Effekt haben und ich hoffe, dass die zweite Jahreshälfte 2021 sich dann sehr viel normaler anfühlt.

Hierzulande heisst es derzeit, der Bund wolle im Januar mit dem Impfen beginnen. Ist das realistisch?

Einige Länder fangen ja bereits zu impfen an. Die europäische Arzneimittelagentur dürfte in den kommenden Wochen ebenfalls den Weg frei machen für eine bedingte Marktzulassung der beiden am weitesten fortgeschrittenen Impfstoffe. Aber ich will das nochmal betonen: Auch wenn im Januar die Impfungen beginnen, heisst das nicht, dass wir dann die Massnahmen der vergangenen Monate aufgeben können. Das wäre katastrophal. Nur weil ein paar Menschen gegen das Virus geimpft sind, ändert sich erstmal nichts.

Ist die Euphorie um die Impfstoffe berechtigt oder lassen wir uns mitreissen, weil wir uns so sehr nach Normalität sehnen?

Diese Impfstoffe sind schon ein grosser Durchbruch. Die meisten Forscher*innen rechneten damit, dass die erste Generation Impfstoffe viel weniger effizient schützen würde, vielleicht 60 oder 70 Prozent. Jetzt haben die ersten Ergebnisse mit über 90 Prozent, so wie sie in den Pressemitteilungen kommuniziert wurden, die Erwartungen weit übertroffen. Trotzdem muss man vorsichtig sein: Wir haben einen sehr guten Masern-Impfstoff, und dennoch sind 2019 mehr als 200 000 Menschen weltweit an den Masern gestorben. Das zeigt: Der Impfstoff allein löst das Problem nicht.

Wie viele Menschen müsste man denn impfen, um Sicherheit zu haben?

Das kurzfristige Ziel ist, die Ärzt*innen und das Pflegepersonal zu schützen, um die Infrastruktur und die medizinische Versorgung zu sichern, und dann die älteren Menschen sowie Menschen mit Vorerkrankungen, die ein erhöhtes Risiko haben. Langfristig geht es darum, Herdenimmunität zu erreichen. Wie viele Menschen dafür geimpft sein müssen, hängt davon ab, wie leicht sich ein Virus ausbreitet – und wie gut ein Impfstoff wirkt. Für eine Herdenimmunität gegen das Virus SARS-CoV-2, wie der Erreger medizinisch genannt wird, müssen vermutlich 60 bis 70 Prozent der Menschen geimpft werden. Das ist deutlich weniger als beispielsweise bei Masern, die viel ansteckender sind und wo man 95 Prozent der Menschen erreichen muss.

Beziehen sich diese Prozentangaben auf ein Land oder auf die ganze Welt?

Man geht hierbei von einer gleichmässigen Verteilung der geimpften Menschen aus, in einem Land, aber auch auf der ganzen Welt. In der Realität sieht das natürlich anders aus, das sehen wir bei den Masern. Wenn einzelne Ärzte beispielweise nicht impfen, kommt es auch bei einer Impfrate von 95 Prozent zu lokalen Ausbrüchen. Rein theoretisch sollten wir also diese 60 bis 70 Prozent global gleichmässig verteilt erreichen. In der Realität aber geht es jetzt erst einmal darum, diese Verteilung in den einzelnen Ländern zu erreichen.

Warum gibt es so viele Bedenken beim Impfen?

Impfstoffe sind ein wahnsinnig schwieriges Thema, weil sie gesunden Menschen gegeben werden – und dann häufig auch noch Kindern. Natürlich haben Impfstoffe gewisse Nebenwirkungen und können mit einer geringen Wahrscheinlichkeit auch mal eine ernste haben. Und dann ist ganz schnell der Nutzen von Impfungen für die Gesellschaft nicht mehr kongruent mit dem eigenen Nutzen. Immer da, wo dieses Verhältnis auseinanderfällt, wird es schwierig. Das führt gerade in reichen Ländern, in denen viele Infektionskrankheiten keine grosse Rolle mehr spielen – teilweise weil wir die Impfstoffe haben – zu Verunsicherung und auch Widerstand. Man nennt dies das Präventionsparadox: Weil wir die Leute lange gut geimpft haben, sind bestimmte Krankheiten seltener, weswegen die Leute den Nutzen der Impfungen nicht mehr auf dieselbe Art und Weise sehen.

SVEN SIMON Kai Kupferschmidt, 38, ist Molekularbiomediziner und Wissenschaftsjournalist aus Deutschland. Er schreibt regelmässig für das US-amerikanische BILD: Wissenschaftsmagazin Science sowie das OnlineMagazin Riffreporter.de. Mit zwei Kolleg*innen produziert er dort und auf der Plattform Viertausendhertz.de seit

März auch den Podcast «Pandemia», um Erkenntnisse aus der

Pandemie- und Epidemieforschung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Was kann ein demokratisch funktionierender Staat in einer Lage wie in Europa überhaupt tun, um seine Bürger*innen zu schützen?

Der Staat setzt in erster Linie Signale. Er kann ja selbst mit einem Lockdown nicht tatsächlich verhindern, dass Menschen sich treffen. Aber er signalisiert, wie gefährlich die Lage ist, und das ändert das Verhalten der Menschen. Hierbei fehlte mir allerdings eine klare Strategie. Es wurde beispielsweise in Deutschland zwar immer relativ solide kommuniziert, aber immer sehr kurzfristig. Aber wir können ja nicht immer so ad hoc weitermachen, ohne zu wissen, wie lange! An der Stelle hätte es geholfen, wenn man eine klare Strategie kommuniziert hätte. Und ein Grund dafür, dass keine kommuniziert wurde, ist, dass wir in Europa keine klare Strategie haben.

Was wäre denn eine sinnvolle Strategie gewesen?

Ideal wäre eine koordinierte Strategie in ganz Europa gewesen, die Neuinfektionen wirklich gegen Null zu reduzieren und dann die Testkapazitäten massiv hochzufahren, um auf jedes neue Cluster sofort mit strikter Kontaktverfolgung und Quarantäne reagieren zu können. Der wichtigste Punkt ist aber, der Bevölkerung überhaupt zu sagen, was die Strategie ist, damit sie weiss, worauf sie sich einstellen muss.

Viele Menschen sind massiv überfordert mit der schieren Menge an Informationen, die zu diesem Thema veröffentlicht wird. Was sollte man Ihres Erachtens als Einzelperson eigentlich wissen und verfolgen?

Für viele ist es nicht besonders hilfreich, sich in den Rund-umdie-Uhr-Strom von Nachrichten zu begeben. Das beunruhigt nur. Was man aber verfolgen sollte, sind die Informationen, die man braucht, um eine sinnvolle Risikoabwägung für sich selber zu fällen. Darum sollte es auch den Gesundheitsbehörden und den Medien gehen. Wir sollten zum Beispiel grob wissen, wieviel Virus sich in unserem Umfeld befindet – in meiner Stadt beispielweise.

Wie komme ich denn an diese entscheidenden Infos?

Ich kann beispielsweise die aktuellen Zahlen für meinen Wohnort Berlin online nachschauen, aufgeschlüsselt nach Bezirk. Das ist das eine. Und auf der anderen Seite haben viele Behörden und Medien immer wieder deutlich erklärt, was besonders riskant ist: Enger Kontakt in schlecht belüfteten Räumen über einen langen Zeitraum etwa.

Es erscheint da ja gewissermassen als bittere Ironie der Geschichte, dass Sie sich trotz aller Expertise und Fachwissen auf einer Reise mit HIV angesteckt haben. Wie wirksam ist denn Aufklärung als Präventionsmassnahme?

Das hat natürlich viele Ebenen. Meine HIV-Erkrankung ist letztlich auf ein geplatztes Kondom zurückzuführen, war also ein Unfall. Das zeigt, dass man das Risiko nicht ausschliessen kann. Es heisst ja auch «safer sex» und nicht «safe sex». Das ist die eine Komponente: Es geht darum, Risiko zu minimieren, und nicht darum, es auszuschliessen. Das Risiko auszuschliessen, würde letztlich heissen, das Leben auszuschliessen. Das andere ist, dass man aus der HIV-Pandemie lernen muss, dass man die Bekämpfung einer Seuche nicht gegen die betroffenen Menschen durchsetzen kann. Es muss immer darum gehen, Menschen aufzuklären und zu informierten Entscheidungen zu ermächtigen, und dann letztlich darauf zu vertrauen. Die Menschen haben ja ein Eigeninteresse an ihrer Gesundheit.

Mit HIV ist durch den medizinischen Fortschritt heute ein relativ normales Leben möglich. Sie sind nicht mehr ansteckend und können mit der stetigen Medikation ganz gut leben. Ist das jetzt so etwas wie das «Normal», das eben einkehren kann, wenn so eine Krankheit einmal in der Welt ist?

In dem Masse, wie die Behandlung von HIV in den letzten zwanzig Jahren besser geworden ist, hat die Angst davor auch abgenommen. Wenn ich allerdings mit Menschen rede, fällt mir auf, dass es eine Art Schizophrenie gibt: Die Leute sagen auf einem Level, ah, ok, es ist alles nicht mehr so schlimm mit HIV, ich muss da nicht so drüber nachdenken. Wenn ich dann aber sage: Du

«Menschen machen Fehler. Infektionskrankheiten amplifizieren diese Fehler. Sie machen aus einer kleinen Entscheidung eine Entscheidung über Leben und Tod.»

KAI KUPFERSCHMIDT

übrigens, ich bin HIV-positiv, dann kommen plötzlich doch eine Menge auch irrationale Ängste hoch. Natürlich verändert die Tatsache, dass es behandelbar ist, langsam das Verhalten. Allerdings spielt hier auch die Generationenfrage mit rein: Die Menschen in meinem Alter haben die ganz harte Zeit nicht mehr erlebt. Wenn ich mit älteren Kollegen spreche, ist das anders. Was bei HIV noch dazukommt, ist die sogenannte Präexpositions-Prophylaxe. Menschen können HIV-Medikamente präventiv nehmen und so das Risiko, sich anzustecken, gegen Null senken. Das hat viel geändert, auch in der Stigmatisierung. Wenn man will, dass die Leute mitmachen, ist es wichtig zu versuchen, Stigmatisierung zu vermeiden.

Spielt Stigmatisierung auch bei SARS-CoV-2 eine Rolle?

Es gibt viele Menschen, die derzeit sehr frustriert und wütend über das Verhalten mancher Menschen sind – da kann es leicht passieren, dass man in einen Schulddiskurs fällt. Aber das hilft niemandem. Menschen machen Fehler. Infektionskrankheiten amplifizieren diese Fehler. Sie machen aus einer kleinen Entscheidung eine Entscheidung über Leben und Tod. Es wird aber aus gutem Grund versucht, die Schuldfrage aus der Diskussion herauszuhalten, weil man damit die Leute nur verschreckt und letztlich

der Komplexität der Sache nicht gerecht wird. Ich würde mir wünschen, dass wir aus dieser Pandemie in Bezug darauf etwas lernen und mitnehmen. Aber ich bin da nicht so zuversichtlich.

Als in Dänemark zahllose Nerze getötet werden mussten, weil sie sich mit SARS-CoV-2 infiziert hatten, war in einem Nebensatz auch die Rede von mutierten Varianten des Virus. Was heisst die Frage der Mutation für uns?

Das Virus ändert sich permanent. Im Grunde genommen mit jedem neuen Menschen, den es infiziert. Wir haben allerdings seit Beginn der Pandemie erst sehr wenige Mutanten gesehen, die das Verhalten des Virus möglicherweise ein bisschen geändert haben. Insgesamt muss man sagen, das Virus mutiert eher langsam, und es gibt wenig Anzeichen dafür, dass irgendwelche dieser Mutationen zum Beispiel Impfstoffe umgehen könnten. Was ich in Bezug auf die Nerzfarmen interessant finde: Wir reden immer noch viel zu wenig über die Tatsache, dass die Massentierhaltung eine Rolle spielt in diesem Zeitalter der Pandemien, in dem wir jetzt leben. Viele der Viruserkrankungen, die wir sehen und die uns am meisten Angst machen, kommen irgendwie aus diesem Bereich. Ich würde mir wünschen, dass wir diese grösseren Zusammenhänge mehr besprechen würden.

Viele Leute verweigern sich aber einer konstruktiven Diskussion, zum Beispiel die sogenannten Corona-Leugner*innen. In der Schweiz organisiert sich bereits Widerstand gegen eine etwaige Impfpflicht in Form einer Volksinitiative.

Ich glaube kaum, dass viele europäische Länder eine Impfpflicht einführen werden. Und ich glaube auch nicht, dass das der richtige Weg wäre. Wenn man etwas erzwingen muss, das so sinnvoll ist für den Einzelnen und für die Gesellschaft, dann ist das auch ein Versagen. Bei den Masern hat Deutschland ja vor Kurzem eine Impfpflicht eingeführt, aber da ist das Argument immer auch, wie aussergewöhnlich ansteckend das Virus ist und dass man deswegen 95 Prozent der Menschen erreichen muss. Das ist bei SARS-CoV-2 anders. Wir sollten alles daransetzen, den Menschen die Informationen zur Verfügung zu stellen, die sie für eine informierte Entscheidung benötigen. Am Anfang wird der Impfstoff ohnehin knapp sein. Es wird also ein Fenster geben, um über die Impfstoffe, ihre Wirkweise und Sicherheit zu informieren. Aber wir müssen auch mehr tun, um Falschinformationen, die sich rasant verbreiten, zu entlarven und ihnen mit Fakten zu begegnen. Es ist schon schockierend, was für ein hanebüchener Unsinn da zum Teil zirkuliert.

Was raten Sie uns?

Ich glaube, dass wir jetzt alle noch kollektiv ein bisschen durchhalten müssen. Und die Tatsache, dass ein Ende in Sicht ist, macht uns das hoffentlich ein bisschen leichter.

Eine ausführlichere Version des Interviews finden Sie unter: www.surprise.ch/kupferschmidt

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