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«Der Impfstoff allein löst das Problem nicht» Pandemie Wissenschaftsjournalist Kai Kupferschmidt glaubt, der

vieldiskutierte Impfstoff gegen SARS-CoV-2 bringe einiges an Normalität zurück. Ein bisschen müssen wir allerdings noch durchhalten. INTERVIEW  SARA WINTER SAYILIR

Hierzulande heisst es derzeit, der Bund wolle im Januar mit dem Impfen beginnen. Ist das realistisch? Einige Länder fangen ja bereits zu impfen an. Die europäische Arzneimittelagentur dürfte in den kommenden Wochen ebenfalls den Weg frei machen für eine bedingte Marktzulassung der beiden am weitesten fortgeschrittenen Impfstoffe. Aber ich will das nochmal betonen: Auch wenn im Januar die Impfungen beginnen, heisst das nicht, dass wir dann die Massnahmen der vergangenen Monate aufgeben können. Das wäre katastrophal. Nur weil ein paar Menschen gegen das Virus geimpft sind, ändert sich erstmal nichts. Ist die Euphorie um die Impfstoffe berechtigt oder lassen wir uns mitreissen, weil wir uns so sehr nach Normalität sehnen? Diese Impfstoffe sind schon ein grosser Durchbruch. Die meisten Forscher*innen rechneten damit, dass die erste Generation Impfstoffe viel weniger effizient schützen würde, vielleicht 60 oder 70 Prozent. Jetzt haben die ersten Ergebnisse mit über 90 Prozent, so wie sie in den Pressemitteilungen kommuniziert wurden, die Erwartungen weit übertroffen. Trotzdem muss man vorsichtig sein: Wir haben einen sehr guten Masern-Impfstoff, und dennoch sind 2019 mehr als 200 000 Menschen weltweit an den Masern gestorben. Das zeigt: Der Impfstoff allein löst das Problem nicht. Wie viele Menschen müsste man denn impfen, um Sicherheit zu haben? Das kurzfristige Ziel ist, die Ärzt*innen und das Pflegepersonal zu schützen, um die Infrastruktur und die medizinische Versorgung zu sichern, und dann die älteren Menschen sowie Menschen mit Vorerkrankungen, die ein erhöhtes Risiko haben. Langfristig geht es darum, Herdenimmunität zu erreichen. Wie viele Menschen dafür geimpft sein müssen, hängt davon ab, wie leicht sich ein Virus ausbreitet – und wie gut ein Impfstoff wirkt. Für eine 10

Herdenimmunität gegen das Virus SARS-CoV-2, wie der Erreger medizinisch genannt wird, müssen vermutlich 60 bis 70 Prozent der Menschen geimpft werden. Das ist deutlich weniger als beispielsweise bei Masern, die viel ansteckender sind und wo man 95 Prozent der Menschen erreichen muss. Beziehen sich diese Prozentangaben auf ein Land oder auf die ganze Welt? Man geht hierbei von einer gleichmässigen Verteilung der geimpften Menschen aus, in einem Land, aber auch auf der ganzen Welt. In der Realität sieht das natürlich anders aus, das sehen wir bei den Masern. Wenn einzelne Ärzte beispielweise nicht impfen, kommt es auch bei einer Impfrate von 95 Prozent zu lokalen Ausbrüchen. Rein theoretisch sollten wir also diese 60 bis 70 Prozent global gleichmässig verteilt erreichen. In der Realität aber geht es jetzt erst einmal darum, diese Verteilung in den einzelnen Ländern zu erreichen. Warum gibt es so viele Bedenken beim Impfen? Impfstoffe sind ein wahnsinnig schwieriges Thema, weil sie gesunden Menschen gegeben werden – und dann häufig auch noch Kindern. Natürlich haben Impfstoffe gewisse Nebenwirkungen und können mit einer geringen Wahrscheinlichkeit auch mal eine ernste haben. Und dann ist ganz schnell der Nutzen von Impfungen für die Gesellschaft nicht mehr kongruent mit dem eigenen Nutzen. Immer da, wo dieses Verhältnis auseinanderfällt, wird es schwierig. Das führt gerade in reichen Ländern, in denen viele Infektionskrankheiten keine grosse Rolle mehr spielen – teilweise weil wir die Impfstoffe haben – zu Verunsicherung und auch Widerstand. Man nennt dies das Präventionsparadox: Weil wir die Leute lange gut geimpft haben, sind bestimmte Krankheiten seltener, weswegen die Leute den Nutzen der Impfungen nicht mehr auf dieselbe Art und Weise sehen.

BILD: SVEN SIMON

Kai Kupferschmidt, wie lange müssen wir noch warten, bis die Pandemie nicht mehr unseren Alltag bestimmt? Das ist eine sehr schwierige Frage. Die Impfstoffe kommen ja jetzt und ich bin zuversichtlich, dass sie uns helfen werden, die Ausbreitung des Virus in den Griff zu bekommen. Aber das dauert. Die Menge wird zunächst begrenzt sein und der Schutz-Effekt für die Gesellschaft wird sich nur langsam bemerkbar machen. Ich denke, die Impfungen und das wärmere Wetter zum Sommer hin werden gemeinsam einen grossen Effekt haben und ich hoffe, dass die zweite Jahreshälfte 2021 sich dann sehr viel normaler anfühlt.

Kai Kupferschmidt, 38, ist Molekularbiomediziner und Wissenschaftsjournalist aus Deutschland. Er schreibt regelmässig für das US-amerikanische Wissenschaftsmagazin Science sowie das OnlineMagazin Riffreporter.de. Mit zwei Kolleg*innen produziert er dort und auf der Plattform Viertausendhertz.de seit März auch den Podcast «Pandemia», um Erkenntnisse aus der Pandemie- und Epidemieforschung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Surprise 490/20


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