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Strassenmagazin Nr. 490 18. Dez. 2020  –  7. Jan. 2021

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Jahreswechsel

Wir sind bereit

Manche haben Erfahrung im Warten. Was wir von ihnen lernen können.

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GESCHICHTEN GESCHICHTENVOM VOMFALLEN FALLEN UND UNDAUFSTEHEN AUFSTEHEN Kaufen KaufenSie Siejetzt jetztdas dasBuch Buch«Standort «StandortStrasse Strasse––Menschen MenschenininNot Notnehmen nehmen das dasHeft Heftinindie dieHand» Hand»und undunterstützen unterstützenSie Sieeinen einenVerkäufer Verkäuferoder odereine eine Verkäuferin Verkäuferinmit mit1010CHF. CHF. «Standort «Standort Strasse» Strasse» erzählt erzählt mitmit den den Lebensgeschichten Lebensgeschichten von von zwanzig zwanzig Menschen, Menschen, wie wie ununterschiedlich terschiedlich diedie Gründe Gründe fürfür den den sozialen sozialen Abstieg Abstieg sind sind – und – und wie wie gross gross diedie SchwierigSchwierigkeiten, keiten, wieder wieder aufauf diedie Beine Beine zuzu kommen. kommen. Porträts Porträts aus aus früheren früheren Ausgaben Ausgaben des des Surprise Surprise Strassenmagazins Strassenmagazins ergänzen ergänzen diedie Texte. Texte. Der Der Blick Blick aufauf Vergangenheit Vergangenheit und und Gegenwart Gegenwart zeigt zeigt selbstbewusste selbstbewusste Menschen, Menschen, diedie es es geschafft geschafft haben, haben, trotz trotz sozialer sozialer und und wirtschaftliwirtschaftlicher cher Not Not neue neue Wege Wege zuzu gehen gehen und und einein Leben Leben abseits abseits staatlicher staatlicher Hilfe Hilfe aufzubauen. aufzubauen. Surprise Surprise hathat siesie mitmit einer einer Bandbreite Bandbreite anan Angeboten Angeboten dabei dabei unterstützt: unterstützt: Der Der Verkauf Verkauf des des Strassenmagazins Strassenmagazins gehört gehört ebenso ebenso dazu dazu wie wie derder Strassenfussball, Strassenfussball, derder Strassenchor, Strassenchor, diedie Sozialen Sozialen Stadtrundgänge Stadtrundgänge und und eine eine umfassende umfassende Beratung Beratung und und Begleitung. Begleitung. 156156 Seiten, Seiten, 3030 farbige farbige Abbildungen, Abbildungen, gebunden, gebunden, CHF CHF 4040 inkl. inkl. Versand, Versand, ISBN ISBN 978-3-85616-679-3 978-3-85616-679-3 Bestellen Bestellen beibei Verkaufenden Verkaufenden oder oder unter: unter: surprise.ngo/shop surprise.ngo/shop Weitere Weitere Informationen Informationen T +41 T +41 6161 564 564 9090 9090 | info@surprise.ngo | info@surprise.ngo | surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: | Facebook: Surprise Surprise NGO NGO

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis Erlebnis


TITELBILD: PETER FREUD, 42, BERUFSFEUERWEHRMANN IN ZÜRICH, FOTO: SIBYLLE MEIER

Editorial

Es tut sich etwas Erinnern Sie sich an das Spiel, in dem man sich ein Wort überlegt und dessen unterschiedliche Bedeutungen als Rätsel formuliert? Teekesselchen heisst es. Meine Mutter hat es oft mit mir gespielt, wenn wir irgendwo warten mussten. Heute mache ich es genauso mit meinem Sohn. «Mein Teekesselchen ist anstrengend und hält Gerät instand – und beides beschäftigt den Mann auf unserem Titelbild.» Für den Feuerwehrangestellten und viele andere gehört das «Warten» zum Beruf. Wir haben Fotografin Sibylle Meier darum gebeten, solche professionellen Wartesituationen für uns einzufangen. Das Ergebnis sehen Sie auf den Bildern in diesem Heft. Nun haben wir uns schon im letzten Surprise mit dem Warten auseinandergesetzt. Aber weil die Normalität weiterhin auf sich warten lässt, dachten wir, es verträgt noch ein bisschen mehr dazu. Diesmal erweitert um den Aspekt der Erlösung, die – wenn alles gut läuft – auf das Warten folgt.

Dabei sind die Festtage eher eine Art Ausnahmezustand. Und durch die Pandemie üben wir dieses Jahr den Ausnahmezustand des Ausnahmezustands. Dass nun endlich geimpft wird, erleichtert die Sache ein wenig, weil es damit absehbarer geworden ist. Erlösung ist also in Sicht. Ein bisschen durchhalten müssen wir aber noch. Das rät uns zumindest Wissenschaftsjournalist Kai Kupferschmidt. Er beschäftigt sich nicht nur beruflich mit Pan- und Epidemien, er weiss auch aus persönlicher Erfahrung, wovon er spricht, ab Seite 10. Was man weniger sieht, ist, was uns im Innern beschäftigt, während wir auf etwas warten. Besonders dann, wenn uns etwas emotional stark mitnimmt, ist Warten seelische Arbeit. Auf sehr persönliche Art haben die Autorinnen Dorothee Adrian und Fatima Moumouni das an zwei Beispielen für uns ausgelotet, Seite 14 und Seite 26. Bleiben Sie gesund. SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

FOTO: ANJA/ENY.PRD

Fotografien

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Zeit ist Geld

6 Verkäufer*innenkolumne

10 Pandemie

Impfstoff allein reicht nicht 14 Begleitung

Das erste Kind, die eigene Mutter

Nachbarschaft

Sibylle Meier hat dieses Heft fotografisch begleitet. In ihren Arbeiten als selbständige Fotografin stehen – nebst Bauwerken – oft Menschen im Fokus. Es entstehen Porträts mit Geschichten. www.sibmeier.ch Surprise 490/20

7 Die Sozialzahl

18 Albanien

26 Freundschaft

Warten auf die Rente

Eine Wende-Biografie

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Mit der Kamera nutze ich meine Kreativität»

Verrückt gewartet

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

«Versuche, das Gute festzuhalten»

«Meine traditionelle Medizin war sehr wichtig, um mich vor Covid-19 zu schützen», sagt Peter Thompson von den Nlaka’pamux. «Ich habe mir heisse Ingwer- und Knoblauchgetränke zubereitet.» Seit Ausbruch der Corona-Krise konnte Thompson seine Familie, die in einem Reservat in der Nähe von Lytton in BritischKolumbien lebt, nicht besuchen. «Ich wünsche mir, dass die Pandemie nächstes Jahr zu Ende geht. Normalerweise fahre ich im Sommer nach Hause zu meiner Familie. Dieses Jahr konnte ich nicht fahren, aber wenn es 2021 klappt, bin ich glücklich.» Peter Thompson verkauft Megaphone in Vancouver, Kanada.

«Ich hatte dieselben Sorgen wie alle anderen auch» «Psychisch hat mich die Pandemie nicht mitgenommen, ich war ja nicht lange eingeschlossen. Ich hatte dieselben Sorgen wie alle anderen auch, keine Depressionen, nur ein paar Sorgen, dass es noch schlimmer würde. Aber ich selbst fühle mich sicher», sagt Carlos Ariel Amadeo. «Hätte ich allerdings keine finanzielle Hilfe von der Regierung bekommen, läge ich jetzt am Grunde des Flusses. Hoffentlich wird es nächstes Jahr besser.» Das Magazin Hecho en Bs. As., das Amadeo verkauft, wurde neben dem besonders langen Lockdown zusätzlich durch den plötzlichen Tod der Gründerin Patrizia Merkin hart getroffen. Carlos Ariel Amadeo verkauft Hecho en Bs. As. in Buenos Aires, Argentinien. 4

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BILD(1): COURTESY OF MEGAPHONE, BILD(2): EUGENIA KAIS  /  HECHO EN BS AS, BILD(3): COURTESY OF STREET SPIRIT

Zum Jahreswechsel hat das Internationale Netzwerk der Strassenzeitungen seine Verkäufer*innen weltweit dazu befragt, wie es ihnen in den letzten Monaten ergangen ist. Aufgezeichnet von Tony Inglis.


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Vor Gericht

Zeit ist Geld «Ich kenne die Tragödien des Lebens» Für den 66-jährigen Al Mayfield sind menschliche Tragödien, wie Covid-19 sie verursacht, nichts Neues. Früh hat er zwei seiner Brüder verloren, einer war krank, der andere hatte einen Unfall. Mayfield selbst fiel 1994 ins Koma, nachdem er knapp einen brutalen Raubüberfall überlebte. Nun lebt er mit einem Implantat im Bauchraum und einem amputierten Bein. Ohne sein Zutun landete er in der Folge in verschiedenen Notunterkünften. Heute lebt er dank der Unterstützung unter anderem von Street Spirit mit einem seiner Brüder in einer Sozialwohnung im Norden von Oakland. Er hofft, dass er bald wieder in die Kirche gehen kann. «Die Kirche liegt mir am Herzen», sagt er, der sich als Optimist bezeichnet. «Versuche, das Gute festzuhalten und glücklich zu sein.» Al Mayfield verkauft Street Spirit in Oakland, USA. Surprise 490/20

Regelmässige Leser*innen mögen sich an die Fälle von Sozialversicherungsbetrug in diesen Spalten erinnern. An den Asylsuchenden etwa, der mit dem Verkauf von Fundgegenständen einen Erlös von gut 4000 Franken erzielte und es damit zum selbständigen Taxifahrer schaffte – dann aber verurteilt wurde, weil er seinen Handel dem Sozialamt nicht gemeldet hatte. Fälle von Steuerhinterziehung vor Gericht sind dagegen rar. Viele sind wohl schon geregelt, bevor es zum Prozess kommt. Ganz anders der Fall um den Eigentümer des Dolder Grand Hotels in Zürich, Urs E. Schwarzenbach. Seit Jahren liefert er sich mit der eidgenössischen Zollverwaltung in mehreren Kantonen und durch alle gerichtlichen Instanzen eine juristische Schlacht um die Versteuerung seiner Kunstsammlung. Offensichtlich gibt er sein Geld lieber Anwälten als dem Staat. Geld spielte auch damals beim Umbau seines Hotels keine Rolle. Er dauerte vier Jahre und kostete 440 Millionen. Schon bald nach der Neueröffnung 2008 schlenderten Vladimir Putin und Prinz William durch die edlen Hallen. Das Nonplusultra des Hauses sind aber nicht die 18 Gault-Millau-Punkte des Restaurants oder das weltbeste Spa. Sondern die Kunst, die dort an den Wänden hängt: Warhol, Dalí, Pissarro. Oder besser: Hing. Denn Schwarzenbachs Kunst, fast hundert Objekte im Wert von insgesamt über 100 Millionen Franken, wurde 2017 beschlagnahmt. Schwarzenbach weigerte sich, die für den Import anfallenden zwölf Millionen Mehrwertsteuer zu zahlen. Als es nach einer Gesetzesänderung ab 2007 nicht mehr möglich war, Kunst unbeschränkt im steuertechnischen Niemands-

land der Zollfreilager aufzubewahren, bestand für den Beschuldigten «dringender Handlungsbedarf» – so ein Dokument aus jener Zeit, heute ein Beweisstück. Es skizziert, wie die Werke ohne Abgaben importiert werden konnten. Dazu mussten sie erst exportiert werden: Schwarzenbach liess seine Schätze etwa nach Grossbritannien verfrachten – um sie, manchmal am selben Tag, wieder einzuführen. Den Re-Import besorgte eine Galerie im sogenannten Verlagerungsverfahren. Galerien können Kunstobjekte zu Verkaufszwecken importieren – Steuern werden erst bei Veräusserung fällig. Die Behörden glauben nun, der Hotelier habe mit fingierten Kommissionsverträgen zwischen seinen Offshore-Firmen und der Galerie schlicht seine private Kunstsammlung steuerfrei importiert und damit zur Wiedereröffnung sein Hotel geschmückt. Interessent*innen, es waren nach Angaben der Galerie nicht wenige, an der offiziell zum Verkauf stehenden Kunst verscheuchte er allesamt mit exorbitanten Preisen. So recht in Gang kam der Prozess am Bezirksgericht Zürich nicht. Stundenlang forderten die Anwälte des Beschuldigten und jene der Galerie die Einstellung des Verfahrens. Wegen Verjährung. Ein solches Verfahren müsse innert fünf Jahren durchgeführt werden. Zum Vergleich: Wer zu Unrecht Sozialhilfe bezieht, muss sie in vielen Kantonen fünfzehn Jahre lang zurückzahlen. Anwält*innen, die das Verfahren mit immer neuen Rechtsgutachten in die Länge ziehen, kann sich in diesen Fällen niemand leisten. Funktioniert hat es im Dolder-Fall freilich nicht: Der zuständige Einzelrichter lehnt den Antrag ab. Im Januar wird weiterverhandelt. Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: CAMILLLE FRÖHLICH

Verkäufer*innenkolumne

Nachbarschaft

entspricht nicht meinem Naturell. So gesehen war es kein guter Sommer. Das Beste daran war, dass ich in diesem Sommer Schweizerin geworden bin. Ich wollte das mit meinen Nachbar*innen feiern, aber das war leider nicht möglich.

Vor Kurzem ist eine meiner Nachbarinnen, eine Schweizerin, ins Pflegeheim gekommen, das hat mich traurig gemacht, wir waren gut befreundet. Zu Beginn war sie etwas distanziert, aber weil ich gerne Kontakt zu meinen Nachbar*innen habe, habe ich mit ihr geredet. Sie war damals schon fast neunzig Jahre alt und ging immer mit ihrem Hund unsere Strasse entlang. Sie hat auch das Surprise bei mir gekauft. Mit der Zeit lernten wir uns besser kennen. Wenn Kehricht- oder Grünabfuhr war, habe ich meine Kinder zu ihr geschickt, damit sie ihr helfen, die Sachen nach unten zu tragen. Sie hat mir gesagt, dass sie mich sehr gern mag, obwohl sie eigentlich Ausländer*innen nicht möge. Sie war treue SVP-Anhängerin, schon ihr Vater war SVP-Politiker, und doch fand sie, sie habe sich getäuscht. Wir haben ihr auch beim Einkaufen geholfen. Sie sagte mir, dass sie keine Schweizer*innen in der Gegend kenne, die das machen würden.

Auch die Neubürger*innenfeier musste abgesagt werden. Am 1. August, zwei Wochen nachdem ich Schweizerin geworden bin, habe ich eine grosse Schweizerfahne an den Balkon gehängt und Schweizer Essen draussen auf einen Tisch gestellt für alle Kinder der Nachbarschaft, aber wegen Corona konnten wir nicht richtig zusammen feiern. Regelmässigen Kontakt habe ich auch mit zwei Schwestern, die mich an meine Eltern erinnern, sie sind 99 und 87 Jahre alt. Wir konnten uns die ganze Zeit nicht sehen, nun konnten wir endlich wieder einmal abmachen, mit dem nötigen Abstand natürlich. Sie helfen mir auch, zum Beispiel will ich mein Deutsch verbessern. Zweimal in der Woche übe ich mit zwei Freundinnen. Deutsch finde ich ziemlich schwierig, obwohl mir Sprachen eigentlich liegen. Ich spreche Italienisch, Arabisch, Somali und Swahili. Aber mit meinen Nachbar*innen will ich Deutsch reden.

Ich fühle mich sehr wohl in meiner Nachbarschaft. Seit 17 Jahren lebe ich in derselben Strasse, seit ich in der Schweiz angekommen bin. Es sind liebe Menschen, die hier wohnen. Meine Kinder sind hier aufgewachsen, leider sehe ich meine Nachbar*innen weniger, seit die Kinder gross sind, was sehr schade ist. Früher gingen die Kinder überall ein und aus, wir haben viel zusammen unternommen, gingen in die Badi oder haben grilliert. Wir waren so etwas wie eine grosse Familie. Corona hat das verändert. Wir sehen uns selten, die Leute sind vorsichtig geworden. Früher haben wir uns auch umarmt, wenn wir uns auf der Strasse gesehen haben, jetzt winken wir uns nur noch von fern zu, das fällt mir schwer, das

SEYNAB ALI ISSE (49) verkauft Surprise in Winterthur und in Zürich Witikon. Vor dem Krieg war es in ihrem Herkunftsland Somalia üblich, dass man mit etwa 40 Nachbar*innen in ständigem Austausch war. Dass man sich um seine Mitmenschen kümmert, ist in der islamischen Kultur verankert: Gelernt hat sie die Sorge füreinander in ihrer Heimat. Und deshalb liebt sie ihre Nachbar*innen auch hier.

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Die Texte für diese Kolumne entstehen in Workshops unter der Leitung von Stephan Pörtner und Surprise. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration. Surprise 490/20


INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK: BEVÖLKERUNGSSTATISTIK: REFERENZSZENARIO 2020–2050

Die Sozialzahl

Warten auf die Rente Warten junge Erwachsene vergebens auf eine Rente, wenn sie in vierzig, fünfzig Jahren in Pension gehen? Manche glauben nicht mehr an den Generationenvertrag in der AHV. Die Angst, einmal ohne Altersvorsorge dazustehen, zeigt sich im Sorgenbarometer seit vielen Jahren. Sind diese Bedenken berechtigt, wird sich das Warten nicht gelohnt haben? Viele argumentieren mit dem Altersquotienten, um zu zeigen, dass die Rechnung nicht aufgehen kann. Er zeigt das Verhältnis zwischen Personen über 65 Jahren und der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 64. Bei Gründung der AHV 1948 lag dieses Verhältnis bei 1 zu 9. Auf eine Person im Rentenalter kamen 9 Personen im Erwerbsalter. Heute stehen rund 3 Erwachsene einem Rentner oder einer Rentnerin gegenüber. Das Bundesamt für Statistik geht davon aus, dass sich das Verhältnis bis 2050 auf etwa 1 zu 2 reduzieren wird. Daraus wird abgeleitet, dass die AHV in naher Zukunft nicht mehr zu finanzieren sein wird. Mit viel Polemik wird der Bankrott der AHV herbeigeschrieben. Doch nur schon die Annahme, dass das Rentenalter bis 2050 konstant bei 65 Jahren für Männer (und vielleicht auch bald für Frauen) liegen wird, darf bezweifelt werden. Das Problem liegt aber noch ganz woanders. Der Altersquotient zählt Köpfe, die AHV aber rechnet mit den Portemonnaies dieser Köpfe. Deshalb kommt es darauf an, wie sich in den kommenden Jahren die Wirtschaft und damit die Löhne entwickeln werden. Denn noch immer finanziert sich die AHV zu überwiegendem Teil aus den sogenannten Lohnprozenten. Dazu kommen Gelder aus der Mehrwertsteuer, der Tabak- und Alkoholsteuer sowie der Spielbankenabgabe.

Die Höhe dieser Erträge hängt eng mit dem Konsum zusammen, und dieser wiederum ist wesentlich durch die Lohnentwicklung geprägt. Zur Sanierung der AHV wird immer wieder die Erhöhung des Rentenalters gefordert. Die eben lancierte «Renteninitiative», getragen von bürgerlichen Kreisen, fordert darum einen Automatismus, sodass das Rentenalter immer in dem Masse angehoben wird, wie die Rechnung der AHV gerade im Lot bleibt. Die Diskussion über das Rentenalter lenkt von einer einfachen Tatsache ab: Die AHV ist die Sozialversicherung mit der grössten Solidarität zwischen den Bessergestellten und allen anderen, denen es weniger gut geht. Die Lohnprozente sind auf den ganzen AHV-pflichtigen Lohn zu bezahlen, die Leistung der AHV ist aber nach oben begrenzt. So zahlen Erwerbstätige mit hohen Löhnen deutlich mehr in die AHV ein, als sie später an Renten beziehen werden. Damit finanzieren sie die Renten jener, die während ihres Erwerbslebens nicht viel verdient haben. Die AHV braucht in den kommenden Jahren mehr Mittel. Wäre eine Erhöhung der Lohnabzüge um zwei Prozentpunkte undenkbar? Wir haben das in der Schweiz schon einmal gemacht. Als in den 1990er-Jahren die Arbeitslosigkeit auf Rekordhöhen wuchs, wurden die Lohnabzüge für die Arbeitslosenversicheung von 0,4 Prozent auf drei Prozent angehoben. Sehr gut Verdienende hatten noch einen zusätzlichen Solidaritätsbeitrag zu leisten. Was bei der ALV möglich war, sollte heute auch bei der AHV machbar sein. Das Warten auf einen Ruhestand in materieller Sicherheit darf nicht umsonst gewesen sein.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Altersquotient 2020–2050 (Referenzszenario) 100

80

60

40

30,9 % 2020

34 % 2025

38,3 % 2030

2035

43,6 %

44,9 %

2040

2045

46,5 % 2050

20

0

Definition Altersquotient:

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Personen ab 65 Jahren,

Personen zwischen 20 und 64 Jahren

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«Wenn ich auf meine Schüler*innen warte, stimme ich manchmal das Instrument oder spiele selber.» Pascal Graf, 46 Jahre, unterrichtet bei der Musikschule Konservatorium Zürich.


«Warten auf die Kinder und auf sie aufpassen, das gehört zu unserem Alltag.» Alexia Signorelli und Laura Zenoni, beide 21, arbeiten in einer Kita in Zürich.


«Der Impfstoff allein löst das Problem nicht» Pandemie Wissenschaftsjournalist Kai Kupferschmidt glaubt, der

vieldiskutierte Impfstoff gegen SARS-CoV-2 bringe einiges an Normalität zurück. Ein bisschen müssen wir allerdings noch durchhalten. INTERVIEW  SARA WINTER SAYILIR

Hierzulande heisst es derzeit, der Bund wolle im Januar mit dem Impfen beginnen. Ist das realistisch? Einige Länder fangen ja bereits zu impfen an. Die europäische Arzneimittelagentur dürfte in den kommenden Wochen ebenfalls den Weg frei machen für eine bedingte Marktzulassung der beiden am weitesten fortgeschrittenen Impfstoffe. Aber ich will das nochmal betonen: Auch wenn im Januar die Impfungen beginnen, heisst das nicht, dass wir dann die Massnahmen der vergangenen Monate aufgeben können. Das wäre katastrophal. Nur weil ein paar Menschen gegen das Virus geimpft sind, ändert sich erstmal nichts. Ist die Euphorie um die Impfstoffe berechtigt oder lassen wir uns mitreissen, weil wir uns so sehr nach Normalität sehnen? Diese Impfstoffe sind schon ein grosser Durchbruch. Die meisten Forscher*innen rechneten damit, dass die erste Generation Impfstoffe viel weniger effizient schützen würde, vielleicht 60 oder 70 Prozent. Jetzt haben die ersten Ergebnisse mit über 90 Prozent, so wie sie in den Pressemitteilungen kommuniziert wurden, die Erwartungen weit übertroffen. Trotzdem muss man vorsichtig sein: Wir haben einen sehr guten Masern-Impfstoff, und dennoch sind 2019 mehr als 200 000 Menschen weltweit an den Masern gestorben. Das zeigt: Der Impfstoff allein löst das Problem nicht. Wie viele Menschen müsste man denn impfen, um Sicherheit zu haben? Das kurzfristige Ziel ist, die Ärzt*innen und das Pflegepersonal zu schützen, um die Infrastruktur und die medizinische Versorgung zu sichern, und dann die älteren Menschen sowie Menschen mit Vorerkrankungen, die ein erhöhtes Risiko haben. Langfristig geht es darum, Herdenimmunität zu erreichen. Wie viele Menschen dafür geimpft sein müssen, hängt davon ab, wie leicht sich ein Virus ausbreitet – und wie gut ein Impfstoff wirkt. Für eine 10

Herdenimmunität gegen das Virus SARS-CoV-2, wie der Erreger medizinisch genannt wird, müssen vermutlich 60 bis 70 Prozent der Menschen geimpft werden. Das ist deutlich weniger als beispielsweise bei Masern, die viel ansteckender sind und wo man 95 Prozent der Menschen erreichen muss. Beziehen sich diese Prozentangaben auf ein Land oder auf die ganze Welt? Man geht hierbei von einer gleichmässigen Verteilung der geimpften Menschen aus, in einem Land, aber auch auf der ganzen Welt. In der Realität sieht das natürlich anders aus, das sehen wir bei den Masern. Wenn einzelne Ärzte beispielweise nicht impfen, kommt es auch bei einer Impfrate von 95 Prozent zu lokalen Ausbrüchen. Rein theoretisch sollten wir also diese 60 bis 70 Prozent global gleichmässig verteilt erreichen. In der Realität aber geht es jetzt erst einmal darum, diese Verteilung in den einzelnen Ländern zu erreichen. Warum gibt es so viele Bedenken beim Impfen? Impfstoffe sind ein wahnsinnig schwieriges Thema, weil sie gesunden Menschen gegeben werden – und dann häufig auch noch Kindern. Natürlich haben Impfstoffe gewisse Nebenwirkungen und können mit einer geringen Wahrscheinlichkeit auch mal eine ernste haben. Und dann ist ganz schnell der Nutzen von Impfungen für die Gesellschaft nicht mehr kongruent mit dem eigenen Nutzen. Immer da, wo dieses Verhältnis auseinanderfällt, wird es schwierig. Das führt gerade in reichen Ländern, in denen viele Infektionskrankheiten keine grosse Rolle mehr spielen – teilweise weil wir die Impfstoffe haben – zu Verunsicherung und auch Widerstand. Man nennt dies das Präventionsparadox: Weil wir die Leute lange gut geimpft haben, sind bestimmte Krankheiten seltener, weswegen die Leute den Nutzen der Impfungen nicht mehr auf dieselbe Art und Weise sehen.

BILD: SVEN SIMON

Kai Kupferschmidt, wie lange müssen wir noch warten, bis die Pandemie nicht mehr unseren Alltag bestimmt? Das ist eine sehr schwierige Frage. Die Impfstoffe kommen ja jetzt und ich bin zuversichtlich, dass sie uns helfen werden, die Ausbreitung des Virus in den Griff zu bekommen. Aber das dauert. Die Menge wird zunächst begrenzt sein und der Schutz-Effekt für die Gesellschaft wird sich nur langsam bemerkbar machen. Ich denke, die Impfungen und das wärmere Wetter zum Sommer hin werden gemeinsam einen grossen Effekt haben und ich hoffe, dass die zweite Jahreshälfte 2021 sich dann sehr viel normaler anfühlt.

Kai Kupferschmidt, 38, ist Molekularbiomediziner und Wissenschaftsjournalist aus Deutschland. Er schreibt regelmässig für das US-amerikanische Wissenschaftsmagazin Science sowie das OnlineMagazin Riffreporter.de. Mit zwei Kolleg*innen produziert er dort und auf der Plattform Viertausendhertz.de seit März auch den Podcast «Pandemia», um Erkenntnisse aus der Pandemie- und Epidemieforschung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Surprise 490/20


Was kann ein demokratisch funktionierender Staat in einer Lage wie in Europa überhaupt tun, um seine Bürger*innen zu schützen? Der Staat setzt in erster Linie Signale. Er kann ja selbst mit einem Lockdown nicht tatsächlich verhindern, dass Menschen sich treffen. Aber er signalisiert, wie gefährlich die Lage ist, und das ändert das Verhalten der Menschen. Hierbei fehlte mir allerdings eine klare Strategie. Es wurde beispielsweise in Deutschland zwar immer relativ solide kommuniziert, aber immer sehr kurzfristig. Aber wir können ja nicht immer so ad hoc weitermachen, ohne zu wissen, wie lange! An der Stelle hätte es geholfen, wenn man eine klare Strategie kommuniziert hätte. Und ein Grund dafür, dass keine kommuniziert wurde, ist, dass wir in Europa keine klare Strategie haben. Was wäre denn eine sinnvolle Strategie gewesen? Ideal wäre eine koordinierte Strategie in ganz Europa gewesen, die Neuinfektionen wirklich gegen Null zu reduzieren und dann die Testkapazitäten massiv hochzufahren, um auf jedes neue Cluster sofort mit strikter Kontaktverfolgung und Quarantäne reagieren zu können. Der wichtigste Punkt ist aber, der Bevölkerung überhaupt zu sagen, was die Strategie ist, damit sie weiss, worauf sie sich einstellen muss. Viele Menschen sind massiv überfordert mit der schieren Menge an Informationen, die zu diesem Thema veröffentlicht wird. Was sollte man Ihres Erachtens als Einzelperson eigentlich wissen und verfolgen? Für viele ist es nicht besonders hilfreich, sich in den Rund-umdie-Uhr-Strom von Nachrichten zu begeben. Das beunruhigt nur. Was man aber verfolgen sollte, sind die Informationen, die man braucht, um eine sinnvolle Risikoabwägung für sich selber zu fällen. Darum sollte es auch den Gesundheitsbehörden und den Medien gehen. Wir sollten zum Beispiel grob wissen, wieviel Virus sich in unserem Umfeld befindet – in meiner Stadt beispielweise. Wie komme ich denn an diese entscheidenden Infos? Ich kann beispielsweise die aktuellen Zahlen für meinen Wohnort Berlin online nachschauen, aufgeschlüsselt nach Bezirk. Das ist das eine. Und auf der anderen Seite haben viele Behörden und Medien immer wieder deutlich erklärt, was besonders riskant ist: Enger Kontakt in schlecht belüfteten Räumen über einen langen Zeitraum etwa. Es erscheint da ja gewissermassen als bittere Ironie der Geschichte, dass Sie sich trotz aller Expertise und Fachwissen auf einer Reise mit HIV angesteckt haben. Wie wirksam ist denn Aufklärung als Präventionsmassnahme? Das hat natürlich viele Ebenen. Meine HIV-Erkrankung ist letztlich auf ein geplatztes Kondom zurückzuführen, war also ein Unfall. Das zeigt, dass man das Risiko nicht ausschliessen kann. Es heisst ja auch «safer sex» und nicht «safe sex». Das ist die eine Komponente: Es geht darum, Risiko zu minimieren, und nicht darum, es auszuschliessen. Das Risiko auszuschliessen, würde letztlich heissen, das Leben auszuschliessen. Das andere ist, dass man aus der HIV-Pandemie lernen muss, dass man die Bekämpfung einer Seuche nicht gegen die betroffenen Menschen durchsetzen kann. Es muss immer darum gehen, Menschen aufzukläSurprise 490/20

ren und zu informierten Entscheidungen zu ermächtigen, und dann letztlich darauf zu vertrauen. Die Menschen haben ja ein Eigeninteresse an ihrer Gesundheit. Mit HIV ist durch den medizinischen Fortschritt heute ein relativ normales Leben möglich. Sie sind nicht mehr ansteckend und können mit der stetigen Medikation ganz gut leben. Ist das jetzt so etwas wie das «Normal», das eben einkehren kann, wenn so eine Krankheit einmal in der Welt ist? In dem Masse, wie die Behandlung von HIV in den letzten zwanzig Jahren besser geworden ist, hat die Angst davor auch abgenommen. Wenn ich allerdings mit Menschen rede, fällt mir auf, dass es eine Art Schizophrenie gibt: Die Leute sagen auf einem Level, ah, ok, es ist alles nicht mehr so schlimm mit HIV, ich muss da nicht so drüber nachdenken. Wenn ich dann aber sage: Du

«Menschen machen Fehler. Infektionskrankheiten amplifizieren diese Fehler. Sie machen aus einer kleinen Entscheidung eine Entscheidung über Leben und Tod.» K AI KUPFERSCHMIDT

übrigens, ich bin HIV-positiv, dann kommen plötzlich doch eine Menge auch irrationale Ängste hoch. Natürlich verändert die Tatsache, dass es behandelbar ist, langsam das Verhalten. Allerdings spielt hier auch die Generationenfrage mit rein: Die Menschen in meinem Alter haben die ganz harte Zeit nicht mehr erlebt. Wenn ich mit älteren Kollegen spreche, ist das anders. Was bei HIV noch dazukommt, ist die sogenannte Präexpositions-Prophylaxe. Menschen können HIV-Medikamente präventiv nehmen und so das Risiko, sich anzustecken, gegen Null senken. Das hat viel geändert, auch in der Stigmatisierung. Wenn man will, dass die Leute mitmachen, ist es wichtig zu versuchen, Stigmatisierung zu vermeiden. Spielt Stigmatisierung auch bei SARS-CoV-2 eine Rolle? Es gibt viele Menschen, die derzeit sehr frustriert und wütend über das Verhalten mancher Menschen sind – da kann es leicht passieren, dass man in einen Schulddiskurs fällt. Aber das hilft niemandem. Menschen machen Fehler. Infektionskrankheiten amplifizieren diese Fehler. Sie machen aus einer kleinen Entscheidung eine Entscheidung über Leben und Tod. Es wird aber aus gutem Grund versucht, die Schuldfrage aus der Diskussion herauszuhalten, weil man damit die Leute nur verschreckt und letztlich 11


der Komplexität der Sache nicht gerecht wird. Ich würde mir wünschen, dass wir aus dieser Pandemie in Bezug darauf etwas lernen und mitnehmen. Aber ich bin da nicht so zuversichtlich. Als in Dänemark zahllose Nerze getötet werden mussten, weil sie sich mit SARS-CoV-2 infiziert hatten, war in einem Nebensatz auch die Rede von mutierten Varianten des Virus. Was heisst die Frage der Mutation für uns? Das Virus ändert sich permanent. Im Grunde genommen mit jedem neuen Menschen, den es infiziert. Wir haben allerdings seit Beginn der Pandemie erst sehr wenige Mutanten gesehen, die das Verhalten des Virus möglicherweise ein bisschen geändert haben. Insgesamt muss man sagen, das Virus mutiert eher langsam, und es gibt wenig Anzeichen dafür, dass irgendwelche dieser Mutationen zum Beispiel Impfstoffe umgehen könnten. Was ich in Bezug auf die Nerzfarmen interessant finde: Wir reden immer noch viel zu wenig über die Tatsache, dass die Massentierhaltung eine Rolle spielt in diesem Zeitalter der Pandemien, in dem wir jetzt leben. Viele der Viruserkrankungen, die wir sehen und die uns am meisten Angst machen, kommen irgendwie aus diesem Bereich. Ich würde mir wünschen, dass wir diese grösseren Zusammenhänge mehr besprechen würden. Viele Leute verweigern sich aber einer konstruktiven Diskussion, zum Beispiel die sogenannten Corona-Leugner*innen. In der Schweiz organisiert sich bereits Widerstand gegen eine etwaige Impfpflicht in Form einer Volksinitiative.

Ich glaube kaum, dass viele europäische Länder eine Impfpflicht einführen werden. Und ich glaube auch nicht, dass das der richtige Weg wäre. Wenn man etwas erzwingen muss, das so sinnvoll ist für den Einzelnen und für die Gesellschaft, dann ist das auch ein Versagen. Bei den Masern hat Deutschland ja vor Kurzem eine Impfpflicht eingeführt, aber da ist das Argument immer auch, wie aussergewöhnlich ansteckend das Virus ist und dass man deswegen 95 Prozent der Menschen erreichen muss. Das ist bei SARS-CoV-2 anders. Wir sollten alles daransetzen, den Menschen die Informationen zur Verfügung zu stellen, die sie für eine informierte Entscheidung benötigen. Am Anfang wird der Impfstoff ohnehin knapp sein. Es wird also ein Fenster geben, um über die Impfstoffe, ihre Wirkweise und Sicherheit zu informieren. Aber wir müssen auch mehr tun, um Falschinformationen, die sich rasant verbreiten, zu entlarven und ihnen mit Fakten zu begegnen. Es ist schon schockierend, was für ein hanebüchener Unsinn da zum Teil zirkuliert. Was raten Sie uns? Ich glaube, dass wir jetzt alle noch kollektiv ein bisschen durchhalten müssen. Und die Tatsache, dass ein Ende in Sicht ist, macht uns das hoffentlich ein bisschen leichter.

Eine ausführlichere Version des Interviews finden Sie unter: www.surprise.ch/kupferschmidt

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«Das Warten nutze ich zum Lesen oder für einen Schwatz mit meiner Kollegin.» Maria Giacomelli, 65, ist Garderobiere im Zürcher Schauspielhaus Pfauen.

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Unterwegs ins Leben, auf dem Weg hinaus Begleitung Während sie auf die Geburt ihres Sohnes

wartet, fühlt sich die Autorin zurückversetzt in eine Zeit, als sie auf den Tod ihrer Mutter wartete. TEXT  DOROTHEE ADRIAN

Geburt und Tod sind unverfügbar, sie entziehen sich unserem Planen und Tun. Sie geschehen. Darin sind sie sich sehr ähnlich. Das Warten auf die Geburt meines Sohnes zog sich hin. Lang ersehntes Wunschkind, jahrelanges Probieren, dann endlich: Wir bekommen ein Baby! Übergrosse Freude. Schliesslich nahte der Termin. Noch wenige Wochen bis zum siebten Juli. Freunde luden uns ein, sie feierten ihre Hochzeit ausgerechnet am Geburtstermin, noch dazu mehrere Stunden weit entfernt, nein, da können wir nicht kommen, da kommt unser Kind zur Welt. Hoffen. Dass sie doch noch wieder gesundwerden könnte, entgegen allen Prognosen. Weihnachten verstrich. Die Böden waren vereist, die Nächte lang. Für ein paar Tage kam sie nochmal nach Hause, meine Mutter, schwerkrank mit Krebs im Endstadium. Das Hoffen nahm ab mit jedem Anzeichen des Todes, der immer stärker nach ihr griff. Als die Qualen schlimmer wurden, fingen wir an zu warten. Darauf, dass sie gehen darf. Ob ich zu Freunden zum Essen kommen wolle? Nein, das geht nicht, meine Mutter liegt im Sterben. Der siebte Juli kam, die Aufregung stieg, der Bauch war riesig, die Haut gespannt. Eine kurze Runde mit dem Velo in der Sommerhitze drehen, das ging noch. Aber dann gleich wieder die Füsse hochlegen. Der achte Juli kam und ging. Ach, er wird schon kommen! Der neunte, der zehnte. Die Ungeduld stieg. Nachrichten auf dem Handy von Freunden, die sich erkundigten. Noch alles still hier. Was werden die nächsten Tage bringen? Und wie wird das sein: plötzlich selbst Mama sein? Wann kommt das Kind endlich? Der Terminkalender: leer. Der Dezember verstrich, der Januar kam. Ich hatte die letzten Jahre, nachdem sie krank geworden war, Angst vor ihrem Tod gehabt. Ich fühlte mich mit Anfang zwanzig absolut nicht bereit dazu, sie gehen zu lassen, ich wollte nicht ohne Mama auf der Welt sein. Aber wenn es 14

nicht anders geht, sagte ich zu ihr, dann will ich wenigstens dabei sein. In jenem Winter bahnte es sich fühlbar an. Es ging ihr so elend. Sie befand sich schon halb dort, in der anderen Welt; sie wusste oft nicht mehr, wo sie war und was um sie herum passierte. Wir wünschten ihr, sterben zu können. Ein Freund der Familie meinte: Manche Menschen können nicht sterben, weil sie nicht losgelassen werden. Also stellten wir uns um sie herum und sagten ihr: Du darfst gehen, wir lassen dich los. Aber sie ging nicht. Elfter Juli. Zwölfter, dreizehnter, vierzehnter. Ich wollte so gerne ins Geburtshaus, aber dort dürfte ich bis höchstens zehn Tage nach Termin gebären, sagten sie mir. Ich befolgte alle Tipps der Hebamme. Scharfes Essen, Sex, Wehencocktail mit Rizinusöl und Mandelmus, aber nichts regte sich. Komm, mein Kind, komm! Mach dich auf den Weg! Aber es kam nicht. Und schliesslich wurde es Februar. Meine Mutter verbrachte die letzten Wochen in einem Hospiz. Wir flössten ihr Wasser und Tee ein, versuchten, ihr das Essen schmackhaft zu machen. Wir wachten die Nächte bei ihr, in denen sie eher schlummerte als schlief, wo sie halluzinierte und Ängste durchstand. Bis zum achtzehnten Juli durfte ich warten, ob mein Kind sich von selbst auf den Weg machen würde. Das war die Abmachung zwischen Geburtshaus und Spital. Sie hatten mir einen Tag mehr geschenkt, weil alles gut aussah. Am achtzehnten Juli sagte die Oberärztin der Gynäkologie zu mir: Frau Adrian, einen weiteren Tag kriegen Sie noch. Aber wenn bis morgen früh um acht nichts passiert, dann ist Schicht im Schacht! Dann sind Sie hier. Schicht im Schacht? Wo sind wir denn hier? Aber es war mein erstes Kind, entgegen allem ärztlichen Rat traute ich mich nicht, weiter zu warten. Was ist, wenn es Komplikationen gibt? Bei den Hebammen durfte ich ja nicht mehr gebären. Mit ziemlich mulmigem Gefühl fuhr ich Surprise 490/20


am nächsten Morgen ins Spital, mein Köfferchen gepackt, und begab mich dort in die Hände der modernen Medizin. Tagsüber wollte meine Mutter immer wieder los und eine Reise antreten. Doro, pack mal meinen Koffer, dann können wir los, sagte sie. Wohin möchtest du denn gehen?, fragte ich. Das wusste sie selbst nicht so genau. Wir hoben sie in den Rollstuhl und gingen durch die Flure. Sie war unterwegs. Die Geburt wurde eingeleitet und so dem Warten ein Ende bereitet. Wobei: Etwas warten musste ich schon noch. Doch dann überrollten mich die Wehen wie ein Sturm, ich versuchte mich irgendwo festzuklammern. Frau Adrian, wir Frauen sind für so etwas gemacht!, rief mir eine Krankenschwester zu, als ich mich von meiner Station auf die Gebärstation hochatmete. Ihre Stimme verhallte, die Wehen hatten mich im Griff, ich kämpfte auf offener See ums Überleben. Ich dachte an all die Frauen auf dieser Welt, die bei einer Geburt ihr Leben verloren hatten. Ich spürte diese existenzielle Grundlinie, die das Hier vom Dort trennt. Ich schrie und presste. Am nächsten Morgen, die Wehen waren nicht wirkungsvoll genug gewesen, stand ein ganzer Ärzt*innen-Trupp vor mir. Die Oberärztin kündigte an, sich jetzt auf meinen Bauch zu schmeissen. «Kristellern» nennt man dieses umstrittene Manöver, benannt nach dem Erfinder. Mit voller Wucht warf sie sich auf mich, drückte und quetschte. Mit einem letzten Rest Humor sagte ich: Das geht nicht sanfter, oder? Mein Mann sagte endlich: Ich sehe den Kopf! Ich sagte nichts. Als es so weit war, da wachte meine Schwester mit ihrer Freundin bei ihr. Sie sangen ihr Lieder, als sie dann, in einer Nacht Ende Februar, zum letzten Mal ein- und ausatmete. Und dann war: Stille. Als meine Mutter ging, war ich nicht dabei. Wir hatten wochenlang auf ihren Tod gewartet. Surprise 490/20

Babygeschrei, gesundes Babygeschrei! Das Kind war da. Endlich da. Wir hatten so lange darauf gewartet, jetzt hielten wir es in den Armen. Doch die Geburt hatte mich geschockt. Die ersten Tage habe ich viel geweint. Es dauerte, bis sich Freude einstellte. Ich fühlte mich wie eine Überlebende. Aber dann erholte sich der Körper langsam und ich realisierte: Ich bin jetzt eine Mutter. Ich schloss unseren Sohn jeden Tag mehr ins Herz. Nun war meine Mutter tot. Die ersten Tage fühlte ich mich, als würde ich schweben. Ich habe keine Mutter mehr. Irgendwie hatte ich immer gefürchtet, dass ich selbst ableben würde, wenn sie geht. Oder zumindest ein Teil von mir. Aber ich habe überlebt.

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«Wegen Corona habe ich sehr wenig zu tun und muss viel warten. In dieser Zeit füttere ich manchmal die Möwen.» Tarek Fares, 47, ist seit 2011 Taxifahrer in Zürich.

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«Rund zwei Stunden pro Tag verbringe ich in der Volière und warte darauf, wie sich die Graupapageien verhalten.» Meret Huwiler, 27, ist Biologiestudentin und macht ein dreimonatiges Praktikum im Zoo Zürich.

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Kind der Wende Albanien In jungen Jahren träumt Shpetim Mevlani einen Traum, der im sozialistischen

Albanien gefährlich ist: die Flucht in die USA. Doch er wird gefasst und muss zehn Jahre ins Straflager. Dreissig Jahre danach träumt Shpetim immer noch. TEXT  FRANZISKA TSCHINDERLE

Als ich das erste Mal von Shpetim Mevlani hörte, hatte ich gerade den Muzina-Pass überquert. Eine schmale Gebirgsstrasse schlängelt sich hoch auf fünfhundert Höhenmeter, an kleinen Dörfern vorbei, um dann steil in ein Tal abzufallen, das von einer schnurgeraden Schnellstrasse durchzogen ist. Rechts geht es nach Griechenland. Links nach Gjirokastra – jener Stadt, in der Albaniens ehemaliger Diktator Enver Hoxha geboren ist. Und Shpetim – der Mann, um den es in dieser Geschichte geht. Wir haben Spätsommer 2019. Seit drei Monaten bereise ich Albanien in einem Gebrauchtwagen, ein roter Golf Baujahr 1991, älter als ich selbst, aber zuverlässig und zäh, mit einem rot und grün blinkenden Einbauradio und einer ausziehbaren Antenne. Auf dem Beifahrersitz Aida, eine gute Freundin und Übersetzerin aus dem Kosovo. Gemeinsam arbeiten wir an einem Buch über Albanien. Was wir zu dem Zeitpunkt noch nicht wissen: Im November 2020, wenn das Buch dann einmal erschienen ist, wird die Welt eine andere sein. Road Trips auf dem Balkan? Ein Relikt aus der guten alten Zeit ohne Corona. Was wir ebenso wenig wissen – das vermeintlich unzerstörbare Auto, in dem wir gerade sitzen, wird dann zu einem quadratischen Schrottwürfel zusammengepresst worden sein. Aber eines wird diesen Sommer überdauern – die Freundschaft mit einem Mann, der uns damals seine Geschichte anvertraut hat. Durch einen alten Schachspieler mit weissen Haaren, der in einer Bar an ebenjener schnurgeraden Strasse sitzt, erfahren wir von ihm. Man kenne Shpetim in der Gegend, beginnt er. Als junger Mann habe er den Grenzzaun mit einem alten Rettungswagen gerammt, mit weitreichenden Folgen. Ob wir seine Nummer haben wollten? Wir wollten. Am darauffolgenden Tag verabreden wir uns zum ersten Mal mit ihm. Shpetim Mevlani, der Mann mit dem Rettungswagen, ist heute 70 Jahre alt. Er lebt mit seiner Frau in einer Zweizimmerwohnung im ersten Stock eines braunen Ziegelsteinblocks am Stadtrand von Gjirokastra. Shpetim, erklärt mir Aida, als wir das Auto parken und aussteigen, bedeute auf Albanisch «die Rettung» oder «das Heil». Sie fügt hinzu: «Offenbar hat ihm sein Name kein Glück gebracht.» Kurz darauf hastet Shpetim auf uns zu, ein kleiner Mann mit Schnauzbart, Hemd und dunkler Sonnenbrille. Er hat eine Ledermappe unter seinen Arm geklemmt, als wäre er auf dem Weg zur Arbeit. Als wir uns einen Tisch in einer der Bars suchen, blickt sich Shpetim Mevlani ner18

vös um. Ob wir vielleicht woanders hingehen könnten, wo es ruhiger sei? Shpetim ist Teil einer Generation, die in einem Überwachungsstaat gross geworden ist. Dreissig Jahre nach der Wende hat er noch immer Angst, obwohl Albanien mittlerweile kein Terrorregime mehr ist und Enver Hoxha, der Diktator, seit 1985 tot. Eine halbe Stunde später sitzt Shpetim auf dem einzigen Stuhl in unserem Hotelzimmer. Er hat sich in der Bar unter uns einen Espresso zum Mitnehmen bestellt, eine Lesebrille aufgesetzt und aufgehört, gedämpft zu sprechen. Die Klimaanlage surrt, während Shpetim erzählt. Als er geht, ist es dunkel. Und weil ein ganzes Leben nicht in einen Abend passt, schon gar nicht das von Shpetim, treffen wir uns am nächsten Morgen wieder. Die Wände haben Ohren «Siehst du das letzte Dach in der Strasse? Dort bei den Olivenbäumen? Das ist das Haus meines Vaters», sagt Shpetim, als wir am nächsten Tag vor seiner alten Schule stehen. Sie liegt auf einer Anhöhe, von der man auf Manalat blickt, jene Siedlung, in der er aufgewachsen ist. Neue und alte Häuser schmiegen sich an den steilen Berg­ hang, manche aus Stein und bis zu dreihundert Jahre alt, andere neu verputzt und renoviert mit dem Geld, das die Bewohner*innen nach dem Fall des Sozialismus in Griechenland verdient haben. Von hier stieg Shpetim, der Älteste von insgesamt acht Kindern, früher hoch zur Schule. «Wir trugen rote Halstücher. Sie nannten uns Envers Pioniere», erzählt er, während wir am Sportplatz vorbeifahren. Shpetims Mutter schloss sich im jungen Alter den Partisanen an. Auch der Vater, der nach dem Krieg in einer Likörfabrik und später in einer Baufirma arbeitete, war überzeugter Kommunist. «Sie haben Hoxha geliebt», sagt Shpetim. Warum, das habe er als junger Mann nicht verstehen können, denn er selbst habe das Leben in Albanien gehasst. Heute versteht Shpetim seine Eltern besser: Die Kommunisten, so erzählt er, hätten glühenden Partisan*innen wie seinen Eltern versprochen, dass nach dem Krieg alles besser sein und alle von goldenen Löffeln essen würden. Stattdessen habe sich Albanien in einen strikten Überwachungsstaat verwandelt. «Was hast du davon, Mitglied in der Partei zu sein?», fragte Shpetim seinen Vater in jungen Jahren. Und der antwortete: «Sei still, die Wände haben Ohren.» In seinen Memoiren schreibt Hoxha: «Die Mauern unserer Festung sind aus felsenfestem Granit.» Das Surprise 490/20


bringt auf den Punkt, wie hermetisch das Regime seine Bürger*innen vom Rest der Welt abriegelte. Student*innen durften weder lange Haare, Miniröcke oder Koteletten tragen, noch Aristoteles, Sartre oder Kafka lesen. Ausländische Literatur galt als «dekadent» und gefährlich für die Moral der Albaner*innen. Wer illegal über die Grenze flüchtete, beging «Vaterlandsverrat» und wurde mit bis zu zehn Jahren Haft oder sofortiger Erschiessung bestraft. In Artikel 47 des Strafgesetzbuches hiess es: «Die Flucht ist das schwerste Verbrechen, das der Bürger der Sozialistischen Volksrepublik Albanien begehen kann.» In so einem Land träumte Shpetim heimlich von einem Leben in den USA, dem «imperialistischen» Erzfeind auf der anderen Seite des Atlantiks. Dort hatte er einen Onkel namens Ismail, der vor der Machtergreifung der Kommunisten ausgewandert war und eine Portugiesin geheiratet hatte. Doch vorerst tat Shpetim, was das Regime von ihm verlangte: Er ging auf eine Schule für Mechaniker in der Küstenstadt Vlora und begann später in einer Metallfabrik in Gjirokastra zu arbeiten. Sie stellte Gegenstände aus Leichtmetall her, erzählt er, Löffel und Regenschirme etwa. Fluchtplan Einer seiner Freunde aus der Stadt, er hiess Enver wie der Diktator, arbeitete als Krankenwagenfahrer. Enver besass einen Führerschein, was in Albanien, wo private Autos verboten waren, ungewöhnlich war. Während der Arbeit sass er am Steuer eines weissen Rettungswagens aus chinesischer Produktion, schwer und robust genug, um einen Grenzzaun aufzubrechen. Südlich von Gjirokastra, in einem Ort namens Jorgucat, stehe ein Militärkrankenhaus, erzählte Enver seinem Komplizen Shpetim. Wer es bis dorthin schaffe, sei nicht mehr weit von der Grenze entfernt. An den Tag der Flucht kann sich Shpetim noch genau erinnern. Das Datum hat sich in seinen Kopf gebrannt wie das Panzer-Tattoo, das er auf dem rechten Arm trägt: Montag, der 3. Mai 1976. Shpetim war 27 Jahre alt und bereit, alles zu riskieren. «Enver hielt mit dem Rettungswagen vor der Fabrik und rief: ‹Steig ein!› Dann sind wir mit 130 Stundenkilometern die Strasse in Richtung Grenze hinunter. Es fühlte sich an, als würden wir fliegen», erzählt er. Zwei Autos kamen ihnen auf der Strasse entgegen. Beide wichen aus, als sie die Leuchte auf dem Dach des Krankenwagens sahen. In Jorgucat wurden Enver und Shpetim an einem Checkpoint mit Schranke angehalten. Surprise 490/20

Während der Arbeit sass sein Freund Enver am Steuer eines weissen Rettungswagens aus chinesischer Produktion, schwer und robust genug, um einen Grenzzaun aufzubrechen.

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«Wir müssen zum Krankenhaus, es gibt einen Notfall», logen die beiden Freunde. Der Soldat blieb misstrauisch, glaubte ihnen nicht und liess die Schranke geschlossen. Enver und Shpetim hatten keine Zeit zu verlieren, drückten aufs Gas, rammten die Schranke und den Soldaten und durchtrennten dabei die Telefonleitung. «Rückblickend war das praktisch, weil der Soldat keine Verstärkung rufen konnte», erinnert sich Shpetim. Das Nächste, was die jungen Männer sahen, war ein drei Meter hoher Zaun, versehen mit einem Metalltor. Enver stieg noch einmal aufs Gaspedal und fuhr so oft an, bis das Tor aufgebrochen war. Der demolierte Wagen bog nach links. Die jungen Männer glaubten, bereits in Griechenland zu sein. «Als wir einen Soldaten sahen, waren wir überglücklich, weil wir dachten, er gehöre zur griechischen Grenzpolizei«, so Shpetim. Doch die Freude verflog schnell, als sie bemerkten, dass der Soldat einen roten Stern auf der Kappe trug. Das Tor, das sie gerammt hatten, stellte sich als Zugang zu einem Checkpoint der Kommunisten heraus. Als der Soldat den Chef der Grenzpolizei rief, wurde ihnen klar, dass sie in grossen Schwierigkeiten steckten. Der junge Shpetim hatte damals Todesangst, sagt der alte Shpetim in meinem Hotelzimmer, fügt jedoch hinzu: «Sie hätten uns dort ein Denkmal errichten sollen, damit ganz Albanien von uns erfährt.» Enver und Shpetim wurden voneinander getrennt und in separate Militärfahrzeuge gesetzt. Die Polizei brachte sie zurück nach Gjirokastra. Shpetim kam in eine Zelle der örtlichen Polizeistation. Die Station existiert bis heute und ist, wie der Grossteil der Gebäude in der Stadt, aus Stein gebaut. Am zweiten Tag, den wir miteinander verbringen, besuchen Shpetim, Aida und ich das alte Gefängnis. Ein Schild ist an der Mauer angebracht: SHITET – «Zu verkaufen». In dem Gebäude lebt ein Obdachloser, der zwei Hunde in den Keller gesperrt hat. Sie kläffen die ganze Zeit über, während wir nach Shpetims alter Zelle suchen. Er bleibt vor einem Loch in der Steinwand stehen, so klein, dass er heute nicht mehr durchpassen würde. Hier fingen, vor 43 Jahren, die Verhöre an. «Warum hast du so lange Haare und Koteletten?», brüllte ihn einer der Polizisten an. «Willst du so aussehen wie die im Westen?» «Sag mir, was ihr vorhattet, und die Partei wird gnädig mit euch sein», schmeichelte ein anderer. Am selben Tag, an dem Shpetim in die Zelle gesteckt wurde, durchsuchte der Geheimdienst das Haus seiner Eltern. «Ihr Sohn hat unser Land verraten», sagte einer der Polizisten. 20

Am 14. September 1976 fand Shpetims Gerichtsverhandlung im Zentrum von Gjirokastra statt. So etwas wie ein fairer Prozess existierte in Albanien damals nicht. Das Justizministerium war aufgelöst worden, die Angeklagten durften keine unabhängigen Verteidiger wählen, Geständnisse wurden zum Teil unter Folter erpresst. Shpetim wurde zu vierzehn Jahren Gefängnis und Zwangsarbeit verurteilt. Im Gerichtssaal sah er seine Schwester sitzen: «Sie trug Schwarz, da wusste ich, dass mein Vater gestorben war.» Die Hölle von Spaç Shpetim kam nach Spaç, ein Arbeitslager im Norden Albaniens. Es war ein Ort des Hungers, der schweren Arbeit, der Schläge. In ganz Albanien existierten rund sechzig solcher Lager und Gefängnisse, in denen politische Häftlinge unter erbärmlichsten Umständen lebten und arbeiteten. Aus Angst, interniert zu werden, kam die Mutter, die in der Wäscherei eines Krankenhauses arbeitete, Shpetim nie besuchen. Sie hatte auch kein Geld für die vier Tage lange Anreise. Spaç lag auf der anderen Seite des Landes, tief in den Bergen, dreihundert Kilometer vom südlichen Gjirokastra entfernt. Die Häftlinge mussten in einer Kupfermine schuften und die Schriften von Hoxha, Stalin und Lenin studieren. Wer sich beschwert habe, so Shpetim, sei in Isolationshaft gekommen. Einmal habe er zwei Monate in der Zelle gesessen: «Es war so eiskalt, dass das Wasser in meiner Tasse gefror.» Die Wachen verprügelten die Häftlinge mit Knüppeln und Stiefeln. Nach sechs Jahren wurde Shpetim 1982 nach Qafë Bari verlegt, ein Arbeitslager achtzehn Kilometer nördlich von Spaç. Er beschreibt den Ort als «noch verschneiter» und «noch schrecklicher». Einmal, erzählt Shpetim, sei ein Stollen zusammengebrochen und habe zwei seiner Freunde unter sich begraben. Als sie drei Tage später tot geborgen wurden, habe er einen Polizisten lachen und sagen gehört: «Jetzt haben wir zwei Feinde weniger.» Die Gegend um Qafë Bari ist reich an Mineralien, und so musste Shpetim wieder in der Mine arbeiten: «Das Wasser stand uns bis zu den Knien. Im Innern war es unerträglich heiss. Wir arbeiteten ohne T-Shirt und atmeten immer wieder frische Luft aus einem Rohr, das in den Stollen führte«, erinnert sich Shpetim. Die Temperatur­ unterschiede waren extrem. Qafë Bari lag im Gebirge, im Winter herrschten Minustemperaturen. Surprise 490/20


Sein Leben schien von vorne zu beginnen. Zwar war Hoxha, der Diktator, mittlerweile tot, aber sein Nachfolger, ein loyaler Parteisoldat, machte weiter wie gehabt. Doch dann, im November 1989, fiel die Berliner Mauer.

Im September 1987 wurde Shpetim überraschend freigelassen, früher als erwartet. Er fragte nicht, warum, sondern packte seine wenigen Habseligkeiten und ging. Zurück in Gjirokastra schloss er seine Mutter in die Arme und arbeitete wieder in der Metallfabrik, diesmal an der Presse. Sein Leben schien von vorne zu beginnen. Zwar war Hoxha, der Diktator, mittlerweile tot, aber sein Nachfolger Ramiz Alia, ein loyaler Parteisoldat, machte weiter wie gehabt. Doch dann, im November 1989, fiel die Berliner Mauer. Wendejahre Nicht nur in der DDR, auch in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei setzten die Massen an Demonstrant*innen die Regime unter Druck. In Bulgarien kam es nach dem Rücktritt des kommunistischen Staatsoberhaupts zu Neuwahlen, in Rumänien wurde der Diktator Nicolae Ceausescu gestürzt und hingerichtet. Der Ostblock fiel in ' sich zusammen. Nur im kleinen, von der Aussenwelt isolierten Albanien regierte die Partei der Arbeit weiter, als wäre nichts gewesen. Noch im August 1988 wurde in der Stadt Kukës ein regimekritischer Dichter namens Havzi Nela vor den Augen versammelter Schüler*innen gehängt. Weiterhin sassen politische Häftlinge in Gefängnissen. Im Dezember 1990 diskutierte die Partei immer noch über die Frage, ob der Schiessbefehl an der Grenze berechtigt sei oder nicht. Aber die Wende begann sich abzuzeichnen. «Nach dem Sturz in Rumänien war klar, dass wir die Nächsten sein würden, sozusagen der letzte Dominostein ANZEIGE

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in der sozialistischen Welt», erzählt mir Remzi Lani, der zur Zeit der Wende als Journalist arbeitete. Andere waren weniger optimistisch. Sie fürchteten, dass sich Albanien niemals der Welt öffnen würde. Im Juli 1990 stürmten Tausende Albaner*innen die Botschaften westlicher Staaten. Sie kletterten über die Zäune des streng bewachten Diplomatenviertels in Tirana, kampierten tagelang in den Gärten und forderten Asyl. Das, so Lani, habe das Regime so richtig erschüttert und in Bedrängnis gebracht. Albanien, von dem viele Menschen gar nicht wussten, dass es existierte, geriet plötzlich in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Tausende Student*innen, die freie Wahlen und Demokratie forderten, übten nun auch in Tirana Druck auf das Regime aus. Das erste Mal seit über vierzig Jahren wurden im Dezember 1990 oppositionelle Parteien zugelassen, der Griff der Einheits­ partei begann sich zu lockern. In dieser Zeit des politischen Umbruchs schlug sich Shpetim mit seinem Freund Vilson nach Griechenland durch. Wann, wenn nicht jetzt, liess sich sein Jugendtraum, in den USA zu leben, realisieren? Doch als er auf der amerikanischen Botschaft erfuhr, dass Onkel Ismail gestorben war, blieb ihm nichts anderes übrig, als in Griechenland zu bleiben. Er ging als Gastarbeiter auf die Insel Kefalonia, arbeitete auf dem Bau und als Maler. Auf einer Postkarte an seine Frau schrieb er: «Halte durch, alles wird gut werden.»

Shpetims Geschichte hat mich nie ganz losgelassen. Seitdem bereise ich Albanien mit anderen Augen – ein Land, das erst langsam damit beginnt, sich seiner dunklen Vergangenheit zu stellen. Bis heute müssen ehemalige Häftlinge wie Shpetim damit leben, dass jene, die ihnen das angetan haben, nie zur Verantwortung gezogen wurden. Nicht die Geheimdienstmitarbeitenden, die sie ausspioniert, nicht die Richter*innen, die sie verurteilt, und auch nicht Aufseher*innen im Lager, die sie geschlagen haben. Hoxhas Witwe zeigte bis zu ihrem Tod keinerlei Reue gegenüber den Opfern des Regimes. 2004 gab sie dem Spiegel ein Interview, in einem Fauteuil sitzend, direkt unter dem Porträt ihres Mannes. «Brüder, Cousinen, Eltern – wir haben sie alle leiden lassen, um unser gerechtes Ziel zu erreichen», so Nexhmije Hoxha damals. Shpetim lebt bis heute in der Zweizimmerwohnung in Gjirokastra. Er hat drei erwachsene Kinder und bekommt eine Pension von 270 Euro im Monat. Der Staat hat ihn mit insgesamt 55 000 Euro entschädigt, eine finanzielle Wiedergutmachung für das, was er im Sozialismus erlebt hat. Damit hat er Möbel und einen Kühlschrank gekauft, die Fenster repariert und den Kindern eine Schulausbildung finanziert. Er selbst ist nie weiter als bis nach Istanbul geflogen. Die USA sind ein Land, für das er alles riskiert und das er doch nie in seinem Leben betreten hat. Heute zeigt das Hintergrundbild seines Smartphones die Freiheitsstatue im Hafen von New York.

Hoxhas Witwe im Fauteuil Als Shpetim 1991 nach Albanien zurückkehrte, war die Schreckensära der Kommunist*innen Vergangenheit. Doch in Gjirokastra stand noch immer eine Marmorbüste des Diktators. «Ich ging nach Hause, holte einen Eimer mit Farbe und malte Hoxhas Hände rot an, um zu zeigen, was er uns allen angetan hat», erzählt er. Umgeben von johlenden Demonstrant*innen kletterte er auf den Kopf des Diktators und hielt die zwei Finger zum Peace-Zeichen hoch. Als Erinnerung an diesen Moment steckte sich Shpetim einen Steinsplitter, der von Hoxhas Büste in Gjirokastra abgebrochen war, in die Hosentasche. Sein Freund Vilson liess sich einen Ring daraus machen und nahm ihn mit in die USA, in das Land, das der Diktator so sehr gehasst hatte. In den 46 Jahren von Hoxhas Diktatur sollen 13 500 Menschen versucht haben, Albanien auf illegalem Weg zu verlassen. 988 überlebten den Fluchtversuch nicht.

FR ANZISK A TSCHINDERLE, geboren 1994 in Österreich, hat Journalismus und Geschichte studiert, und arbeitet heute als freie Journalistin mit Schwerpunkt Südosteuropa. Mit «Unterwegs in Albanien» ist im September 2020 ihr erstes Buch im DuMont Verlag erschienen. Die Geschichte von Shpetim Mevlani ist eines von 14 Kapiteln.

Hintergründe im Podcast: Die Autorin spricht im Podcast mit dem Radio­macher Simon Berginz über die Hintergründe der Geschichte. Mehr auf: surprise.ngo/talk Surprise 490/20


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«Am Ende erwarte ich immer gespannt die Gesichter der Zuschauer*innen, denn man sieht ihnen an, welchen Eindruck der Film hinterlassen hat.» Ernst Zimmermann, 62, arbeitet seit dreissig Jahren im Kino Xenix in Zürich.

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«Warten ist eine aktive Meditationsarbeit.» Josephine Weber, 28, ist seit drei Monaten Shopmitarbeiterin im Museum für Gestaltung in Zürich.

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Verrückt gewartet Freundschaft Wenn ein nahestehender Mensch psychisch abdriftet,

bedeutet das für das Umfeld eine hohe Belastung. Nicht immer ist klar, ob die Verbindung das aushält oder daran zerbricht. TEXT  FATIMA MOUMOUNI

Über drei Jahre lang war eine Person, die mir nahesteht, im Auf und Ab einer schizoaffektiven Psychose. Wilde Jahre voller Brüche, verrückter Reisen, unverständlicher Aktionen und hoffnungsloser Psychiatrieaufenthalte. Die Ärzt*innen, Betreuer*innen und Therapeut*innen, die sich an ihr abarbeiteten, sahen nicht viel Hoffnung auf ein Leben zurück in die «Normalität». Doch irgendwann kam dann doch einfach das Jahr der Genesung, Aufarbeitung und Antworten. Ich erinnere mich daran, wie ich gewartet habe, bis ich nicht mehr gewartet habe. I. Nichts tun können Ist wie im Kühlschrank im Gemüsefach gehalten werden Ist wie geschält werden Ist wie einfach verkocht zu werden Ich fühl mich so sehr wie eine Karotte.* Eine Zeit lang habe ich dich überall gesehen. An der Bushaltestelle hustend, an der gegenüberliegenden Strassenseite, so weit entfernt, dass ich mir lang genug überlegen konnte, wie sehr ich nicht wüsste, was tun, wenn du es tatsächlich wärst. Wie oft du vor der Tür standest und ich nicht wusste, was mit dir anfangen – und dann warst du eh wieder weg. Du hattest eine sehr freie Interpretation von Freiheit. Es gehört zum Krankheitsbild, dass du die Krankheit nicht als eine solche anerkennen willst. Und so setzt du die Medikamente ab und beschimpfst die Pfleger*innen und 26

brichst aus der Psychiatrie aus. Immer wieder. Ein Kinderspiel für dich. Stehst wieder vor der Tür und versuchst mich davon zu überzeugen, dass es eine Begabung, keine Krankheit sei. Ein bisschen glaube ich dir. Übermenschliche Kräfte hast du und bist flüchtig wie ein Geist. Manchmal hast du mich plötzlich gehasst. Von einer Sekunde auf die andere. Einmal habe ich es geschafft, dich dabei zum Lachen zu bringen, dann warst du plötzlich wieder normal. Ich habe es so oft wieder versucht, bis ich gemerkt habe, dass ich es nicht wirklich beeinflussen kann. Was konnten wir schon tun? Wir sind nur ein paar Möhren und du raffelst uns unbarmherzig in deine Suppe. II. Hoffnung haben ist wie sich selber verarschen und dann abwarten, ob man das Glück hat die Wahrheit gesagt zu haben. Es tat mir gut, nicht mehr sauer sein zu müssen. Erleichtert, dass es einen Grund gab für dein Verhalten. Eine Krankheit, die ich nicht einmal richtig beim Namen nennen kann. Die Mischung aus all den Diagnosen, die ich gehört habe. Manisch-aggressiv gefällt mir am besten, weil ich mir denke, dass wir darüber lachen könnten, wenn alles wieder normal ist. Dann ist es ein Wortspiel, das du stolz kichernd herausposaunst. Ein paar Mal habe ich gesagt, dass ich damit leben könnte, wenn es nicht schlechter wird, sondern so bleibt. Dann hast du mir Geheimnisse erzählt, die ich nicht verstand, und wir hatten Surprise 490/20


eine gute Zeit. Du musst für mich nicht normal sein. Ich konnte erst später rekonstruieren, wie sehr du es nie warst. Du warst einmal auch mehrere Monate wieder du, und wir wir. Bevor du wieder die warst, die du bist, wenn du nicht du bist. Oder bist das einfach du? Eine Zeit lang wusste ich nicht, ob ich diejenige bin, die nicht weiss, wer du bist, oder du. Also ich meine, was ist eigentlich dein echtes Ich? Du magst es nicht, wenn ich sage, es ist eine Krankheit. Du willst ernstgenommen werden. Ich nehme dich ernst. Alles, was du willst. III. Aufgeben ist wie von der Wäscheleine hängen ist wie warten, bis man abgehängt wird und dann weggeräumt. Ich fühle mich so sehr wie eine Unterhose! Deine Freundinnen machen sich so lange Sorgen, bis sie keine Freundinnen mehr sind. Deine Reise geht weiter. Und sie endet nie mit den vielen dramatischen Rettungen, die du uns auch noch übelnahmst. Die Reise endet selten mit der Polizei, die dich ungelenk wieder aufgabelt und nicht weiss, was tun. Nach ein paar Mal wissen wir: Wir haben nur kurz Zeit, aufzuatmen und dann geht es weiter, und wir bewundern wieder, wie zäh du bist und wie viel Kraft du hast und Energie und wie viel Kaffee du trinken und Zigaretten du rauchen kannst. Ich war so sauer, als du rassistisch wurdest und so vieles nicht mehr warst. Die Wut und der Ekel sitzen mir noch unter den Fingernägeln und sind zuletzt mit der Nagelhaut verwachsen. Aber was bringen einem solche Finger, wenn man dich nicht greifen kann.

IV. Glück haben ist wie Pech haben, nur, dass man eben Glück gehabt hat Und als ich so lange gewartet hatte, dass ich nicht mehr wusste, dass ich am Warten bin, da kamst du plötzlich zurück. Und ich war endlich keine Unterhose mehr! Ich bin oft erleichtert, dass man dich nicht so schnell stirbt. Du hättest oft sterben können. So wahnwitzig, so wild – und es stimmt: so frei, wie du warst. Eine Zeit lang hättest du alle Geschichten erzählen können, erlebt oder ersponnen, und nichts hätte mehr überrascht. Jetzt können wir darüber lachen, und du kannst eine Pause machen. Endlich kann man wieder mit dir streiten, ohne sich fragen zu müssen, ob es vergeblich ist. Dich ernst zu nehmen ist nicht mehr ein Puzzle. Es ist noch nicht alles wieder gut. Du hast vieles kaputt gemacht und nur langsam wieder aufgebaut. Aber man kann wieder auf dich bauen. Wer hätte das gedacht? * Teile dieses Textes sind in einem anderen Zusammenhang hier schon einmal veröffentlicht worden. ANZEIGE

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Du kennst mich nicht mehr. «Seit neustem» nennst du es, wenn ich etwas erzähle, was längst nicht mehr neu ist. Aber du weisst so vieles nicht von mir, seit wir in deinen Funklöchern gefangen sind. Surprise 490/20

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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01 Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich 02 Paul + Peter Fritz AG, Zürich 03 SHI, Haus der Homöopathie, Zug 04 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 05 onlineKarma, Online-Marketing mit Wirkung 06 Gemeinnützige Frauen Aarau 07 Shinsen AG, Japanese Food Culture, Zürich 08 Halde 14, Baden 09 Markus Böhmer, Bildhauer, Birsfelden/Basel 10 AnyWeb AG, Zürich 11

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SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

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19 Beat Hübscher, Schreiner, Zürich 20 Dietke Becker, Physiomovimento, Männedorf 21 Stefan Westermann Immo DL, Lützelflüh 22 Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern 23 Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti 24 Gemeinnütziger Frauenverein Nidau 25 Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

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Wir alle sind Surprise #487: Reiches Land armer Leute»

Die Tatsache, dass Sudha Bharadwaj schon seit zwei Jahren unschuldig im Gefängnis sitzt, macht mich sehr traurig. Ist Amnesty International schon über diesen Fall informiert? Diese menschenrechtsverachtenden Zustände müssen weltweit endlich ein Ende finden! C. CER AVOLO, Winterthur

#477, 482, 485, 487: Serie zur IV

«Lösungsvorschlag hinzufügen» Ihre Recherchen und Beiträge zur IV sind wirklich phänomenal. Ich habe selbst eine Tochter, die seit ca. vier Jahren nach einer Virus-Infektion arbeitsunfähig ist, immer wieder lange Phasen ans Bett gefesselt ist und viel Unterstützung braucht. Sei es im täglichen Ablauf sowie auch finanziell. Vor etwa zwei Jahren hat sie bei der IV sich angemeldet und wurde abgewiesen. Sie sei arbeitsfähig, hat man ihr attestiert. Zum Glück bin ich mit meinen fast 74 Jahren doch noch fähig zu helfen und wohne gleich nebenan, während ihr Partner arbeitet. Haushalthilfe oder ähnliches können wir uns nicht leisten. Ich möchte zu Ihren Lösungsvorschlägen noch etwas hinzufügen, das bedingungslose Grundeinkommen. Ich bin sicher, die Leute würden nicht «auf der faulen Haut liegen»! Das bedingungslose Grundeinkommen würde ja nicht einfach alle unsere Bedürfnisse abdecken, aber einen sicheren Boden geben, der Vertrauen schaffen kann in die eigenen Qualitäten und Möglichkeiten. Wie viele demütigende Gänge zu all diesen Ämtern würde das ersparen, und die Würde des Menschen wäre gewährleistet! B. AMMANN-PROSSER, Winterthur

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 Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Diana Frei (dif), Klaus Petrus (kp) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Seynab Ali Isse, Dorothee Adrian, Camille Fröhlich, Sibylle Meier, Eva Mell, Franziska Tschinderle Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

Genial, der Kommentar von Andres Eberhard. Das lässt auf eine Fortsetzung der Debatte hoffen, hoffentlich wird Surprise dann über die (Nicht!)-Antwort von Alain Berset berichten. Tatsächlich ist «der Fehler im System angelegt», allerdings geht dieser Fehler tiefer: Das kapitalistische System, das auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht, macht die Leute nicht nur physisch kaputt – sondern auch psychisch. Vom System dieses Eingeständnis abzufordern, ist so banal wie die Erkenntnis, dass die Waffenproduktion eine wesentliche Voraussetzung für Kriege ist. Das System wird dem nicht zustimmen wollen (können!) – trotzdem ist es wichtig, dies einzufordern. BENI GNOS, Allschwil

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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«Das System IV macht viele kaputt»

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Mit der Kamera nutze ich meine Kreativität» «Eineinhalb Jahre lang habe ich in der Basler Strassenfussball-Mannschaft mitgespielt. Dieses Jahr im Sommer bin ich schweren Herzens ausgetreten. Die Mannschaft war mir wichtig, das Team ist toll und die Leute können gut Fussball spielen. Aber ich hatte mit einem Mitspieler eine Meinungsverschiedenheit. Ich liebe und spiele Fussball, seit ich ein kleines Kind war. Letztes Jahr war ich sogar beim Homeless World Cup in Wales dabei. Dass ich mit 46 Jahren noch in eine Nationalmannschaft kommen würde, hätte ich nie gedacht. Das Warten auf die WM war toll, das war so ein Kribbeln. Ich habe viele Menschen kennengelernt und würde sofort nochmal teilnehmen. Man darf allerdings nur einmal im Leben mitspielen. Mit drei Spielern aus Wales bin ich mittlerweile gut befreundet. Dem Torwart habe ich meine Torhandschuhe geschenkt. Mit einem Spieler habe ich das Trikot getauscht. Seines hängt bei mir an der Wand. Neben dem Fussball sind Fotografieren und Filmen meine Leidenschaften. Mein Auge ist eigentlich immer am Fotografieren. Ich bin regelmässig als Filmer und Band-Fotograf bei Konzerten dabei. Ein Honorar erhalte ich nicht, dafür einen musikalisch coolen Abend. Die Bands haben ja auch oft kaum Geld. Ich könnte mir vorstellen, in Zukunft als Fotograf und Filmer die Schweizer Mannschaft zur Weltmeisterschaft zu begleiten. So könnte ich für die Fussballspieler*innen Erinnerungen aufnehmen. Ausserdem kenne ich mich nun schon gut beim World Cup aus. Somit wäre ich für neue Spieler*innen eine grosse Hilfe. Aber damit ich als Staff-Mitglied dabei sein kann, bräuchte es natürlich Sponsor*innen. Ich brauche die Fotografie. Sie ist für mich eine Ablenkung, denn ich habe starke Depressionen. Mit der Kamera nutze ich meine Kreativität und gehe raus, anstatt nur zuhause zu sitzen. Ich hatte in den letzten Monaten zwar einen Therapieplatz, aber ich müsste zum Gespräch mit der Therapeutin zu weit fahren. Das geht für mich nicht. Also muss ich auf einen neuen Platz warten. Das kann lange dauern. Depressionen begleiten mich schon seit ungefähr zwanzig Jahren. Ich bin ein Scheidungskind und hatte kein stabiles Elternhaus. Mit siebzehn Jahren bin ich ausgezogen. Meine Lehre als Kunststoffapparatebauer habe ich abgebrochen. Ich wurde von meinem 30

Michael Rufer, 46, hat beim Homeless World Cup mitgekickt und träumt davon, die WM als Fotograf zu erleben.

Lehrbetrieb eher als Arbeitskraft auf der Baustelle eingesetzt. Ausserdem bin ich Legastheniker und hatte immer schon Probleme, für Prüfungen zu lernen. Ich will mich bald wieder darum bemühen, eine Arbeit zu finden. Allerdings leide ich momentan an einer starken Schuppenflechte am ganzen Körper und an Arthritis im Handgelenk. Vor Kurzem sind auch noch meine beiden Katzen gestorben. Das hat mich ziemlich zurückgeworfen. Ich lebte vierzehneinhalb Jahre mit ihnen zusammen. Wenn ich jetzt ins Bett gehe, im Wohnzimmer sitze oder eine Wurstschachtel aufmache, kommt niemand mehr. Ich gucke mich immer noch regelmässig nach ihnen um, aber die Tür geht nicht mehr einen Spalt weit auf. Es kommt keine Katze mehr zu mir. Fürs neue Jahr wünsche ich mir, dass Corona verschwindet oder die Situation zumindest besser wird. Dass man normal leben und sich wieder treffen kann. Aber ganz wie vorher wird es so schnell nicht mehr sein. Abstand halten, Distanz wahren, das wird noch lange bleiben.»

Aufgezeichnet von EVA MELL Surprise 490/20


So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf! Liebe Kund*innen Wir waren alle lange im Lockdown und können nun dank der gelockerten Massnahmen endlich wieder das Surprise Strassenmagazin verkaufen. Das macht uns sehr froh. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Hygieneregeln des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand.

Zahlen Sie möglichst passend.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.

Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Bei Fragen wenden Sie sich bitte an: info@surprise.ngo


Liebe Surprise Leser*innen Dieses Jahr war wahrlich nicht einfach. Allein und auf Distanz macht einfach keinen Spass. Dafür haben kleine und alltägliche Dinge den Weg in unsere Herzen gefunden. Ein Lächeln, ein Hallo oder auch nur ein zwangloses Gespräch übers Internet. Gemeinsam haben wir Verantwortung übernommen. Ein neues Wir-Gefühl ist entstanden. Mit viel Zuversicht schauen wir nach vorne und wir wünschen Ihnen für die kommenden Festtage ein Lichtermeer an positiven Emotionen und viele schöne Momente im neuen Jahr. Gemeinsam sind wir bereit für 2021. Ihre Swisscom


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