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Frauenfussball

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Surprise-Porträt

Surprise-Porträt

Sonntagmorgen in Pratteln: Es ist eins der letzten Trainings in der Schweiz für das neue Frauen-Nationalteam von Surprise. Fahles Licht fällt durch zahlreiche Fenster in die Streetsoccer-Halle im siebten Stock eines alten Fabrikgebäudes in Bahnhofsnähe. Marzeyeh Jafari kickt den Ball über den Kunstrasen. Er tanzt zwischen ihren Füssen. Es scheint abwegig, dass die junge Frau erst seit drei Monaten Strassenfussball spielt. Und doch ist es wahr: «Vor dem ersten Training mit dem Surprise Nationalteam habe ich noch nie einen Fussball berührt. Dort, wo ich geboren bin, in Afghanistan, ist das den Frauen verboten.»

Marzeyeh Jafari ist eine von drei Spielerinnen, die aktuell das Frauen-Nationalteam von Surprise bilden. Für die junge Frau, die erst wenige Monate in der Schweiz lebt, eine grosse Angelegenheit: «Ich will ein Vorbild für Frauen sein, die eine ähnliche Geschichte wie ich haben.» Doch noch ist die Mannschaft zu klein, um in Utrecht an den European Life Goals Games 2021 teilnehmen zu können. An diesem internationalen Turnier treten Mannschaften aus ganz Europa an: Menschen, die sozial benachteiligt in den Niederlanden, Schottland, Norwegen, Dänemark, Österreich oder Belgien leben; oder wie Marzayeh Jafari in der Schweiz.

Das Training an diesem Morgen fordert die junge Frau. Marzayeh Jafari jongliert auf dem Kunstrasen eilig mit den Spielpositionen: Mal ist sie Stürmerin, dann Verteidigerin, dann wieder Mittelfeldspielerin. Eigentlich hätten an diesem Sonntagmorgen noch ein paar andere Spielerinnen zum Training nach Pratteln kommen sollen. Doch ihre Plätze auf dem Feld bleiben leer.

Der Druck aber, der nimmt zu. Das ist Janosch Martens, Leiter des Strassenfussballs von Surprise, bewusst. Bis Anfang September muss er ein komplettes Frauenteam zusammen haben, insgesamt vier Spielerinnen braucht er, sonst ist die Mannschaft zu klein für einen Match. Bis zu den Turnieren in den Niederlanden bleiben ihm nur noch wenige Wochen. Aus Zeitgründen wird es in der Schweiz nur noch ein einziges Traininslager, kurz vor den Spielen in den Niederlanden, geben. Kommt das Team zustande, betreten die Spielerinnen also die internationale Bühne, ohne sich sehr gut zu kennen.

Seit 2003 treten Männer mit Fluchterfahrungen oder Suchtproblemen, die obdachlos leben oder mit sozialen Problemen zu kämpfen haben, an den internationalen Strassenfussball-Turnieren für die Schweiz an. Ein reines Frauenteam hat es in der nun beinahe 20-jährigen Schweizer Strassenfussball-Geschichte noch nie gegeben – eine Tatsache, die Martens bei seinem Stellenantritt keine Ruhe liess: «Als ich die Leitung der Teams übernahm, sind mir die fehlenden Frauen als Erstes aufgefallen. Das hat mich nachdenklich gemacht. Denn mir ist es ein Anliegen, dass Frauen mit sozialer Benachteiligung vom gleichen Angebot profitieren können wie Männer.» Keine einfache Mission, denn: «Frauen, die sozial benachteiligt sind, ein Suchtproblem oder einen Flüchtlingsstatus haben, sind in der öffentlichen Wahrnehmung generell weniger präsent. Es ist daher auch nicht einfach, sie zu erreichen.»

Oft keine Zeit für ein Hobby

Dass es in der Schweiz eine Vielzahl armutsbetroffener Frauen gibt, ist kein Geheimnis. Aktuelle Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: Die Armutsquote bei Frauen in der Schweiz lag im Jahr 2019 mit 8,5 Prozent deutlich über derjenigen der Männer mit 6,5 Prozent. Alleinerziehende Frauen sind häufig von Armut betroffen. Hinzu kommt, dass viele Frauen in Berufen tätig sind, die schlecht bezahlt werden. Neben Job, Kinderbetreuung und Hausarbeit bleibt oft keine Zeit für ein Hobby.

Während sich also für die Nationalmannschaft von Surprise Strassenfussball jedes Jahr Dutzende interessierte Männer melden, muss Martens um jede einzelne Spielerin kämpfen. Deshalb gelten für die Spielerinnen auch andere Voraussetzungen als für die männlichen Nationalspieler: «Normalerweise ist es so, dass nur in die Nationalmannschaft kommen kann, wer vorhin schon bei uns in der Liga gespielt hat. Bei den Frauen fällt dieses Kriterium weg. Für das Frauenteam mussten wir die Spielerinnen wirklich aktiv suchen. Wir sind darum explizit auf soziale Institutionen zugegangen, von denen wir wussten, dass sie mit Frauen arbeiten.»

Drei Spielerinnen hat er bisher zusammengetrommelt. Fündig wurde Martens bei der reformierten Kirche Zürich und bei der Fachstelle für Arbeitsintegration der Sozialhilfe. Er habe damit gerechnet, dass die Suche nach Spielerinnen für das Nationalteam nicht einfach würde, sei vom Ausmass der Herausforderung dann aber doch überrascht worden: «Wir haben uns vom Sichtungstag blenden lassen und erst verdauen müssen, dass viele nach den Testspielen wieder abgesprungen sind.»

Monica Gomes ist nicht abgesprungen, die Torhüterin des Frauenteams brennt für den Strassenfussball. Sie geht in die Knie, beisst sich auf die Unterlippe, fängt den Ball und lässt sich zu Boden reissen. Grinsend liegt sie auf dem Kunstrasen und nickt zufrieden. «Zu den ersten Frauen zu gehören, die Surprise an den europäischen Strassenfussballturnieren vertreten, das macht mich unheimlich stolz.»

Fussball begleitet die 37-Jährige IV-Bezügerin seit ihrer Kindheit. Schon den Tod ihres Vaters konnte sie im Training für einen Augenblick ausblenden, sie konnte während des Spiels abschalten und ihr Leben als Halbwaise einen Moment vergessen. Es half ihr auch damals, als sie ihre Arbeit als Köchin aufgeben musste. Monica Gomes’ Leben ist seit jeher ein stetes Auf und Ab. Depressionen, Selbstverletzung und Selbstmordgedanken prägten lange Jahre ihres Lebens. Sich mit dem Leben einer IV-Bezügerin abzufinden, fällt ihr noch heute schwer: «Ich habe mein ganzes Leben gekämpft und hart gearbeitet. Ich bin niemand, der einfach so aufgibt.» Als Goalie des Nationalteams hat Monica Gomes eine grosse Verantwortung. Eine, die sie gerne trägt: «Fussball hat mich gelehrt, an mich zu glauben, Ziele hartnäckig zu verfolgen und sie niemals aufzugeben.»

Strassenfussball

Der Strassenfussball (Streetsoccer) hat seinen Ursprung in den südamerikanischen Favelas. Ziel war es dort, Jugendliche mit-

tels Sport aus der Armut und der Kriminali-

tät zu holen. Seit Ende der 1990er-Jahre ist Strassenfussball auch in Europa bekannt. Anders als herkömmlicher Fussball wird Strassenfussball auf einem Feld von nur knapp 16 mal 22 Metern gespielt. Das Feld ist mit Banden umzäunt. Eine Mannschaft besteht

in der Regel aus lediglich drei Spielerin-

nen und einer Torwartin. Diese können laufend ein- und ausgewechselt werden. Dadurch gestaltet sich das Spiel aussergewöhnlich schnell und intensiv. Es findet viel Körperkontakt statt. Ein Strassenfussballmatch ist von der Intensität her mit einem Eishockeyspiel zu vergleichen. Ein Match dauert zwei Mal sieben Minuten, in der Hälfte tauschen die Teams die Spielseite. HG

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1 Fussball hilft ihr, sich auf sich selbst zu konzentrieren: Marzeyeh Jafari aus Afghanistan. 2 10.15 Uhr: Warm-Up in der «Zentrale» Pratteln. In der ehemaligen Lagerhalle hat der Surprise Strassensport seinen Trainingsort eingerichtet. 3 Torhüterin Monica Gomes kennt in ihrem Leben ein stetes Auf und Ab. Im Fussball hat sie gelernt, wieder an sich zu glauben. 4 Wo müssen welche Pässe stattfinden? In der Vorbesprechung einer Übung auf dem Feld werden die taktischen Elemente aufgezeigt.

«Während des Trainings konnte ich die Trennung von meiner Familie für einen Moment vergessen.»

MARZEYEH JAFARI

Martens ist stolz auf die Torhüterin des Nationalteams und froh, dass sie aus dem Strassenfussball Kraft schöpft. «Sport bringt so viel Positives: körperliche Fitness, aber auch Struktur im Alltag und die Fähigkeit, sich wieder auf Verpflichtungen einlassen zu können», sagt er. Schaffe es eine der Spielerinnen, nur einen dieser Aspekte aus einem Match ins Leben mitzunehmen, dann sei das Ziel für ihn erreicht. Das Zwischenmenschliche, das Team und das Fairplay stehen im Zentrum des Sports. Dem Sieg und der Niederlage werden keine grosse Bedeutung beigemessen. Das sei wichtig für die Spieler*innen,

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die häufig komplizierte Lebenswege gegangen sind, sagt Martens: «So viele zerbrechen an unserer Leistungsgesellschaft. Deshalb soll es in den Turnieren nicht um Resultate oder Punkte gehen. Es geht darum, auf persönlicher Ebene Erfolge zu feiern.»

Keine Ausreise mit dem F-Ausweis

So wie es Macieli De la Rosa tut. Die 23Jährige spielt seit zwei Jahren Strassenfussball in Zürich, beim Team Streetchurch der reformierten Kirche, und ist seit Kurzem auch Teil des Frauenteams von Surprise. Auch sie fehlt am letzten Trainingswochenende, eine starke Erkältung hält sie im Bett. So erzählt sie per Videocall, sie habe beim Fussballspielen gelernt, ihre Aggressionen zu zügeln, die ihr schon oft im Weg standen. Sie kann sich unterdessen leichter auf andere Menschen einlassen: «Ich weiss nun, wie es ist, als Team zu funktionieren. Früher hab ich einfach nichts gesagt oder wütend geschrien. Das ist heute nicht mehr so.» Ihr Leben sei ruhiger geworden, nach langer Suche hat die junge Frau eine Lehre bei der reformierten Kirche im Betriebsunterhalt gefunden. Ein grosser Erfolg für sie. Wenn sie an das bevorstehende Turnier in Utrecht denkt, glitzern ihre Augen: «Ich freue mich sehr. Aber ich bin auch nervös. Ich war bisher erst einmal ohne meine Familie im Ausland.» Das Ausland – eine weitere hohe Hürde für das Frauennationalteam, denn lange nicht alle Spielerinnen haben Reisepapiere. Ob die 26-jährige Marzeyeh Jafari für das Strassenfussballturnier in Utrecht

Hintergründe im Podcast: Simon Berginz im Gespräch mit der Leitern Janosch Martens und Christian Müller. surprise.ngo/talk

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«Zu den ersten Frauen zu gehören, die in der Surprise Nationalmannschaft sind, das macht mich unheimlich stolz.»

MONICA GOMES

die Schweiz überhaupt verlassen kann, ist unsicher. Denn Jafari lebt erst seit wenigen Monaten in Basel und hat einen Flüchtlingsstatus. Ausreisen darf die junge Frau mit ihrem F-Ausweis, dem Papier für vorläufig aufgenommene Personen, im Moment nicht. Eine Tatsache, die sie traurig stimmt, denn Strassenfussball helfe ihr, ihre Geschichte für einen Augenblick auszublenden und sich auf sich selbst zu konzentrieren. Sie flüchtete alleine in die Schweiz, ihr Mann und ihre beiden Söhne lebten bis vor Kurzem noch in einem griechischen Flüchtlingscamp. Keine einfache Zeit für die junge Frau: «Ich hatte grosse

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Sorgen. Aber während des Trainings konnte ich die Trennung von meiner Familie für einen Moment vergessen. Dabei ging es nur um mich und den Fussball.»

In der Streetsoccer-Halle pfeift Janosch Martens die letzten Testspiele des Nachmittags ab. Monica Gomes und Marzeyeh Jafari lassen sich erschöpft auf eine Holzbank fallen, ihnen tropft der Schweiss von der Stirn. «Und, wie stehen die Punkte?», fragt ein Spieler der Männermannschaft, der während des Spiels munter plaudernd das Resultat verpasst hat. Jafari schmunzelt. «Sechs zu zwei? Oder fünf zu zwei? Ich weiss es gar nicht», sagt sie und streicht sich das Haar aus der Stirn. Entspannt sitzt sie da, mustert Monica Gomes, die langsam ihre roten Goaliehandschuhe von den Fingern zieht. Die beiden zwinkern sich zu, und für einen Augenblick zählt nicht einmal der Sieg, sondern nur der Moment.

European Life Goals Games 2021

Die niederländische Stiftung Life Goals fördert die Teilhabe von sozial schwachen Menschen durch Sport. Sie richtet sich an Personen, die aus unterschiedlichen Gründen mit Problemen konfrontiert sind: Ob-

dachlose, Süchtige, Geflüchtete, Teenager-

Mütter, ehemalige Häftlinge oder Men-

schen mit schweren psychischen Proble-

men. Die Stiftung ist Mitglied des Netzwerks des jährlich stattfindenden – aber aktuell pandemiebedingt abgesagten – Homeless World Cup, an dem auch der Surprise Strassenfussball regelmässig teilnimmt. Sie organisiert die European Life Goals Games 2021 anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens und lädt dazu andere internationale Strassensport-Organisationen ein. Die Spiele finden vom 13. bis 19. September in Utrecht, NL statt. stichtinglifegoals.nl DIF

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