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äussert, sie leide an Verfolgungswahn. Aber da ihre Gegner sie nur allzu gerne wegen ihrer Forderungen als Geisteskranke diffamierten, sind diese Äusserungen mit Vorsicht zu geniessen. Tagebücher und Briefe legen nahe, dass sie seelisch unter dieser Situation gelitten haben muss. Inwiefern sie tatsächlich auch aus medizinischer Sicht krank war, ist nicht gesichert. Bis ins hohe Alter unternahm Woker Reisen ins Ausland und gab Vorträge, bevor sie mit neunzig Jahren starb.
«Die Pazifistin» ging aus einer Videoinstallation zum Thema Gender-Stereotype von Fabian Chiquet hervor. Der Musiker und Videokünstler stammt aus einer Chemikerfamilie. Die Lebensgeschichte von Woker berührte ihn ganz persönlich: Dieser Film ist seiner verstorbenen Mutter gewidmet, die im gleichen Fachbereich wie Woker tätig war. «Zusammen mit meinem Co-Regisseur Matthias Affolter nahm der Film weiter Gestalt an und wir begaben uns mit Wokers drei Grossneffen und mit zwei Historikerinnen auf Spurensuche, um die Öffentlichkeit an diese aussergewöhnliche Wissenschaftlerin und ihre Errungenschaften zu erinnern.» Errungenschaften, die selbst innerhalb ihrer Familie kaum Beachtung fanden. Nach Woker wurden in Bern und in Düsseldorf Strassen benannt. Doch erst als sie erwachsene Männer waren, begannen ihre eigenen Grossneffen sich für das geistige Erbe ihrer Tante zu interessieren, die oft einfach als die verschrobene Tante Trudi belächelt wurde, die ihren Kaffee mit dem Bunsenbrenner erhitzt haben soll. Ihr aufrichtiges Bedauern, ihre nahe Verwandte nicht besser gekannt zu haben, verknüpft Wokers Lebensgeschichte filmisch mit der Gegenwart und verweist darauf, wie relevant ihre Anliegen nach wie vor sind.
«Die Pazifistin», Regie: Fabian Chiquet und Matthias Affolter, Dok, CH 2021, 75 Min. Läuft zurzeit im Kino. Buch Cho Nam-Joo dokumentiert das Schicksal einer jungen Frau in Südkorea, die an diskriminierenden Rollenmustern zerbricht.
«Kim Jiyoung, geboren 1982». So sachlich der Titel ihres Romans ist, so sachlich erzählt die südkoreanische Autorin Cho Nam-Joo die Geschichte ihrer Protagonistin. Kim Jiyoung, eine junge Mutter Anfang 30, schlüpft plötzlich in die Rollen ihr nahestehender Frauen. Aber sie spielt diese Frauen nicht, sie wird zu ihnen, bewegt sich und spricht wie diese, sagt Dinge, die sie nie gehört haben kann. Doch was wie ein Mystery-Thriller beginnt, erweist sich allzu bald als Krankheitsbild.
Dieser Beginn schildert Ereignisse des Jahres 2015. Nach knapp zwölf Seiten springt die Autorin weit in der Zeit zurück und dokumentiert in chronologischen Abschnitten – 1982 bis 1994 (Kindheit), 1995 bis 2000 (Jugend), 2001 bis 2011 (Studium und Berufseinstieg), 2012 bis 2015 (Ehe und Mutterschaft) – das Drama einer jungen Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft, in der Gleichberechtigung bis in die Neuzeit oft nur ein Lippenbekenntnis ist.
Alle diese Lebensabschnitte sind von Formen der Diskriminierung geprägt. Die Bevorzugung des kleinen Bruders und von männlichen Mitschülern, Belästigungen im ÖV oder durch Lehrer und Unikollegen, Nachteile bei der Jobsuche, Lohnungleichheit und sexistische Sprüche am Arbeitsplatz. Trotz dieser Hindernisse versucht die scheue Kim Jiyoung ihre Träume zu verwirklichen und ein eigenständiges Leben aufzubauen.
Es fehlt Jiyoung nicht an Unterstützung, von ihrer Mutter, die selbst auf ihren Lebenstraum verzichten musste, von Freund*innen und anfangs auch von ihrem Mann. Die Geburt der Tochter aber markiert für Jiyoung das berufliche Aus. Als sie auch noch als Schmarotzerin bezeichnet wird, die sich auf Kosten ihres Mannes ein lockeres Leben macht, zerbricht etwas in ihr.
Als ihr Zustand bei einem Familienfest nicht mehr zu verbergen ist, kommt es zum Eklat, und ihr Mann schickt sie zum Psychiater. Dessen Bericht von 2016 schliesst den Roman. Zwar erkennt und anerkennt der Psychiater die wahren Gründe, auch weil seine Frau dasselbe Schicksal teilt. Am Schluss aber, als seine schwangere Angestellte kündigt, will er selbst doch auch lieber nur eine unverheiratete Frau einstellen. Mit dieser bitter-ironischen Wendung endet ein Lebensdrama, das in seiner Radikalität exemplarisch für eine Diskriminierung steht, die leider immer noch und nicht nur in Südkorea grassiert. Es mag Hoffnung machen, dass dieser Roman zu einem Welterfolg wurde.
CHRISTOPHER ZIMMER
ZVG
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Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982.
Roman, Kiepenheuer & Witsch 2021. CHF 27.90