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Kino
In den Alltag eingesickerte Kriege
Kino Drei Jahre verbrachte Regisseur Gianfranco Rosi für den Dokumentarfilm «Notturno» im Libanon, im Irak, in Syrien und im irakischen Kurdistan. Und traf Menschen, die von den Kriegen direkt betroffen sind.
TEXT DIANA FREI
Militärtrupps stampfen immer wieder aufs Neue in monotonem Trott und von einsilbigen Rufen begleitet von der Seite her ins Bild, ihre rhythmischen Rufe setzen repetitiv mit jedem Auftritt wieder ein und verhallen langsam in der Ferne. Es ist eine ebenso atmosphärische wie absurde Szene.
Oder dann ist da die Frau, die um ihren verlorenen Sohn trauert. In ihrem Klagegesang enthüllt sich Stück für Stück sein Schicksal: Der türkische Staat hat ihn eingesperrt und getötet. Nun wandert die Mutter wehklagend durch die leeren, zerfallenen Räume des Gefängnisses und versucht die Gegenwart des Verstorbenen in diesen Mauern zu spüren. Eine Szene wie aus einer Oper, die Tragik ihres Schicksals auf diesen einen Moment verdichtet.
An anderer Stelle strömen Häftlinge in rot-orangen Overalls langsam in einen Gefängnishof. Rote Figuren im grauen Beton. Als sie mit gesenkten Köpfen als nicht enden wollende Menschenkette durch die Gänge zurückgeführt werden, erinnert es an einen Gefangenenchor auf der Bühne.
Der italienische Regisseur und Kameramann Gianfranco Rosi findet mit viel Gespür für formale Gestaltung Bilder, die vom Kriegsalltag erzählen. Er gibt sich und seinen Protagonist*innen mit langen, ruhigen Einstellungen viel Zeit. «Ich versuchte, vom Alltag jener zu erzählen, die an der Grenze leben, die das Leben von der Hölle trennt», lässt sich Rosi im Presseheft zitieren. «Auf meiner Reise begegnete ich Menschen, die in Kriegsgebieten leben: Schiiten, Alawiten, Sunniten, Jesiden, Kurden. Sie leben auf beiden Seiten der Grenzen, weil sie dort geboren sind oder weil sie ins Exil gezwungen wurden, und alle sind sie Kriegsopfer, das Ergebnis von vererbten Konflikten und der Gier der Mächtigen.»
«Notturno» ist ein Panorama des Krieges und seiner Wunden, eine rhapsodische Abfolge von Szenen. Keine Erklärung, keine Off-Stimme, keine Texteinblender, keine Interviews, keine Ortsangaben (wer mit den Orten vertraut ist, wird trotzdem viel aus den Bildern ablesen können). Formal fehlen damit die Abgrenzungen der Schauplätze, was durchaus Rosis inhaltlichem Zugang entspricht: «Auch wenn sich meine Geschichten entlang von Grenzen abspielen, wollte ich unsere Wahrnehmung von Grenzen aufheben. Zu oft fühlt die örtliche Bevölkerung sich durch Grenzen betrogen, da diese, politischen Forderungen entsprechend, ständig neu gezogen werden.» Rosi selbst wurde 1964 als Italiener in Eritrea geboren und während des Eritreischen Unabhängigkeitskrieges als 13-Jähriger nach Italien gebracht. Als Jugendlicher lebte er in Rom und Istanbul. Heute lebt er in New York und bezeichnet sich als wurzellos.
Rosi beobachtet, er urteilt nicht, und es ist diese Annäherung an die Welt, die seine Filme so einzigartig macht. Die Katastrophe ist nie spektakulär, sondern bereits eingesickert in den Alltag. Schon frühere Filme verhandelten teils sehr politische Themen,
indem sie ein Gefühl für einen Ort und seine Menschen erzeugten – sei es auf der Stadtautobahn in Rom oder auf den Fischerbooten vor Lampedusa: Mit «Sacro GRA» begleitete Rosi 2013 Menschen unterschiedlichster Herkunft und Lebensrealitäten rund um die Ringautobahn von Rom, mit «Fuocoammare» beobachtete er den Alltag auf der italienischen Insel Lampedusa.
Die Traumata in den Kinderzeichnungen
In «Notturno» bekommt das zerrüttete Gefüge Syriens mit seinem ganzen kolonialen Kontext eine Bühne in einer psychiatrischen Anstalt. Im wörtlichen Sinn: Patient*innen proben ein Stück über ihre Heimat. Zunächst werden dokumentarische Aufnahmen projiziert: Assads Truppen, US-Panzer, Detonationen. Dann sind wir wieder in den Gängen der Psychiatrie. Menschen in Warteposition. In ihren Zimmern sitzen die Darsteller*innen auf ihren Betten und lernen die Texte. Von der US-Invasion ist die Rede, von Bürgerkrieg und Sprengstoffgürteln. Vom verlorenen Gefühl der Sicherheit. «Die Heimat ruft uns, sie braucht uns», murmelt ein Darsteller mit den Textblättern in der Hand. Es geht um Demokratie, die Proben holpern noch. «Diese Diskussionen sind nutzlos«, lautet der Text, und auf der Leinwand fahren wieder Panzer durchs Land.
In einer anderen Szene erzählt Fawaz, ein jesidischer Junge im Primarschulalter, einer Therapeutin, wie Daesch (der sogenannte Islamische Staat IS) begann, die Jesid*innen auszulöschen. Er spricht schnell, flach atmend und doch stockend, mit Stottern. Er erzählt, wie die Jesid*innen in Lagern gefoltert und getötet wurden. Davon, dass die Islamisten den Kindern die Fusssohlen verbrannten. «Ich weiss nicht, warum», sagt er. «Du bist jetzt in Sicherheit», sagt die Therapeutin und gibt ihm dann schweigend die Zeit, einen Moment lang daran glauben zu können.
Später sitzen weitere Kinder im Kreis an ihren kleinen Pulten und zeichnen. Es scheint auf den ersten Blick eine friedliche Primarschulszene zu sein. Dann werden die Zeichnungen an die Wand gehängt. Zu sehen sind bärtige Männer mit Waffen, ein Mensch, der geköpft wird, einem andern wird der Arm abgeschlagen. Eine Frau in Ketten, Blut tropft von einem Beil. Die Kinder-
GIANFRANCO ROSI
zeichnungen an der Wand: ein Bild des Schreckens. Fawaz starrt seine eigene Zeichnung an, in einer Mischung aus ungläubigem Erstaunen und Bestürzung.
Manchmal steckt auch eine fast groteske Wahrhaftigkeit in den beobachteten Momenten. So beklagt sich ein Soldat bei seinem Kollegen, dem Fahrer des Militärtrupps, über seine Rückenschmerzen, die er wegen seiner dauernden Position am Maschinengewehr hat. Und macht dem Kollegen Vorwürfe, weil er zu unsanft fahre: «Das Gerüttel ist nicht gut für mich.» Die Banalität der Rückenschmerzen wird hier zur Monstrosität angesichts des eigenen Tötens. Und spiegelt die Absurdität des Krieges.
«Notturno», Regie: Gianfranco Rosi, Dokumentarfilm, Italien 2020, 100 Min. Läuft ab 23. September im Kino.