Surprise 508/21

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In den Alltag eingesickerte Kriege Kino Drei Jahre verbrachte Regisseur Gianfranco Rosi für den Dokumentarfilm

«Notturno» im Libanon, im Irak, in Syrien und im irakischen Kurdistan. Und traf Menschen, die von den Kriegen direkt betroffen sind. TEXT DIANA FREI

Militärtrupps stampfen immer wieder aufs Neue in monotonem Trott und von einsilbigen Rufen begleitet von der Seite her ins Bild, ihre rhythmischen Rufe setzen repetitiv mit jedem Auftritt wieder ein und verhallen langsam in der Ferne. Es ist eine ebenso atmosphärische wie absurde Szene. Oder dann ist da die Frau, die um ihren verlorenen Sohn trauert. In ihrem Klagegesang enthüllt sich Stück für Stück sein Schicksal: Der türkische Staat hat ihn eingesperrt und getötet. Nun wandert die Mutter wehklagend durch die leeren, zerfallenen Räume des Gefängnisses und versucht die Gegenwart des Verstorbenen in diesen Mauern zu spüren. Eine Szene wie aus einer Oper, die Tragik ihres Schicksals auf diesen einen Moment verdichtet. An anderer Stelle strömen Häftlinge in rot-orangen Overalls langsam in einen Gefängnishof. Rote Figuren im grauen Beton. Als sie mit gesenkten Köpfen als nicht enden wollende Menschenkette durch die Gänge zurückgeführt werden, erinnert es an einen Gefangenenchor auf der Bühne. Der italienische Regisseur und Kameramann Gianfranco Rosi findet mit viel Gespür für formale Gestaltung Bilder, die vom Kriegsalltag erzählen. Er gibt sich und seinen Protagonist*innen mit langen, ruhigen Einstellungen viel Zeit. «Ich versuchte, vom Alltag jener zu erzählen, die an der Grenze leben, die das Leben von der Hölle trennt», lässt sich Rosi im Presseheft zitieren. «Auf

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meiner Reise begegnete ich Menschen, die in Kriegsgebieten leben: Schiiten, Alawiten, Sunniten, Jesiden, Kurden. Sie leben auf beiden Seiten der Grenzen, weil sie dort geboren sind oder weil sie ins Exil gezwungen wurden, und alle sind sie Kriegsopfer, das Ergebnis von vererbten Konflikten und der Gier der Mächtigen.» «Notturno» ist ein Panorama des Krieges und seiner Wunden, eine rhapsodische Abfolge von Szenen. Keine Erklärung, keine Off-Stimme, keine Texteinblender, keine Interviews, keine Ortsangaben (wer mit den Orten vertraut ist, wird trotzdem viel aus den Bildern ablesen können). Formal fehlen damit die Abgrenzungen der Schauplätze, was durchaus Rosis inhaltlichem Zugang entspricht: «Auch wenn sich meine Geschichten entlang von Grenzen abspielen, wollte ich unsere Wahrnehmung von Grenzen aufheben. Zu oft fühlt die örtliche Bevölkerung sich durch Grenzen betrogen, da diese, politischen Forderungen entsprechend, ständig neu gezogen werden.» Rosi selbst wurde 1964 als Italiener in Eritrea geboren und während des Eritreischen Unabhängigkeitskrieges als 13-Jähriger nach Italien gebracht. Als Jugendlicher lebte er in Rom und Istanbul. Heute lebt er in New York und bezeichnet sich als wurzellos. Rosi beobachtet, er urteilt nicht, und es ist diese Annäherung an die Welt, die seine Filme so einzigartig macht. Die Katastrophe ist nie spektakulär, sondern bereits eingesickert in den Alltag. Schon frühere Filme verhandelten teils sehr politische Themen,

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