Strassenmagazin Nr. 508 10. bis 23. September 2021
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Abstimmung
Wenn Ehe, dann für alle Hanna Janssen hält nicht viel vom Heiraten – aber umso mehr von Gleichstellung. Seite 16
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EINLADUNG ZUM SCHULDEN-TAG
Zum Podium mit Apéro und zum Sozialen Stadtrundgang sind Sie herzlich eingeladen:
NTER U M A / TRE LIVES R P R I S E . N G O .SU W W W HULDEN SC
28. OKTOBER, 18 UHR GARE DU NORD, BASEL
Lilian Senn (Betroffene und Surprise-Stadtführerin) Olivia Nyffeler (Berner Schuldenberatung) Christoph Mattes (FHNW) Yvonne Feri (Nationalrätin) Die Veranstaltung ist kostenlos, die Plätze sind jedoch beschränkt. Anmeldung bis am 15. Oktober unter www.surprise.ngo/schulden oder mit dem Talon an: Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel
ANMELDUNG ZUM PODIUM UND ZUM SOZIALEN STADTRUNDGANG Ja, ich melde mich für das Podium vom 28.10.2021 vor Ort an (für den Live-Stream ist keine Anmeldung erforderlich)
Anrede
Vorname, Name:
Ja, ich melde mich für den neu lancierten Sozialen Stadtrundgang «Wege aus der Schuldenspirale» in Basel an: Stadtrundgang vom 28.10.2021 um 11 Uhr Stadtrundgang vom 28.10.2021 um 16 Uhr Die Teilnahme ist kostenlos. Die Tour dauert ca. 1h, das Podium ca. 1.5h.
Email:
Ich melde neben mir noch weitere Personen an. Anzahl:
Illustration: Marcel Bamert
In einer vierteiligen Serie berichtete Surprise über Schulden. Nun diskutieren wir mit Vertreter*innen aus Politik, Wissenschaft und Praxis sowie mit Direktbetroffenen über das Thema.
TITELBILD: KLAUS PETRUS
Editorial
Befreiung und Gleichstellung «Frauen sind die besseren Mütter, Männer die besseren Väter», lese ich in einer Broschüre, die sich gegen die «Ehe für alle» ausspricht, über die wir am 26. September abstimmen. Wie man wohl zu einer solch pauschalen Aussage kommt?, wundere ich mich, und mir kommen die erschreckend vielen Fälle von familiärer Gewalt in den Sinn, die hierzulande in Statistiken festgehalten werden. Bestimmt ist nicht jede Ehe zwischen Frau und Mann ein Ort der Angst und Gewalt. Doch zu behaupten, nur eine traditionelle Ehe sei eine «echte» Ehe, beschwört ein Bild einer Lebensgemeinschaft, das arg romantisiert ist. Und in jedem Fall ein Bild, das allerhand Menschen ausschliesst – nur weil sie anders lieben. «Es gab keinen Platz für uns, es durfte uns nicht geben, wir waren unsichtbar», sagt Liva Tresch, die in den Sechzigerund Siebzigerjahren die Zürcher Schwulenszene fotografierte. Dass sie selbst homosexuell ist, war ihr als junge Frau
4 Aufgelesen
8 Ehe für alle
Die Unberührbare 5 Was bedeutet eigentlich …?
nicht bewusst, später schämte sie sich dafür, heute sagt die 88-Jährige: «Ich bin nicht mehr das Opfer, das man beschützen und bemitleiden muss» (ab Seite 8). Was für Liva Tresch ein Akt der persönlichen Befreiung war, ist für die gut sechzig Jahre jüngere Hanna Janssen, ebenfalls lesbisch, eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Von der Ehe – ob heterosexuell oder gleichgeschlechtlich – hält sie zwar nicht viel. Trotzdem steht sie hinter der «Ehe für alle»: «Es geht nicht darum, ob sich zwei Leute in einer Ehe lieben – sondern es sollen endlich alle Menschen in diesem Land vor dem Gesetz gleichgestellt werden» (ab Seite 16). Das sieht auch Liva Tresch so. Eigentlich sei es unfassbar, dass die Schweizer Bevölkerung über so etwas Selbstverständliches abstimmen müsse, sagt sie beinahe trotzig. Und fügt an: «Aber wichtig.» KL AUS PETRUS Redaktor
18 Frauenfussball
Zurück aufs Spielfeld des Lebens 22 Kino
«Notturno» 5 Vor Gericht
Ryanair gegen alle
«Die Pazifistin» 14 «Wir müssen für
eine vielfältige Welt kämpfen»
7 Die Sozialzahl
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28 SurPlus Positive Firmen
24 Film
6 Verkäufer*innenkolumne
Privatsache Familie
27 Tour de Suisse
Pörtner in Liestal
Rechte von LGBT
Das letzte Puzzleteilchen
26 Veranstaltungen
16 Auf dem Weg zur Lesbe
25 Buch
Ende eines Lebenstraums
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt
«Ich finde es schön, Neues zu lernen»
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Aufgelesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
ILLUSTR ATION: MICHEL STREICH
Zurück auf die Strasse Mehr als 116 000 Australier*innen sind obdachlos, darunter 15 800 Kinder. Seit Corona kamen einige von ihnen kurzfristig in Notunterkünften unter, meist in Hotels oder Studierendenwohnheimen. Jetzt, da viele der zeitlich befristeten Krisenunterstützungen zurückgefahren werden, besteht laut einer Studie der Universität Melbourne ein erhebliches Risiko, dass die Obdachlosigkeit zunimmt — insbesondere unter jungen Menschen. Von den 40 000 Betroffenen, die während der Pandemie in Notunterkünften untergebracht wurden, konnte nur ein Drittel in eine dauerhafte Unterkunft umziehen.
BIG ISSUE AUSTRALIA,
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Mitgehangen, mitgefangen 6 800 000 bis 27 000 000 Tonnen beträgt der jährliche Beifang, der bei der weltweiten Fischerei «nebenbei» anfällt. Ein Grossteil des unerwünschten Beifangs wird wieder ins Meer zurückgeworfen – tot oder lebendig. Am höchsten ist der Anteil des Beifangs bei der SchrimpFischerei, hier landen bis zu 80 Prozent andere Arten im Netz.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
Schränke voll Essen In Österreich gibt es immer mehr sogenannte Foodsharing-Fairteiler, allein in Graz stehen deren dreizehn. Die Schränke oder Kühlschränke an den jeweiligen Standorten sind für alle da: zum Hineinstellen von Lebensmitteln oder deren Entnahme. Das Hauptziel der Aktion ist es, unnötiger Lebensmittelverschwendung entgegenzuwirken.
MEGAPHON, GRAZ
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Was bedeutet eigentlich …?
Rechte von LGBT Die Abkürzung LGBT ist die gültige Bezeichnung für die sexuellen Minderheiten der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (d. h. die Kurzform der oft erweiterten Bezeichnung). Sie ist aus der Homosexuellenbewegung hervorgegangen. Diese erreichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass Homosexuelle nicht mehr explizit kriminalisiert wurden. Pathologisiert und diskriminiert wurden sie nach wie vor. Ein Sittenwidrigkeitsartikel im Gesetz erlaubte der Polizei, homosexuelle Personen bis in die 1980erJahre in speziellen Registern zu erfassen. Legitimiert wurden solche Diskriminierungen durch Wissenschaftler*innen, die Homosexualität als «anatomische und psychische Entartung» bezeichneten. Erst seit 2005 existiert ein Partnerschaftsgesetz, das erheblich zur politischen und juristischen Anerkennung von Homosexuellen beiträgt. Beispielsweise macht es im Todesfall die Partnerin oder den Partner zum gesetzlichen Erben. Ein weiteres Gesetz von 2016 erlaubt es Homosexuellen zudem, das Kind des Partners oder der Partnerin zu adoptieren, sofern die Partnerschaft eingetragen ist. Am 26. September wird nun darüber abgestimmt, die Ehe für alle zu öffnen. Die Rechtsgleichheit zwischen heterosexuellen und homosexuellen Paaren ist nichtsdestotrotz nicht garantiert. Ein entsprechender Hinweis fehlt in Artikel 8 der Bundesverfassung, der das Diskriminierungsverbot regelt. Die LGBT-Bewegung fordert, dort die sexuelle Orientierung sowie die Geschlechtsidentität als Diskriminierungsgrund explizit zu erwähnen. Letzteres ist ein relativ neues gesellschaftliches Thema. Nach Homo- und Bisexuellen sollen auch Transgender entpathologisiert werden, fordern Vertreter*innen der LGBT. EBA Quellen: Marta Roca i Escoda: Rechte von LGBT. In: Wörterbuch der Schweizer Sozialpolitik. Zürich und Genf, 2020
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Vor Gericht
Ryanair gegen alle Wegen Corona greifen viele Länder ihren staatlichen Airlines mit millionenschweren Beihilfen unter die Arme. Das passt dem privaten irischen Billigflieger Ryanair gar nicht. Seit Dezember 2020 reicht die Firma beim Gericht der Europäischen Union (EuG) in Luxemburg Klage um Klage ein. Gegen Schweden, Deutschland und Frankreich oder Spanien, sechzehn sind es insgesamt. Wobei: Ryanair greift nicht direkt die nationalen Staatshilfen an, sondern die Genehmigungen der Beihilfen durch die EU-Kommission. Sie stützt sich bei ihren Klagen auf unterschiedliche Argumente: Bezüglich der Staatshilfen in Portugal und Holland monieren die Iren zum Beispiel mangelhafte Begründungen der Anträge. Betreffend Österreich reklamiert Ryanair Marktdiskriminierung. Insgesamt stossen die Rechtsvertreter der Airline durchwegs ins gleiche Horn: Durch die Staatsgelder sei das Prinzip des Binnenmarktes in der EU verletzt und die Liberalisierung des Luftverkehrs zurückgedreht worden. Die Hilfen führten zu unfairem Wettbewerb durch ineffiziente Unternehmen. Rufen wir uns kurz in Erinnerung, wer da klagt. Was hier Effizienz heisst. Es ist jene Airline, deren Maschinen nach Umleitungen auch schon notlanden mussten, weil sie keine Reserve getankt hatten. Letztes Jahr stoppten Behörden deren Pläne, Flieger nur noch mit Stehplätzen und einer Toilette zu bauen. Sie ist schon lange berüchtigt für legendär schlechte Arbeitsbedingungen – und unverhohlenen Drohungen gegen Mitarbeitende: Wer streikt, fliegt. Beziehungs-
weise eben nicht mehr. Es ist auch jene Airline, bei der ein Fluggast, der seine Sitznachbarin als «hässlicher schwarzer Bastard» beleidigte, an Bord bleiben durfte – sich die beschimpfte Jamaikanerin aber umsetzen musste. Dafür hat sich die Ryanair nie entschuldigt, trotz Shitstorm. Die Fluglinie hält auch den Rekord in Sachen Lohnungleichheit zwischen Frauen und Männern: 72 Prozent. Also darf auch schadenfreudig sein, wer es angesichts der Klimakrise für unangebracht hält, wenn Staaten Milliarden in die Flugindustrie pumpen: Erstinstanzlich wurden die Klagen mehrheitlich abgewiesen. So seien etwa die finnischen Hilfen zur Abwendung einer Pleite von Finnair nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar erforderlich: wegen der drohenden beträchtlichen Störung des Wirtschaftslebens. Ebenso urteilte das EuG im Fall des spanischen Sozialfonds, der unter anderem die Fluggesellschaft Iberia unterstützt. Demgegenüber hatten die Klagen im Fall mit der portugiesischen TAP und der deutschen Condor Erfolg. Das EuG gab den Klagen aufgrund mangelnder Begründung der Genehmigungen durch die Kommission statt. Bei der Condor sei nicht ausreichend dargelegt worden, dass sie sich nur wegen der Pandemie in Schieflage befinde. Bei der TAP fehle der Nachweis, dass Schwierigkeiten die Fluglinie selbst betreffen. Allerdings sind die Urteile ausgesetzt, bis die Kommission die Begründungen überarbeitet hat. Ryanair feierte sie trotzdem als «wichtigen Sieg für den Wettbewerb». Und fühlte sich bestärkt, alle anderen Entscheide an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) weiterzuziehen. Die Frage drängt sich auf: Hat die Billig-Airline eigentlich auch Billig-Anwälte? (Ironie off.) Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich.
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ILLUSTRATION: SOPHIA FREYDL
Verkäufer*innenkolumne
Das letzte Puzzleteilchen Zuerst die geistige Erfahrung. Dann das Realwerden. Zuerst werden Möglichkeiten im Geist aufgezeigt, dann werden sie, vielleicht, umgesetzt. Der Geist ist Realität. Ich stand meiner Mutter als Kind sehr nahe. Sie hatte schon früh gesundheitliche Probleme. In mir tauchte die Frage auf: Willst du sie später auf ihrem Schmerzensweg begleiten? Dreissig Jahre später durfte ich dies während vieler Jahre im Pflegeheim. Der Lohn war riesig: das Kennenlernen von vielen, vielen alten Lehrmeister*innen. Als 12-Jähriger tauchte die geistige Forderung einer in mir konkret erscheinenden Person auf, im Gegenzug zu sehr bedeutenden ideellen Werten, ihr finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Gesagt, getan. 25 Jahre später. Dass es sich dabei um die genannte Person handelte, war offenbar. 6
Als junger Mensch war ich psychisch krank. Hilfe brachten mir sogenannte geistig Behinderte (sogenannt, weil sie nicht mehr behindert sind als wir). Ich hörte Stimmen: vom anthroposophischen Buechehof, in dem ich geschnuppert hatte, die Behinderten riefen mich. Das bewog mich, die für mich heilsame Praktikantenstelle anzunehmen. Dass Antonio starb, kommt nicht von ungefähr. Auf einer Schülerreise bestieg ich einen Felsen, Antonio mir nach. Ich verdrängte die geistige Forderung, ihn zu warnen. Ich hatte die Freude am Bergsteigen in ihm geweckt. Später stürzte er auf einer Tour tödlich ab. Die Umstände dieses Unfalls wurden mir viel später von einem SurpriseKunden, dessen Intuition ihn selbst vor der Beteiligung an jener Tour erfolgreich gewarnt hatte, erläutert. Kein Zufall: Ich musste dies erfahren.
Als ich Sonntagszeitungen vertrieb, erschien mir im Geist die Prophezeiung: In dieser Gegend wirst Du das grosse Glück erleben. Vor längerer Zeit eine Kundin. Gutes Gespräch. Verabschiedung, eine Stimme in mir: Ihr werdet euch finden, im geistigen Sinne. Echt glauben konnte ich es noch nicht. Diese Kundin hat auf meine letzte Surprise-Kolumne geantwortet und ist jetzt der Mensch, der mich am meisten berührt. Kein Zufall – das letzte Puzzleteilchen fehlte noch. Taucht in uns die Möglichkeit auf, Freudebringendes zu verwirklichen, Berufung zu leben: Wir dürfen darauf vertrauen, dass das Geistige wahr wird. NICOL AS GABRIEL , 57, verkauft Surprise an der Uraniastrasse in Zürich. Und herzt Malerei und deutsche und französische Literatur.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
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Die Sozialzahl
Privatsache Familie
Die Studie erfasst nur die gesetzlichen Vorgaben auf nationaler Ebene. Damit werden die markanten Unterschiede zwischen den Kantonen ausgeblendet. Diese Relativierung vermag aber den Gesamteindruck nicht grundsätzlich infrage zu stellen. Die Ausgestaltung des familienergänzenden Angebots in der Schweiz führt dazu, dass der Anteil von Kita-Kindern im Vorschulalter im internationalen Vergleich tief ist. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen dominiert noch immer die politische Haltung, dass sich der Staat nicht in Familienfragen einmischen dürfe. Zum anderen werden Kitas eher als Orte angesehen, wo es mehr ums Hüten denn ums Fördern geht. Wichtig sind deshalb flexible Öffnungszeiten. Zum Dritten zeigt der internationale Vergleich, dass die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach wie vor zurückhaltend beantwortet wird, ungeachtet der demografischen Entwicklung, die nach einer stärkeren Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen verlangt. Dabei wäre eine gute Balance zwischen Familie und Beruf ist für Kinder, Frauen – und auch Männer – wohl besser, als sich voll dem Job zu verschreiben. Doch das muss man sich leisten können und wollen.
Der erste Indikator erfasst die Zeit, die den Eltern nach der Niederkunft gewährt wird, ohne dass sie einer Erwerbsarbeit nachgehen müssen; es geht um den Mutterschafts-, Vaterschafts- und Elternurlaub. Der zweite Indikator zeigt auf, wie gut Kinder Zugang zu Angeboten der frühen Förderung finden. Ein hoher Quotient wird positiv gewertet. Der dritte Indikator ist der Qualität dieser Angebote gewidmet. Dabei geht es zum einen um das Verhältnis zwischen der Anzahl Betreuungspersonen und der Grösse der Gruppe, für die sie verantwortlich sind; zum anderen um das Ausbildungsniveau, das diese Betreuungspersonen erreichen müssen, um diese anspruchsvolle Aufgabe erfüllen zu können. Der vierte Indikator fragt nach der wirtschaftlichen Tragbarkeit dieser Angebote. Gemessen wird der Anteil der Kosten, welche die Familien selbst tragen müssen, im Verhältnis zu ihrem Haushaltseinkommen. Die familienfreundlichsten Länder sind Luxemburg, Island und Schweden. Die Schweiz schneidet in diesem internationalen Vergleich nicht gut ab. Der Mutterschaftsurlaub ist kürzer als in vielen Ländern, einen Elternurlaub gibt es nicht. Der neu geschaffene, zweiwöchige Vaterschaftsurlaub wurde in der Studie
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Durchschnittliche Rangpunkte pro Land 35 30
25
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15
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USA
Slowakei
Zypern
Schweiz
Irland
Australien
Grossbritannien
Türkei
Neuseeland
Israel
Tschechien
Mexiko
Rumänien
Polen
Niederlande
Chile
Bulgarien
Ungarn
Kroatien
Japan
Kanada
Spanien
Frankreich
Belgien
Slowenien
Griechenland
Malta
Italien
Litauen
Österreich
Estland
Finnland
Südkorea
Lettland
Dänemark
Portugal
Norwegen
Deutschland
Island
Schweden
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Luxemburg
INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: UNICEF (2021): WHERE DO RICH COUNTRIES STAND ON CHILDCARE? FLORENCE: OFFICE OF RESEARCH.
Wo steht die Schweiz in Sachen Kinderbetreuung? Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen UNICEF hat eine Studie zur Frage publiziert, welche «reichen» Länder eine familienfreundliche Gesellschaftspolitik verfolgen und wo Familie noch immer eher Privatsache ist. Dazu wurden vier Indikatoren entwickelt, die messen, wie stark Eltern in der Kinderbetreuung im familiären und im familienergänzenden Kontext von der öffentlichen Hand unterstützt werden.
noch nicht erfasst. Auch bei der Qualität der Angebote hat die Schweiz grosses Verbesserungspotenzial, insbesondere was den Betreuungsquotienten anbelangt. Hinzu kommt, dass die familienergänzenden Angebote noch immer nicht allerorts in genügender Zahl vorhanden sind. Zudem sind die selbst zu tragenden Kosten in vielen Kantonen vor allem für Mittelschichtshaushalte zu hoch.
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Liva Tresch, 7, mit Haarband und Pflegemutter Dori Portmann, 1940 «Was habe ich diesen Haarbändel verflucht. Alles nur Schein und Trug. Schon als Kind war mir klar: Das ist eine verlogene Welt! Meine Pflegemutter, zum Beispiel, sie wusste, dass ihr Mann, der alte Portmann, sie die ganze Zeit hinterging. Auch ich war als Mädchen Freiwild. Eigentlich wäre ich lieber ein Bub gewesen. Die mussten sich vor nichts fürchten. Ich war schon als Kind kräftig, ich konnte gut handwerken. Und prügelte mich nur mit Jungs. Röcke habe ich gehasst, meistens hatte ich Hosen an, auch später noch: Manchesterhose, Pullover, Heilandsandalen, selbstgestrickte Wollsocken. Vielleicht munkelte man deshalb, ich sei eine Lesbe.»
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Liva Tresch, 88, in ihrer Zürcher Wohnung, 2021 «Ich kann die Welt nicht verändern. Ich kann sie mir bloss so machen, wie ich sie mir wünsche: liebend, verzeihend, achtsam, respektvoll. Dass ich wegen der Schmerzen kaum noch Schlaf finde, hat auch sein Gutes: So verbringe ich meine Nächte mit brösmelen, mit philosophieren über Gott und die Welt. Bricht der Morgen an, freue ich mich am Licht, wie es auf den Dächern gegenüber glitzert. Vor dem Tod habe ich keine Angst, nein, der kann kommen.
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FOTOS: KLAUS PETRUS, ZVG
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Ehe für alle Bisher ist die Ehe in der Schweiz nur zwischen Mann und Frau möglich. Höchste Zeit, dass auch gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen, finden Liva Tresch und Hanna Janssen, beide frauenliebend.
Die Unberührbare Liva Tresch fotografierte in den 1960er- und 1970er-Jahren das Leben in den Zürcher Lesben- und Schwulenbars. Mit ihrer eigenen Homosexualität wusste sie lange nicht umzugehen, sie schämte und versteckte sich. Heute ist das anders. TEXT KLAUS PETRUS
So schön sei sie gewesen, die Silvia, mit ihren kurzen dunklen Haaren und den grossen braunen Augen, die ganze Nacht habe sie diese Frau anschauen, sie mit den Augen streicheln müssen, während sie neben ihr schlief. Als Silvia am nächsten Morgen aufwachte und zu ihr sagte, «Hatte ich also doch recht, du bist schwul!», da sei sie auf und davon. Was für ein Schafseckel der liebe Gott doch ist, habe sie gedacht, nun hat auch er mich hintergangen. «Ich war immer schon der Aussatz, das Letzte von allem, unehelich, dumm, und jetzt auch das noch: schwul. Am liebsten wäre ich nach Sisikon gefahren und hätte mich von der Axenstrasse in den Urnersee geworfen, das hätte wenigstens keine Sauerei gegeben. Aber ich hatte ja nicht mal Geld für den Bus.» Das war 1955, Liva Tresch war 22 und so richtig wusste sie nicht, was das ist: schwul. Den Begriff «lesbisch» kannte sie damals nicht. Von anderen hörte sie bloss, die seien ein «gruusiges Saupack», abartig und krank. Auch Liva Tresch ging zum Pfarrer nach dieser Nacht mit Silvia und später zu einem Psychiater, der sollte sie wieder «normal» machen. Als sie im selben Jahr zum ersten Mal den Schwulenclub «Blauer Himmel» im Zürcher Niederdorf besuchte – das heutige Restaurant Turm – und all diese Männer sah, da dachte sie bei sich: Die können doch nicht schwul sein, so hübsch und nett und gepflegt, wie sie sind! Das Männerbild der jungen Frau war geprägt von Erfahrungen aus Surprise 508/21
einer Kindheit, die keine beschwingte war. Geboren in einem Fürsorgeheim in Hergiswil, kannte Liva Tresch zeit ihres Lebens den eigenen Vater nicht. Die Mutter, hochintelligent und schön, musste viel arbeiten für wenig Geld. So kam Liva Tresch schon ein Jahr nach ihrer Geburt nach Flüelen zu den Portmanns. Der Pflegevater war ein Flegel, er soff, machte anderen Frauen den Hof und versprach der kleinen Liva 50 Rappen, wenn sie ihm zwischen die Beine fasste. Mit diesem Geld konnte sie im Tram von Flüelen nach Altdorf zu den Pfadfindern. Irgendwann erzählte sie ihrer liebsten Pfadifreundin davon, und Lisebethli sagte zu Liva: »Ätsch, ich werde dich nie wieder berühren.» Von da an ging sie dem Portmann aus dem Weg. Mit sechs Jahren kehrte Liva Tresch zu ihrer Mutter nach Gurtnellen im Kanton Uri zurück, die inzwischen den verwitweten Bauer Butzensepp geheiratet hatte. Sie wurde eingeschult, sollte ordentlich erzogen werden. Nach aussen wurde der Schein gewahrt – Liva trug weisse Röckchen und eine Schleife im Haar («Was habe ich diesen Haarbändel verflucht, so eine verlogene Welt») –, daheim aber teilte die Mutter, hoffnungslos überfordert, Schläge aus. Einer der Söhne vom Butzensepp, er brachte sieben Kinder mit in die Ehe, wollte immer die Liva «figgen», er packte sie, doch sie konnte ihm entwischen. «Dann sind sie halt über die Hühner und Schafe her, so war das auf diesen Höfen», sagt die heute 88-Jährige. «Für mich waren alle Männer Hurenböcke.» 9
Als ihre Mutter sie einmal fast bewusstlos schlug, kehrte Liva Tresch nach gut einem Jahr zu den Portmanns zurück. Dort wurde sie weder misshandelt noch musste sie Hunger haben. Sie schlief bei der Pflegemutter, die Portmanns hatten getrennte Schlafzimmer. Es war kein Geheimnis, dass ihr Mann immer bei anderen Frauen war. Gleichwohl kam er immer wieder in der Nacht und riss die Türe auf und schrie «Dori, hopp!», da sei die Pflegemutter aufgehüpft und in sein Zimmer. Später kam sie wimmernd und mit verheulten Augen zurück ins Bett geschlichen. Liva Tresch bewunderte ihre Pflegemutter, wie sie dieses düstere Leben meisterte neben einem Mann, der seine Finger nie bei sich lassen konnte. Und sie mochte es, wenn ihr Frau Portmann mit ihren weichen, warmen Händen das Kleid am Rücken zuknöpfte. Oder den Waschlappen holte und sie einseifte. Ansonsten waren Berührungen rar. «Ich war die Uneheliche, die Unehrliche, eine Unreine, die man nicht berührt», erinnert sich Liva Tresch. Bei Zärtlichkeiten dachte sie stets an eine Mutter, die sie so nicht hatte, liebevoll und nachsichtig. Und so wurde der Körper einer Frau für Liva Tresch zu ihrer Heimat. «Mit Sexualität hatte das nichts zu tun» Dass Liva Tresch homosexuell war, war ihr damals – sie war 16 und wollte sich umbringen – nicht bewusst. «Ich habe offenbar schwul gelebt, ohne es gewusst zu haben. Ich hatte ja keinen Begriff dafür. Ich wusste bloss: Es ist eine bestimmte Sehnsucht nach Nähe in mir, die ich nur mit Frauen stillen konnte. Mit Sexualität hatte das nichts zu tun», sagt sie rückblickend. Sexualität machte alles kaputt. Dachte sie daran, hatte sie dieses grosse, harte, widerliche, violette Ding vom alten Portmann vor Augen. Auch später wird Liva Tresch ihre Freundinnen streicheln und verwöhnen, ohne sich selbst hinzugeben. «Ich hatte in meinem Leben nur einmal einen Orgasmus bei einer Frau, ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass es meinen Freundinnen gefallen könnte, mich zu berühren.» Jahre später – nach einem Aufenthalt im Tessin und Jobs hier und da – fand Liva Tresch in Zürich eine Stelle in einem Fotogeschäft, sie verbrachte nebenher viel Zeit in Schwulenbars und wurde schon bald zur Szenefotografin. Als eine der wenigen dokumentierte sie das Zürcher Milieu der Schwulen und Lesben in den 1960er- und 1970er-Jahren. Sie fühlte sich wohl dort, sie gehörte dazu, tanzte, trank. Die Szene war ihre Ersatzfamilie. Mit einer Frau ins Bett mochte Liva Tresch zu jener Zeit nicht. «Jede machte mit jeder rum, sie gingen dir an die Brüste und wollten sofort mit dir ins Bett. In der einen Woche hiess es dann ‹Ich liebe dich›, in der Woche darauf ‹Ich hasse dich›, dann kam die nächste dran. Aber nie war von Respekt die Rede, das stiess mich ab.» Meist waren die Bars gemischt, Männer und Frauen. Manche lebten ihre Homosexualität offen und selbstbewusst aus, andere wollten sich bedeckt halten, weil sie verheiratet waren oder nicht sozial ausgegrenzt oder angefeindet werden wollten. Gerade für Frauen war wenig Raum für Lebensformen abseits des bürgerlichen Ideals 10
«Ich hatte ja keinen Begriff dafür. Ich wusste bloss: Es ist eine bestimmte Sehnsucht nach Nähe in mir, die ich nur mit Frauen stillen konnte.» LIVA TRESCH
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«Ehe für alle»: Gleichheit vor dem Gesetz Mit der Abstimmung vom 26. September 2021 sollen in der Schweiz gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen und damit die gleichen Rechte wie heterosexuelle Paare bekommen. So ist für gleichgeschlechtliche Paare bis heute die vereinfachte Einbürgerung oder die gemeinsame Adoption eines Kindes nicht möglich. Beides soll mit dem neuen Gesetz geändert werden. Ständerat und Nationalrat sprachen sich im Winter 2020 für die «Ehe für alle» aus, wogegen ein überparteiliches Komitee das Referendum zustande brachte. KP
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Li und Vera, zwei Vorbilder, 1957 «Li und Vera, ach, die beiden waren für mich ein Vorbild: Sie waren ledig, lebten in ihrer gemeinsamen Wohnung und hatten beide ihre Arbeit, die eine war Krankenschwester, die andere Büroangestellte, sie waren unabhängig, offen, selbstbewusst. Und haben ihre Liebe gelebt, ganz so, als wäre es das Normalste auf der Welt. Andere mussten sich verstecken, sie trafen sich heimlich, hatten immer ein schlechtes Gewissen. Vor ein paar Jahren traf ich Li, sie erzählte mir, dass Vera sie nach all den Jahren wegen einer anderen Frau verlassen habe. Sie war traurig, eine gebrochene Frau.»
4/5 Barfüsser, Zürich, 1968 und 1964 «Irgendwann bekam ich Mühe: Jede hatte mit jeder was, sie gingen dir direkt an die Brüste und wollten bloss mit dir ins Bett. Vielleicht ist das so: Wenn du immer ausgegrenzt wirst und dir alle einreden, wie gruusig du bist, verlierst du am Ende den Respekt vor dir selbst.»
FOTOS: LIVA TRESCH/SOZIALARCHIV ZÜRICH
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der Ehefrau und Mutter. Umso wichtiger war Verschwiegenheit, und die Fotografin Liva Tresch genoss hohes Vertrauen. Manchmal kamen irgendwelche feine Herren auf Liva Tresch zu und boten ihr viel Geld für gewisse Bilder, wohl, um die darauf Abgebildeten zu denunzieren. Oder es tauchte die Polizei bei ihr auf, um das sogenannte Homosexuellenregister mit Informationen aufzufüllen (dieses Register wurde erst 1978 abgeschafft). Denunziert wurde aber auch in den eigenen Kreisen, erinnert sich Liva Tresch. «Oft war nicht das gesellschaftliche Umfeld das Problem, der Feind hockte in der eigenen Szene: Missgunst, Eifersucht, der fehlende Respekt voreinander, das hat viel kaputtgemacht.» Glücklich wie nie zuvor Von ihren Freundinnen waren einige politisch aktiv und gingen auf die Strasse, Liva Tresch dagegen wollte das nicht einleuchten: «Lesbischsein hat mit Politik nichts zu tun», fand sie damals. Lesbische Frauen organisierten sich in Zürich bereits Anfang der 1930er-Jahre, eine politische Bewegung hat sich aber erst wieder ab 1970 formiert. In diese Zeit fällt auch die Gründung der Homosexuellen Frauengruppe in Zürich, die Liva Tresch miterlebt hat. «Mir waren diese Kreise zu abgehoben, zu elitär. Viel Gerede, wenig dahinter.» Heute sieht sie das anders. «Politische Prozesse brauchen Geduld, schliesslich kannst du einem grünen Apfel am Baum auch nicht sagen, ab heute bist du eine reife Berner Rose.» Das Engagement der lesbischen Frauen in den 1970er- und 1980er-Jahren habe viel zum Ausbau der Rechte von Homosexuellen beigetragen, wie sie heute im Gesetz verankert sind – und dazu, dass diesen Herbst endlich eine «Ehe für alle» greifbar werde. 1968 eröffnete Liva Tresch zusammen mit Katrin in Zürich ein Fotogeschäft mit eigenem Labor. Sie hatte die Frau einige Jahre davor kennen- und lieben gelernt. Die Be-
ziehung hielt zwanzig Jahre, dann verliess Katrin sie wegen einer anderen Frau. Sex wollte sie all die Jahre keinen, und Liva akzeptierte das, aus Respekt und aus Liebe. Die Jahre nach ihrer Trennung waren schwierig. Heute haben sich die Frauen versöhnt, sie trinken am Morgen gemeinsam Kaffee. Als Katrin wegging, richtete sich Liva Tresch in ihrer Wohnung ein Fotostudio ein und arbeitete weiter – bis sie 1997 im Alter von 64 an einer Thrombose auf dem rechten Auge erkrankte und fast erblindete. Sie musste die Fotografie und damit auch das Geschäft aufgeben, sie verlor aufs Mal ihr Einkommen und den Mut. «Damals war ich noch einmal so richtig tief unten.» Fast ein ganzes Leben habe sie gebraucht, um zu sich selbst zu finden, sagt Liva Tresch. Um zu erkennen: Wer sich verleugnet, zerbricht daran. Vielen Homosexuellen sei das so ergangen, sie hätten sich mehr vor sich selbst versteckt als vor der Gesellschaft. «Ich habe mich versöhnt mit mir, mich lieben gelernt. Und ich habe die Wut auf meine Widersacher verloren, von denen ich in meinem Leben genug hatte.» Zu oft sei sie, die sich gerne mit einer Alpenrose vergleicht, für die anderen nur Abschaum gewesen. Doch das sei vorbei. «Ich bin nicht mehr das Opfer, dieses Häuflein Elend, das man beschützen und bemitleiden muss.» Sie sei, inzwischen 88 Jahre alt, so glücklich wie nie zuvor, trotz all der körperlichen Beschwerden. Manchmal frage sie sich, was sie in ihrem Leben geleistet und was sie noch zu bieten habe. «Meine Liebe», ist ihre Antwort. «Ich kann dem Anderen meine Liebe geben, ich kann ihm offen begegnen, achtsam und mit Respekt.» Liva Tresch hält hohe Stücke auf ein authentisches Leben, eines, das auf Selbstachtung baut und darauf, nur das zu tun, was im Einklang steht mit den eigenen Überzeugungen und Gefühlen. Und so wird sie in diesen Tagen an ihrem Haus eine Regenbogenfahne anbringen. «Dass wir überhaupt über eine ‹Ehe für alle› abstimmen müssen, ist unfassbar. Aber wichtig.»
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Ein Angebot der Berner Frauenhäuser für gewaltbetroffene Frauen und Kinder im Kanton Bern Gewalt in der Familie? Violences en sein de la famille?
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Barfüsser, Zürich, 1965 «Die Schwulenbars waren der einzige Ort, wo man sich zeigen konnte, wie man wirklich war. Man kann sich das heute vielleicht nicht mehr vorstellen: Aber damals kamen Homosexuelle ausserhalb der Szene in der Gesellschaft gar nicht vor. Es gab keinen Platz für uns, es durfte uns nicht geben. Wir waren unsichtbar.»
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Barfüsser, Zürich, 1963 «So herzige junge Männer waren das, die Schwulen in den Bars, immer gepflegt und höflich. Die haben dich nicht belästigt mit dummen Sprüchen oder angemacht, mit ihnen konnte man normal reden. Mit der Zeit wurden sie ‹meine Buben›, ich habe ihnen zugehört und sie getröstet, wenn sie Liebeskummer hatten. Was oft vorkam.»
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«Ich habe mich versöhnt mit mir, mich lieben gelernt. Ich habe die Wut auf meine Widersacher verloren, von denen ich in meinem Leben genug hatte.» LIVA TRESCH
FOTOS: LIVA TRESCH/SOZIALARCHIV ZÜRICH
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Mehr zum Thema «Katzenball» (2005), Dokumentarfilm von Veronika Minder, in dem Liva Tresch porträtiert wird; «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Frauenliebende Frauen über siebzig erzählen» (2015), Lebensgeschichten von elf Frauen, aufgezeichnet von Corinne Rufli; «Hass gegen LGBTQ+ – Von Diskriminierung und Widerstand» (2021), Dokumentarfilmfilm von SRF mit Liva Tresch. KP
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«Wir müssen für eine vielfältige Welt kämpfen» Lesben wurden nicht nur wegen ihrer Sexualität diskriminiert, sondern immer auch als Frauen, sagt die Historikerin Corinne Rufli. INTERVIEW KLAUS PETRUS
Corinne Rufli, noch bis vor wenigen Jahrzehnten mussten sich homosexuelle Frauen und Männer hierzulande verstecken, sie wurden geächtet und ausgegrenzt, weshalb sie in unserer Gesellschaft unsichtbar waren. Trifft diese Einschätzung zu? Für einige gilt das noch heute. Und ja, viele Homosexuelle haben alles dafür getan, dass niemand davon erfuhr, weil sie Angst vor den Konsequenzen hatten, und das mit gutem Grund. Es drohte ihnen der Ausschluss aus der Familie, Job- oder Wohnungsverlust oder gesellschaftliche Stigmatisierung. Bis in die 1980er-Jahre war das Bild der idealen bürgerlichen Familie mit ihren klaren Geschlechterrollen sehr mächtig. Allerdings gab es immer schon Homosexuelle, die sich ganz gut arrangieren konnten in dieser heteronormativen Gesellschaft, sie schufen sich eine lebbare Welt. Was aber nicht selten mit ihrem Stand oder der sozialen Klasse zu tun hatte. Wie meinen Sie das? Ende des 19. Jahrhunderts gab es viele Frauenpaare, oft Akademikerinnen, die aus privilegierten bürgerlichen Verhältnissen stammten. Sie wollten einen Beruf ausüben, und eine Ehe hätte das verhindert. Oder sie konnten sich ein Leben ohne einen Ehemann leisten. Lange war das Leben als Lesbe oder als Schwuler jedoch mit Schweigen gekoppelt. Solange nicht darüber geredet wurde, musste auch nicht geurteilt werden. Wie kam es zur Stigmatisierung von Homosexuellen? Mit dem Aufkommen der Sexualwissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Homosexualität und später die Heterosexualität erfunden. Vorher dachten die Menschen nicht in solchen Kategorien. Es war eine Zeit, in der Pflanzen in Gattungen eingeteilt wurden und Menschen in Rassen. Mit diesen Kategorisierungen nahm auch die Pathologisierung und Kriminalisierung von Homosexuellen ihren Lauf. Damit entstanden enge und krude Vorstellungen davon, was Homosexuelle sind. Dabei sind Sexualität und Begehren nichts Starres, wir können sie nicht einfach in Schubladen stecken. In den 1970er-Jahren haben sich Homosexuelle allmählich politisch organisiert und «Lesbe» wurde zu einem Kampfbegriff. Erste Zusammenschlüsse von frauenliebenden Frauen gab es bereits zu Beginn der 1930er-Jahre, so auch in Zürich. Auch der Begriff «Lesbe» war schon bekannt, obschon Ausdrücke wie «Freundin» oder «Artgenossin» geläufiger waren. Bereits damals versuchten Frauen, organisiert im «Damenclub Amicitia», gemeinsam mit Männern auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen, eine Öffentlichkeit zu schaffen und in der Gesellschaft für Toleranz zu werben. Diese Frauengruppe war allerdings klein, und 14
sie überlebte den Zweiten Weltkrieg nicht. Viel wissen wir noch nicht darüber, darum forsche ich dazu. In den 1970er-Jahren entstanden dann politische Bewegungen, die viel dazu beitrugen, dass Schwule und Lesben eine Stimme bekamen und in unserer Gesellschaft sichtbarer wurden. Gerade Lesben waren in der feministischen Frauenbewegung stets an vorderster Front dabei. Wurden sie durch ihre Sichtbarkeit auch angreifbarer? Ja. Bis heute gilt: Wer sich der heteronormativen Rollenzuteilung verweigert, muss mit Diskriminierung oder Gewalt rechnen. Maskuline Lesben werden angepöbelt, den femininen wird ihr Lesbischsein abgesprochen, gleichgeschlechtliche Paare, die mit ihren Partner*innen Hand in Hand spazieren, laufen Gefahr, verprügelt zu werden, wie kürzlich in Zürich geschehen. Waren die meisten Homosexuellen in den 1970er-Jahren politisch aktiv? Nein, nur eine Minderheit. Viele wollten gar nicht auf die Strasse gehen und protestieren, für sie hatte das Lesbisch- oder Schwulsein nichts mit Politik zu tun. Sie empfanden sich nicht als Teil der neuen politischen Bewegung. Andere fühlten sich auf einer persönlichen Ebene nicht diskriminiert. Sie konnten zum Beispiel ihre Beziehung zu einer anderen Frau offen ausleben, ihre Familien wussten Bescheid. Die sichtbaren, feministischen Lesben prägten so das Bild der «Lesbe», das mitnichten auf alle zutraf. So lehnten und lehnen bis heute viele frauenliebende Frauen den Begriff «Lesbe» als Selbstbezeichnung ab. Wie unterschieden sich lesbische und schwule Biografien? Die Frauen wurden nicht bloss diskriminiert, weil sie lesbisch waren, sondern vor allem, weil sie Frauen waren. Und als Frauen mussten sie bis weit in die 1970er-Jahre sehr rigiden Bildern entsprechen: Sie sollten gute Ehefrauen und Mütter sein. Frauen, die davon abwichen, galten als triebhaft oder frigide. Weibliche Formen des Begehrens existierten nicht, es wurde nicht darüber geredet. Hinzu kam die Abhängigkeit: Frauen hatten weniger Bil-
Geschichten von frauenliebenden Frauen Frauen über 75, die aus ihrem Leben erzählen möchten, können sich bei Corinne Rufli melden. Sie interessiert sich für alle Geschichten, ganz gleich, ob das Begehren für Frauen gelebt werden konnte oder nicht, ob es nur eine kurze Episode war oder eine lebenslange Beziehung: corinne.rufli@gmail.com oder Surprise Redaktion, Münzgasse 14, 4001 Basel, Stichwort Rufli
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dungschancen und kaum genug Lohn für einen eigenen Haushalt. Es hiess immer: «Die heiratet ja sowieso.» Deshalb gab es unter Lehrerinnen so viele lesbische Frauen. Sie durften lange Zeit von Berufes wegen nicht verheiratet sein, sie waren gesellschaftlich anerkannt und verdienten genug Geld zum Leben. Welche Lebensmöglichkeiten gab es für lesbische Frauen vor den 1970er-Jahren? Unter dem Deckmantel des Patriarchats war einiges möglich. Gerade weil Frauenliebe in dieser Männergesellschaft nicht denkbar war, eröffnete dies Handlungsräume. Das Frauenpaar wurde in den Augen der anderen zu besten Freundinnen oder Schwestern. Sie durften Zärtlichkeiten austauschen, weil das unter Frauen üblich war. Das Verliebtsein in eine Frau wurde als Gefühlsduselei abgetan. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen: Gerade das Patriarchat hat viele lesbische Frauen an den Rand der Gesellschaft gedrängt, wo sie sozial und rechtlich kaum geschützt waren. Zum Beispiel? Lebenspartnerinnen konnten sich finanziell nicht absichern, das hat ganze Existenzen zerstört. Verheiratete Frauen, die sich scheiden lassen wollten, nachdem sie sich in eine Frau verliebt hatten, verloren teilweise das Sorgerecht für ihre Kinder; oder die Angst, ihre Kinder zu verlieren, liess sie in unglücklichen oder gewaltvollen Ehen verharren. Weil es fast keine Vorbilder gab, war es für viele Frauen enorm schwierig, einen eigenen Weg zu finden. Wie war das mit homosexuellen Männern? Männer waren selbstbewusster, sie wurden – und werden – in ihrer Sozialisierung schon früh danach gefragt, wie sie leben möchten. Wegen ihrer sozialen Rolle waren sie aktiver als Frauen, sie verdienten mehr und waren unabhängiger. Das hatte praktische Auswirkungen. Viele Schwule trafen sich in Bars, denn sie konnten sich das leisten. Auch war es für Männer kein Problem, sich abends allein auf der Strasse zu bewegen. Waren Frauen noch so spät unterwegs, galten sie als anrüchig – oder als Prostituierte. Wie hat sich die Situation der Homosexuellen in der Schweiz verändert? Auf der rechtlichen Ebene gab es viele Fortschritte. Begonnen hat es mit der Strafrechtsrevision 1942, durch die gleichgeschlechtliche Handlungen nicht mehr kriminalisiert wurden. Doch Staat und Sittenpolizei fanden auch so Wege, Schwule und Lesben zu bestrafen. Sie führten Homo-Register, die teils gegen das Gesetz verstiessen. Oder sie verwiesen auf Paragraphen wie «Erregung öffentlichen Ärgernisses» oder «Kuppelei», um Schwule und Lesben einzuschüchtern und Treffen unter Homosexuellen zu verhindern. Hierzu ist noch viel Forschung nötig. Ein langer Kampf führte 2007 endlich zur Einführung des Partnerschaftsgesetzes. Was ein wichtiger Schritt war, aber auch eine Kompromisslösung – das Schweizer Stimmvolk hätte damals wohl Nein gesagt zur «Ehe für alle». Und letztes Jahr wurde der Erweiterung der Antirassismus-Strafnorm zugestimmt, homophobe Äusserungen und Handlungen sind nun ebenfalls gesetzlich verboten. Und wie steht es um die gesellschaftliche Akzeptanz? Viele junge Menschen haben nach wie vor Angst, sich bei den Eltern zu outen, andere dürfen am Arbeitsplatz nichts sagen. Oder ältere, pflegebedürftige Personen befürchten, dass sie in AltersSurprise 508/21
«Das Patriarchat hat viele lesbische Frauen an den Rand der Gesellscha gedrängt.» Corinne Rufli, 41, ist Doktorandin am IZFG der Universität Bern und forscht zur Lesbengeschichte der Schweiz mit Fokus auf den Zeitraum 1945–1974.
und Pflegeheimen schutzlos der Homophobie ausgesetzt sind. Doch es hat sich auch einiges getan. Durch die vielen schwulen, lesbischen und queeren Organisationen stehen Netzwerke und Informationen zu Verfügung. Es gibt vermehrt Personen in der Öffentlichkeit, die lesbisch, schwul, queer oder trans sind, ohne dass es deswegen viel Wirbel gibt. Sie sind wichtig als Vorbilder. Doch wir müssen uns immer wieder die Frage stellen: Wer wird in unserer Gesellschaft sichtbar? Es ist wohl kein Zufall, dass eher lesbische Frauen wahrgenommen werden, die einem weiblichen Idealbild entsprechen. Oder der Schwiegersohn-Schwule. Sichtbarkeit ist wichtig, aber sie wird produziert durch Staat, Medien und Mainstream und verdeckt den Blick auf diejenigen, die nicht dem akzeptierten Bild entsprechen. Bilder in unserem Kopf spielen auch bei der aktuellen Debatte über die «Ehe für alle» eine grosse Rolle. In dieser Diskussion zeichnen die Gegner*innen ein Bild der Familie, das durch die «Ehe für alle» angeblich bedroht wird. Ehen und Familien sind keine heiligen Orte, und sie waren es auch nie. In der Ehe werden Frauen auch vergewaltigt oder getötet. Die Kampagne der Gegner*innen arbeitet mit groben Unwahrheiten, es wird wegen des Zugangs zur Samenspende in höchst erniedrigender Form Stimmung gegen lesbische Frauen gemacht. Als Gesellschaft müssen wir uns gegen solche Angriffe wehren. Wieso ist diese Abstimmung in Ihren Augen wichtig? Gleichgeschlechtliche Paare und ihre Kinder sind in der Schweiz gesetzlich weniger gut abgesichert, obwohl die Bundesverfassung das Recht auf Ehe und Familie garantiert und jegliche Diskriminierung aufgrund der Lebensform verbietet. Mit der «Ehe für alle» wird diese Diskriminierung endlich beseitigt. Dass sie Frauenpaare den Zugang zu Samenbanken in der Schweiz ermöglicht und damit auch originäre Elternschaft beider Mütter, ist zum Beispiel ein grosser Fortschritt. Bisher war die Situation für Regenbogenfamilien unerträglich. Nur ein Elternteil war anerkannt, die Stiefkindadoption, die es erst seit drei Jahren gibt, ist ein mühsamer und teurer Spiessrutenlauf. Das alles zeigt: Es braucht viel mehr Aufklärung und viel mehr Vorbilder. Wir müssen weiterkämpfen für eine vielfältige Welt, die Platz hat für ganz unterschiedliche Lebensentwürfe. 15
Auf dem Weg zur Lesbe Wie lebt es sich als junge homosexuelle Frau in der Schweiz? Für Hanna Janssen ist klar: Heiraten sollten alle können – auch die, die eigentlich gar nicht wollen. TEXT MIRIAM SUTER
Dass sie lesbisch sein könnte, darauf kam Hanna Janssen nicht einmal dann, als sie im Gymnasium ihre beste Freundin schon nach drei Stunden unsäglich vermisste. Nervös wurde, wenn sie ihr nicht sofort zurückschrieb. Gedanklich fast schon besessen – Hanna sagt dazu «obsessed» – von ihr war. «Fuck», dachte sie dann doch irgendwann, «das kann ich nie jemandem sagen.» Aufgewachsen ist Hanna in einem eher bürgerlichen Umfeld, derart heteronormativ, wie sie heute erzählt, dass Nicht-heterosexuell-Sein gar nicht erst als möglicher Lebensentwurf vorgesehen war. Irgendwann vertraute sie sich aber doch ihrer Mutter an. Die sagte: «Hanna, in dem Fall stehst du also einfach auf Frauen?» Und Hanna dachte sich: Hm, guter Punkt. Ich glaube, ja! Das ist jetzt fünf Jahre her. Heute bezeichnet sich Hanna als ButchLesbe – als Frau, die auf Frauen steht und selber nach heterosexuellen Stereotypen eher maskulin auftritt – und lebt in einer queeren WG in Zürich. Hinter Hanna liegt gefühlt schon jetzt, mit 25 Jahren, ein langer Weg der Selbstentdeckung. Nach dem Gespräch mit ihrer Mutter schrieb Hanna einem Klassenkameraden: «Gehst du auch zur Pride?» Er ging, und Hanna mit ihm. An ihrem ersten Pride-Festival, einem der grössten Anlässe der LGBT-Community, stand Hanna unangenehm berührt am Rande, vertrat sich die Füsse und ging dann wieder heim. Seit ihrem Outing wurden die Dinge nicht einfacher, im Gegenteil, die Fragen in ihrem Kopf waren so vielfältig wie ein grosser Regenbogen: Wo sind denn die ganzen anderen Gays? Wo ist diese Community zuhause, von der alle sprechen? Wer bin ich nun, wie will ich sein? Wie für viele junge Queers führte auch für Hanna der Weg zu möglichen Antworten über eine Party, wo sich Gleichgesinnte finden. Nach ihrem wenig mitreissenden Pride-Erlebnis besuchte sie eine «Molke»-Party, die jeweils von der Milchjugend organisiert wird. Der Verein richtet sich an junge Queers in der Schweiz – also an alle, 16
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die sich nicht als heterosexuell verstehen. «Du bist gut so, wie du bist», steht auf der Webseite, «mit Dir stimmt alles, denn Du bist ein wundervoller queerer Mensch! Richtig schön falschsexuell!» Hanna war damals 20, «aber eine Party löst ja deine Probleme nicht», erzählt sie heute. Wenn man einmal erlebt hat, wie vielfältig die Community ist, fragt man sich: Wie vielfältig bin eigentlich ich? «Vorher überlegt man sich das ja gar nicht, was man alles sein könnte», sagt Hanna. Labels findet sie deshalb gerade für junge Queers wichtig. Damit sind Bezeichnungen für die sexuelle Orientierung oder Identität gemeint: zum Beispiel bisexuell, asexuell oder homosexuell. Cis bedeutet, sich dem biologischen Geschlecht zugehörig zu fühlen, trans Menschen verspüren das Gegenteil. Instagram fürs Flirten Jedoch: Zwei Menschen, die für sich das gleiche Label benutzen, können komplett unterschiedlich sein. Und man braucht die Labels vor allem noch dafür, um die Abweichung von der Norm darzustellen. Hanna absolviert einen Masterstudiengang in Politikwissenschaften und Gender Studies an der Uni Zürich und denkt manchmal über Kosmetikprodukte nach: «Normalerweise ist ja der heterosexuelle Mann die Norm, wenn es um gesellschaftliche Standards geht. Ausser in der Kosmetik: Wenn nicht fett ‹for men› draufsteht, ist ein Produkt für Frauen gedacht. Ähnlich ist es bei LGBT-Labels: Du brauchst eins, um dich von der Heterosexualität abzugrenzen.» Als Lesbe bezeichnete sie sich aber nicht von Anfang an. Das Wort wurde lange verschmäht, hatte einen schmuddeligen Nachklang, auch in der Community selbst. Für Hanna war aber irgendwann klar, dass sie sich so bezeichnen möchte – allen Vorurteilen zum Trotz. «Das Wort finde ich schön, weil es auch nonbinäre Menschen einschliessen kann und eben nicht nur Frauen», sagt sie. Die Zeit nach ihrem Outing war für sie wie eine zweite Pubertät; die eigenen Lebenszyklen können sich an-
ders anfühlen für Menschen, die von der Gesellschaft nicht als Norm angesehen werden. «Wenn ich erzähle, dass ich als lesbische Frau gesellschaftlich diskriminiert werde, werde ich manchmal gefragt, ob ich denn schon einmal auf der Strasse abgeschlagen wurde. Nein, wurde ich nicht, entschuldige, dass ich dazu keine geile Story liefern kann», sagt Hanna. Heute ist Hanna im Vorstand der Milchjugend und im Kommunikationsteam des «lila. queer festivals», das der Verein seit 2017 einmal im Jahr organisiert. Die erste Ausgabe fand ausgerechnet im eher konservativen Dörfchen Wittnau im Aargau statt, die Milchjugend verwandelte einen kleinen Fleck des Fricktals in ein glitzerndes Stück Sternenhimmel. Vor fünf Jahren gestand Hanna ihrer damaligen besten Freundin übrigens ihre Liebe – sie blieb unerwidert, die Freundin zog fürs Studium nach St. Gallen, Hanna nach Zürich. Dass daraus nichts wurde, war für Hanna aber nicht schlimm, der Kontakt plätscherte so natürlich auseinander, dass es keinen Grund gab für Herzschmerz. Heute ist Hanna nach einer dreijährigen Beziehung wieder Single. Daten als Lesbe habe so seine Tücken, findet sie. Frauen seien generell etwas schüchterner, und bis eine mal den ersten Schritt mache, könne es ewig dauern. Dating-Apps spezifisch für Frauen nutzt sie nicht, die beste App, um andere Queers kennenzulernen und zu flirten sei sowieso Instagram, erzählt sie lachend. Es hat sich einiges getan in den letzten zehn Jahren, queer ist für viele Menschen kein Fremdwort mehr, «oder immerhin wissen sicher die meisten Menschen in der Schweiz, dass es nicht nur Heteros gibt. Ob sie es gut finden oder nicht, ist dann nochmal eine andere Frage», führt Hanna aus. Sie sagt aber auch: «Trotzdem, die meisten Leute haben wirklich keine Ahnung.» Gerade wenn es um trans Menschen geht – also alle, die sich ihrem biologischen Geschlecht nicht zugehörig fühlen –, hinke die Schweiz fünfzig Jahre hinterher. Dass diese zuerst mittels aufwendiger und langSurprise 508/21
stark kritisiert: Es reicht nicht, sich einmal im Jahr queerfreundlich zu zeigen, nur damit das Unternehmen dadurch fortschrittlich und tolerant wirkt. Denn einer kuscheligen Regenbogen-Anzeige im Fussballstadion steht noch immer die brutale Realität gegenüber: Nicht-heterosexuelle Menschen werden auch in der Schweiz häufiger Opfer von Gewaltangriffen, sie dürfen nicht heiraten oder Kinder adoptieren. Diese Diskussionen flammen wieder neu auf, nachdem von konservativen Parteien das Referendum gegen die «Ehe für alle» ergriffen wurde und das Anliegen nun am 26. September nochmal vors Stimmvolk kommt.
«Wir sollten uns als Gesellscha fragen, wie wir das Zusammenleben anders gestalten könnten.» HANNA JANSSEN
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wieriger Abklärungen beweisen müssen, dass sie trans sind, um eine Hormontherapie zu beginnen, empfindet Hanna als rückständig und diskriminierend. Gleichzeitig scheint ein Schub durch die Gesellschaft zu gehen: Gerade junge queere Menschen rund um den Globus leben sich auf sozialen Medien wie Instagram oder TikTok viel offener aus als noch vor wenigen Jahren. Queerness ist hip und wird sogar von Konzernriesen wie VW während den EM-Fussballspielen als Werbestrategie eingesetzt. Als pseudopolitisches Statement, nachdem die UEFA LGBT-Flaggen in den Stadien verboten hatte, wie viele kritisieren. Solche Aktionen kommen nicht bei allen gut an, das «pinkwashing» wird von LGBT-Vereinigungen
«Es gibt sicher ein Ja» Der Abstimmung schaut Hanna aber gelassen entgegen: «Das gibt sicher ein Ja, ich kann mir nichts anderes vorstellen. Alles unter 65 Prozent fände ich ein krasses Armutszeugnis für die Schweiz.» Auch, wenn sie selber niemals heiraten will, zumindest nicht aus romantischen Gründen. Was bedeutet die Ehe denn für Hanna? Wie aus der Pistole geschossen antwortet sie: «Die Institution einer bürgerlichen Kleinfamilie, die die Frau zuhause einsperrt», und lacht laut. Durch die Ehe wird die Frau vom Vater an einen anderen Mann übergeben, sehr bürgerlich und antifeministisch findet Hanna das: «Und vor allem nicht zeitgemäss. Aber dass alle heiraten können, wenn sie wollen, ist mega, mega wichtig.» Die Institution Ehe werde noch sicher dreissig Jahre – «oder vielleicht hundert!» – vorherrschen, auch als finanzielle Absicherung für beide involvierten Personen. Sie müsse deshalb für alle Menschen offen sein, nicht bloss für Heterosexuelle. Doch wenn Hanna träumen dürfte, dann so: «Wir sollten uns als Gesellschaft endlich fragen, wie wir das Zusammenleben anders gestalten könnten, wie wir Verantwortungen aufteilen und was Romantik eigentlich bedeutet.» Romantik und Liebe spielen auch in der aktuellen «Ehe für alle»-Kampagne eine grosse Rolle, hunderte Menschen halten an Demonstrationen Händchen, schmusen und «heiraten» symbolisch in der ganzen Schweiz, um für die Initiative zu werben. Aber Liebe, findet Hanna, habe im Gesetz eigentlich nichts zu suchen: «Es geht nicht darum, ob sich zwei Leute in einer Ehe lieben – sondern es sollen endlich alle Menschen in diesem Land vor dem Gesetz gleichgestellt werden.» 17
Zurück aufs Spielfeld des Lebens Strassenfussball Seit knapp zwanzig Jahren holt der Verein Surprise armutsbetroffene
Männer mit Strassenfussball aus dem sozialen Abseits zurück. Eine Frauenmannschaft gibt es bisher nicht. Surprise will das ändern: harte Pionierarbeit. TEXT HANNA GIRARD
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FOTOS ROLAND SCHMID
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Sonntagmorgen in Pratteln: Es ist eins der letzten Trainings in der Schweiz für das neue Frauen-Nationalteam von Surprise. Fahles Licht fällt durch zahlreiche Fenster in die Streetsoccer-Halle im siebten Stock eines alten Fabrikgebäudes in Bahnhofsnähe. Marzeyeh Jafari kickt den Ball über den Kunstrasen. Er tanzt zwischen ihren Füssen. Es scheint abwegig, dass die junge Frau erst seit drei Monaten Strassenfussball spielt. Und doch ist es wahr: «Vor dem ersten Training mit dem Surprise Nationalteam habe ich noch nie einen Fussball berührt. Dort, wo ich geboren bin, in Afghanistan, ist das den Frauen verboten.» Marzeyeh Jafari ist eine von drei Spielerinnen, die aktuell das Frauen-Nationalteam von Surprise bilden. Für die junge Frau, die erst wenige Monate in der Schweiz lebt, eine grosse Angelegenheit: «Ich will ein Vorbild für Frauen sein, die eine ähnliche Geschichte wie ich haben.» Doch noch ist die Mannschaft zu klein, um in Utrecht an den European Life Goals Games 2021 teilnehmen zu können. An diesem internationalen Turnier treten Mannschaften aus ganz Europa an: Menschen, die sozial benachteiligt in den Niederlanden, Schottland, Norwegen, Dänemark, Österreich oder Belgien leben; oder wie Marzayeh Jafari in der Schweiz. Das Training an diesem Morgen fordert die junge Frau. Marzayeh Jafari jongliert auf dem Kunstrasen eilig mit den Spielpositionen: Mal ist sie Stürmerin, dann Verteidigerin, dann wieder Mittelfeldspielerin. Eigentlich hätten an diesem Sonntagmorgen noch ein paar andere Spielerinnen zum Training nach Pratteln kommen sollen. Doch ihre Plätze auf dem Feld bleiben leer. Der Druck aber, der nimmt zu. Das ist Janosch Martens, Leiter des Strassenfussballs von Surprise, bewusst. Bis Anfang September muss er ein komplettes Frauenteam zusammen haben, insgesamt vier Spielerinnen braucht er, sonst ist die Mannschaft zu klein für einen Match. Bis zu den Turnieren in den Niederlanden bleiben ihm nur noch wenige Wochen. Aus Zeitgründen wird es in der Schweiz nur noch ein einziges Traininslager, kurz vor den Spielen in den Niederlanden, geben. Kommt das Team zustande, betreten die Spielerinnen also die internationale Bühne, ohne sich sehr gut zu kennen. Seit 2003 treten Männer mit Fluchterfahrungen oder Suchtproblemen, die obdachlos leben oder mit sozialen ProbleSurprise 508/21
men zu kämpfen haben, an den internationalen Strassenfussball-Turnieren für die Schweiz an. Ein reines Frauenteam hat es in der nun beinahe 20-jährigen Schweizer Strassenfussball-Geschichte noch nie gegeben – eine Tatsache, die Martens bei seinem Stellenantritt keine Ruhe liess: «Als ich die Leitung der Teams übernahm, sind mir die fehlenden Frauen als Erstes aufgefallen. Das hat mich nachdenklich gemacht. Denn mir ist es ein Anliegen, dass Frauen mit sozialer Benachteiligung vom gleichen Angebot profitieren können wie Männer.» Keine einfache Mission, denn: «Frauen, die sozial benachteiligt sind, ein Suchtproblem oder einen Flüchtlingsstatus haben, sind in der öffentlichen Wahrnehmung generell weniger präsent. Es ist daher auch nicht einfach, sie zu erreichen.» Oft keine Zeit für ein Hobby Dass es in der Schweiz eine Vielzahl armutsbetroffener Frauen gibt, ist kein Geheimnis. Aktuelle Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen: Die Armutsquote bei Frauen in der Schweiz lag im Jahr 2019 mit 8,5 Prozent deutlich über derjenigen der Männer mit 6,5 Prozent. Alleinerziehende Frauen sind häufig von Armut betroffen. Hinzu kommt, dass viele Frauen in Berufen tätig sind, die schlecht bezahlt werden. Neben Job, Kinderbetreuung und Hausarbeit bleibt oft keine Zeit für ein Hobby. Während sich also für die Nationalmannschaft von Surprise Strassenfussball jedes Jahr Dutzende interessierte Männer melden, muss Martens um jede einzelne Spielerin kämpfen. Deshalb gelten für die Spielerinnen auch andere Voraussetzungen als für die männlichen Nationalspieler: «Normalerweise ist es so, dass nur in die Nationalmannschaft kommen kann, wer vorhin schon bei uns in der Liga gespielt hat. Bei den Frauen fällt dieses Kriterium weg. Für das Frauenteam mussten wir die Spielerinnen wirklich aktiv suchen. Wir sind darum explizit auf soziale Institutionen zugegangen, von denen wir wussten, dass sie mit Frauen arbeiten.» Drei Spielerinnen hat er bisher zusammengetrommelt. Fündig wurde Martens bei der reformierten Kirche Zürich und bei der Fachstelle für Arbeitsintegration der Sozialhilfe. Er habe damit gerechnet, dass die Suche nach Spielerinnen für das Nationalteam nicht einfach würde, sei vom Ausmass der Herausforderung dann aber doch überrascht worden: «Wir haben uns vom Sichtungstag blenden lassen und erst
verdauen müssen, dass viele nach den Testspielen wieder abgesprungen sind.» Monica Gomes ist nicht abgesprungen, die Torhüterin des Frauenteams brennt für den Strassenfussball. Sie geht in die Knie, beisst sich auf die Unterlippe, fängt den Ball und lässt sich zu Boden reissen. Grinsend liegt sie auf dem Kunstrasen und nickt zufrieden. «Zu den ersten Frauen zu gehören, die Surprise an den europäischen Strassenfussballturnieren vertreten, das macht mich unheimlich stolz.» Fussball begleitet die 37-Jährige IV-Bezügerin seit ihrer Kindheit. Schon den Tod ihres Vaters konnte sie im Training für einen Augenblick ausblenden, sie konnte während des Spiels abschalten und ihr Leben als Halbwaise einen Moment vergessen. Es half ihr auch damals, als sie ihre Arbeit als Köchin aufgeben musste. Monica Gomes’ Leben ist seit jeher ein stetes Auf und Ab. Depressionen, Selbstverletzung und Selbstmordgedanken prägten lange Jahre ihres Lebens. Sich mit dem Leben einer IV-Bezügerin abzufinden, fällt ihr noch heute schwer: «Ich habe mein ganzes Leben gekämpft und hart gearbeitet. Ich bin niemand, der einfach so aufgibt.» Als Goalie des Nationalteams hat Monica Gomes eine grosse Verantwortung. Eine, die sie gerne trägt: «Fussball hat mich gelehrt, an mich zu glauben, Ziele hartnäckig zu verfolgen und sie niemals aufzugeben.»
Strassenfussball Der Strassenfussball (Streetsoccer) hat seinen Ursprung in den südamerikanischen Favelas. Ziel war es dort, Jugendliche mittels Sport aus der Armut und der Kriminalität zu holen. Seit Ende der 1990er-Jahre ist Strassenfussball auch in Europa bekannt. Anders als herkömmlicher Fussball wird Strassenfussball auf einem Feld von nur knapp 16 mal 22 Metern gespielt. Das Feld ist mit Banden umzäunt. Eine Mannschaft besteht in der Regel aus lediglich drei Spielerinnen und einer Torwartin. Diese können laufend ein- und ausgewechselt werden. Dadurch gestaltet sich das Spiel aussergewöhnlich schnell und intensiv. Es findet viel Körperkontakt statt. Ein Strassenfussballmatch ist von der Intensität her mit einem Eishockeyspiel zu vergleichen. Ein Match dauert zwei Mal sieben Minuten, in der Hälfte tauschen die Teams die Spielseite. HG
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Fussball hilft ihr, sich auf sich selbst zu konzentrieren: Marzeyeh Jafari aus Afghanistan. 10.15 Uhr: Warm-Up in der «Zentrale» Pratteln. In der ehemaligen Lagerhalle hat der Surprise Strassensport seinen Trainingsort eingerichtet. Torhüterin Monica Gomes kennt in ihrem Leben ein stetes Auf und Ab. Im Fussball hat sie gelernt, wieder an sich zu glauben. Wo müssen welche Pässe stattfinden? In der Vorbesprechung einer Übung auf dem Feld werden die taktischen Elemente aufgezeigt.
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«Während des Trainings konnte ich die Trennung von meiner Familie für einen Moment vergessen.» MARZE YEH JAFARI
Martens ist stolz auf die Torhüterin des Nationalteams und froh, dass sie aus dem Strassenfussball Kraft schöpft. «Sport bringt so viel Positives: körperliche Fitness, aber auch Struktur im Alltag und die Fähigkeit, sich wieder auf Verpflichtungen einlassen zu können», sagt er. Schaffe es eine der Spielerinnen, nur einen dieser Aspekte aus einem Match ins Leben mitzunehmen, dann sei das Ziel für ihn erreicht. Das Zwischenmenschliche, das Team und das Fairplay stehen im Zentrum des Sports. Dem Sieg und der Niederlage werden keine grosse Bedeutung beigemessen. Das sei wichtig für die Spieler*innen, 20
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die häufig komplizierte Lebenswege gegangen sind, sagt Martens: «So viele zerbrechen an unserer Leistungsgesellschaft. Deshalb soll es in den Turnieren nicht um Resultate oder Punkte gehen. Es geht darum, auf persönlicher Ebene Erfolge zu feiern.» Keine Ausreise mit dem F-Ausweis So wie es Macieli De la Rosa tut. Die 23Jährige spielt seit zwei Jahren Strassenfussball in Zürich, beim Team Streetchurch der reformierten Kirche, und ist seit Kurzem auch Teil des Frauenteams von Surprise. Auch sie fehlt am letzten Trainingswochenende, eine starke Erkältung hält sie im Bett. So erzählt sie per Videocall, sie habe beim Fussballspielen gelernt, ihre Aggressionen zu zügeln, die ihr schon oft im Weg standen. Sie kann sich unterdessen leichter auf andere Menschen einlassen: «Ich weiss nun, wie es ist, als Team
zu funktionieren. Früher hab ich einfach nichts gesagt oder wütend geschrien. Das ist heute nicht mehr so.» Ihr Leben sei ruhiger geworden, nach langer Suche hat die junge Frau eine Lehre bei der reformierten Kirche im Betriebsunterhalt gefunden. Ein grosser Erfolg für sie. Wenn sie an das bevorstehende Turnier in Utrecht denkt, glitzern ihre Augen: «Ich freue mich sehr. Aber ich bin auch nervös. Ich war bisher erst einmal ohne meine Familie im Ausland.» Das Ausland – eine weitere hohe Hürde für das Frauennationalteam, denn lange nicht alle Spielerinnen haben Reisepapiere. Ob die 26-jährige Marzeyeh Jafari für das Strassenfussballturnier in Utrecht
Hintergründe im Podcast: Simon Berginz im Gespräch mit der Leitern Janosch Martens und Christian Müller. surprise.ngo/talk
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«Zu den ersten Frauen zu gehören, die in der Surprise Nationalmannschaft sind, das macht mich unheimlich stolz.» MONICA GOMES
die Schweiz überhaupt verlassen kann, ist unsicher. Denn Jafari lebt erst seit wenigen Monaten in Basel und hat einen Flüchtlingsstatus. Ausreisen darf die junge Frau mit ihrem F-Ausweis, dem Papier für vorläufig aufgenommene Personen, im Moment nicht. Eine Tatsache, die sie traurig stimmt, denn Strassenfussball helfe ihr, ihre Geschichte für einen Augenblick auszublenden und sich auf sich selbst zu konzentrieren. Sie flüchtete alleine in die Schweiz, ihr Mann und ihre beiden Söhne lebten bis vor Kurzem noch in einem griechischen Flüchtlingscamp. Keine einfache Zeit für die junge Frau: «Ich hatte grosse Surprise 508/21
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Sorgen. Aber während des Trainings konnte ich die Trennung von meiner Familie für einen Moment vergessen. Dabei ging es nur um mich und den Fussball.» In der Streetsoccer-Halle pfeift Janosch Martens die letzten Testspiele des Nachmittags ab. Monica Gomes und Marzeyeh Jafari lassen sich erschöpft auf eine Holzbank fallen, ihnen tropft der Schweiss von der Stirn. «Und, wie stehen die Punkte?», fragt ein Spieler der Männermannschaft, der während des Spiels munter plaudernd das Resultat verpasst hat. Jafari schmunzelt. «Sechs zu zwei? Oder fünf zu zwei? Ich weiss es gar nicht», sagt sie und streicht sich das Haar aus der Stirn. Entspannt sitzt sie da, mustert Monica Gomes, die langsam ihre roten Goaliehandschuhe von den Fingern zieht. Die beiden zwinkern sich zu, und für einen Augenblick zählt nicht einmal der Sieg, sondern nur der Moment.
European Life Goals Games 2021 Die niederländische Stiftung Life Goals fördert die Teilhabe von sozial schwachen Menschen durch Sport. Sie richtet sich an Personen, die aus unterschiedlichen Gründen mit Problemen konfrontiert sind: Obdachlose, Süchtige, Geflüchtete, TeenagerMütter, ehemalige Häftlinge oder Menschen mit schweren psychischen Problemen. Die Stiftung ist Mitglied des Netzwerks des jährlich stattfindenden – aber aktuell pandemiebedingt abgesagten – Homeless World Cup, an dem auch der Surprise Strassenfussball regelmässig teilnimmt. Sie organisiert die European Life Goals Games 2021 anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens und lädt dazu andere internationale Strassensport-Organisationen ein. Die Spiele finden vom 13. bis 19. September in Utrecht, DIF NL statt. stichtinglifegoals.nl
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In den Alltag eingesickerte Kriege Kino Drei Jahre verbrachte Regisseur Gianfranco Rosi für den Dokumentarfilm
«Notturno» im Libanon, im Irak, in Syrien und im irakischen Kurdistan. Und traf Menschen, die von den Kriegen direkt betroffen sind. TEXT DIANA FREI
Militärtrupps stampfen immer wieder aufs Neue in monotonem Trott und von einsilbigen Rufen begleitet von der Seite her ins Bild, ihre rhythmischen Rufe setzen repetitiv mit jedem Auftritt wieder ein und verhallen langsam in der Ferne. Es ist eine ebenso atmosphärische wie absurde Szene. Oder dann ist da die Frau, die um ihren verlorenen Sohn trauert. In ihrem Klagegesang enthüllt sich Stück für Stück sein Schicksal: Der türkische Staat hat ihn eingesperrt und getötet. Nun wandert die Mutter wehklagend durch die leeren, zerfallenen Räume des Gefängnisses und versucht die Gegenwart des Verstorbenen in diesen Mauern zu spüren. Eine Szene wie aus einer Oper, die Tragik ihres Schicksals auf diesen einen Moment verdichtet. An anderer Stelle strömen Häftlinge in rot-orangen Overalls langsam in einen Gefängnishof. Rote Figuren im grauen Beton. Als sie mit gesenkten Köpfen als nicht enden wollende Menschenkette durch die Gänge zurückgeführt werden, erinnert es an einen Gefangenenchor auf der Bühne. Der italienische Regisseur und Kameramann Gianfranco Rosi findet mit viel Gespür für formale Gestaltung Bilder, die vom Kriegsalltag erzählen. Er gibt sich und seinen Protagonist*innen mit langen, ruhigen Einstellungen viel Zeit. «Ich versuchte, vom Alltag jener zu erzählen, die an der Grenze leben, die das Leben von der Hölle trennt», lässt sich Rosi im Presseheft zitieren. «Auf
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meiner Reise begegnete ich Menschen, die in Kriegsgebieten leben: Schiiten, Alawiten, Sunniten, Jesiden, Kurden. Sie leben auf beiden Seiten der Grenzen, weil sie dort geboren sind oder weil sie ins Exil gezwungen wurden, und alle sind sie Kriegsopfer, das Ergebnis von vererbten Konflikten und der Gier der Mächtigen.» «Notturno» ist ein Panorama des Krieges und seiner Wunden, eine rhapsodische Abfolge von Szenen. Keine Erklärung, keine Off-Stimme, keine Texteinblender, keine Interviews, keine Ortsangaben (wer mit den Orten vertraut ist, wird trotzdem viel aus den Bildern ablesen können). Formal fehlen damit die Abgrenzungen der Schauplätze, was durchaus Rosis inhaltlichem Zugang entspricht: «Auch wenn sich meine Geschichten entlang von Grenzen abspielen, wollte ich unsere Wahrnehmung von Grenzen aufheben. Zu oft fühlt die örtliche Bevölkerung sich durch Grenzen betrogen, da diese, politischen Forderungen entsprechend, ständig neu gezogen werden.» Rosi selbst wurde 1964 als Italiener in Eritrea geboren und während des Eritreischen Unabhängigkeitskrieges als 13-Jähriger nach Italien gebracht. Als Jugendlicher lebte er in Rom und Istanbul. Heute lebt er in New York und bezeichnet sich als wurzellos. Rosi beobachtet, er urteilt nicht, und es ist diese Annäherung an die Welt, die seine Filme so einzigartig macht. Die Katastrophe ist nie spektakulär, sondern bereits eingesickert in den Alltag. Schon frühere Filme verhandelten teils sehr politische Themen,
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indem sie ein Gefühl für einen Ort und seine Menschen erzeugten – sei es auf der Stadtautobahn in Rom oder auf den Fischerbooten vor Lampedusa: Mit «Sacro GRA» begleitete Rosi 2013 Menschen unterschiedlichster Herkunft und Lebensrealitäten rund um die Ringautobahn von Rom, mit «Fuocoammare» beobachtete er den Alltag auf der italienischen Insel Lampedusa. Die Traumata in den Kinderzeichnungen In «Notturno» bekommt das zerrüttete Gefüge Syriens mit seinem ganzen kolonialen Kontext eine Bühne in einer psychiatrischen Anstalt. Im wörtlichen Sinn: Patient*innen proben ein Stück über ihre Heimat. Zunächst werden dokumentarische Aufnahmen projiziert: Assads Truppen, US-Panzer, Detonationen. Dann sind wir wieder in den Gängen der Psychiatrie. Menschen in Warteposition. In ihren Zimmern sitzen die Darsteller*innen auf ihren Betten und lernen die Texte. Von der US-Invasion ist die Rede, von Bürgerkrieg und Sprengstoffgürteln. Vom verlorenen Gefühl der Sicherheit. «Die Heimat ruft uns, sie braucht uns», murmelt ein Darsteller mit den Textblättern in der Hand. Es geht um Demokratie, die Proben holpern noch. «Diese Diskussionen sind nutzlos«, lautet der Text, und auf der Leinwand fahren wieder Panzer durchs Land. In einer anderen Szene erzählt Fawaz, ein jesidischer Junge im Primarschulalter, einer Therapeutin, wie Daesch (der sogenannte Islamische Staat IS) begann, die Jesid*innen auszulöschen. Er spricht schnell, flach atmend und doch stockend, mit Stottern. Er erzählt, wie die Jesid*innen in Lagern gefoltert und getötet wurden. Davon, dass die Islamisten den Kindern die Fusssohlen verbrannten. «Ich weiss nicht, warum», sagt er. «Du bist jetzt in Sicherheit», sagt die Therapeutin und gibt ihm dann schweigend die Zeit, einen Moment lang daran glauben zu können. Später sitzen weitere Kinder im Kreis an ihren kleinen Pulten und zeichnen. Es scheint auf den ersten Blick eine friedliche Primarschulszene zu sein. Dann werden die Zeichnungen an die Wand gehängt. Zu sehen sind bärtige Männer mit Waffen, ein Mensch, der geköpft wird, einem andern wird der Arm abgeschlagen. Eine Frau in Ketten, Blut tropft von einem Beil. Die Kinder-
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«Zu oft fühlt die örtliche Bevölkerung sich durch Grenzen betrogen, da diese, politischen Forderungen entsprechend, ständig neu gezogen werden .» GIANFR ANCO ROSI
zeichnungen an der Wand: ein Bild des Schreckens. Fawaz starrt seine eigene Zeichnung an, in einer Mischung aus ungläubigem Erstaunen und Bestürzung. Manchmal steckt auch eine fast groteske Wahrhaftigkeit in den beobachteten Momenten. So beklagt sich ein Soldat bei seinem Kollegen, dem Fahrer des Militärtrupps, über seine Rückenschmerzen, die er wegen seiner dauernden Position am Maschinengewehr hat. Und macht dem Kollegen Vorwürfe, weil er zu unsanft fahre: «Das Gerüttel ist nicht gut für mich.» Die Banalität der Rückenschmerzen wird hier zur Monstrosität angesichts des eigenen Tötens. Und spiegelt die Absurdität des Krieges.
«Notturno», Regie: Gianfranco Rosi, Dokumentarfilm, Italien 2020, 100 Min. Läuft ab 23. September im Kino.
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Die Chemie des Friedens Kino Der Dokumentarfilm «Die Pazifistin» begibt sich auf Spurensuche nach der Chemieprofessorin und Friedensaktivistin Gertrud Woker. TEXT MONIKA BETTSCHEN
Animierte Tauben steigen über dem Thunersee auf und verwandeln sich in ein Geschwader Kampfflugzeuge. Dazu hört man den Inhalt eines Briefes, den die 1878 im Berner Oberland geborene Chemieprofessorin Gertrud Woker an John F. Kennedy schrieb, mit der dringenden Bitte, die nuklearen Testversuche zu verbieten. Derart symbolgeladen beginnt der zum Grossteil in Collagen erzählte Dokumentarfilm «Die Pazifistin» über eine der ersten Professorinnen Europas. Ab 1911 leitete Woker das Institut für physikalisch-chemische Biologie an der Universität Bern. Sie hinterfragte immer wieder den Drang zur Spezialisierung in den Naturwissenschaften. Sie, die der Natur sowohl als Forscherin als auch als Bewunderin gegenübertrat, plädierte für eine ganzheitliche Herangehensweise. Für ihre Pionierarbeit in der Biochemie erhielt sie internationale Anerkennung. Aber für ihr unermüdliches Engagement für den Weltfrieden und die Gleichstellung der Frau wurde sie zunehmend diffamiert – und schliesslich nach ihrem Tod 1968 von der Öffentlichkeit fast vergessen. Immer ihrer tiefen Überzeugung folgend, dass Wissenschaftler*innen Verantwortung tragen für ihre Erkenntnisse, warnte Woker schon früh vor den Gefahren einer Kriegsführung mit chemischen und nuklearen Kampfstoffen und stellte lautstark politische Forderun24
gen. Während des Ersten Weltkriegs schloss sie sich der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit IFFF an. In der Überzeugung, dass die Welt eine friedlichere wäre, wenn Frauen die gleichen Rechte wie Männer besässen, kämpfte sie an vorderster Front für das Frauenstimmrecht. Die Stimmbürger in ihrem Heimatkanton Bern stimmten ihm allerdings erst kurz vor ihrem Lebensende 1968 zu – vorerst auf Gemeindeebene. Doch die Zeichen standen auf Krieg. Die Naturwissenschaften beugten sich den militärischen und materiellen Interessen. Die Schützengräben füllten sich mit Giftgas. Und im Kalten Krieg hing die Atombombe wie ein Damoklesschwert über der Menschheit. Tante Trudis geistiges Erbe Die Welt spielte verrückt und das Archivmaterial, das die beiden Regisseure Fabian Chiquet und Matthias Affolter in einer klug durchdachten Abfolge zeigen, deutet an, dass Woker davon wohl nicht unberührt blieb. Die enormen Anstrengungen, die sie zeitlebens auf sich nehmen musste, um als Frau und Feministin ihren Platz in der Gesellschaft zu behaupten, forderten ihren Tribut, wie Briefe und Tagebucheinträge aus jener Zeit nahelegen. In Wokers Umfeld wurde immer wieder die Vermutung geSurprise 508/21
FOTOS: ZVG
Ende eines Lebenstraums Buch Cho Nam-Joo dokumentiert das Schicksal
einer jungen Frau in Südkorea, die an diskriminierenden Rollenmustern zerbricht.
CHRISTOPHER ZIMMER
FOTO: ZVG
äussert, sie leide an Verfolgungswahn. Aber da ihre Gegner sie nur allzu gerne wegen ihrer Forderungen als Geisteskranke diffamierten, sind diese Äusserungen mit Vorsicht zu geniessen. Tagebücher und Briefe legen nahe, dass sie seelisch unter dieser Situation gelitten haben muss. Inwiefern sie tatsächlich auch aus medizinischer Sicht krank war, ist nicht gesichert. Bis ins hohe Alter unternahm Woker Reisen ins Ausland und gab Vorträge, bevor sie mit neunzig Jahren starb. «Die Pazifistin» ging aus einer Videoinstallation zum Thema Gender-Stereotype von Fabian Chiquet hervor. Der Musiker und Videokünstler stammt aus einer Chemikerfamilie. Die Lebensgeschichte von Woker berührte ihn ganz persönlich: Dieser Film ist seiner verstorbenen Mutter gewidmet, die im gleichen Fachbereich wie Woker tätig war. «Zusammen mit meinem Co-Regisseur Matthias Affolter nahm der Film weiter Gestalt an und wir begaben uns mit Wokers drei Grossneffen und mit zwei Historikerinnen auf Spurensuche, um die Öffentlichkeit an diese aussergewöhnliche Wissenschaftlerin und ihre Errungenschaften zu erinnern.» Errungenschaften, die selbst innerhalb ihrer Familie kaum Beachtung fanden. Nach Woker wurden in Bern und in Düsseldorf Strassen benannt. Doch erst als sie erwachsene Männer waren, begannen ihre eigenen Grossneffen sich für das geistige Erbe ihrer Tante zu interessieren, die oft einfach als die verschrobene Tante Trudi belächelt wurde, die ihren Kaffee mit dem Bunsenbrenner erhitzt haben soll. Ihr aufrichtiges Bedauern, ihre nahe Verwandte nicht besser gekannt zu haben, verknüpft Wokers Lebensgeschichte filmisch mit der Gegenwart und verweist darauf, wie relevant ihre Anliegen nach wie vor sind.
«Kim Jiyoung, geboren 1982». So sachlich der Titel ihres Romans ist, so sachlich erzählt die südkoreanische Autorin Cho Nam-Joo die Geschichte ihrer Protagonistin. Kim Jiyoung, eine junge Mutter Anfang 30, schlüpft plötzlich in die Rollen ihr nahestehender Frauen. Aber sie spielt diese Frauen nicht, sie wird zu ihnen, bewegt sich und spricht wie diese, sagt Dinge, die sie nie gehört haben kann. Doch was wie ein Mystery-Thriller beginnt, erweist sich allzu bald als Krankheitsbild. Dieser Beginn schildert Ereignisse des Jahres 2015. Nach knapp zwölf Seiten springt die Autorin weit in der Zeit zurück und dokumentiert in chronologischen Abschnitten – 1982 bis 1994 (Kindheit), 1995 bis 2000 (Jugend), 2001 bis 2011 (Studium und Berufseinstieg), 2012 bis 2015 (Ehe und Mutterschaft) – das Drama einer jungen Frau in einer patriarchalischen Gesellschaft, in der Gleichberechtigung bis in die Neuzeit oft nur ein Lippenbekenntnis ist. Alle diese Lebensabschnitte sind von Formen der Diskriminierung geprägt. Die Bevorzugung des kleinen Bruders und von männlichen Mitschülern, Belästigungen im ÖV oder durch Lehrer und Unikollegen, Nachteile bei der Jobsuche, Lohnungleichheit und sexistische Sprüche am Arbeitsplatz. Trotz dieser Hindernisse versucht die scheue Kim Jiyoung ihre Träume zu verwirklichen und ein eigenständiges Leben aufzubauen. Es fehlt Jiyoung nicht an Unterstützung, von ihrer Mutter, die selbst auf ihren Lebenstraum verzichten musste, von Freund*innen und anfangs auch von ihrem Mann. Die Geburt der Tochter aber markiert für Jiyoung das berufliche Aus. Als sie auch noch als Schmarotzerin bezeichnet wird, die sich auf Kosten ihres Mannes ein lockeres Leben macht, zerbricht etwas in ihr. Als ihr Zustand bei einem Familienfest nicht mehr zu verbergen ist, kommt es zum Eklat, und ihr Mann schickt sie zum Psychiater. Dessen Bericht von 2016 schliesst den Roman. Zwar erkennt und anerkennt der Psychiater die wahren Gründe, auch weil seine Frau dasselbe Schicksal teilt. Am Schluss aber, als seine schwangere Angestellte kündigt, will er selbst doch auch lieber nur eine unverheiratete Frau einstellen. Mit dieser bitter-ironischen Wendung endet ein Lebensdrama, das in seiner Radikalität exemplarisch für eine Diskriminierung steht, die leider immer noch und nicht nur in Südkorea grassiert. Es mag Hoffnung machen, dass dieser Roman zu einem Welterfolg wurde.
Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982. Roman, Kiepenheuer & Witsch 2021. CHF 27.90
«Die Pazifistin», Regie: Fabian Chiquet und Matthias Affolter, Dok, CH 2021, 75 Min. Läuft zurzeit im Kino.
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BILD(1): MARIANNE HALTER, BILD(2): PAT NOSER, BILD(3): MARC BACHMANN BILD(4): ANDERS BOGAARD
Veranstaltungen
Aarau «my home is my castle – Das Private als Schutzraum?», Ausstellung, bis So, 9. Januar, Mi bis Sa, 12 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, So 11 bis 17 Uhr, Schlossplatz 4. forumschlossplatz.ch
Das eigene Zuhause ist der Schutzraum in unserer Gesellschaft. Indem wir Türen verschliessen und Zäune errichten, trennen wir das Innen vom Aussen. Im gleichen Zug machen wir in den sozialen Medien aber gerne gerade auch unsere innersten Gemächer öffentlich. Privatsphäre existiert eben nur so lange, wie wir sie verteidigen. Als Kooperation von Forum Schlossplatz und Kunstsammlung der Stadt Aarau verknüpft «my home is my castle» das Interieur als klassisches Motiv der Kunst mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen. (Auch wir von Surprise finden die Frage nach dem Zuhause immer spannend: Mit wenig Geld ein Daheim zu finden, das auch die Bezeichnung «Schutzraum» verdient, ist nicht ganz einfach – und als Obdachloser im öffentlichen Raum zuhause zu sein, schon gar nicht.) Das Veranstaltungsprogramm in Aarau lädt darüberhinaus zu Filmabenden, Stubenkonzert und Hausführungen ein. DIF
Baden «Pat Noser: Geplante Obsoleszenz – Gedanken zum überstürzten Weltuntergang» bis So, 24. Oktober, Mi bis Fr, 14 bis 17 Uhr, Sa/So 12 bis 17 Uhr, Sonderöffnungszeiten während Fantoche (8. bis 12. September): Mi bis Sa, 12 bis 22 Uhr, So 12 bis 19 Uhr, Kunstraum Baden, Haselstrasse 15. Eintritt frei. kunstraum.baden.ch
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Friedhöfe, zerstörte Landschaften, bedrohlich leere Häuserschluchten oder Fleisch, auf dem sich die Maden tummeln: Im Fokus der Malerei von Pat Noser stehen Zerfallsprozesse. Natürliche und dezidiert auch solche, die als geplanter Verschleiss den Konsum am Laufen und die Wirtschaft am Wachsen halten – mit drastischen Folgen für Mensch und Klima. Dem künstlich angeheizten Konsum tritt Pat Noser mit ihrer Kunst entgegen, als widerständige Geste. Ihr praller Realismus wird zur Machtkritik, die aber auch Hoffnung machen soll. Begleitend dazu hat der Künstler und Musiker Monsignore Dies, Pat Nosers Lebenspartner, eine kleine multimediale Installation eingerichtet. Und: Die Welt am Abgrund und die Frage, was dagegen zu tun wäre, treibt auch die Welt des Animationsfilms um. In Kooperation mit dem Festival Fantoche zeigt der Kunstraum Baden zwei Kurzfilme, die Nosers Setting auf irritierende Art ergänzen: «Vadim on a Walk» von Sasha Svirski und «Peripheria» von David Coquard-Dassault. DIF
St. Gallen «Death Passed My Way and Stuck This Flower in My Mouth», Ausstellung, Sa, 11. September bis So, 28. November, Di bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Sa/So 11 bis 17 Uhr, Kunst Halle Sankt Gallen, Davidstrasse 40. k9000.ch Der US-Filmemacher und Künstler Éric Baudelaire realisiert in St. Gallen eine raumgreifende Videoinstallation und weitere Arbeiten, bei denen die Blume als Ausgangspunkt im Moment globaler Krisen dient. Im Zentrum seines Mehrkanal-Films steht die grösste Kühlhalle Europas, in der jeden Morgen 46 Millionen Blumen aus Farmen in Afrika und Südamerika eingeflogen und versteigert werden. Hypnotisch ist die Arbeit, weil Blumen eine eigene Schönheit haben. Und beunruhigend, weil hier das ökologische Ausmass des globalisierten Handels offenbar wird. DIF
Zürich «Nah und Fern», Fotoausstellung (zu Gast: Guido Angeletti Kunstschmuck), Galerie16b, bis Fr, 17. September, Mi bis Sa, 17 bis 20 Uhr, Ausstellungsstrasse 16. marcbachmann.com, alfio.ch
Alfio Sacco und Marc Bachmann sind Perfektionisten. So macht sich Bachmann nicht nur seine Gedanken zu gesellschaftlicher Relevanz, sondern genauso zur Fototechnik (auch analog). Auch für Surprise hat Bachmann schon fotografiert. Und Alfio Sacco sagt, es komme vor, dass er frühmorgens losziehe, um Stunde für Stunde auf den Moment zu warten, bis die Sonne mache, was er sich als Licht vorgestellt habe. «Nah und Fern» heisst die gemeinsame Ausstellung: Fotografie als Frage des Blickwinkels. DIF
Basel «Latin Concerto», Sinfonieorchester Basel und Gabriela Montero, Sa, 25. September, 19.30 Uhr, Stadtcasino Basel, Steinenberg 14. culturescapes.ch
Gabriela Montero ist Artist in Residence am Sinfonieorchester Basel. Zusammen mit dem Sinfonieorchester führt sie nun im Rahmen von Culturescapes ihr Klavierkonzert Nr. 1 auf – noch vor der offiziellen Eröffnung des eigentlichen Kulturfestivals, das sich dieses Jahr dem Amazonas-Gebiet widmet. Montero war mit ihrem Konzert bereits an der Hamburger Elbphilharmonie und in der Carnegie Hall zu Gast. Unter der Leitung von Elim Chan verspricht das eine temperamentvolle Sache zu werden – ein Abend mit lateinamerikanischen Tanzrhythmen wie Samba, Tango oder Mambo. Weiter stehen auf dem Programm: «Three Latin American Dances für Orchester» von Gabriela Lena Frank, «Vier Tänze aus Estancia, op. 8a» von Alberto Ginastera und «Sinfonische Tänze aus West Side Story» von Leonard Bernstein. Das vollständige Festivalprogramm von Culturescapes 2021 Amazonas wird am Do, 16. September veröffentlicht. DIF
Tickets zu gewinnen! Wir verlosen 5x2 Tickets für das Konzert vom 25.9. im Stadtcasino Basel. Schicken Sie uns eine Postkarte oder eine E-Mail mit Ihrer Adresse, Telefonnummer und dem Betreff «Montero» an: Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel oder info@surprise.ngo. Einsendeschluss ist der 21. September 2021. Viel Glück! Der*die Gewinner*in wird ausgelost und persönlich benachrichtigt. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt. Ihre Adressdaten werden nicht an Dritte weitergegeben und ausschliesslich von Surprise für Marketingzwecke verwendet.
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tionierten Pendlerumschlagplätzen. Hier gibt es alles, was es braucht, doch wirkt es eher gewachsen als geplant. Das Kino befindet sich in einem Kulturzentrum mit Theater, Jugendberatung und Buchhandlung. Die Poststelle ist gleich nebenan. Drei Banken sind am Platz und gegenüber der mit den hohen Verlusten hängt ein Plakat: Weil wir keine Bank sind. Es geht um eine neue, wahrscheinlich disruptive Variante der Kleinkreditvergabe. Weiter vorne, in dem auffälligen Gebäude, das vom Zug aus zu bestaunen ist, befindet sich die Bibliothek, in der monatlich Lesungen stattfinden, dazu gehört ein Café mit Aussenplätzen unter Birken, die aufgrund des Regens aber leer bleiben. Obwohl es nur drei Geleise gibt, ist der Bahnhof belebt, und zwischendurch rattern ewig lange Güterzüge vorbei.
Tour de Suisse
Pörtner in Liestal Surprise-Standort: Bahnhof Einwohner*innen: 14 391 Anteil Ausländer*innen in Prozent: 27,6 Sozialhilfequote in Prozent: 4,1 «Chienbäse-Umzug»: Spektakel an Fasnacht, bei dem gebündelte Föhrenscheite entzündet und auf den Schultern durch die Altstadt getragen werden
An einem nasskalten Sommernachmittag trotzt eine junge Frau allen Widrigkeiten und lässt sich die Freude an einem Glace nicht nehmen. Glace gäbe es wohl auch im Kino, das sich direkt am Bahnhof befindet. Wenigstens dort sollten die Geschäfte laufen, herrscht doch ideales Kinowetter. Aber geht überhaupt noch jemand ins Kino bei all den Streaming-Angeboten, die zuhause warten? Die Bäckerei preist ein Zermatter Bergführerbrot an, was nicht so recht hierher passen will. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Roggenbrot, vielleicht um ein besonders hartes, mit dem die Bergführer zur Not Tritte in den Fels hauen. Eine Frau fragt im Geschäft nach einem vergessenen Surprise 508/21
Schirm, er wurde leider nicht gefunden. Vor dem Laden kann man auf einer Art Bretterbeige Platz nehmen und auf Busse warten oder, wie eine Gruppe Halbwüchsiger, erworbenes Zuckerzeug verzehren, um noch ein bisschen mehr überschüssige Energie zu generieren. Liestal scheint eine Boomtown zu sein, nicht weniger als zwölf Kräne sind zu sehen. Gut versorgt ist der Bahnhof mit Gaststätten, es gibt neben der Bäckerei ein Expressbuffet, davor ein Verpflegungs- und einen Kaffeeautomaten, daneben ein indisches Restaurant. Auch Kioske gibt es zwei, was für ein Unterschied zu den vielen inzwischen recht verödeten Provinzbahnhöfen oder den zu Shoppingzentren umfunk-
Etwas provokativ wirkt das Plakat der Bundesbahnen, das mit einer Frau in Taucherbrille für den Feriengeldwechsel wirbt. Es ist nicht das Jahr für die im letzten Jahr zwar nicht freiwillig angetretenen, aber lieb gewonnenen Ferien im eigenen Land. Von diesen nicht abhalten liess sich ein Paar auf Velotour, die wasserfeste Ausrüstung zahlt sich voll aus, trotzdem scheint sich die Begeisterung in Grenzen zu halten. Gut möglich, dass die nächste Etappe mit dem Zug zurückgelegt wird. Man glaubt schon das Lied «English summer lasted just one day» im Ohr zu haben, das so gut passen würde. Da es im Internet nicht zu finden ist, stellt sich die Frage, ob man es sich nur eingebildet hat. Die Erinnerung ist eine notorisch unzuverlässige Begleiterin. Den Bussen entsteigen Menschen, die Feierabend haben und sich eilig die Maske vom Gesicht ziehen. Drei ältere Jungs trinken sich die Lage schön, und für einen Moment hört es auf zu regnen.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D
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Eine von vielen Geschichten 01
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Beat Vogel, Fundraising-Datenbank, Zürich
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Omanut. Forum für jüdische Kunst & Kultur
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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich
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hervorragend.ch | Grusskartenshop
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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
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Irma Kohli, Sozialarbeiterin, Bern
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Anwaltskanzlei Fraefel, Zürich
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Maya-Recordings, Oberstammheim
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tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online
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Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich
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TopPharm Apotheke Paradeplatz
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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
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Echtzeit Verlag, Basel
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artune ag – Architektur und Kunst
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Nachhaltig programmiert, ZimaTech GmbH
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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
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AdaptIT GmbH, Rapperswil-Jona
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Brockenstube Au-Wädenswil
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Rentabus.ch
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CONTACT Arbeit, Bern / Biel / Thun
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Wir alle sind Surprise
#506: Wir alle sind Surprise
#500: Die Schuldenfalle
Dem Leserbrief «Kann nur wenig damit anfangen» möchte ich mich nicht anschliessen, aber eine Veränderung stelle auch ich fest. Surprise kaufe ich schon sehr lange und regelmässig. Es gab einen grundsätzlichen Stilwechsel in meinen Augen. Was ich früher sehr geschätzt habe, war der sachliche Journalismus, wo die blosse Information genügend Aussage hatte für eine eigene Meinungsbildung, und dies ohne Moralin, Gesinnung oder viel Ego. Vor allem gab es Inhalte und Themen zu lesen, die nirgendwo anders in einer Zeitung, einem Fachmagazin oder Kulturblatt standen. Darauf war ich immer sehr neugierig und diesen bewussten Stil vermisse ich schon. Surprise kaufe ich weiterhin wegen der Menschen, die zwischen Stuhl und Bank fallen.
«Erweitern und sensibilisieren» Ich lese die 500. Surprise-Ausgabe und danke Ihnen für die gut recherchierten und verständlichen Artikel über Verschuldung und Abzocke. Einiges war mir bereits bekannt aus meinen sozialen Engagements, es hat mir meinen Horizont aber nochmals um einige Bereiche erweitern und sensibilisieren können! Vielen herzlichen Dank für die Kontinuität, durch Surprise unseren lieben Mitmenschen in Not wieder eine Sinngebung, Wertschätzung und finanzielle Unterstützung zu ermöglichen – weiter so!!! E. PEYER, Regensdorf
#504: Literatur
«Mehr heitere Texte» Das Surprise ist ein tolles Heft. Ich kaufe es regelmässig und lese es immer gern. Aber die Auswahl der Texte im Heft Nr. 504 begeisterte mich ganz und gar nicht. Ich hätte mir insgesamt heiterere Texte gewünscht. Den Text von Anna Stern fand ich sogar todtraurig.
B. PORTMANN, Binningen
S. MEYER, ohne Ort
Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 61 564 90 90 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch
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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Nicolas Gabriel, Hanna Girard, Sophia Freydl, Dina Hungerbühler, Roland Schmid, Miriam Suter Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach
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FOTO: BODARA
Surprise-Porträt
«Ich finde es schön, Neues zu lernen» «Mein Name ist Tesfaalem Ghebremikael. Wie er vermuten lässt, stamme ich aus Eritrea. Meine Heimat ist aber definitiv die Schweiz. Hier lebe und arbeite ich schon seit dreizehn Jahren. Ich schätze die Schweiz für den korrekten Umgang mit Mensch und Gesetz. Für Leute aus Eritrea ist das nicht selbstverständlich. Dort war ich monatelang im Gefängnis, ohne Anklage oder Prozess. Eine kritische Bemerkung zum Militär und du wirst weggesperrt, wer weiss wie lange. Mein Vater musste viel bezahlen, damit ich wieder aus dem Gefängnis kam. Danach fühlte ich mich nicht mehr sicher in Eritrea. Viele Leute wurden immer wieder eingesperrt und nur gegen Kaution wieder freigelassen. Hier in der Schweiz habe ich mich von Anfang an wohl gefühlt, alles läuft geregelt ab. Ich habe glücklicherweise sehr schnell Anschluss sowie eine Stelle gefunden. In meiner ersten Asylunterkunft gab es ein gutes Netzwerk von Leuten, die Neuankömmlingen Arbeit vermittelten. So kam ich zu meinem ersten Job in einem Gartenbetrieb. Ein halbes Jahr habe ich Salat gepflückt, geputzt und vakuumiert. Dann kam der Schnee. Das war für mich eine ganz neue Erfahrung. Das kalte und nasse Wetter hat mir sehr zu schaffen gemacht, daher wollte ich auch nicht den ganzen Winter draussen arbeiten. Zum Glück lernte ich über meine Kirche einen Mann kennen, der mir eine Stelle in seinem Gastrobetrieb anbot. In Eritrea habe ich eine Zeit lang als Bäcker gearbeitet, daher gefiel mir diese Arbeit sehr gut. Früher backte ich traditionelles eritreisches Brot, heute Flammkuchen und Gipfeli. Mein Chef nahm sich viel Zeit, mir alles beizubringen. So konnte ich eine Art private Ausbildung absolvieren. Nach einem erfolgreichen Test hat er mir dann eine fixe Stelle angeboten, zuerst 60 Prozent, dann 80. Seit diesem Jahr arbeite ich 100 Prozent in seinem Unternehmen. Nebenbei verkaufe ich Surprise-Hefte. Ein Freund empfahl mir Surprise, als ich noch keine Ausbildung hatte und kaum Deutsch sprach. Heute schätze ich diese Arbeit nach wie vor, weil ich so in Kontakt mit unterschiedlichen Leuten komme. Dies hat mir bei meiner Integration und besonders beim Deutschlernen geholfen. Obwohl ich jetzt eine 100-ProzentStelle habe, verkaufe ich an meinen freien Tagen weiterhin Surprise-Hefte. So kann ich meine Tochter in Eritrea besser unterstützen. Es wäre schön, meine Tochter hier bei mir zu haben. Sie kam als Siebenjährige in die Schweiz, gleich als ich meine C-Bewilligung erhielt. Leider ging es ihr hier gar nicht gut. Sie fühlte sich alleine und hat ständig geweint. Der Stress des Umzuges löste viele Allergien und andere körperlichen Beschwerden aus. Ich habe mir Sorgen gemacht, dass sie krank wird vor Heimweh. 30
Tesfaalem Ghebremikael, 47, verkauft Surprise in Küsnacht und beim Klusplatz in Zürich und kocht liebend gern für seine Freunde traditionelle eritreische Gerichte.
Darum haben wir sie wieder zurück nach Eritrea zur Familie geschickt. Dort hat sie viele Cousins und Cousinen, die für sie wie Geschwister sind. Jetzt ist meine Tochter leider zu alt für den Familiennachzug. Ich würde sie gerne wiedersehen, aber bei einem Besuch riskiere ich, dass ich wieder ins Gefängnis muss. Inzwischen sind die Leute aus meiner Kirche zu meiner Familie geworden. Dort hat es Menschen aus aller Welt, viele mit arabischen oder asiatischen Wurzeln. Oft essen wir am Sonntag zusammen und alle bringen eine Speise aus ihrem Heimatland mit. Dann tauschen wir Rezepte aus. Das gefällt mir sehr, denn ich finde es schön, Neues zu lernen. Ich arbeite sehr viel, aber der Sonntag ist mein freier Tag. Wenn wir nicht in der Kirche gemeinsam essen, lade ich meine Freunde zu mir nachhause ein. Am liebsten koche ich Injera. Das ist ein traditionelles eritreisches Gericht und besteht aus einem grossen, runden, flachen Sauerteig-Brot, belegt mit verschiedenen scharfen Gemüse- und Fleischbeilagen. Gegessen wird es von Hand von einer grossen gemeinsamen Platte. Leider ist das im Moment nicht so Corona-konform. Zum Glück weiss ich nun auch, wie man gute Gipfeli und Flammkuchen bäckt. So kann ich meine Freude auch weiterhin mit Köstlichkeiten bewirten.» Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER
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