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Sozialgeschichte
Das Selbstbewusstsein der Arbeiterschicht: Anfang des 20. Jahrhunderts stellte sie den gesell- schaftlichen Normen eigene Werte ent- gegen. Baustelle in Zürich, 1943.
In Zürich bildete die Sihl eine Grenze zwischen Bankenviertel und dem, was als wenig repräsentabel galt: Arbeiterwohnungen in Aussersihl.
Armut war in den Städten ein Massenphänomen: Abgabe verbilligter Kartoffeln, Zürich, ca. 1916.
Die Armut der Städte
Sozialgeschichte In den Städten kulminieren die sozialen Probleme einer immer ungleicher werdenden Gesellschaft. Dabei möchten viele Integration und Zusammenhalt fördern.
TEXT ULRICH MATTHIAS
Immer schon lagen in den Städten Glanz und Elend dicht beieinander. Die Städte stellen sowohl die Bühne für die Erfolgreichen als auch das letzte Netz für die Gestrauchelten dar. Das ist ein konfliktträchtiges Arrangement, und doch gewinnen Städte ihre zivilisatorische Kraft gerade als Begegnungsort unterschiedlicher Kulturen, Ideen und Interessen. Städte verbinden, aber sie können auch trennen, wie der Blick in die USA und in Entwicklungsländer zeigt: verödete Citys und die Gated Communities der Reichen an den einen, Slumsiedlungen an anderen Orten.
In Europa hat der Staat früh eingegriffen und vergleichbare Pathologien bis jetzt verhindert. Doch wenn der Wohnungsbau weiter dem Markt überlassen bleibe, warnte der 2011 verstorbene deutsche Stadtsoziologe Hartmut Häussermann («An den Rändern der Städte»), werde sich die zunehmende Ungleichheit auch hier deutlicher in den sozialräumlichen Strukturen niederschlagen.
Es ist der Anspruch von Stadtpolitik in Mitteleuropa, dergleichen zu verhindern. Allerdings erscheint es fraglich, ob die Städte überhaupt in der Lage sind, diesen Problemen wirksam zu begegnen. Das hat auch mit einem sich wandelnden Blick auf die Armut zu tun.
Schauen wir kurz zurück: Im Mittelalter gehörten Arme und Bettler*innen zur Stadt. Das änderte sich ab dem 14. Jahrhundert, verstärkt infolge der Reformation. Nun setzte sich die Unterscheidung zwischen Würdigen (unverschuldet in Not geratenen) Armen und Unwürdigen (die ihre Not angeblich nur vortäuschten) durch. Arme gerieten unter Generalverdacht und wurden den Bürger*innen lästig. Fortan wurden sie an den Rand gedrängt oder gleich ganz der Stadt verwiesen.
Die entstehenden Nationalstaaten suchten einen neuen Umgang mit der Armut. Notgedrungen: Im Zuge der Industrialisierung zogen massenhaft verarmte Landbewohner*innen in die Städte und brauchten ein Dach über dem Kopf. Den Bau der Unterkünfte überliess man zunächst allein dem Markt. Der funktionierte etwa im englischen Manchester des Frühkapitalismus durchaus, wie der amerikanische Architekturkritiker Lewis Mumford in seinen Schriften des vergangenen Jahrhunderts bemerkte: Für jeden Geldbeutel habe es eine Unterkunft und auch Profit für den Vermieter gegeben. Das Ergebnis sei allerdings oft genug ein Slum gewesen.
Als «Asoziale» gebrandmarkt
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts konnte in England, aber auch in Mitteleuropa das ärgste Elend beseitigt werden, es wurden Mindeststandards für Unterkünfte gesetzt. Die neuen Richtlinien hatten jedoch eine unerwünschte Begleiterscheinung: die Wohnungsnot. Der Markt allein konnte nun keine gewinnbringenden Wohnungen für die Ärmsten mehr bereithalten, hier musste der Staat einspringen. Und das tat er lange Zeit mehr schlecht als recht. Den Armen war die Stadt inzwischen jedoch zum existenziellen Bezugspunkt geworden. «Für die Unterschicht», schrieb der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman, «beginnt der Kampf um das Überleben und einen angemessenen Platz in der Welt innerhalb der Stadt, in der sie wohnen, dort wird er geführt, gewonnen oder verloren.»
Mit der Popularisierung von sozialdarwinistischen Ideen im 19. Jahrhundert änderte sich der Blick auf all jene, die sich nicht in ein homogenes Staatsvolk einfügen wollten, konnten oder durften. Ihr Anderssein wurde jetzt biologisch verstanden, die Ärmsten als erblich bedingte «Asoziale» gebrandmarkt und für unheilbar minderwertig erklärt. Während der Weimarer Republik wuchs auch die Sorge um die sogenannte «Volksgesundheit», da die jungen, starken Männer zu Millionen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs verheizt worden waren und ihre vermeintlich guten Gene nicht mehr in den imaginierten «Volkskörper» einspeisen konnten. Im Gegensatz zu den Armen und Schwachen. Auch deshalb war der Staat bestrebt, die «Asozialen» in speziellen Häusern oder Lagern von der übrigen Stadtgesellschaft zu separieren. Unter den Nationalsozialisten wurden sie dann zu Tausenden in Konzentrationslager eingeliefert, zwangssterilisiert oder ermordet.
Die Sicht auf Armut und die Armen änderte sich nach dem Krieg nur langsam, schliesslich sassen in den Amtsstuben noch die alten Bürokrat*innen, die schon die Direktiven des NS-Staates willfährig ausgeführt hatten. So brauchte die neue Demokratie, die in ihrem Grundgesetz die Menschenwürde an die erste Stelle gesetzt hatte, mehr als dreissig Jahre, um die letzten Obdachlosenlager zu schliessen. Erst nach 1968 setzte sich überhaupt die Einsicht durch, dass Obdachlosigkeit kein genetisches, sondern ein soziales Problem ist.
Der Zusammenhalt der Nachbarschaft
Nach dem Krieg stand in Europa der Wiederaufbau ganz oben auf der Agenda, vielerorts betrachtete man die Zerstörungen aber auch als Chance für die Stadterneuerung. Und dabei gingen die Planer oft wenig zimperlich mit der Geschichte um. Nicht selten wurde mehr zerstört als nur alte Bausubstanz. Von aussen betrachtet waren viele Viertel vielleicht benachteiligte Gegenden, von innen boten sie jedoch oft den Zusammenhalt einer gewachsenen Nachbarschaft. Das war nicht wenig: «Ohne eine emotionale Nachbarschaft kann keine reife Menschlichkeit entstehen», bemerkte der deutsche Schriftsteller und Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich («Die Unwirtlichkeit unserer Städte», 1965). Besonders die «kleinen Leute» waren mit ihrem Quartier verbunden, hier gingen sie in die Geschichte des Viertels ein, fanden Trost und Hilfe, erhielten Anerkennung. Dabei zählte die Strasse zu den wichtigsten Kommunikationsorten, gerade für jene Bevölkerungsgruppen, die auf spontane Kontakte angewiesen waren. Das galt nicht zuletzt auch für Heranwachsende, die hier Teilnahme am Erwachsenenleben lernten. Aber auch die Kneipen, Kioske und Tante-Emma-Läden waren funktionierende Orte nachbarschaftlicher Kommunikation.
Damit war es in den Sanierungs- und Neubauvierteln vorbei. «Die Zerstörung alter Stadtstrukturen im Zuge der grossen Sanierungen der 60er und 70er Jahre brachte nicht nur architektonisch ‹die zweite Zerstörung unserer Städte›. Sie bedeutet für viele Menschen auch die Zerstörung ihrer identitätsverbürgenden Sozialstrukturen, mithin die Zerstörung von Nachbarschaft und Heimat im umfassendsten Sinn. Sanierung, zu deutsch Heilung, bringt also für viele Bürger die empfindlichste Vertreibung, nämlich die Vertreibung aus der eigenen Lebensgeschichte mit sich», bilanzierte H.E. Bahr in den Siebzigerjahren.
In den neuen Vierteln kamen die fordistischen Konzepte einer funktionellen Trennung von Wohnen und Arbeiten zum Tragen. Die Ausrichtung der Städte auf den Autoverkehr nahm den Einwohner*innen die Strasse als Kommunikations- und Verweilort. Anstelle von Tante-Emma-Läden entstanden Supermärkte, umgeben von reinen Schlafburgen. Auf diese Weise wurden in vielen Städten die Problemviertel von heute geschaffen.
Dies, obwohl das klar formulierte Sanierungsziel nach dem Krieg soziale Absicherung und Chancengleichheit waren. Tatsächlich konnte die Armut in jener Zeit auch spürbar reduziert werden. Ab den Achtzigerjahren änderte sich mit der neoliberalen Wende auch der Blick auf die Armen wieder. Jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, hiess der neue Leitspruch, die soziale Ungleichheit nahm wieder zu.
Stadtentwicklung wurde nun zunehmend als Standortsicherung betrachtet. Als die Berliner Mauer und die Grenzen der Globalisierung fielen, erklärte der US-amerikanische Ökonom Richard Florida die kreativen Wissensarbeiter*innen zu zentralen Standortfaktoren von Global Cities. Die Städte begannen sich hübsch zu machen und auf Kultur zu setzen, um diese begehrte Klientel anzulocken. Es setzte eine Festivalisierung der Stadtpolitik ein, die mit Events Investor*innen anzulocken hoffte. Doch die «Ästhetisierung der Stadt schafft das Elend nicht ab, sondern nur beiseite», stellten schon Häussermann und sein Ko-Autor Walter Siebel fest. Beiseite, das heisst: an den Rand der Städte.
Wobei es nun einen wesentlichen Unterschied zu den alten Arbeitervierteln vom Beginn des 20. Jahrhunderts gibt. Damals antworteten die Bewohner*innen auf die gesellschaftliche Ausgrenzung oft mit eigenen Einschliessungsprozessen, die die lokale Zugehörigkeit stärkten. Beflügelt vor allem von der marxistischen Theorie und getragen von den Arbeiterorganisationen wurde ein Selbstbewusstsein gefördert, das den herrschenden gesellschaftlichen Vorstellungen eigene subkulturelle Normen und Werte entgegensetzen konnte.
Die sozialen Milieus existieren nicht mehr
Diese Art von Gemeinschaft ist in einer individualisierten, leistungsorientierten Gesellschaft und in gentrifizierten, regulierten Vierteln ohne gestaltbaren Freiraum meist zerfallen. Armutsbetroffene laufen Gefahr, am Rand von Stadt und Gesellschaft zu vereinzeln. Organisationen und viele europäische Städte bemühen sich mit urbanen Beteiligungsprozessen, den Stadtraum wieder stärker zu einem sozialen Raum zu machen. Doch gerade die von
Singen, Turnen, Marschieren: In Arbeiterquartieren bekamen Aktivitäten schnell einen politischen Rahmen. Hohlstrasse, Zürich.
Armut Betroffenen sind mit den Angeboten oft schwer zu erreichen. Die Gemeinschaften der alten Viertel lassen sich in der alten Form nicht wiederherstellen, schon weil ihre sozialen Milieus so nicht mehr existieren.
Funktionierende Nachbarschaften lassen sich nicht nach Plan produzieren. Aber man könnte die Bedingungen verbessern, die ihre Entstehung erleichtern. Das fängt natürlich mit ausreichend preiswerten Wohnungen an. Andernfalls braucht man auch über sozialen Zusammenhalt gar nicht erst zu reden. Eine soziale Stadt kann nur eine sein, die von ihren Bewohner*innen in Besitz genommen wird. Nichts könnte die Quartiere effektiver vitalisieren, als den Bewohner*innen den Strassenraum zurückzugeben. Einen autofreien Raum, in dem nicht nur weniger Schadstoffe produziert werden würden, sondern auf ehemaligen Parkplätzen auch Bäume wachsen könnten. Eine soziale Stadt könnte so auch eine klimagerechtere Stadt sein.
Der Text wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Asphalt / INSP.ngo
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