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Ein Stück Identität
Die Arbeiterviertel sind inzwischen Geschichte. Aber wo Quartiere aufgewertet wurden, gingen immer auch Kulturen des Zusammenlebens zugrunde.
TEXT DIANA FREI
Der britisch-irische Regisseur Kenneth Branagh hat dieses Jahr mit «Belfast» einen Film über seine nordirische Heimatstadt im Jahr 1969 ins Kino gebracht. Er erzählt von einer ganz bestimmten Strasse und ihrer Nachbarschaft (und im Kern vom Nordirlandkonflikt natürlich). Diese Strasse, in der das kindliche Alter Ego des Regisseurs heranwächst, ist eine familiäre Gemeinschaft. Und obwohl der Vater gute Gründe dafür hat, nach England auswandern zu wollen – vor Ort werden die Strassenschlachten lebensbedrohlich, und England böte ihm einen guten Job, ein sicheres Umfeld –, seine Frau will bleiben. Die Auswanderung nach England würde bedeuten, die lokal gewachsene Gemeinschaft aufzugeben. Im Belfaster Arbeiterviertel wohnen die Freunde nebenan und die Grosseltern um die Ecke. Diesen alltäglichen Austausch können die Versprechen auf Sicherheit und Wohlstand für die Mutter nicht aufwiegen; dafür nimmt sie selbst die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Kauf. «Belfast» zeigt, wie stark ein Ort den Menschen ausmacht. Ihn zu verlassen würde bedeuten, ein Stück Identität aufzugeben.
Wie Ulrich Matthias im vorangegangenen Text schreibt, hing gerade in Arbeitervierteln die eigene Identität oft stark an der Tatsache, dass man sich als Bevölkerungsgruppe gesellschaftlich an den Rand gedrängt sah. Die Bewohner*innen stellten den Ausschlusstendenzen etwas Eigenes, etwas Kämpferisches entgegen, das die Gemeinschaft einte. Das lässt sich auch für die Schweiz zeigen, etwa am Beispiel von Zürich Aussersihl. Ähnliches gilt aber auch für andere Quartiere in Schweizer Städten wie die Lorraine und die Länggasse in Bern, das Kleinbasel, Le Flon in Lausanne, Les Grottes in Genf.
Kommunistisch oder katholisch turnen
Die ehemals selbständige Gemeinde Aussersihl gehört seit 1893 zur Stadt Zürich, und von Anfang an bildete die Sihl gleichwohl eine Art Grenze zwischen der einen Seite mit Bankenviertel und Bahnhofstrasse und der anderen, wohin zuerst alles Unangenehme verbannt wurde und mit der Zeit ein Arbeiterviertel entstand. Im 12. Jahrhundert wurden Aussätzige im Siechenhaus St. Jakob an der Sihl ausgesetzt, später befand sich unweit davon der Hinrich-
tungsplatz sowie die Grube für die Leichen der Gehängten oder die Tierkadaver. Als die Fabriken dazukamen, wurde Aussersihl zu einem Zentrum der Arbeiterbewegung. Vieles hatte einen politischen Rahmen, auch die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Engagements: «Genauso wie zwischen 1920 und 1950 in Aussersihl sozialdemokratisch, kommunistisch oder katholisch geturnt wurde, kann man auch rot und schwarz, politisch oder fromm Theater spielen oder singen, im Arbeitermännerchor oder im Kirchenchor», schreibt Autor Hannes Lindenmeyer in seinem kürzlich erschienenen Buch «Aussersihl bewegt». Man identifizierte sich mit einer GemeinArmut hat heute schaft, die vor Ort verankert war. Die Arbeiterquartiere in ihrer ureher mit stiller sprünglichen Form sind unterdessen allerdings Geschichte. Prekäre LebensverScham als mit hältnisse haben heute nur mehr wenig Verbindendes. Der Aussersihler Mänkämpferischem nerchor ist genauso verschwunden wie die nachbarschaftlich-politischen Treffen Zusammenhalt in der Quartierbeiz. Der Wohnort allein stellt keine Gemeinschaft mehr her, Arzu tun. mut hat heute eher mit stiller Scham als mit kämpferischem Zusammenhalt zu tun. Das hängt auch damit zusammen, dass Städte heute vor allem von der Verwertungslogik bestimmt werden und nur mehr wenig unreglementierten Freiraum bieten, der lokale Identitäten ermöglichen würde. Partizipationsprojekte und Vereine versuchen deshalb heute vielerorts in Europa, die Stadt neu zu denken und ein Bewusstsein für den Gedanken einer sozialen Stadt zu schaffen. Die Strasse, in der man sich aufgehoben fühlt wie der neunjährige Kenneth Branagh in Belfast, liesse sich aber auch städtebaulich fördern. Der Soziologe Richard Sennett beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den sozialen Auswirkungen von Stadtstrukturen und hält fest, dass öffentlicher Raum dort entstehen kann, wo Begegnungen möglich sind. Er plädiert dabei für eine sogenannte «offene Stadt», die Vielfalt, Unordnung und Veränderung nicht nur zulässt, sondern die Voraussetzungen dafür schafft. Eine Stadt voller Widersprüche, in der nicht jeder Quadratzentimeter reglementiert ist und der öffentliche Raum nicht vom Geld bestimmt wird – also nicht vom Konsum und dem Renditedenken von Investoren. Sondern vom sozialen Austausch und der Möglichkeit, sich sein Quartier selbst anzueignen.