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Bargeld
«Ohne Bargeld kann ich nicht leben»
Geld Während der Corona-Pandemie haben auch die Diskussionen über die Abschaffung von Münzen und Scheinen zugenommen. Vor allem für ärmere Bevölkerungsgruppen kann eine bargeldlose Gesellschaft problematisch sein.
TEXT VALERIE ZASLAWSKI ILLUSTRATION NIELS BLÄSI
«Bleiben Sie zuhause», lautete die Aufforderung von Gesundheitsminister Alain Berset während der ersten Corona-Welle. Und im Radio wurde die Durchsage verbreitet, möglichst kein Bargeld zu benutzen, um sogenannte Schmierinfektionen zu verhindern. Tonja, die im echten Leben anders heisst, aus Sicherheitsgründen ihren Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte, machte sich von Beginn weg Sorgen – weniger um sich als um die anderen: «Ich habe nur Bargeld, hoffentlich infiziert sich wegen mir niemand.» Die 30-jährige Thailänderin ist eine sogenannte Sans-Papiers, seit acht Jahren lebt sie ohne Aufenthaltsstatus in Basel. Auch heute noch beschäftigt sie die Tatsache, keine Kredit- und auch keine Debitkarte zu besitzen. Denn nicht nur die Infektionszahlen, sondern auch die Diskussionen über die Abschaffung von Münzen und Scheinen haben in den letzten zwei Jahren zugenommen. Tonja hat Angst, denn: «Ohne Bargeld kann ich nicht leben.»
Innerhalb kürzester Zeit wurde während der Pandemie ein Gedankenexperiment Realität: Kaum hatte man sich versehen, wurde Bargeld vielerorts durch kontaktlose Zahlungsmittel ersetzt. Aus hygienischen Gründen können Kund*innen seither sogar in der kleinsten Dorfbäckerei ihre Brötchen mit Karte bezahlen. Und alle merkten: Es klappt bestens. Die deutsche Tageszeitung Die Welt titelte bereits im April 2020: «Das Bargeld verschwindet.» Das Virus ist damit zum Treiber einer Entwicklung geworden, die vor der Pandemie eher schleppend voranging. Eine repräsentative Umfrage der deutschen ING-Bank unter Verbraucher*innen in dreizehn europäischen Ländern bestätigt diesen Trend: Im Jahr 2020 hat die Präferenz für Scheine und Münzen im Portemonnaie in einem Masse abgenommen, wie es ansonsten gut eine Generation gedauert hätte. Auch die jüngste Zahlungsmittelumfrage der Schweizer Nationalbank (SNB, 2020) zeigt, dass das Bargeld im Vergleich zu 2017 deutlich abgenommen hat. Allerdings bleibt es weiterhin das von der Schweizer Bevölkerung am häufigsten eingesetzte Zahlungsmittel.
Wer bar bezahlt, fällt auf
Wenn Tonja sich mit Freund*innen im Café trifft, hat sie dennoch den Eindruck, nur ältere Menschen und sie selbst legten heute noch Bargeld auf den Tisch – ob dies den anderen wohl auch auffalle, fragt sie sich. Schliesslich könnte dadurch der Verdacht aufkommen, dass sie sich illegal in der Schweiz aufhalte. Sie wohnt im Büro eines Freundes und bezahlt ihm dafür 500 Franken im Monat – bar, natürlich. Bargeld ist für Tonja auch ein zentraler Bestandteil ihrer Arbeit. Zwei bis drei Stunden putzt sie täglich in privaten Haushalten. Nicht alle ihre Arbeitgeber*innen wissen über ihre Situation Bescheid. So wundern sich manche, dass sie kein Twint besitzt, das verbreitete schweizerische Zahlungssystem für bargeldloses Zahlen, für das man aber ein Bankkonto braucht. Für ein solches wiederum wird eine offizielle Meldeadresse benötigt – damit kann Tonja als Sans-Papiers nicht dienen.
Papierlose sind aufgrund ihres fehlenden Aufenthaltsstatus also signifikant benachteiligt. Denn in der Schweiz (offiziell) wohnhafte Personen haben ein Anrecht auf eine sogenannte Grundversorgung im Zahlungsverkehr, welche die PostFinance sicherstellen muss – und die meisten nutzen dieses Recht auch. Wie viele Menschen hierzulande kein Konto besitzen, können weder das Eidgenössische Finanzamt noch die Bankiersvereinigung und auch nicht das Bundesamt für Statistik (BFS) beziffern. Ein bestimmter Betrag ist für die Eröffnung eines Kontos nicht nötig.
Freunde könnten Tonja bei diesem Problem nicht helfen, beispielsweise indem sie ihr das eigene Konto zur Verfügung stellen, denn der Zahlungsverkehr wird hierzulande streng kontrolliert. Nicht zuletzt, um kriminelle
Transaktionen oder Steuerhinterziehungen zu unterbinden. Zumindest wird die Eindämmung von Schwarzgeld und organisierter Kriminalität oft als Hauptargument angeführt, wenn es darum geht, Bargeld abzuschaffen. Geldwäsche-, Drogen- oder Schutzgeldgeschäfte: Sie alle werden meist bar abgehandelt, heisst es. In Deutschland beträgt die Obergrenze für Bargeldtransaktionen seit 2020 nur noch 2000 Euro. Dies begründet die Bundesregierung mit dem Kampf gegen Kriminelle. Bis zu 100 Millionen Euro Schwarzgeld würden in Deutschland jährlich gewaschen, hiess es im Gutachten, das zur Herabsetzung der Limite von vorher 10 000 auf 2000 Euro führte. Deutschland galt bisher als Paradies für Bargeldgeschäfte, die neue Obergrenze folgt einer EU-Richtlinie von 2018. Auch in der Schweiz haben sich die Richtlinien verschärft. Zwar darf einzig die PostFinance immer noch Bargeldsummen von bis zu 100 000 Franken annehmen, aber nur bei Einzahlungen aufs eigene Konto. Generell sind Bareinzahlungen auf fremde Konten bei 15 000 Franken gedeckelt, solche ins Ausland sogar weit drunter.
Um die Vorstellung einer bargeldlosen Gesellschaft als bedrohlich zu empfinden, muss man jedoch kein Sans-Papiers sein. Auch viele ältere Menschen fühlen sich auf Bargeld angewiesen. Nicht zuletzt, weil die Handhabe von Smartphones oder bestimmten Apps wie Twint für digital unerfahrene Menschen nicht immer einfach ist. Wie die Zahlungsmittelumfrage der SNB zeigt, tragen die über 55-Jährigen den grössten Bestand an Bargeld mit sich herum, viele haben einen haptischen Bezug zu Scheinen und Münzen. Vorzugshalber heben ältere Menschen ihr Geld am Bankomaten ab, um es danach auch bar auszugeben. Ob dies vor Verschuldung schützt, weil es einem eine bessere Übersicht ermöglicht, ist wissenschaftlich umstritten: «Es gibt keine harte Evidenz», sagt Martin Brown, Professor für Bankwirtschaft an der Universität St. Gallen. Klar ist lediglich, dass Kreditkarten gefährlich sein können, weil der Anbieter Geld vorschiesst. Insbesondere ärmere Menschen können dadurch das Gefühl dafür verlieren, was sie sich leisten können – und was nicht.
Kredite führen oft zu Schulden
Laut dem Verein zur Führung einer Zentralstelle für Kreditinformationen liefen Ende 2021 rund 310 000 Barkredite und 680 000 Leasings. «Eine enorme Zahl, welche Kreditkarten nicht einmal berücksichtigt, die grösstenteils auch als Konsumkredite verstanden werden», sagt die Rechtsanwältin Rausan Noori, die auf Konsumkreditrecht spezialisiert ist. All diese Personen sind verschuldet – Kredite sind Schulden. Wie viele Personen davon «überschuldet» sind, wird statistisch nicht direkt ausgewiesen, was die 39-Jährige kritisiert. Laut dem Bundesamt für
Statistik leben immerhin fünf Prozent der Bevölkerung in einem Haushalt mit mindestens einem Zahlungsrückstand bei Kreditrückzahlungen oder Kreditkartenrechnungen. Die Erfahrung von Noori zeigt zudem, dass fast jede Person, die mit einem Konsumkredit zu ihr kommt, überschuldet ist. Sprich: ihre monatliche Rechnungen nicht mehr bewältigen kann. Eine sogenannte Privatinsolvenz sieht die Schweizer Gesetzgebung bisher nicht vor (siehe Surprise-Schuldenserie unter surprise.ngo/ schulden). Geringverdiener*innen können ebenfalls auf Bargeld angewiesen sein – und möglicherweise wird nicht jedes Trinkgeld bar auf die Hand akribisch genau mit den Steuerbehörden oder der Sozialhilfe abgerechnet. Auch Schwarzarbeit wird bar vergolten und wird nicht selten von Menschen in prekären Finanzlagen verrichtet, die auf den Zuverdienst angewiesen sind. Der emeritierte Basler Soziologe Ueli Mäder sieht Schwarzarbeit denn auch teilweise als Folge des Systems. «Armut ist «Auch mit bargeld- losen Zalungsmitteln in erster Linie ein strukturelles Problem, die Löhne sind ganz einfach zu tief. Viele Menschen können ihre Existenz damit heute nicht mehr sichern.» Dies habe zur Folge, dass kann man Wege finden, informelles Armutsbetroffene in der Sozialhilfe landeten, wo sie lediglich in beschränktem Ausmass dazuverdienen dürfen. Manche arbeiteten dann eben noch schwarz. Mäder Einkommen zu verwalten.» plädiert dafür, nicht nur den Freibetrag zu erhöhen, sondern die Beiträge der Sozialhilfe insgesamt. «Die Erhöhung der Sozialhilfe lohnt sich für eine Gesellschaft auch materiell, sie stärkt aber vor allem soMARTIN BROWN zial Benachteiligten den Rücken.» Nun können wir ja noch fast alles bar auf die Hand zahlen. Der Professor für Bankwirtschaft Martin Brown glaubt denn auch nicht an eine baldige Abschaffung des Bargelds in der Schweiz: «Die bargeldlose Gesellschaft ist zwar realistischer geworden, Bargeld ist aber immer noch sehr verbreitet.» Die Schweizerische Nationalbank hat den gesetzlichen Auftrag, die Bargeldversorgung sicherzustellen. Und während die Europäische Zentralbank sich am Beispiel Schweden überlegt, ebenfalls elektronisches Geld einzuführen (siehe Zweittext S. 19), sei dies für die SNB momentan kein Thema, so Brown. Persönlich ist er der Meinung, bargeldloses Zahlen sei effizienter: Es bedeute weniger Wege für die Konsument*innen und auch weniger Kosten für Banken und den Einzelhandel, denn der Umgang mit Bargeld sei umständlich. G leichzeitig ist der Ökonom überzeugt: «Auch mit bargeldlosen Zahlungsmitteln kann man Wege finden, informelles Einkommen zu verwalten, nur sind diese aufwendiger.» So könnte man bei Kleinbeträgen im einfachsten Fall mit einer Prepaid-Karte bezahlen oder aber Gutscheine verlangen. Erst einmal aber gilt noch auf absehbare Zeit: Bares ist Wahres.