Solidaritätsgeste
CAFÉ SURPRISE
Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl
EntwicklungsmöglichkeitenUnterstützung
BEGLEITUNG UND BERATUNG STRASSENFUSSBALL
SURPRISE WIRKT
STRASSENCHOR STRASSENMAGAZIN
ExpertenrolleJob
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
Erlebnis Perspektivenwechsel
BETEILIGTE CAFÉS
Paulus
IN
Kairo
Lorraineladen
Bohnenrad
MondiaL
Brasserie
Rösterei
Specht
Tscharni
Dreigänger
Azzurro
Äss-Bar Inizio
Treffpunkt Perron
Kulturbeiz
Schöne Verunsicherung
Es ist zurzeit viel von «Cancel Culture» die Rede, und die Debatte lief den ganzen Sommer lang relativ heiss.
Als zweiwöchentlich erscheinendes Strassenmagazin können wir gar nicht zu allem immer sofort eine Meinung raushauen. Und ich bin froh darum, denn wir wollen es auch nicht. Unser Reporter Andres Eberhard hat nun also zwei Schritte Abstand genommen und sich mit etwas Ruhe gefragt, worum es bei der Debatte um die sogenannte Cancel Culture eigentlich geht. Aber lesen Sie selbst, ab Seite 8.
Was mich dabei beschäftigt, ist die heftige Dynamik, die Diskriminierungs und Genderfragen oder eben solche kultureller Aneignung auslösen. Manchmal kommen mir dabei die Abstimmungsplakate in den Sinn, mit denen bis in die 1970er-Jahre das Frauenstimmrecht bekämpft wurde. In der Rückschau lässt sich die Absurdität von Argumenten und Sichtweisen erkennen, die den dazugehörigen Machtverhältnissen entsprangen. Es wurde davor gewarnt, dass das häusliche Abendessen zur betrüblichen
Kampfzone würde, sollte auch die Frau sich für Politik interessieren. Lange Selbstverständliches wurde in seinen Grundfesten erschüttert.
Nun wird im Moment auch vieles hinterfragt. Rastazöpfe von Weissen zum Beispiel. Oder die binäre Geschlechterordnung. Es tun sich dabei Fragen auf, die verunsichern. Diese Art der Verunsicherung mag ich, weil sie zu Perspektivenwechseln einlädt.
Manchmal sogar mit Resultaten, die ein paar Jahrzehnte später zu neuen Selbstverständlichkeiten werden. Wenn niemand je etwas hinterfragt hätte, hätte ich vermutlich auch diese Zeilen hier nie geschrieben, sondern würde stattdessen gerade meinem Mann die Pantoffeln zurechtrücken.
DIANA FREI RedaktorinAuf g elesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Ausbeutung von Schutzsuchenden
Andalusien, die südlichste der 19 spanischen Regionen, hat die höchste Hektaranzahl an ökologischer Agrarfläche in ganz Europa. Die Arbeit in diesem Sektor ist schwer und schlecht bezahlt. Kaum jemand in der spanischen Bevölkerung möchte dort arbeiten, insbesondere die jüngere Generation nicht. Gleichzeitig kommen aufgrund seiner geografischen Lage viele Flüchtende nach Spanien. 58 540 Asylanträge wurden dort nach Angaben der UNHCR von Januar bis Ende November 2021 gestellt. Nur 10 Prozent wurden anerkannt. Wer kein Asyl bekommt, müsste binnen 20 Tagen das Land verlassen. Doch weniger als 40 Prozent der Ausweisungsanordnungen werden tatsächlich durchgeführt. Legal arbeiten dürfen die Sans-Papiers nicht. Da sie trotzdem überleben müssen, können sie «ideal» in der Landwirtschaft eingesetzt und ausgenutzt werden. Clinton ist einer von ihnen. Seine Arbeitsausrüstung musste er selbst kaufen, bezahlt wird er nicht pro Stunde, sondern pro vollbeladener «camioneta» (Pick-up). Sind alle 32 Kisten auf dem Transporter voll, gibt es 40 Euro Lohn. «Es ist hart, aber möglich», sagt Clinton.
Mehr Autos
China exportiert mehr Autos. In der ersten Hälfte von 2022 hat das Land 47 Prozent mehr Autos ausgeführt als in derselben Periode im Jahr zuvor. Dies hängt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch mit gelockerten Covid-Restriktionen zusammen, doch die Autoindustrie steigert offenbar auch ihre Pro duktivität. 2021 exportierte China erstmals über 2 Millionen Autos, und für dieses Jahr wird erwartet, dass die Volksrepublik Deutschland als zweitgrössten Autoexporteur der Welt überholt. Nur Japan kann mehr. Fast die Hälfte der chine sischen Wagen landet in Europa.
THE BIG ISSUE, LONDONMehr Depressionen
Laut übereinstimmenden Studien nimmt die Zahl der an Depressionen leidenden Menschen stetig zu. Dabei wirkte die Corona-Pandemie offenbar verstärkend: Nach einer im Oktober 2021 in der wissenschaftlichen Zeitschrift The Lancet ver öffentlichten Studie fiel der Anstieg in Deutschland zwar niedriger aus als in den meisten anderen untersuchten Ländern, lag hier aber bereits bei 13,6 bis 17,3 Prozent. Laut dem Kinder- und Jugendreport der Krankenkasse DAK nahmen die Fallzahlen vor allem bei Kindern und Jugendlichen zu. Finanzielle Nöte erhöhten bei Erwachsenen das Risiko, an Depressionen zu erkran ken. Zudem verstärkten sie sich bei denen, die bereits darunter litten.
Vor GerichtEin seltenes Verbrechen
Ende Juni 2016, etwa 13.30 Uhr. Ein IT-Spe zialist sitzt im Zürcher Seefeld auf einem Mäuerchen und raucht – da rammt ihm ein Unbekannter ein Messer in den Brustkorb. Dann in den Hals, den Kopf, den Oberarm, fünf Stiche insgesamt. Der schwer verletzte Mann schleppt sich noch hundert Meter weit, dann ist er tot, verblutet.
Eine solch schreckliche Bluttat, am hell lichten Tag, in einer wohlhabenden Strasse, in einer reichen Stadt: Sie erschüttert das Sicherheitsgefühl eines ganzen Landes. Umso mehr, als der Tatverdächtige wegen anderer Verbrechen bereits im Strafvollzug sass und bei seinem ersten unbegleiteten Hafturlaub zur Tat schreitet.
2020 sagte der zuständige Staatsanwalt im erstinstanzlichen Prozess gegen den in zwischen schweizweit als Seefeld-Mörder bekannten Tobias K., die Tat zeuge von einer «noch nie da gewesenen Dimension» von kriminellem Denken und einer Brutalität, die man nur aus dem Kino kenne. Einzigar tig in der Schweizer Kriminalgeschichte.
Nicht minder gruselig ist der Kontext des Verbrechens: Tobias K. hatte dem Zür cher Kantonsrat geschrieben, es würden Menschen sterben, jede Woche, sollte sein Knastbruder Irvidias M. nicht sofort ent lassen werden. Der hatte Tobias K. eine haarsträubende Geschichte von kriminellen Machenschaften der Grossindustriellen familie Schmidheiny erzählt. Dass die Schmidheinys Angehörige von ihm und von Tobias K. bedrohen würden. Nur wenn sie freikämen, könnten sie ihre Familien schüt
zen. Als Irvidias M. nach Tobias K.s Droh brief nicht freikam, stach Tobias K. zu. Erst nach sieben Monaten und beim Versuch, im Darknet eine Schusswaffe zu kaufen, tappte er in eine Falle.
Solche Fälle sorgen für grosse Schlag zeilen. Auch kürzlich an der Berufungsver handlung am Zürcher Obergericht waren die Publikumsränge und Medienbänke voll. Es ging vor allem um die Frage, ob Tobias K. der Vorbereitungshandlungen weiterer Morde schuldig sei. Oder ob er zu weiteren solchen «Wahnsinnstaten» fähig wäre, wie der Oberrichter sagt. Nie und nimmer, sagt Tobias K. und will in zweiter Instanz eine Strafreduktion von 20 auf 12 Jahre Gefäng nis. Aber sicher, sagt die Staatsanwaltschaft und will ihn verwahren. Viele Bürger*innen wären wohl auch dafür – es würde dem Si cherheitsgefühl guttun.
Die Wahrscheinlichkeit, bei der Zigi nach dem Mittagessen kaltblütig erstochen zu werden, ist in der Schweiz, in Europa aller dings äusserst gering. Wahrscheinlicher ist ein tödlicher Verkehrsunfall: Exakt 200 Men schen starben 2021 auf den Schweizer Stra ssen. Diese Toten sorgen kaum mehr für Angst und Schrecken. Obwohl diese Fälle viel relevanter sind, wenn es um die Alltags sicherheit geht. Horror-Verbrechen wie der Seefeld-Mord setzen ziemlich zuverlässig eine bekannte Dynamik in Gang, bei der wie der laut nach mehr Sicherheit gerufen wird. Gleichzeitig wird weiter über die Lockerung der Rasergesetze diskutiert.
Tobias K. wird übrigens nicht verwahrt, aber das Gericht erhöht seine Freiheitsstrafe von 20 auf 25 Jahre, also lebenslänglich.
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.TROTT-WAR, STUTTGART
Eines Tages geschah es …
Was machsch du da? Diese Frage höre ich oft aus Kindermund, wenn ich in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil meine Surprise-Hefte verkaufe. Und stets schwingt bei dieser Frage in der Stimme, im Tonfall eine nicht in Worte zu fassende Verwunderung mit, die sich zudem in grossen Augen und fragenden Gesichtern widerspiegelt. He ja, Zeitungen und Hefte kauft man am Kiosk. So hat es das Kind gelernt, so hat es das auch schon gesehen, und es selber war auch schon dabei, mit der Oma, wenn sie am Kiosk ihre Hefte kauft, und es, das Kind, hat bei dieser Gelegenheit auch ein Heftli bekommen, von der Oma.
Natürlich erzähle ich dem Kind nichts über den Hintergrund von Surprise. Danach hat es auch nicht gefragt. Es hat nicht gefragt: Warum machsch du das? Es hat gefragt: Was machsch du da? Ich sage ihm also: Ich verkaufe dieses Heft. Ahaaa, macht es und mimt Wissen um die Welt. Mit meiner Antwort ist es sichtlich zufrieden und zieht munter weiter seines Weges.
Und dann war da der eine kleine Junge, der vor mir stehen blieb und mich gefragt hat: Häsch du kei Gäld? Diese Frage aus seinem Mund beweist: Er weiss schon mehr über Surprise und über das, was dahintersteckt.
Fest steht: Man erwacht nicht eines Morgens, womöglich eines sonnigen Morgens, und sagt aus heiterem Himmel oder aus einer unbestimmbaren Laune heraus, ohne Not und Dring lichkeit: So, mir reicht’s. Ich hänge meinen Job an den Nagel. Ich will Surprise-Ver käufer werden.
Das ist auch nicht die Idee, die hinter Surprise steckt. Erst in der Not, die viele Gesichter und Gewänder trägt, zieht man in Erwägung, sich bei Surprise zu melden. Wir alle rund 450 SurpriseVerkäufer*innen haben unsere guten Gründe, das zu tun, was wir tun.
So auch ich. Denn eines Tages geschah es …, und das Leben ist nicht mehr so, wie es einmal war.
Um einer weitverbreiteten, aber irrigen Meinung vorzubeugen: Es zwingt uns kein Amt und keine Behörde. Wir alle stellen uns aus freien Stücken mit dem Heft in der Hand auf die Strasse. Irrig ist auch die Meinung, SurpriseVerkäufer*innen seien zu nichts anderem fähig, als Surprise zu verkaufen. Wer in unserem Heft regelmässig das Verkäufer*innen-Porträt auf Seite 30 liest, weiss: Diese Ansicht gehört ins weite Land der Märchen, aber beileibe nicht in die Wirklichkeit. Es ist be merkenswert, was für Fähigkeiten sich in unseren Reihen finden.
URS HABEGGER, 66, verkauft Surprise seit 14 Jahren in der Bahnhofunterführung in Rapperswil. In wenigen Stichworten sein beruflicher Werdegang: 1971 – 1975 Lehre zum Schriftsetzer; Zusatzausbildung zum Reprofotografen; Lehrlingsausbilder-Diplom; Abteilungsleiter. Und dann geschah es.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Politik des Einkommens
Würde man Leute auf der Strasse fragen, mit wie viel Geld sie im Monat auskommen müssen, würden die meisten an ihren Lohn oder ihre Rente denken. Doch stimmt dieser spontane Gedanke? Über wie viel Geld verfügen Familienhaushalte in der Schweiz tatsächlich? Und wie beeinflusst die Politik die Höhe dieser frei verfügbaren Einkommen?
Zur Illustration nehmen wir das monatliche Haushaltsbudget von Familien, die zu den einkommensärmsten 20 Prozent gehören. Sie haben in der Regel ein bis zwei Kinder. Das Erwerbseinkom men einer solcher Familie betrug im Untersuchungszeitraum 2015–2017 monatlich 5172 Franken. Dazu kommen geringe Einnahmen aus Vermögen oder Vermietung sowie deutlich höhere Sozialleistungen wie Prämienverbilligungen, Sozialhilfebeiträge oder ähnliches mehr. Ein solch typischer Familien haushalt kam damit auf ein Bruttoeinkommen von 6360 Franken. Doch dieser Betrag steht nicht zur freien Verfügung. Vielmehr müssen davon Sozialversicherungsbeiträge, Steuern und die Krankenkassenprämien der Grundversicherung bezahlt werden. Das verfügbare Einkommen betrug darum nur 4513 Franken. Davon muss zudem die Miete abgezogen werden. So kommt man zu einem tatsächlich frei verfügbaren Einkommen. Dieses betrug im Betrachtungszeitrum 3108 Franken. Damit kann oder muss die Familie ihre Konsumausgaben für Nahrung, Kleidung, Mobilität, Unterhaltung etc. finanzieren.
Dieses frei verfügbare Einkommen ist keine feste Grösse. Viel mehr wird es jenseits des Einflussbereichs der Familie durch zahlreiche Politikfelder beeinflusst. So setzt die Arbeitsmarktpolitik
den Rahmen für das Erwerbseinkommen und die Sozial- und Steuerpolitik verändert die Höhe des Bruttoeinkommens. Auch die Wohnbaupolitik nimmt Einfluss auf die Höhe der Mieten.
Doch damit nicht genug. Auch die Kaufkraft des frei verfügbaren Einkommens wird politisch mitbestimmt. Die Geldpolitik wirkt sich auf die Inflationsrate aus: Wird alles teurer, kann sich die Familie immer weniger leisten. Dasselbe passiert, wenn die Mehrwertsteuer erhöht wird, um zum Beispiel die AHV-Renten zu finanzieren. Familien mit tiefen Einkommen trifft dies härter als Familien mit hohen Einkommen; das zeigt ein Ver gleich zwischen den 20 Prozent ärmsten und den 20 Prozent einkommensreichsten Familienhaushalten. Das Verhältnis der Bruttoeinkommen beträgt 1:3,7, das Verhältnis der frei ver fügbaren Einkommen aber 1:4,6. Den ärmsten Familienhaus halten bleibt knapp die Hälfte des Bruttoeinkommens zur freien Verfügung, den reichsten aber 60 Prozent. Sie können davon noch 5587 Franken auf die Seite legen, während die ärmsten Familienhaushalte im Schnitt 100 Franken an Vermögen verbrauchen oder Schulden machen müssen.
Die Antwort auf die Einstiegsfrage – wie viel Geld haben Schweizer Familienhaushalte tatsächlich? – ist also deutlich schwieriger zu geben als gedacht. Viele politische Akteure mit unterschiedlichsten Interessen nehmen Einfluss auf das frei verfügbare Einkommen. Niemand fühlt sich aber für das Ergebnis wirklich verantwortlich.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Verlogener Kampf um Freiheiten
Polarisierung Wer lautstark von «Cancel Culture» spricht, kämpft nicht für Meinungsfreiheit, sondern gegen Vielfalt und Gleichberechtigung. Und Medien helfen mit, die Realität zu verdrehen.
TEXT ANDRES EBERHARD ILLUSTRATION DARIO FORLINHaben Sie es gemerkt? Die Demokratie ist in Gefahr. Aber nicht wegen jenen Autokrat*innen und Faschist*innen dieser Welt, die ihre Zeit gekommen sehen. Sondern wegen der linken Woke-Kul tur. Das zumindest wollen uns ansonsten recht besonnene Zeit genoss*innen quer durch die Feuilletons der reichweitenstarken deutschsprachigen Medien glauben machen: im Spiegel, im Ta ges-Anzeiger, in der Bild-Zeitung, in der NZZ.
Sie führen einen Kampf zur Verteidigung der Meinungsäu sserungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Diese sei durch eine «Cancel Culture» in Gefahr – eine Kultur, die keine missliebigen Meinungen akzeptiere. Sie kämpfen für Grundrechte, hüten die aufklärerische Debatte und verteidigen damit etwas ganz Gros ses – die Demokratie. Angeblich. Denn ihr Kampf ist verlogen. Es gibt zwar Gründe, die Woke-Bewegung zu kritisieren; auf diese komme ich später zurück. Ihretwegen aber eine Bedrohung für
die Demokratie heraufzubeschwören, ist intellektuell fahrlässig und argumentativ abenteuerlich.
Von wem reden wir? Ein paar beliebige Beispiele (es gäbe viele mehr): René Pfister, US-Korrespondent des Spiegel, beschreibt in einem 250-seitigen Buch sowie auf 7 Seiten des Magazins, wie «Ideolog*innen im Namen von Gleichberechtigung und Antiras sismus Meinungsfreiheit und die offene Gesellschaft bedrohen».
Der ehemals linke Politiker Rudolf Strahm forderte im Tages-An zeiger «Zivilcourage zur Verteidigung der Denk- und Meinungs freiheit». Die Bild-Journalistin Judith Sevinç Basad schrieb einen Anti-Woke-Artikel nach dem anderen (sowie ein Buch), ehe sie ihren 30 000 Twitter-Follower*innen mitteilte, dass sie ihre Stelle gekündigt habe, da sie dort «nicht mehr über die Gefahren be richten» könne, «die von der totalitären, radikalen woken Bewe gung ausgehen». Und NZZ-Chefredaktor Eric Gujer beklagt «Zen
sur», eine «Gesinnungspolizei» und einen neuen «Extremismus von links», den er sodann mit den frühen Dreissigerjahren, der Zeit vor der Machtübernahme der Nazis vergleicht. «Wiederholt sich die Geschichte?», sinniert er.
Das ist natürlich dummes, menschenverachtendes Zeug. Noch nie in der Geschichte war es einfacher als heute, jede noch so krude Meinung öffentlich zu machen – zumindest in demokra tischen Staaten ohne Internetzensur. Eher scheint es so, als wür den zu viele Meinungen geäussert werden, da es zunehmend schwieriger wird, Werbung von Information oder Nachrichten von Fake News zu unterscheiden. Doch das ist lediglich eine wei tere Meinung.
Punkt ist: Hier, in der Schweiz, und grösser gedacht im so genannten Westen, werden keine Meinungen unterdrückt. Mei nungsäusserungs- und Kunstfreiheit sind in erster Linie Ab wehrrechte gegen den Staat. Und dieser «cancelt» nicht. Das Reggae-Konzert in Bern? Der Veranstalter hat es abgesagt. Der gecancelte (und nach Kritik erneut anberaumte) Vortrag einer Biologin in Berlin? Entscheid der Hochschulleitung. Die Liste liesse sich weiterführen.
Aufschlussreich, weil besonders banal, ist das Beispiel, das Rudolf Strahm zur Überzeugung kommen lässt, man müsse die «Denkfreiheit» verteidigen: Eine Philosophin hatte im Auftrag einer feministischen Ausstellung einen Text geschrieben und darin den Ausdruck «biologische Geschlechter» verwendet. Die Verantwortliche der Ausstellung wollte das Wort «biologisch» streichen, die Philosophin weigerte sich, der Text erschien nicht.
Kann man blöd finden. Aber wenn ein Ausstellungs-OK einen Text ablehnt, wenn eine Hochschule einen Vortrag absagt oder ein Veranstalter ein Konzert, dann ist das keine Zensur. Zensur ist, wenn die Polizei kommt. Oder ein Gericht einem Medium den Druck verbietet. Die Polizei kommt nicht. Medien werden nicht am Druck gehindert.
Dann spielen sie halt anderswo Und vor allem: Wer «gecancelt» wird, kann seine Meinung jeder zeit woanders kundtun. Ich schreibe auch für eine journalistische Online-Plattform. Als wir uns von einem Autoren trennten, der wiederholt unkritisch die Politik Putins verteidigte, warfen uns Dutzende Leser*innen empört Zensur vor. Aber: Dieser Mann hat kein Schreibverbot. Tatsächlich macht er seitdem auf seinem ei genen Blog weiter.
Was für Meinungen gilt, gilt auch für Wissenschaft und Kunst: Mir ist – zumindest aus dem deutschsprachigen Raum – kein Fall bekannt, wo ein*e Forschende nach derartiger Kritik nicht mehr weiterarbeiten oder nirgendwo mehr auftreten durfte. Auch wird es kein Reggae- und Rastaverbot für Weisse geben. Die Band, die von der Brasserie Lorraine in Bern ausgeladen worden war, spielt nun halt woanders. Ja, man darf sogar behaupten, ohne ihre plötz liche Bekanntheit und den links verursachten Eklat wäre sie wohl kaum ans Betriebsfest der Weltwoche eingeladen worden.
Es braucht keinen intellektuellen Scharfsinn für die Feststel lung, dass es bei diesem angeblichen Kampf um Freiheiten, der die Debatten fast aller grossen Medienhäuser im deutschspra
chigen Raum beherrscht, in Wahrheit um etwas anderes geht. Wichtig ist zu verstehen, wie die selbsternannten Freiheitskämp fer*innen dazu kommen, eine Konzertabsage zu einer Gefahr für die Demokratie zu stilisieren – und wie sie dabei vorgehen.
Formen der Macht Manche glauben, dass Leute wie NZZ-Chefredaktor Eric Gujer aus Kalkül handeln. Dass es Gujer um Marktanteile geht und das Expansionspotenzial im rechtskonservativen Sektor verortet wird. Und dass er und andere darum kämpfen, den öffentlichen Dis kurs weiterhin so zu gestalten, wie es ihm und der NZZ jahrzehn telang vergönnt war. Schliesslich blieben seine Ansichten lange unwidersprochen, während vieler Jahre war es okay, Minderhei ten abzuwerten, und wenn sich eine*r aufregte, dann entschied immer noch die Redaktion selbst über die Publikation solcher Leser*innenreaktionen.
Das glaube ich nicht. Ich bin überzeugt, dass die Freiheits kämpfer*innen tatsächlich felsenfest davon überzeugt sind, einen ehrenwerten moralischen Kampf um demokratische Grundrechte zu führen.
Wo liegt ihr Denkfehler? Zunächst ist da eine Umdeutung von Macht. Glauben wir der Erzählung der Freiheitskämpfer*innen, dann verfügen jene, die für die Cancel Culture verantwortlich sind (vermutlich sind Minderheiten und linke Aktivist*innen ge meint, allenfalls auch Meinungsführer*innen an Hochschulen, so deutlich wird das jeweils nicht) über eine enorme Macht. Denn ohne Macht lässt sich keine Zensur durchsetzen. Dann liesse sich
einfach sagen: Nein danke, da mache ich nicht mit. Klar, eine ge wisse neue Form von Macht lässt sich über die sozialen Netzwerke ausüben: Mobilisierung – im verwerflichen Falle Shitstorms –kann Menschen und Organisationen unter Druck setzen. Das Ausmass der Macht lässt sich am besten vom Resultat her ab schätzen. Betrachtet man also die Liste ihrer «Erfolge» (hie und da ein Vortrag oder ein Konzert abgesagt, die eine oder andere wissenschaftliche Karriere ins Stocken oder Wanken gebracht), dann merkt man schnell, dass diese Macht begrenzt ist. Ich be haupte, dass ein*e Rektor*in einer Hochschule oder Sponsor*in eines Veranstalters infolge bestehender Machtstrukturen zu Glei chem in der Lage wäre.
Demgegenüber steht die Macht jener, welche die Cancel Cul ture kritisieren. Sie sind in der Lage, mir nichts dir nichts Hun derttausende von Leser*innen glauben zu machen, Woke-Akti vist*innen würden die Demokratie gefährden – weil diese angeblich mächtig genug sind, um Zensur durchzusetzen. Wie blind die Freiheitskämpfer*innen für diese offensichtliche Macht diskrepanz sind, beweist die NZZ, die den Anwalt der «gecancel ten» Berliner Biologin zu dessen Strategien befragt. Unter ande rem wende er sich an die Presse, erzählt dieser. «Sie versuchen eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen?», fragt die NZZ nach. Was der Mann natürlich bejaht. So einfach geht das: Die sozialen Me dien sind die neue Öffentlichkeit, Leitmedien wie die NZZ die neue Gegenöffentlichkeit.
Die Freiheitskämpfer*innen machen den Fehler, die öffent liche Debatte als ausgewogen zu betrachten. Darum nehmen sie es nicht als legitim wahr, wenn Minderheiten lautstark Mit sprache einfordern. Dabei ist die öffentliche Debatte nicht aus gewogen, sie war es noch nie. Randgruppen – sozial Schwache, Homosexuelle, trans Menschen, Menschen mit Migrationsge schichte, ja auch Frauen – waren lange unterrepräsentiert und sind es häufig heute noch. Durch das Internet, insbesondere die sozialen Medien, haben sie jenseits der etablierten Minderhei tenvertretungen eine Stimme erhalten und drängen in den Dis kurs. Was die Freiheitskämpfer*innen als «Extremismus von links» sehen, sind in Wahrheit Bevölkerungsteile, die bislang weniger gehört wurden.
Gänzlich unbemerkt bleiben diese argumentativen Trickser eien (oder unbeholfenen Gegenwartsanalysen – Ansichtssache) nicht. Letztes Jahr verliehen die Neuen deutschen Medienma cher*innen die «Goldene Kartoffel» – eine Auszeichnung für besonders schlechte journalistische Leistungen – gleich an alle «bürgerlichen Medien» Deutschlands. Und zwar für die «unter irdische Debatte über Identitätspolitik». Dieser Begriff meint die Versuche von Minderheiten (z.B. Feminist*innen, Migrant*innen, Schwarze oder queere Menschen), gesellschaftliche Verbesserun gen für ihre jeweiligen Interessengruppen zu erreichen. Kritisiert wird, dass diese Gruppen zur Spaltung der Gesellschaft beitragen, indem sie sich primär für sich selbst einsetzen. (Was zum Beispiel Wirtschaftslobbyist*innen zum Glück nicht unterstellt wird.)
In ihrer Begründung bezeichneten die Medienmacher*innen das Verhalten der Medien als «Wahrnehmungsstörung». Nach den rechtsterroristischen Anschlägen von Halle und Hanau, dem Mord an Walter Lübcke und dem Einzug von Rechtsextremen in sämtliche deutsche Parlamente sei ernsthaft darüber sinniert worden, ob linke Identitätspolitik das harmonische Zusammen leben bedrohe. «Nur wenige Monate nach der Black-Lives-Mat ter-Debatte haben sich im Frühjahr 2021 fast alle Medien in
Deutschland gefragt, ob People of Color und Schwarze Menschen mit ihrem Antirassismus nicht doch zu weit gehen.»
Das heisst: Werden Machtverhältnisse verdreht, dann lassen sich ungeniert Tabus brechen – wie etwa mit dem Finger auf die Schwächsten zu zeigen. Auch Spiegel-Autor René Pfister argu mentiert, dass die Minderheiten und die Linken schuld sind an der Spaltung der Gesellschaft und nicht etwa die Rechtsextremen der Alternative für Deutschland (AfD) beziehungsweise Trump in den USA. Im Wahlkampf 2016 schon hatte Hillary Clinton das Kind beim Namen genannt, als sie einen Teil von Trumps Wäh lerschaft als «sexistisch, homophob, xenophob und islamophob» bezeichnete. Sie sprach, ebenfalls abwertend, von einem «basket of deplorables» (zu Deutsch in etwa «Korb der Erbärmlichen»). Pfister sieht diese Aussage als exemplarisches Beispiel dafür, warum sich Wähler*innen von den Demokrat*innen ab- und Trump zuwandten. Nicht Trump oder dessen Anhänger*innen sind für den US-Korrespondenten des Magazins Spiegel verant wortlich für ihre eigene Radikalisierung, ihren Rassismus, ihren Sexismus. Sondern die Linken, die sie beleidigt haben.
Die Verdrehungen der Freiheitskämpfer*innen nehmen zu nehmend verschwörerisches Ausmass an. Auffällig ist zum Beispiel die Sprache. Statt «Meinungsäusserungsfreiheit» wird irreführend der Begriff «Meinungsfreiheit» oder gar «Denk- oder Sprechver bote» verwendet, zum Angriff geblasen wird gegen eine «Gesin nungspolizei». Als ob Minderheiten nicht nur bestimmen wollten, wie wir reden, sondern ins Innere unserer Köpfe vordringen wür den, um eine Art Gehirnwäsche vorzunehmen. (Wie es beispiels weise über chinesische Umerziehungslager berichtet wird, um eine Relation zur Grösse dieses Vorwurfs zu schaffen.)
Typisch Verschwörung ist auch die Quasi-Wissenschaftlich keit. Da die Freiheitskämpfer*innen offenbar um die Steilheit ihrer These wissen, dass die Cancel Culture nichts weniger als die Demokratie bedrohe, haben sie sich – zusätzlich zu einer ganzen Reihe von Hochschulprofessor*innen, die sich stets um
die freie Rede besorgt geben – angeblich wissenschaftliche Evi denz besorgt. Damit der Schritt von «die Wissenschaftlerin wie der auszuladen, finde ich nicht in Ordnung» hin zu «Cancel Cul ture ist die grösste Gefahr für die Demokratie» (O-Ton des deutschen CDU-Spitzenpolitikers Friedrich Merz) logisch er scheint. Der Beweis heisst: die Schweigespirale. Diese von Elisa beth Noelle-Neumann in den 1970er-Jahren formulierte Theorie aus der Soziologie besagt, dass wir dazu tendieren zu schweigen, wenn wir glauben, unsere Meinung weiche von der Mehrheits meinung ab.
Ein Hauch von Wissenschaft
Mit der Schweigespirale-Theorie begründet etwa die Ex-Bild-Jour nalistin Judith Sevinç Basad in ihrem Buch «Schäm dich!» die Relevanz ihres Kampfes: «Die Schweigespirale hat (…) fatale Aus wirkungen. So können sich radikale und ideologische Randmei nungen, die nicht der gesellschaftlichen Mitte entsprechen, zur Mehrheitsmeinung entwickeln», behauptet sie. Und die Philoso phin Ulrike Ackermann, ihres Zeichens Co-Gründerin des Netz werks Wissenschaftsfreiheit, das sich gegen Cancel Culture im Wissenschaftsbetrieb einsetzt, hat die angeblich so fatale Theo rie gar als Buchtitel gewählt: «Die neue Schweigespirale – Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt». Sie schreibt: «Die neue Schweigespirale funktioniert deutlich drastischer als das, was wir bisher kannten.»
Weder Basad noch Ackermann haben sich aber ernsthaft mit der Theorie auseinandergesetzt. Ich habe die beiden eben zitier ten Sätze dem Zürcher Medienprofessor Thomas Friemel ge schickt und ihn gefragt, was er davon hält. Beide Aussagen würde er so «nie sagen», er hält sie ausserdem für wenig reflektiert. Zwar liessen wir uns unbestritten von der Wahrnehmung unse res Umfelds beeinflussen. Aber: «Die empirischen Evidenzen für eine Schweigespirale im grossen Stil sind schwach, veraltet und kaum belastbar.» Und bei den sozialen Netzwerken liege das
Problem eher in der algorithmischen Selektion und nicht bei der Schweigespirale.
Fakt ist: Die Schweigespirale ist eine Theorie, die wissenschaft lich nie eindeutig bestätigt wurde. Zwar gibt es Indizien, die ein gewisses Konformitätsverhalten von Menschen nahelegen – so sorgt zum Beispiel der Bandwagon- oder Mitläufer-Effekt dafür, dass unentschlossene Wähler*innen aufgrund von Umfrageres ultaten vor Abstimmungen zur Gewinner*innenseite wechseln. Diese Effekte sind jedoch nie stark genug, um eine Art kollektives Umdenken zu bewirken. Kommt dazu: Die Öffentlichkeit besteht nicht allein aus sozialen Netzwerken. Einen Konformitätsdruck gibt es nicht nur auf Twitter, wo Woke-Aktivist*innen mutmasslich in der Überzahl sind. Am Esstisch einer Bauernfamilie oder am Betriebsfest der Weltwoche würde ich keine Brandrede für das Gendersternchen halten. Wenn überhaupt, dann wirkt die Schwei gespirale viel komplexer und mit Bestimmtheit nicht so einseitig wie von den Freiheitskämpfer*innen dargestellt. Die dramatische Erzählung von der Schweigespirale überschätzt die Macht der Me dien massiv und passt darum in ihr verschwörerisches Weltbild.
Politischer Kampfbegriff
Die Neuen deutschen Medienmacher*innen stellen klar, dass es sich bei der Debatte um Cancel Culture und Identitätspolitik um eine rechtsextreme Erzählung handelt. Diese diene einzig dazu, die Stimmen von Feminist*innen, Schwarzen Menschen, Migrant*innen, behinderten oder queeren Menschen usw. zu delegitimieren. In rechtsextremen Foren sei es schon länger gang und gäbe, gegen angeblich allmächtige «identitätspolitische» Minderheiten zu hetzen. Diese Erzählung werde nun durch bür gerliche Medien salonfähig gemacht.
Tatsächlich macht die politische Rechte in Europa und den USA gerade mit der Gesellschaftspolitik mobil. Sie versammelt sich gegen eine «Genderideologie». Vertreter*innen rechter Par teien äussern sich mittlerweile häufiger über Feminismus und Gender als solche von links, wie eine Studie aus sieben Ländern Westeuropas zeigt, die zwischen 2016 und 2020 durchgeführt wurde. Die Anti-LGTBQI*-Gesetze in Polen, Ungarn und den USA sind erste Folgen dieser Entwicklung. Doch warum lässt sich mit dem Angriff auf die Woke-Kultur derart gut mobilisieren? Und warum lassen sich derart viele Menschen hinter einer offensicht lich antiprogressiven Bewegung versammeln?
Möglicherweise aus zwei Gründen: Der eine ist eine Abwehr haltung aus Überforderung. Der andere ist der Widerwille, gewisse Privilegien aufzugeben. Zunächst sollten wir uns vom Begriff der Cancel Culture verabschieden. Dieser ist ein politisches Kampfwort, ein recht billiges noch dazu. Sein Erfolg liegt gerade darin, dass es derart vage und diffus bleibt, dass es lediglich anprangert und keine Lösungen präsentiert, ja gar nicht präsentieren kann. Denn: Was könnten wir denn tun, um die Cancel Culture zu stoppen? Wir könnten Hochschulen oder Konzertveranstalter*innen vorschrei ben, unter welchen Bedingungen sie Gäste ein- und ausladen dür fen. Oder die sozialen Netzwerke für linke Aktivist*innen sperren, damit diese keinen Druck ausüben können. Beides ist natürlich unsinnig, da es einer Zensur gleichkäme.
Gibt es, wo es keine Lösungen gibt, überhaupt ein Problem? Es geht, wie gesagt, um etwas schwer Fassbares, um Kultur eben. Und wir ändern unser Verhalten nicht nur aufgrund rechtlicher Verbote, sondern auch wegen sozialem Druck. Und dieser kann sehr unangenehm sein. Ich auf jeden Fall mag ihn überhaupt
nicht. Schon so habe ich ständig das Gefühl, nicht zu genügen. Ich sollte mehr und besser arbeiten, müsste mehr Zeit mit den Kindern verbringen, ihnen mehr mitgeben auf ihrem Weg, da neben sollte ich sinnvollere Hobbys pflegen, müsste öfter für Angehörige da sein und mehr in Freundschaften investieren. Dass ich nun auch noch moralisch Fortschritte machen muss, meine Sprache anpassen, mein Verhalten hinterfragen, das emp finde ich schnell als zu viel. Ich bin mit dem Grossziehen von drei Kindern beschäftigt, muss Geld verdienen, dafür sorgen, dass genug Essen im Kühlschrank ist und die Fruchtfliegen in der Küche nicht überhand nehmen. Und ich bin privilegiert, ich bin gesund und verdiene genügend Geld. Andere haben viel existen ziellere Sorgen: Schulden, Krankheit, Lebenskrise.
Was ich damit sagen möchte: Immer und überall woke zu sein, überfordert viele. Dieses moralische Wetteifern, immer per fekt sein zu müssen, passt letztlich gut in den Selbstoptimie rungswahn unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft. Dem möchte ich eigentlich entkommen. Mir dann vorwerfen zu lassen, ich sei ein Rassist, einfach weil ich aus Unwissen einen Fehler gemacht habe, empfinde ich als unfair. Aber nur weil ich mit dem
Tempo nicht mitkomme, heisst das nicht, dass ich die Sache per se bekämpfe. Trotzdem ist das kein Grund dafür, sich gegen die Anliegen und die Rechte von Minderheiten zu stellen.
Der zweite mögliche Grund, warum viele sich dem Kampf gegen «Genderideologie» und andere Minderheitenrechte an schliessen, ist banaler: Weil sie dadurch tatsächlich Freiheiten verlieren. Allerdings handelt es sich dabei nicht um demokratie relevante Grundrechte, sondern vielmehr um das «Privileg», an dere ungescholten belästigen oder diskriminieren zu können, also zum Beispiel jemanden als «schwul» zu beschimpfen, einer Frau ungefragt an den Hintern zu fassen, rassistische Witze zu machen. «Früher eckte man mit sexistischen Gedichten nicht an – das ist Freiheit, aber eben nur aus dieser Perspektive», schreibt der Politologe Karsten Schubert.
Eine jahrzehntealte Kampagne
Cancel Culture ist keine neue Erscheinung, sondern eine jahrzehntealte Kampagne. So argumentiert Stanford-Professor Adrian Daub in seinem Buch «Cancel Culture – Wie eine moralische Panik die Welt erfasst». Die Warnung vor drohenden Denkverboten findet sich bereits im 1985 erschienenen Buch «The Closing of the American Mind» von Allan Bloom. Seither sind zahlreiche Bestseller veröffentlicht worden, die anhand einer kleinen Anzahl von Vorgängen an Colleges oder Universitäten eine angebliche Welle linker Intoleranz diagnostizieren. Diese Bücher hätten alle dieselbe Masche, so Daub. «Die dystopische Zukunft, die sie entwerfen, ist nie Wirklichkeit geworden.» Alles, was man angeblich bald nicht mehr tun dürfe, tue man noch heute.
Dass Cancel Culture ideologisch gesteuert wird, steht für Daub ausser Frage. Schliesslich gebe es dazu keine Daten, sondern ausschliesslich Anekdoten. In den USA existiere eine ganze Infrastruktur, die einzig dafür da sei, solche Anekdoten aufzutreiben. Bereits 1995 beschrieb John K. Wilson in «The Myth of Political Correctness», wie reiche US-Sponsor*innen in den 60er- und 70er-Jahren Stiftungen und Institutionen schufen, die aktiv nach Geschichten rund um Political Correctness suchten.
Daub sieht auch ein Versagen der Medien in der Tatsache, dass sie gegenüber diesen Fakten historisch blind sind. «Vielleicht fällt es den Zeitungen einfach nicht auf, dass sie sich zu Handlangern und Verstärkern ideologisch motivierter Realitätsverdrehungen machen.» EBA
Diese Dinge sozial zu ächten, ist nicht antiliberal, sondern entspricht der Umsetzung von Menschenrechten und der Verfas sung, die vor ebensolcher Diskriminierung schützen soll. Die Tatsache, dass Emanzipation für manche tatsächlich Privilegi enverlust und Einschränkungen mit sich bringt, müsse als solche anerkannt werden, schreibt die Soziologin Franziska Schutzbach im Online-Magazin Republik: «Die Herstellung von Gerechtigkeit, Inklusion und Teilhabe ist nicht einfach ein formaler Verwal tungsakt, über den sich alle freuen und von dem alle gleicher massen profitieren.» Schliesslich geht es nicht allein um die Frage, wie wir möglichst diskriminierungsfrei miteinander sprechen und umgehen. Wenn beispielsweise eine Quote für mehr Frauen in Führungspositionen sorgen soll, bleiben diese Plätze für männ liche Aspiranten unerreichbar.
All jene, die sich aus solchen letztlich selbstgerechten Motiven für die Cancel-Culture-Kampagne einspannen lassen, sollten wis sen: Nein, die angeblichen Freiheitskämpfer*innen führen keinen Kampf zur Verteidigung von Grundrechten oder der Demokratie. Sie treten an in einem Kulturkampf, der sich gegen Vielfalt und Gleichberechtigung richtet. Ihr bestes Argument ist dabei eine verschwörerische Erzählung, die von übermächtigen Minderhei ten handelt, welche unterstützt durch eine linke Elite angeblich nahe daran sind, Denk- und Sprechverbote durchzusetzen.
Dieser Kulturkampf dürfte zu einer der prägenden politischen Dynamiken unserer Zeit werden, wie der Autor Benjamin Hindrichs bei ZEIT-Campus schreibt. Und er dürfte sich weiter zuspitzen. Aus der Soziologie bekannt ist das sogenannte Tocqueville-Para dox: Debatten um soziale Gerechtigkeit werden umso lauter ge führt, je mehr Teilhabe in einer Gesellschaft möglich ist. Der deut sche Soziologe Aladin El-Mafaalani prägte diesen Mechanismus im Zuge der aktuellen Diversitätsdebatte neu als «Integrationspa radoxon». Anders gesagt: Je gleicher eine Gesellschaft wird, desto empfindlicher wird sie zunächst. Denn wenn mehr Bevölkerungs gruppen miteinander den gesellschaftlichen Konsens aushandeln, entsteht auch mehr Reibung. Und zwar ganz einfach darum, weil es überhaupt erst zu Kritik und Empörung kommen kann, wenn die Stimmen von marginalisierten Gruppen gehört werden.
Für Soziologin Schutzbach bringt das eine gute und eine schlechte Nachricht mit sich. Die gute: Die mitunter gehässige Debatte zeige, wie weit wir schon gekommen sind im Kampf für eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft. Die schlechte: Es wird noch viel mehr gerungen werden müssen. Die Gegner*innen einer gerechteren Gesellschaft dürften Grundrechte und Demo kratie also noch länger als Argumente bei ihrem Versuch miss brauchen, Minderheiten zum Schweigen zu bringen.
Widerstand gegen steigende Mieten und Obdachlosigkeit: Seit vergangenem Jahr halten Obdachlose ein Haus an der Berliner Habersaathstrasse besetzt.
Solidarisch mit Wohnungslosen
Berlin Nach einer Hausbesetzung wohnen mehr als fünfzig Obdachlose in einem Haus, das abgerissen werden soll. Im Streit zwischen Eigentümer, Bezirk und Mieter*innen haben die Bewohner*innen eine Runde gewonnen.
TEXT UND FOTOS TIM LÜDDEMANN«Die Wohnungen in der Habersaathstrasse standen jahrelang leer», sagt ein Mann Mitte dreissig, der sich Fabi nennt, zu einer Gruppe geladener Journalist*innen. Es ist der 18. Dezember 2021 in Berlin. «Deshalb sind wir heute eingezogen, um die Wohnun gen wieder dem Wohnungsmarkt zuzuführen. Der Eigentümer hat andere Pläne. Der will die Häuser nämlich abreissen, und das wollen wir verhindern.»
Draussen machen Temperaturen um den Gefrierpunkt den Aufenthalt im Freien zunehmend zur Tortur. Kältebusse fahren in der Stadt umher, um von Erfrierung bedrohte Obdachlose vor dem Schlimmsten zu bewahren. In den letzten sechs Jahren sind öf fentlichen Angaben zufolge mindestens 29 Menschen auf Berlins Strassen erfroren. Deshalb hat sich eine Gruppe von Mietakti vist*innen entschieden zu handeln. Ihr Rezept ist so simpel wie kontrovers: Sie besetzen leerstehende Wohnungen und geben sie an Obdachlose weiter. Den Bezirken in Berlin stünde das Mittel der Enteignung zwar auch zur Verfügung, um Leerstand zu been den. Tatsächlich greifen sie aber so gut wie nie darauf zurück. Fabi führt die Journalist*innen durch den schmucklosen DDR-Plattenbau zu einer Wohnung, deren Tür weit offen steht. «Das ist unsere erste Musterwohnung», sagt er und bittet hinein. Die Wohnung ist renoviert, besitzt eine schlichte Einbauküche und ein paar Einrichtungsgegenstände älteren Semesters. «Und das ist einer unserer ersten Mitbewohner*innen», verkündet Fabi und zeigt auf einen vermummten Mann, der im Wohnzim mer auf einer Couch sitzt. «Ich bin Maik», sagt dieser wie aus wendig gelernt, «ich lebe auf der Strasse und ziehe hier ein, weil mir meine Gesundheit wichtig ist und ich noch Überlebenswil len habe.»
Die Habersaathstrasse befindet sich in bester Lage. Direkt ge genüber ist der Neubau des Bundesnachrichtendienstes, um die Ecke haben sich erstklassige Hotels und teure Apartments ange siedelt, der Hauptbahnhof ist nur zehn Gehminuten entfernt. Das besetzte Gebäude bot zu DDR-Zeiten Angestellten der Berliner Charité Wohnraum in Nähe des Krankenhauses. Nach der Wende bis 2006 gehörte es dem Land Berlin, das es für zwei Millionen Euro an einen privaten Eigentümer verkaufte – auch damals schon ein Schnäppchenpreis angesichts der Lage und Grösse des Objekts.
Nach umfangreichen Sanierungen und der Installation einer Fotovoltaikanlage auf dem Dach verkaufte der Eigentümer das Haus 2017 an die Immobilienfirma Arcadia Estates – für fast das Zehnfache des ursprünglichen Kaufpreises. Kurz darauf stellte die Firma einen Antrag, das Objekt abzureissen, um das Gelände mit höherpreisigen Wohnungen neu zu bebauen. Weil der Bezirk Berlin-Mitte die Genehmigung nicht erteilte, streitet sich die Firma seither mit ihm vor Gericht, um den Abriss durchzusetzen. Gleichzeitig setzte Arcadia Estates die Mieter*innen mit Miet preiserhöhungen und Modernisierungsankündigungen unter Druck. Mehr als achtzig Mietparteien gaben nach, nur ein halbes Dutzend blieb.
Daniel Diekmann ist einer von denen, die geblieben sind. Der Anfang Fünfzigjährige lebt seit zwanzig Jahren in der Habersaath strasse. Er ist der Sprecher der Hausgemeinschaft und kümmert sich um die Verhandlungen mit dem Bezirk Mitte und dem Eigen tümer über ihre Mietverträge. Aber auch um scheinbar kleinere Dinge wie die Müllabfuhr. Dass vor einem halben Jahr mehr als fünfzig Obdachlose in die leeren Wohnungen eingezogen sind, findet er gut. «Wir haben uns als Hausgemeinschaft einstimmig dafür entschieden, die neuen Mieter*innen willkommen zu heissen,
«Wir sind das erfolgreichste Housing-First-Projekt ever.»
DANIEL DIEKMANNweil nur so der Leerstand beendet werden konnte. Es ist unange nehm, in einem Haus zu leben, in dem fast alle Wohnungen un bewohnt sind», sagt er und zündet sich eine Zigarette an.
Die Zusage, dass die ehemals obdachlosen Besatzer des 18. Dezember bleiben dürfen, konnten Bezirk, alte und neuen Mie ter*innen dem Eigentümer noch am Tag der Aktion abringen –«vorübergehend» wohlgemerkt. Jetzt haben mehr als fünfzig Menschen, die vorher auf der Strasse gelebt haben, erst einmal ein Dach über dem Kopf. Ein Novum in Deutschland und weit darüber hinaus. Diekmann sagt, er bekomme Nachrichten aus der ganzen Welt. Von überallher kämen Journalist*innen, um zu berichten, sogar aus den USA und Südkorea. «Wir sind das er folgreichste Housing-First-Projekt ever», sagt er stolz.
Sich neu ans Wohnen gewöhnen
Sven Müller gehört zu denen, die Dank des Projektes wieder ein Zuhause haben. Nach vier Jahren Wohnungslosigkeit kann er heute wieder die Tür zu seiner eigenen Wohnung hinter sich schliessen. Vorher lebte er bei Freunden, in einer Notunterkunft und in einem LKW. Schon als Jugendlicher musste er Erfahrun gen mit Obdachlosigkeit machen. «Ich habe als LKW-Fahrer ge arbeitet und nicht schlecht Geld verdient, trotzdem habe ich keine Wohnung gefunden», erzählt er. Die Zeit in der Notunter kunft sei schlimm gewesen. Zweimal sei er mit einem Messer bedroht worden, die hygienischen Zustände seien untragbar gewesen. «Du hast keine Privatsphäre, vieles ist kaputt und die Toiletten sind schrecklich.» Vom Plan, die Habersaathstrasse zu besetzen, erfuhr er zufällig. «Mich hat einfach jemand angespro chen, ob ich eine Wohnung brauchen würde und dass sie etwas vorhätten. Ich war erstmal skeptisch, weil ich keinen Stress mit Bullen haben möchte. Aber er sagte, ich könne auch draussen stehen und abwarten, was drinnen passiert. Und so bin ich hier gelandet.»
Nach der Einigung zwischen Bezirk, Vermieter*innen, neuen und alten Mieter*innen musste sich die neue Hausgemeinschaft erst einmal zurechtfinden. Menschen, die jahrelang keinen fes ten Wohnsitz hatten, müssen sich daran gewöhnen, dass ihnen nun ein eigenes kleines Reich zur Verfügung steht. Unter ihnen
Diese Wohnung steht – nach Konflikten in der Gemeinschaft –kurzzeitig leer.
SVEN MÜLLERsind solche mit Suchtkrankheiten, psychischen Problemen und anderen Herausforderungen. Deshalb stellte der Bezirk der Hausgemeinschaft von Anfang an einen sozialen Träger zur Seite, der die Bewohner*innen unterstützt, wenn diese das wün schen. «Es ist klar, wenn du viele Menschen hast, die schlechte Erfahrungen in der Gesellschaft machen mussten, dann läuft das nicht reibungslos ab», sagt auch Daniel Diekmann.
Es gebe persönliche Konflikte, Probleme mit Ruhestörung und auch Müll, um den sich Diekmann und Müller gemeinsam kümmern. Die Aufgänge haben sich in Untergemeinschaften un terteilt: In der Habersaathstrasse 40 und 42 befindet sich ein Hotel, in dem Geflüchtete aus der Ukraine untergebracht sind. Die 44 ist der Aufgang für die Älteren, die eher ruhig leben wol len. Das Rentnerhaus, wie Sven Müller es nennt. Ganz im Gegen satz zur 46, das als Partyhaus bezeichnet wird. Die 48 soll nach Wunsch mancher Aktivist*innen queeren Menschen vorbehalten sein. Bisher ist dies noch nicht durchgesetzt. Das Vorhaben ist speziell, da ein Grossteil der Betroffenen männlich ist. Die Bun desstatistik zur Wohnungslosigkeit von diesem Jahr hält fest, dass fast Zweidrittel der Obdachlosen Männer sind.
Der Berliner Mieterverein begleitet die Mieter*innen in der Habersaathstrasse seit Jahren und berät sie in der Auseinander setzung mit dem Eigentümer. Sebastian Bartels, stellvertretender Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, hat die Besetzung und die nachfolgenden Verhandlungen mitbekommen. «Wir haben eine Situation, die eigentlich wünschenswert ist», meint er. «Woh nungslose Menschen bekommen sofort eine Unterkunft, also Housing First. Die Gefahr ist jetzt, dass durch die Vereinbarung, die das Bezirksamt mit dem Eigentümer geschlossen hat, diese
wohnungslosen Menschen wieder hinauskatapultiert werden.»
Was Bartels meint, sollte eigentlich geheim bleiben. Bezirk und Eigentümer verhandelten am 28. Juni hinter verschlossenen Tü ren, die Einzelheiten sollten der Öffentlichkeit und den Mieter*in nen nicht mitgeteilt werden. Nur so viel: Der Eigentümer soll das Objekt abreissen und einen Neubau errichten dürfen. Dafür müsse den alten Mieter*innen entweder eine Entschädigung ausbezahlt werden oder im dann gebauten Neubau Mietverträge angeboten werden, die den bisherigen Konditionen entsprechen. Dies alles trete jedoch nur in Kraft, wenn fünf der inzwischen offiziell sieben verbliebenen alten Mietparteien dem zustimmen.
Die ehemals obdachlosen, neuen Mieter*innen werden in dieser Vereinbarung nicht erwähnt. Nach Inkrafttreten einer solchen Vereinbarung könnten sie ihre Wohnungen verlieren. Die alten Mieter*innen hatten zwei Tage Zeit zu entscheiden.
Problematische Bezirkspolitik
Schriftlich verkündet der für die Vereinbarung mitverantwortli che ehemalige Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne): «Auch wenn die heute getroffene Entscheidung schmerzhaft ist, musste das Bezirksamt als Behörde in diesem Fall nicht nach dem Wünschenswerten, sondern nach dem recht lich Zulässigen handeln.» Denn träte die Vereinbarung in Kraft, erledigten sich auch die Gerichtsverfahren zwischen Bezirk und Immobilienfirma. Von Dassel ist seit dem Verhandlungsdatum nicht mehr zu erreichen. Seine Pressestelle erklärt, er falle aus gesundheitlichen Gründen aus. Anfang September dann musste der Politiker sein Amt wegen einer Bestechungsaffäre abgeben. Ihm wird vorgeworfen, in einem Ausschreibungsverfahren für
«Ich habe als LKW-Fahrer gearbeitet und nicht schlecht Geld verdient, trotzdem habe ich keine Wohnung gefunden.»SEBASTIAN BARTELS
Vor der Renovierung war jeder der vier Aufgänge in einer anderen Farbe gestrichen.
Die Bewohner*innen besprechen ihre Putzpläne im Plenum.
eine hohe Stelle im Bezirk einem unterlegenen Bewerber Geld angeboten zu haben, damit dieser von einer Klage absieht.
Daniel Diekmann betrachtet das Vorgehen kritisch: «Sie ver suchen hier die alten und neuen Mieter*innen gegeneinander auszuspielen», sagt er. «Aber wir leben immer noch in einem Rechtsstaat, und hier entscheidet weder das Bezirksamt noch der Eigentümer, ob abgerissen wird, sondern im Zweifel die Gerichte. Dem Vermieter geht es nur darum, seine Rendite zu vergrössern.»
Katrin Schmidberger, von Dassels Parteikollegin und woh nungspolitische Sprecherin der Grünen im Berliner Landespar lament, kritisiert die Vereinbarung ebenfalls, nimmt den Bezirk aber auch in Schutz. «Die Berliner Landespolitik hat da in der Vergangenheit Fehler gemacht.» Gesetze in Bezug auf Abrisse von Häusern wären nicht klar genug ausformuliert, die Verfahren zur Prüfung zu langwierig und die Bezirke in der Auseinander setzung mit abrisswilligen Vermieter*innen alleingelassen wor den. Vorherige Landesregierungen hätten zudem die Bezirke kaputtgespart, die heute nicht die Ressourcen hätten, in einen langwierigen juristischen Streitfall zu geraten. «Ich habe den Eindruck, der Bezirk möchte das Problem mit der Habersaath strasse abwickeln, auch um die horrenden Prozesskosten zu spa ren», meint Schmidberger.
Sie wünscht sich ein anderes Vorgehen, Bezirk und Senats verwaltung sollten gemeinsam überlegen, wie sich die Situation lösen liesse. Denn für Schmidberger ist klar: Abrisse von Wohn häusern sollen verhindert werden. «Die Häuser sind oft nicht ansatzweise in so einem schlechten Zustand, wie es die Eigen tümer*innen angeben», erklärt sie ihre Forderung. «Ausserdem ist es absolut klimaschädlich, denn ein Neubau frisst immer mehr
Ressourcen als eine Sanierung.» Diekmann sieht in der Ausein andersetzung mit dem Vermieter nur das Symptom eines grund sätzlicheren Problems. «Wenn wir nachgeben und der Neubau kommt, werden die Mieten im ganzen Kiez massiv steigen», pro gnostiziert er. «Und das sehen wir ja überall: Wohnen wird zur Rendite, es wird spekuliert – und wer verliert, sind die Mieter*in nen.» Er befürchtet, dass in den Neubau vorrangig Gutverdie nende einziehen werden. Sebastian Bartels vom Mieterverband sieht das ähnlich. «Hier mitten in Berlin lebten früher alle Bevöl kerungsschichten zusammen, arme und reiche Menschen. Das zeichnet die sogenannte Berliner Mischung aus. Aber diese ist in ernster Gefahr.»
In einem seltenen Beispiel grosser Solidarität entschieden die alten Mieter*innen schliesslich, die Vereinbarung zwischen Bezirk und dem Eigentümer nicht anzunehmen. Nun folgen höchstwahrscheinlich langwierige Gerichtsverfahren. Vom Be zirk und seinem Bürgermeister fühlen sie sich im Stich gelassen. Und zeigen sich gleichzeitig kämpferisch. «Wir haben selten so viel Rückenwind für den Mietenprotest gespürt», meint Daniel Diekmann. Er ist sich sicher, dass sie den Streit für sich entschei den werden und das Haus vor dem Abriss bewahren können.
Für Sven Müller und die anderen ehemals Obdachlosen ist es die einzige Möglichkeit. «Wenn ich das hier aufgeben müsste, hätte ich ein richtiges Problem», sagt Müller. In eine Notunter kunft will er nicht zurück, und eine Wohnung finden, ist wohl unmöglich für ihn. «Ich wünsche mir, dass wir das Haus behalten können und die Stadt das Gebäude zurückkauft. Es ist ein so einmaliges Projekt, das zeigt, dass wir nicht schutzlos dem Mie tenmarkt ausgeliefert sind – das muss erhalten bleiben.»
«In Berlin lebten früher alle Schichten zusammen, doch diese Mischung ist jetzt in Gefahr.»
«Ich gehöre diesem Land nicht»
Ukraine Männer dürfen nicht ausreisen, Artem hat es trotzdem getan. Eine Begegnung in Berlin.
TEXT ANNA-ELISA JACOB FOTO KLAUS PETRUSNatürlich gibt es so einige Dinge, die Artem, wie viele andere Menschen auch, an die sem Krieg fürchtet. Die Explosionen nahe seiner Wohnung zum Beispiel, die Sorge um seine Frau und seine Grosseltern oder ja, der Gedanke daran, eine Schusswaffe in der Hand zu halten. Doch es gab noch ei nen anderen Moment, in dem ihn eine bis lang unbekannte Angst überkam: «Als ich merkte, dass es für jemanden wie mich in meinem Land keinen Platz mehr gibt.» Für einen Mann wie ihn, der nicht zur Waffe greifen möchte. Artem ist 33 Jahre alt und lebte bis vor Kurzem in Kiew.
Er heisst eigentlich anders und möchte in diesem Text anonym bleiben, weil er die Hoffnung hat, irgendwann wieder nach Hause zurückzukehren. Was jedoch Kon sequenzen für ihn haben könnte: Denn wer als Mann aus der Ukraine flieht statt zu bleiben, um kämpfen zu können, begeht laut dem ukrainischen Staat in diesen Ta gen ein Verbrechen. Das gilt für diejenigen, die jünger als 60 Jahre sind oder die weni ger als drei Kinder haben. Artem müsste nach seiner Rückkehr wohl mit einer Straf verfolgung rechnen. An einem Sonntag in Berlin, 1365 Kilometer von seiner alten Heimatstadt entfernt, sitzt er nun in einem Café, das sich «Geschmackssache» nennt. Artem mochte Berlin schon, bevor er im April hierher kam. Anfang des Jahres waren er und seine Frau zu Besuch bei seiner Mutter, die in der deutschen Hauptstadt lebt. Hier feierten sie den Beginn eines neuen Jahres – in ihrem «alten Leben», wie Artem es nennt –, und waren ein bisschen wehmütig, als sie wieder in die Ukraine zurückkehrten. Nur für ein paar Wochen, doch das wussten sie damals noch nicht.
«Flucht ist ein Menschenrecht» Nun lebt Artem in Berlin und erzählt die Geschichte seiner Flucht. Die ihn vor viele Ungewissheiten stellte und vor eine ihm bislang fremde Gewissheit: «Jetzt verbindet mich nichts mehr mit meinem Land.» Als Russland am 24. Februar die Ukraine an griff und Artem und seine Frau um fünf Uhr morgens die ersten Explosionen hör ten, machten sie sich sofort auf den Weg. Sie riefen seine Grosseltern an, packten ihre Sachen, sprangen in ihr Auto und fuhren Richtung Westen. Schon als sie dort zu viert im Auto sassen und Richtung Grenze fuh ren, las Artem die ersten Nachrichten. Staatspräsident Volodymyr Zelensky hatte das Kriegsrecht ausgerufen und einen Aus reisestop für Männer zwischen 18 und 60
Jahren angeordnet, um die Verteidigung des Landes zu sichern. Artem wurde klar: Seine Familie darf fliehen, doch er muss in der Ukraine bleiben. Also fuhr seine Frau erst einmal alleine über die Grenze. Brachte die Grosseltern in Sicherheit, damit diese nach Berlin fahren konnten. Vor wenigen Jahren flohen er und seine Grosseltern schon einmal vor einem russischen Angriff, von Donetsk nach Kyiv. Auch damals packte Artem die beiden älteren in sein Auto und nahm sie mit in eine andere Stadt. In Kyiv bauten sie sich ein neues Leben auf. Artem lernte seine Frau kennen, vor drei Jahren haben sie geheiratet. Begegnet waren sie sich im Fitnessstudio. Erst später merkten sie, dass sie noch etwas anderes verband: die erste Flucht, denn auch sie kam 2014 von Donetsk nach Kyiv.
Als er nun getrennt von ihnen in einer Stadt in der Westukraine ausharrte und seine Frau, ebenfalls alleine, in einem Auto auf der anderen Seite der Grenze übernach tete, lag er die ganze Nacht wach. «Meine Frau hätte auch fliehen können, aber sie sagte, dass sie ohne mich nicht gehen würde», erzählt er. Sie fuhr wieder zurück über die Grenze, und dort blieben sie ge meinsam. «Es war schwierig, mit mir als Mann eine Unterkunft zu finden», sagt Artem. Ungefähr drei Wochen waren sie un terwegs, lebten mal im Auto, eine Zeit lang in einer Wohnung. Artem, der eigentlich gerne reist, sagt mit einem müden Lächeln: «Ein Roadtrip kommt für lange Zeit nicht mehr infrage.» Eines Nachts, so erzählt er es, gingen mehrere Männer um das Haus, in dem sie schliefen. Suchten sie nach Ver weigerern wie ihm? Sie hatten Angst und versteckten sich in der Wohnung. Das war der Moment, in dem Artem merkte, dass er sich vor seinem eigenen Staat versteckte, dass sein Land ihn nicht mehr akzeptierte. Und dass er irgendwie versuchen musste, über die Grenze zu gelangen.
In diesen Wochen traf er einen Mann, der sagte, er sei Anwalt. Sein Rat war: «Flucht ist ein Menschenrecht, man kann es dir nicht verbieten.» Er bestärkte Artem, dass die Rechtslage nicht so eindeutig sei, wie die ukrainische Regierung vorgebe. «Ich wusste nicht, ob er recht hat, ich wusste nur, dass ich den Weg in die EU nicht ohne einen offiziellen Stempel be ginnen wollte», sagt Artem. Eines Tages erfuhr er von einem Ort, der sein Schlu pfloch wurde: Beamte auf der anderen Seite der Grenze halfen ihm und seiner Frau beim Ausfüllen ihrer Einreisepapiere.
Und dort bekam Artem auch den Ausrei sestempel in seinen Pass, der für ihn zu mindest etwas Sicherheit bedeutet.
Nicht der Einzige, der so denkt
Man könnte meinen, Artem würde seitdem oft gefragt: Warum bist du nicht geblieben?
Warum verteidigst du dein Land nicht? Doch Artem sagt, das habe eigentlich nie mand wissen wollen, alle hätten sie Ver ständnis gezeigt. Die Menschen, die sie in Rumänien trafen, oder die Vermieterin von ihrem Airbnb in Berlin. Manche meinten: «Es ist ein Wunder, dass du hier bist.» Er musste also all die Dinge gar nicht sagen, mit denen er jetzt erklärt, warum er geflo hen ist: «Es war schon immer meine Posi tion, dass ich nicht kämpfen möchte. Ich glaube auch, ich wäre nicht gut darin. Es gibt viele andere, die darin ausgebildet sind. Ich habe gearbeitet, ich habe Steuern dafür gezahlt, dass mein Land möglichst gut vor bereitet ist. Das würde ich jetzt weiter gerne machen: arbeiten, um die Ukraine zu un terstützen. Und natürlich meine Familie. Was wäre aus ihr geworden ohne mich? Am besten helfe ich, wenn ich ihr helfe.»
Artem weiss, er ist nicht der Einzige, der so denkt: Viele seiner Freunde hatten dieselben Gedanken, auch andere wollten fliehen, manche haben es wohl auch ge schafft. Natürlich leide er mit den Men schen in seiner Heimat. Mit den Freund*in nen, mit denen er regelmässig telefoniert, für die er und seine Frau auch Medika mente organisierten, denen sie bei der Flucht halfen. Aber an diesem Nachmittag in Berlin wirkt es auch, als versuche er sich von seiner Heimat zu lösen. Vielleicht wäre er zurückgekehrt oder gar nicht erst geflo hen, irgendwo in der Westukraine geblie ben, hätte versucht von dort zu helfen. Aber so? «Ich gehöre diesem Land nicht», dieser Gedanke begleitet ihn, seit er im Auto gen Westen die Nachrichten las. Aber er sagt auch: «Es ist eine komische Situation für mich, noch nie war ich ohne Arbeit und ohne Heimat.»
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von HINZ&KUNZT / INTERNATIONAL NETWORK OF STREET PAPERS
Anm. d. Red.: Das Gespräch zwischen der Autorin und Artem hat bereits im April 2022 stattgefunden.
Funksprüche und gefährlicher Funkenflug
Kunst Der Winterthurer Ausstellungsraum Coalmine zeigt, wie sich das dokumentarische Filmschaffen in der Ukraine seit dem Maidan-Aufstand 2014 intensiviert hat.
TEXT MONIKA BETTSCHEN«Während den Maidan-Protesten 2014 schien für eine kurze Zeit alles möglich zu sein: Stabilität, Reformen und eine Annäherung an Europa», sagt Annette Amberg, Ku ratorin des Winterthurer Ausstellungsraums Coalmine. «Aber dann kam im gleichen Jahr die Annexion der Krim durch Russland. Zahlreiche ukrainische Filmschaffende, von denen einige bereits den Maidan-Aufstand begleite ten, nutzen diese Erfahrung seither, um in experimentel ler Form auf die Ereignisse zu reagieren.» Gemeinsam mit dem Filmemacher und Autor Oleksiy Radynski und dem Filmkurator Olexii Kuchanskyi zeigt Amberg in der Coalmine die Ausstellung «To Watch the War».
«Die Proteste», sagt Amberg, «waren für das ukraini sche Filmschaffen ein Katalysator. Für die Künstler*innen ging es nun darum, sich in kurzer Zeit der eigenen Hal tung gegenüber dem Zeitgeschehen, dem sie sich nicht entziehen konnten, bewusst zu werden. Ihre Werke sind daher geprägt von Dringlichkeit und einem starken Wil len, sich in dieser instabilen Umgebung der Wahrheits findung zu widmen.»
Die 22 Videoarbeiten und Filme, sowohl bestehende Werke als auch Neuproduktionen, die als direkte Reaktio nen auf den Angriffskrieg entstanden sind, veranschau
lichen, wie sich das dokumentarische Filmschaffen in der Ukraine unter dem Einfluss der militärischen Bedrohung, aber auch durch das wachsende Bewusstsein für geopo litische Zusammenhänge und Umweltzerstörung inten siviert hat.
Ein eindrückliches Beispiel dafür ist der Film «Labor Safety in the Region of Dnipropetrovsk» von Daniil Rev kovsky und Andriy Rachynsky aus dem Jahr 2018. Dafür trugen die beiden Künstler Handyfilme aus den sozialen Medien zusammen. Sie stammen von Arbeiter*innen aus Fabriken und Minen, die Missstände dokumentieren. So herrscht in einer Aufnahme neben einem Schmelzofen gefährlicher Funkenflug, während in einer anderen ein Güterwagon zur Seite gekippt ist. Gegen Ende filmt ein Arbeiter in einem Tagbau mehrere Explosionen – und dokumentiert damit auch die Umweltzerstörung durch diese Art der Rohstoffgewinnung. «Putin greift an», hört man jemanden halb im Scherz sagen. Ein kurzer Satz, der zeigt, wie stark die ständige Angst davor, dass sich die Kriegshandlungen im Donbas ausweiten könnten, das Leben der Menschen prägte.
«Labor Safety in the Region of Dnipropetrovsk» be steht, wie auch andere der gezeigten Werke, aus soge
In «Sky.Invasion» beschäftigen sich die Künstler Daniil Revkovsky und Andriy Rachynsky mit Funksprüchen (Bilder linke Seite). Im Film «Labor Safety in the Region of Dnipropetrovsk» (rechtes Bild), ebenfalls von Revkovsky und Rachynsky, mit den Bedingungen in Fabriken und Minen.
nanntem Found Footage, also aus Archivbildern oder Han dyvideos, deren Bedeutung durch Techniken der Montage hervorgehoben oder verändert wird. «Zu jedem Film stel len wir einen Text zur Verfügung, damit der Bezugsrah men der oft abstrahierten, rohen oder poetischen Inhalte gegeben ist», sagt Amberg.
Wie wichtig eine solche Einbettung ist, wird deutlich, wenn man sich etwa «Sky.Invasion» von Andriy Rachynsky und Daniil Revkovsky aus dem Jahr 2022 ansieht: Die bei den Filmemacher montierten Found Footage unter an derem von Kampfflugzeugen und vom Rauch, der über der Front aufsteigt. Gleichzeitig sind ununterbrochen Funksprüche aus einem Cockpit zu hören, die sich nicht klar zuordnen lassen. Man erinnert sich an Volodymyr Zelenskys Aufruf an die NATO zu Beginn des Krieges, «Close the Sky», über der Ukraine eine Flugverbotszone einzurichten.
«‹Sky.Invasion› erzeugt Konfusion», sagt Amberg. «Welche Haltung nehme ich als Betrachterin, als Aus senstehende ein? Wessen Stimmen sind zu hören? Es sind russische Funksprüche, die von der ukrainischen Seite abgefangen wurden und jetzt, im Zusammenschnitt mit dem Found Footage, eine Orientierungslosigkeit hervorrufen, wie es dieser Krieg in den Köpfen von uns allen tut.»
Flüchtige Facetten
Buch Alice Grünfelder nähert sich in «Wolken über Taiwan» einem Land an, in dem die existenzielle Bedrohung Alltag ist.
«Wie verabschiedet man sich von einem Land, das es nicht gibt? Zumindest nicht offiziell?» Mit dieser Frage beginnt die Sinologin und Autorin Alice Grünfelder ihr Buch über Taiwan, den Inselstaat, der vom übermächtigen Nachbarn China ständig in seiner Existenz bedroht wird. Als Alice Grünfelder 2020 nach Taiwan reist, um dort sechs Monate zu leben, zu lernen und zu schreiben, ist der Krieg in der Ukraine noch nicht ausgebrochen. Als ihr Buch im März 2022 erscheint, ist er bereits Realität. Und hat uns längst bewusst gemacht, dass solche Drohungen mehr sind als nur diplomatische Scharmützel.
Gerade jetzt wieder baut China ein Drohszenario auf, wer den Raketen abgeschossen, verletzen Kampfflugzeuge den taiwanesischen Luftraum. Das ist nicht neu. Damit leben die Taiwanes*innen schon seit Jahrzehnten. Und wie Grünfelder feststellen muss, ist die Gefahr für viele so alltäglich, dass sie diese nicht mehr ernst nehmen. Gerade die jungen Leute sind gross geworden mit Gefahren wie Erdbeben (über 4000 pro Jahr), Taifunen – und eben auch China.
Die Autorin versucht, dieses Land zu verstehen, sowohl das Fremde als auch das Prekäre. Und wählt dafür eine Form, die an ein klassisches chinesisches Vorbild anknüpft, die sogenannten «Biji», die «Pinselnotizen», essayistische Miniaturen und literarische Kleinformen, die Reiseeindrü cke, Notizen, Anekdoten, Betrachtungen und Gedichte ver sammeln. «Schreiben in der Fremde ist sammeln», erkennt Grünfelder für sich. So entsteht eine breite Palette literari scher Formen, von politischen Analysen über Prosastücke bis hin zu Lyrik – flüchtige Facetten, mit denen sie versucht, die Insel und ihre Bewohner*innen zu erklären.
Diese alphabetisch aneinandergereihten Facetten von A wie Abschied bis Z wie Zeichen umfassen schwebende Reflexionen ebenso wie journalistische Recherchen. Mal schreibt sie über Tempel und Wahrsager, dann wieder über die wechselvolle, blutige Geschichte des Landes auf dem Weg zur demokratischen Gesellschaft, über die grassie rende Umweltzerstörung oder über Obdachlose in diesem Land (siehe Surprise 478), dessen Wahrzeichen der geball ten Wirtschaftsmacht, der 101-Tower, das fünfthöchste Gebäude der Welt, alles überragt. Eine Wirtschaftsmacht, deren weltgrösster Halbleiter-Produzent TSMC vielleicht das letzte Bollwerk vor der drohenden Invasion bildet. Nur, wie lange noch?
«To Watch the War – The Moving Image Amidst the Invasion of Ukraine (2014–2022)», Ausstellung, bis So, 18. Dez., Coalmine, Turnerstrasse 1, Winterthur. So, 23. Okt., 11 Uhr: Matinée im Kino Cameo, Lagerplatz 19, Winterthur. coalmine.ch
CHRISTOPHER ZIMMER Alice Grünfelder: Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land. Rotpunktverlag 2022. CHF 34.90
«Wer ist Walter?» wird mit minimalem Bühnenbild und maximalem Fokus auf Text und Schauspiel gezeigt.
«Ihre Stärke ist, wie sie die Gedanken schärft»
Theater Die Regisseurin Barbara Weber inszeniert am Theater Winkelwiese Ariane Kochs Stück «Wer ist Walter?». Es ist beim Nachwuchsförderprogramm «Dramenprozessor» entstanden.
TEXT DIANA FREIWalter ist weg, abgehauen. Er entzieht sich. Dem Leistungsdruck, den ökonomischen Zwängen, den Erwartungen anderer, dem Bild, das sie sich von ihm machen. Was für eine Provokation. Ein Affront für die, die bleiben und weiterstrampeln in ihren vorde finierten Lebensentwürfen.
«Wo ist Walter?» heissen die farbenfrohen Wimmelbücher, die die meisten von uns kennen. «Wo ist Walter?» – genau das fragen sich die Figuren von Ariane Koch auch, aber die Frage wird bald zu: «Wer ist Walter?» Möglich, dass er ihr Alter Ego ist, das tut, was sie selbst nicht zu tun wagen. Oder er ist die Leerstelle, die man zu fassen versucht – und die letzten Endes vor allem einen selbst spiegelt. Und die vermeintlichen Gewissheiten im Leben der Zurückgebliebenen bröckeln lässt.
Das Verschwinden als literarischen Topos kennen wir. Bekann testes Beispiel dafür ist vermutlich Max Frischs «Stiller», der seine Identität leugnet. Ariane Koch verknüpft das Verschwinden nun mit modernen Aussteigerfantasien oder spinnt es weiter zu al lerlei wilden Formen des Sich-Entziehens. Zum Beispiel in einem post-anthropozänen Dasein als Pflanze, aller Verpflichtungen entledigt und ganz der eigenen Existenz gewidmet. Keine Sys temzwänge, kein Geldverdienen, kein sinnentleerter Konsum.
«Die Frage danach, welche Formen der Selbstermächtigung es gibt, taucht bei Ariane Koch immer wieder auf», sagt die Re gisseurin Barbara Weber, die den Text zurzeit am Theater Win kelwiese in Zürich inszeniert. «Sie bezieht sich dabei immer wie der auf literarische Vorlagen und nutzt sie als direkte Zitate und
Referenzen. Ich mag das sehr, weil man an eine bereits bestehende gemeinsame Gedankenwelt anknüpfen kann.» Und auch der Schlaf wird hier zur Verweigerung, zur valablen Option, sich Zwängen zu entziehen. Oder zur Methode der Selbstermächti gung, denn beim Schlafen redet einem niemand drein.
Vieles findet auf einer gedanklichen Ebene statt, die ein we nig über der Realität schwebt. Aber es wird so konsequent wei tergedacht, dass es einen absurden Witz entwickelt. «Ariane Koch bewegt sich in Möglichkeitsräumen, im Modus des ‹Was wäre, wenn?›. Das ist ihre Stärke, dieser Freiraum im Denken. Gleich zeitig aber auch die Art und Weise, wie sie diese Gedanken schärft», sagt Weber.
«Wer ist Walter?» ist ein lyrischer Text, musikalisch und sprachspielerisch. «Er erinnert ein bisschen an Elfriede Jelinek und steht in der Tradition des Postdramatischen: Man hat einen Fliesstext ohne offensichtliche dramatische Handlung. Man muss sich selbst einen Reim darauf machen. Sich überlegen, ob man ihn aufgrund seiner Musikalität konzertant inszeniert oder ob man Figuren und Situationen daraus baut.»
Diese Offenheit passt gut zum «unplugged»-Format der Winkelwiese, in dem die «Dramenprozessor»-Stücke jeweils gezeigt werden: mit minimalem Bühnenbild und maximalem Fokus auf Text und Schauspiel. «Für uns ist das eine schöne Voraussetzung, um uns den Text zu greifen. Zu beobachten, was passiert, wenn unterschiedliche Menschen ihn sprechen, jung, alt, Männer, Frauen.» Die drei Schauspieler*innen nehmen je ihre eigene Lebensrealität mit in die Auseinandersetzung mit dem Stück.
Und Zwänge, das ist etwas, das wir alle kennen. Wer wie da rauf reagiert, hängt wiederum mit der eigenen Generation zu sammen, dem individuellen Lebensentwurf und den Vorausset zungen, die einen darin lenken. «Wir probieren viel zusammen aus und schauen: Wo gehen für uns Welten auf, wo verbindet sich der Text mit uns? So arbeiten wir zurzeit. Es ist ein grosses Experimentierfeld», sagt die Regisseurin.
BILD: ZVGDie Regisseurin
Barbara Weber, 47, studierte Regie am Institut für Theater, Musiktheater und Film an der Universität Hamburg und war von 2008 bis 2013 Co-Direktorin des Theater Neumarkt Zürich, zusammen mit Regisseur Rafael Sanchez. Heute arbeitet sie als freischaffende Regisseurin, Projektleiterin und Kuratorin. Sie wird sich am Theater Winkelwiese längerfristig mit «Dramenprozessor»-Stücken auseinandersetzen.
ANZEIGE«Wer ist Walter?» ist bereits 2014 im «Dramenprozessor» ent standen. Koch hat das Stück neu bearbeitet, es heisst nun «Wer ist Walter? (reloaded)». Die Leistungsgesellschaft, die Lebens zwänge und die Frage, wie weit man sich dem allem entziehen kann und darf: Das sind Themen, die sich immer wieder reloaden lassen. Veralten werden sie nicht so schnell.
«Wer ist Walter? (reloaded)», So, 25. Sept., Sa, 1., Mo, 3., Do, 6., Fr, 7. Okt. und Do, 3. und Fr, 4. Nov., jeweils 20 Uhr; So, 2. und 9. Okt. und 6. Nov., um 16 Uhr; Theater Winkelwiese Zürich, Winkelwiese 4. winkelwiese.ch
Lesen Sie gemütlich es sich
Entdecken Sie neuen Lesestoff für den Herbst. orellfüssli.ch
Bereits zum zweiten Mal konnte INST zu einer dreitägigen Peer-Weiterbildung mit 60 Stadtführer*innen und Mitarbeiter*innen von Sozialen Stadtrundgängen aus Deutschland, Österreich, Griechenland, England und der Schweiz nach Basel einladen.
FOTOS: FRANTISEK MATOUS«ICH WERDE DEUTLICHER ÜBER ARMUT AUFKLÄREN»
Stadtführungen kennt man als Konzept für Tourist*innen. Wenn Armutsbetroffene ihr Publikum mit auf Tour nehmen, wird aus dem Sightseeing gesellschaftliche Vermittlung. Weiterbildung gehört dazu.
«Während meiner vierjährigen Obdachlo sigkeit habe ich viel Diskriminierung erlebt, aber während des Workshops konnte ich er kennen, welche verschiedenen Formen von Vorurteilen und Stereotypen es gegenüber uns Betroffenen gibt. Deshalb werde ich künftig auf meinen Touren noch deutlicher über Armut und Ausgrenzung aufklären», fasst Surprise-Stadtführer Heiko Schmitz die dreitägige Weiterbildung Anfang Sep tember zusammen. Das internationale Netz werk von Sozialen Stadtrundgängen (INST),
das Surprise 2019 mitbegründet hat, lud rund sechzig Gäste zu einer intensiven Aus einandersetzung zum Fokusthema «Armut und Obdachlosigkeit» nach Basel ein: Tour anbieter*innen und Stadtführer*innen aus Deutschland, Österreich, England, Grie chenland und der Schweiz setzten sich in einer Reihe von Workshops sowohl mit strukturellen und gesellschaftlichen Rah menbedingungen als auch mit den unter schiedlichen biografischen Wegen in die Obdachlosigkeit auseinander.
Esther Mühlethaler und Institutsleiter Mat thias Drilling, Dozierende an der Hochschu le für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), hatten zusam men mit ehemals obdachlosen Stadtfüh rer*innen einen professionellen Peer-Aus tausch für über vierzig Stadtführ*innen aus Berlin, Athen oder Wien vorbereitet. Mühle thaler ist Mitglied des Forschungsnetzwerks Obdachlosigkeit der FHNW und arbeitete in einem internationalen Projekt zu sozialer In klusion und Obdachlosigkeit. Drilling be schäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit Obdachlosigkeit und Armut im internationa len Zusammenhang. Gemeinsam mit seinem Team erstellte er die erste Obdachlosenstu die der Schweiz. In ihrer Forschungstätigkeit beobachteten beide neben Unwissenheit und Stereotypen eine meist ablehnende Hal tung gegenüber wohnungslosen Menschen. Nach Ansicht der beiden Forschenden wer den strukturelle Gründe für Obdachlosig keit – wie der Mangel an bezahlbarem Wohnraum in den Städten oder zu geringes Ein kommen der Einzelnen – selten benannt, und das sowohl von den Betroffenen selbst
als auch vonseiten der Sozialinstitutionen, die mit obdachlosen Menschen in Kontakt stehen. Deshalb bildete die Auseinanderset zung mit gesellschaftlichen Vorurteilen und Schuldzuweisungen den Fokus und Aus gangspunkt der Workshops. Nach Abschluss der dreitägigen Peer-Weiterbildung planen die beiden FHNW-Forschenden voraussicht lich bis Ende 2022 die Produktion eines Booklets, das über die Verflechtung von strukturellen und persönlichen Gründen in formiert, die zu Obdachlosigkeit führen. Die Broschüre will mit Zahlen und Fakten sowie mit den persönlichen Erfahrungen der Stadtführer*innen eine breite Öffentlichkeit für die Lebensrealitäten der Betroffenen sen sibilisieren. Ihr Inhalt wird sich an ein Publi kum in Deutschland, Österreich und der Schweiz richten; dabei sollen sozialwissen schaftliche Erkenntnisse mit dem Erfah rungswissen der betroffenen Stadtführer*in nen kombiniert werden.
Begleitet wurde die Weiterbildung von einer Podiumsdiskussion und der Ausstel lung «Leben am Limit – Wege aus der Ob dachlosigkeit» im Basler kHaus. Der Foto
graf Charles Habib steht seit 2018 im Kontakt mit Personen, die in Basel auf der Strasse le ben, und zeigte nun erstmals seine Fotos. Im Laufe dieser Fotoreportagen begann er die Geschichten von obdachlosen Menschen auch aufzuschreiben und erfuhr dabei von ihren Schicksalsschlägen und ihrem Schei tern in der Gesellschaft. Vier ehemals ob dachlose Stadtführer*innen von Surprise, die insgesamt vierzehn Jahre in Basel auf der Strasse lebten, beantworteten während der Ausstellung Fragen zu Obdachlosigkeit, Ar mut und Ausgrenzung: Wo können obdach lose Personen gratis duschen? Welche Rolle spielt die Einsamkeit? Welche Hilfe ist sinn voll? Ziel der Ausstellung war eine Ausein andersetzung und Begegnung zwischen Be troffenen und Besucher*innen über ihre Wege aus der Obdachlosigkeit und ihr En gagement für ein menschenwürdiges Leben.
TEXT SYBILLE ROTER, GESCHÄFTLEITUNG INST
Alle Infos zu den Sozialen Stadtrundgängen von Surprise unter: surprise.ngo/stadtrundgang
INST – International Network of Social Tours
INST, das internationale Netzwerk von Sozialen Stadtrundgängen, organisiert für Stadtführer*innen und Mitarbeiter*innen von Sozialen Stadtrundgängen jährliche Peer-Weiterbildungen und Austausch treffen. Der gemeinnützige Verein aus Basel wurde 2019 von Anbietern von Sozialen Stadtrundgängen aus der Schweiz (Surprise), Schottland (Invisible Cities), Österreich (Supertramps) und Griechenland (Invisible Tours) auf Initiative von Paola Gallo, ehemalige Geschäftsführerin des Vereins Surprise, und Sybille Roter, Angebots verantwortliche Soziale Stadtrundgänge bei Surprise, gegründet. Durch Austausch, Vernetzung und Weiterbildung soll eine grössere Sichtbarkeit dieser Touren erreicht werden, die von armutsbetroffenen und ehemals obdachlosen Menschen geleitet werden. Ein zentrales Ziel ist die gemeinsame gesellschaftliche Sensibili sierung sowie der Abbau von Vorurteilen gegenüber wohnungs- und obdachlosen Menschen. INST engagiert sich in der Förderung der Stadtführer*innen als gesellschaftliche Vermittler*innen und im Aufbau von weiteren Touren. Die diesjährige Peer-Weiterbildung mit dem Schwerpunktthema «Armut und Obdachlosigkeit» ist Teil eines dreijährigen Programms: 2023 folgt das Fokusthema «Armut und Bildung», 2024 «Armut und Frauen».
Die Weiterbildungen im INST-Netzwerk umfassen neues Wissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten für Stadtführer*innen, Tourenanbietende und Fachpersonen im Bereich der Armutsforschung. www.inst.ngo
Veranstaltungen
Zürich
«Leni Sinclair – Participant Observer» und «Rock – Chole –Chaos: Heinz Meier Free & Virgin», Ausstellungen, bis So, 23. Oktober, Photobastei, Sihlquai 125. photobastei.ch
Die Photobastei, das Haus für Fotografie in Zürich, beginnt den Herbst mit Musik und Rebellion: «Leni Sinclair – Participant Observer» und «Rock – Chole – Chaos: Heinz Meier Free & Virgin». Erstere Ausstellung hat ihren Schwerpunkt in den 1960er-Jahren in den USA und letztere hat Züri-Bezug. Meier war mit seiner Konzertagentur ein Pionier der Schweizer Rock-Szene. Die Fotografin Sinclair stammt aus der DDR und liess sich in Detroit, USA, nieder. Dort hielt sie einige der grössten Musiker*innen ihrer Generation und den rebellischen Kampf für die Bürgerrechte in prägenden Bildern fest. Ihre Fotografien zeigen, wie die Musik und der Kampf um Freiheits- und Bürgerrechte untrennbar miteinander verknüpft waren. DIF
Basel
«Über Nacht», Theater, Mi, 19. bis Fr, 21. Okt. und Mi, 26. bis Sa, 29. Okt., 20 Uhr, Junges Theater Basel, Kasernenhof 11. jungestheaterbasel.ch
feier ihrer Schule beseitigen. Dabei stolpern immerzu Personen in ihre Putzarbeit. Sie stören. Aber die Be gegnungen machen ihr zunehmend klar, dass sie in ihrem Leben – ein geklemmt zwischen Pflicht und Lust – alle Entscheidungen immer aus Angst gefällt hat. Die Frage ist nur, welcher Handlungsspielraum ihr überhaupt bleibt als Kind aus einer Familie mit beschränkten fi nanziellen Mitteln. DIF
Bern
Das Junge Theater Basel zeichnet sich nicht nur durch eine hohe Pro fessionalität aus, sondern auch durch eine gewisse Street Credibi lity, die den Theaterkursen von hu manistischen Gymnasien eher feh len. Die Themen sind entsprechend aus dem verdammt echten Leben gegriffen. So auch «Über Nacht», ein Stück des Basler Autors Lucien Haug (Regie: Suna Gürler, zurzeit Hausregisseurin am Schauspiel haus Zürich). Die 16-jährige Sam muss allein die Reste der Abschluss
«shifting» – Tanz in Bern, internationales Tanzfestival, Do, 20. Okt. bis So, 6. Nov., Dampfzentrale, Marzilistrasse 47. tanzinbern.ch
Wir wissen: Die Welt ist stetig im Wandel. Es finden Veränderungen und Verlagerungen statt, zum Bei spiel von Rahmenbedingungen und Werten. Shifting eben. Am Tanzfes tival finden die grossen gesell schaftlichen Shiftings – im Klima, in unserem Verhältnis zur Natur oder im Zustand der Demokratie und in Diskriminierungsfragen –ihre Form in wilden Pirouetten oder
leisen Prozessen. Oder in einem Roadtrip durch unterschiedliche Bewusstseinszustände im Stück «Tremble». In «Loyalty» wiederum wird es grundsätzlich: Wie lassen sich alte Strukturen so umwandeln, dass sie den Wertvorstellungen von heute gerecht werden? Es geht da bei um Ballett im 21. Jahrhundert. Johanna Hilari vom Institut für The aterwissenschaft an der Uni Bern spricht am 21. Oktober denn auch über Ballette, die explizit auf kolo nialen und imperialistischen Ideo logien beruhen. In «Ôss» geht es der Künstlerin Marlene Monteiro Freitas um Knochen. Um das Skelett, das uns trägt, unseren Kör per, unser Selbstverständnis. Frei tas arbeitet mit der inklusiven Tanzkompagnie Dançando com a Diferença zusammen. Perfor mer*innen der Vorstellung leiten am 30. Oktober auch einen Tanz workshop für Tänzer*innen mit und ohne Einschränkungen. DIF
durch subjektive Erfahrungen de finiert wird, was Wahrheit ist. Was wiederum in eine Zersplitterung der Gesellschaft mündet. (Was Ur sache und was Wirkung ist, wissen wir jetzt auch nicht ganz genau.)
St. Gallen «Entangled Events», Ausstellung, bis So, 6. Nov., Di bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Sa/So 11 bis 17 Uhr, Kunst Halle Sankt Gallen, Davidstrasse 40. kunsthallesanktgallen.ch Es herrscht vielerorts ein gewisses Misstrauen gegenüber der Wirk lichkeit. Was dazu führt, dass
Jedenfalls vereint die Ausstellung «Entangled Events» (deutsch: «Verstrickte Ereignisse») Werke junger, in der Schweiz aktiver Kunstschaffender, die explizit An näherung statt Abspaltung herzu stellen versuchen – in Form von Videos, Installationen und perfor mativen Momenten. Der Mensch tritt hier als schwankendes Subjekt auf, das sich sowohl als Indivi duum wie als Teil einer Gesell schaft versteht. So erzählt etwa Camille Aleña eine Geschichte über die Begegnung zweier antagonis tischer Jugendgruppen in Rom und wirft Fragen zur Wirkung des Er zählens und zur Bedeutung von Dokumentation und Inszenierung auf. Mohamed Almusibli bedient sich seinerseits nicht der Archive, sondern der Imagination, um ei nen Zugang zu Ereignissen in der Vergangenheit zu finden. Camille Kaiser erkundet in ihrer for schungsbasierten Praxis den Weg der Rückführung von Denkmälern aus Algerien nach Frankreich. Sie lenkt die Aufmerksamkeit auf die Nutzung öffentlicher Räume und Symbole, deren Historisierung sie kritisch beleuchtet. DIF
Pörtner in Othmarsingen
Surprise-Standort: Bahnhof
Einwohner*innen: 3037
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 26,8
Sozialhilfequote in Prozent: 2,1
Berühmteste Einwohnerin: Mundartautorin Sophie Hämmerli-Marti (1868 – 1942), deren Gedichte vertont wurden und Eingang ins Volksgut fanden
steht und darum nicht dazu einlädt, sich niederzulassen. Der Parkplatz vor der Dorfbeiz ist riesig, hier können Grossan lässe stattfinden. Familienfeiern etwa, Hochzeitsgesellschaften, die es von der gegenüberliegenden Kirche aus nicht weit haben, oder auch Leichenmahle.
Am Eingang zum Kirchhof steht eine Gedenktafel, die anlässlich des 150. Ge burtstages der Dichterin Sophie Häm merli-Marti aufgestellt wurde. Der zweite Teil des Doppelnamens ist derselbe wie jener der Beiz gegenüber. Auf der Tafel finden sich Gedichte in Mundart sowie ihre Biografie, sie soll sich früh für Frau enrechte eingesetzt haben und deshalb angefeindet worden sein. Vor der Kirche blühen die Apfelbäume, auf der Terrasse sitzen die Rentner und diskutieren über den Putzfrauenlohn, der keinesfalls zu hoch sein sollte. Hier wird noch Zeitung gelesen, vom Lokal- bis zum Boulevardblatt werden einander Artikel vorgelesen und kommentiert. Man hat Zeit, die Seniorenwanderung fällt aus, wie das Lokalblatt berichtet. Allerdings hätten die drei ohnehin nicht teilgenom men. Dafür zahlen sie, wie sie berichten, noch immer mit dem gelben Büchlein ein, einer hat keine Kärtchen, weil er ihnen nicht traut. Es ist davon auszuge hen, dass die Poststelle hier noch rege genutzt wird.
Am Bahnhof gibt es kein Park&Ride, sondern ein Kiss&Ride, doch zurzeit will sich niemand küssend verabschie den. Die Bahnhofstrasse führt zur Disch-Fabrik. Wo einst Zältli produziert wurden, die es an jedem Kiosk zu kaufen gab, werden heute laut Homepage Pastillen, Toffees und Hartbonbons für andere Firmen hergestellt. Offenbar wurden die Zeichen der Zeit rechtzeitig erkannt, und anders als an vielen Orten ist die Fabrik immer noch ein Produktionsstandort.
Die Wegweiser Richtung Dorfzentrum führen erst einmal in eine Sackgasse. «Ende der Fahnenstange», wie eine Anwohnerin informiert. Das übersehene Schild zur richtigen Abzweigung wird
nahezu strategisch von einem Föhrenast verdeckt. Der Weg ins Dorf führt bergab, oben stehen Einfamilienhäuser, Hunde bellen, «Vorsicht Kinder»Schilder sind zu sehen, aber keine Kinder, denn es sind Ferien. Die Häuser sind ein- bis zweistöckig, es herrscht Ruhe im Quartier. Die Feuerwehr trägt den schönen Namen Maiengrün. Unten fliesst die Bünz, hier gibt es Mehr familienhäuser und eine Wiese mit Pfer den, die nicht gefüttert werden dürfen. Während die einen vor allem Tiere verspeisen wollen, wollen die anderen sie vor allem füttern.
Offen steht die Tür des Gemeindehauses. Davor ein Brunnen und ein Tisch mit Bänken, der aber in der prallen Sonne
Das Anschlagbrett gehört zu je einem Drittel der Kirche, der Eidgenossen schaft, die den Platz nutzt, um die Termine der Rekrutenschule bekanntzu geben und mit stimmigen Bildern für den Wehrdienst zu werben, und der Gemeinde, die Mütter- und Väter beratungen anbietet und dazu die Fitnesskurse für Senior*innen sowie den gesamten Jahresplan der Zivilschutz organisation ausgehängt hat. Im Fenster der Kirchgemeinde werden die Treffen der Alleinstehenden bekanntgegeben.
STEPHAN PÖRTNER Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
Die 25 positiven Firmen
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
Schwungkraft GmbH, Feusisberg Coop Genossenschaft, Basel
AnyWeb AG, Zürich
Gemeinnützige Frauen Aarau Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich Itsmytime.ch, Stefan Küenzi, Berlingen Beat Vogel - Fundraising-Datenbanken, Zürich Stadt Illnau-E retikon
Gemeinnütziger Frauenverein Nidau hervorragend.ch | Grusskartenshop debe bijouxtextiles Bern Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti Sterepi, Trubschachen TopPharm Apotheke Paradeplatz Ref. Kirche, Ittigen Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich Madlen Blösch, Geld & so, Basel Fontarocca Natursteine, Liestal Maya-Recordings, Oberstammheim tanjayoga.ch – Yoga in Lenzburg & Online Scherrer & Partner GmbH, Basel Brother (Schweiz) AG, Dättwil Breite-Apotheke, Basel Michael Lüthi Gartengestaltung, Rubigen
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Kontakt: Caroline Walpen Team Marketing, Fundraising & Kommunikation
SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA
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Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.
Eine von vielen Geschichten Lange bemühte sich Haimanot Mesfin um eine feste Arbeitsstelle in der Schweiz, doch mit einem F-Ausweis sind die Chancen klein. Sozialhilfe kam für sie nie in Frage – sie wollte stets selbstständig im Leben auskommen. Aus diesem Grund verkauft Haimanot Mesfin seit über zehn Jahren das Surprise Strassenmagazin am Bahnhof Bern. Dort steht sie bereits früh morgens und verkauft ihre Magazine. Das Begleitprogramm SurPlus unterstützt sie dabei mit einem ÖV-Abo sowie Ferienund Krankentaggelder. Dank der Begleitung auf dem Berner Surprise-Büro hat sie eine neue Wohnung gefunden. Nach langer Zeit in einer 1-Zimmer-Wohnung haben sie und ihr Sohn nun endlich etwas mehr Platz zu Hause.
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#Strassenma g azin «Hinschauen, wo andere wegsehen»
Es tut mir immer wieder weh, negative Leserbriefe zu entdecken. Ich finde es so schade, dass manche Leute Ihre journalistische Arbeit hinter Surprise so wenig zu schätzen scheinen. Oft wird kritisiert, es sei stets nur Negatives zu lesen. Dem stimme ich absolut nicht zu: Insbesondere auf die Verkäufer*innenkolumne sowie die Porträts der Verkaufenden möchte ich hinweisen; meines Erachtens schildern diese stets eine tiefergehende Lebensgeschichte. Unsere Erde (oder besser gesagt: das Verhalten der Menschen) ist nun mal keine Märchenwelt. Deshalb schätze ich es sehr, dass Sie hinschauen, wo andere Medien lieber wegsehen. Leute, die Märchen lesen wollen, finden sicherlich im umfangreichen Sortiment der Regenbogenpresse angemessene Magazine (den Verkaufenden darf man ja dennoch ein Nötli zustecken).
M. GERBER, ohne Ort
#Tour de Suisse «Pörtner hat Talent»
Ich kaufe Surprise seit vielen Jahren und die Themen sind immer sehr interessant. Es gibt viele Beiträge über sozial Benachteiligte oder andere ungemütliche Themen. Auch wenn es unserer Wohlstandsgesellschaft nicht immer in den Kram passt, es ist die Realität, und davor dürfen wir unsere Augen nicht verschliessen. Die Themen sind immer sehr informativ und die Beiträge gut geschrieben. Mit der Tour de Suisse liefert Stephan Pörtner mit seinen sehr originellen, fachkundigen und unterhaltsamen Beschreibungen von Surprise-Standorten willkommene, leichtere Lektüre. Er hat das Talent, die langweiligsten Orte interessant und witzig zu beschrieben, und ich geniesse diese Lektüre jedes Mal sehr. Sie ist wie ein willkommenes «Dessert» nach schweren Mahlzeiten!
E. BRODBECK, ArlesheimImp ressum
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#529 und #530: Literatur
«Geschreibsel im Altpapier»
Ich konnte mit den Artikeln, entschuldigt den Ausdruck: Geschreibsel, nichts, aber auch gar nichts anfangen. Und dabei hattet ihr schon andere Ausgaben, die sehr gut waren – die meisten. Ich lasse das Magazin auch mal gerne im Büro aufliegen, in der Hoffnung, dass sich auch andere mit der Problematik der Ausgegrenzten, Obdachlosen etc. befassen. Aber diese Exemplare sind bereits im Stoss Altpapier.
K. STRÜBIN, Sozialarbeiterin, ohne Ort
Anm. d. Red.:
Wir gestalten jedes Jahr im Sommer zwei Ausgaben mit Literatur, eine für uns sonst unübliche Zusammensetzung des Heftes. Diese literarischen Texte stossen bei vielen Leser*innen auf Gefallen, sie sehen diese als schöne Abwechslung zu unseren anderen, oft schwerge wichtigen Themen wie Armut, Ausgrenzung, Migration usw. Seit Ausgabe 531 stehen für das restliche Jahr wieder die üblichen Themenfelder im Mittelpunkt.
Ständige Mitarbeit
Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer
Mitarbeitende dieser Ausgabe Julia Demierre, Dario Forlin, Urs Habegger, Anna-Elisa Jacob, Tim Lüddemann
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Surp rise-Porträt
«Nicht schon wieder, dachte ich»
«Ich bin in Asmara, der Hauptstadt Eritreas, aufgewachsen. Damals gehörte das Land noch zu Äthiopien. Von 1890 bis zum Zweiten Weltkrieg war es eine italienische Kolonie, zuvor war es 300 Jahre lang Teil des Osmanischen Reiches gewesen. Eritrea hat eine bewegte Geschichte hinter sich – und ich auch.
Als junger Mann fing ich an zu fotografieren und konnte damit meinen Lebensunterhalt finanzieren. Ich hatte ein Fotostudio und war spezialisiert auf Pass- und Porträtbilder. Neben der Arbeit war ich in der Befreiungsbewegung aktiv, die für die Un abhängigkeit Eritreas kämpfte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war zwar ein schöner Vertrag mit Gesetzen für möglichst viel Autonomie in der Provinz Eritrea verfasst worden, aber daran hielt sich Äthiopien nicht lange. Der Unabhängigkeitskampf dauerte mehr als dreissig Jahre und endete erst mit der Staats gründung von Eritrea 1991.
Doch das erlebte ich nicht mehr mit. Innerhalb der Befreiungs bewegung bildeten sich verschiedene rivalisierende Gruppen, und eines Tages wurde ich von meiner eigenen Gruppe beschuldigt, ich gehörte der anderen Gruppe an. Ich wurde ins Gefängnis gesteckt. Als ich nach einigen Monaten freikam, packte ich meine Sachen und setzte mich ins Ausland ab.
In Khartum, der Hauptstadt des Sudan, blieb ich vier Jahre und lebte vorwiegend vom Fotografieren. Dann machte ich mich auf, um einen freieren Ort zum Leben zu suchen. Als Christ hatte ich allmählich genug von den strengen muslimischen Regeln und Kontrollen, zum Teil auch Schikanen. Nach kurzen Stationen in Libyen und Syrien wurde ich in Beirut im Libanon fündig. Dort konnte ich am Abend auch einmal an die Promenade, Kollegen treffen und entspannt ein Bier trinken.
Ich wohnte fast neun Jahre in Beirut, beging dann aber einen dummen Fehler. Ich hatte es verpasst, meine Aufenthaltsbewilligung zu erneuern. So wurde ich Ende 2004 verhaftet und ausgewiesen. Nach Eritrea! Dort blieb ich nicht lange. Obwohl mehr als fünfzehn Jahre vergangen waren, befürchtete ich, wieder im Gefängnis zu landen – und ich kam ja gerade aus dem Gefängnis.
Zu jenem Zeitpunkt war es für mich am einfachsten, mein Glück noch einmal in Khartum zu versuchen. Dieses Mal meinte es das Schicksal gut mit mir, denn ich lernte dort im Sommer 2005 meine aus Äthiopien stammende Frau Merima kennen. Um zusammen leben zu können, heirateten wir sehr bald und führten zusammen und erfolgreich ein Fotostudio.
Leider wurde uns der Erfolg zum Verhängnis. Unsere Konkur renz war neidisch und machte vor allem mir das Leben schwer. Über einen Ausländer, einen Christen, verheiratet mit einer
Negussie Weldai, 63, hat schon an vielen Orten gelebt, seit zwölf Jahren lebt er in der Schweiz. Er arbeitet im Berner Regionalbüro von Surprise und verkauft das Surprise-Magazin am Bahnhof in Bern.
Muslimin, kann man irgendwelche Unwahrheiten verbreiten und schon riskiert er, verhaftet zu werden. Nicht schon wieder, dachte ich.
Weil mein Bruder bereits in Genf lebte, hatten wir die Idee, dass ich mit einem Visum über Italien in die Schweiz reise, einen Asylantrag stelle und Merima im Familiennachzug nach kommen kann. Für Visa und Flüge für zwei reichte unser Geld nicht. Doch unser Plan ging nicht auf. Bei mir lief vieles schief. Die Schweizer Behörden glaubten mir erst nicht, dass ich Eritreer bin, es folgten Rekurse, Dokumente gingen verloren. So kam es, dass Merima und ich uns erst im Oktober 2015 im Asylempfangszentrum Vallorbe wiedersahen. Nach fünf Jahren und vier Monaten!
Merima ist jetzt seit sieben Jahren in der Schweiz, ich seit mehr als zwölf Jahren. So lange verkaufe ich auch schon Surprise. Und seit sechs Jahren arbeite ich im Surprise-Regionalbüro Bern, wo ich vor allem für die Ausgabe der Hefte zuständig bin. Mit dieser Anstellung ging mein grosser Wunsch in Erfüllung, meinen Lebensunterhalt wieder selbst und ohne fremde Hilfe verdienen zu können. So wie ich es in Asmara, Khartum und Beirut auch immer tat.»
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
ZÜRICH,
AUS
Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer
und erzählen aus ihrem Leben.
direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Zürich,
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