Strassenmagazin Nr. 552
bis 29.
CHF 6.–
davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen
Strassenmagazin Nr. 552
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Ein Sommerausflug in die Schweizer Vogelwelt, wo es immer leiser wird.
Entlastung
Sozialwerke
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BEGLEITUNG UND BERATUNG
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STRASSENCHOR
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Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl
Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl
Entwicklungsmöglichkeiten Unterstützung
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Expertenrolle Job
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STRASSENFUSSBALL
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Erlebnis
STRASSENMAGAZIN
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Information
SOZIALE STADTRUNDGÄNGE
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Perspektivenwechsel
Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
IN AARAU Schützenhaus | Sevilla | the green corner IN ALSTÄTTEN SG Zwischennutzung Gärtnerei IN ARLESHEIM Café Einzigartig IN BAAR Elefant IN BACHENBÜLACH Kafi Linde IN BASEL Bäckerei KULT Riehentorstrasse & Elsässerstrasse | BackwarenOutlet | Barista Bar Basel | Bioladen Feigenbaum Bohemia | Café-Bar Elisabethen | Flore | frühling | Haltestelle | FAZ Gundeli Oetlinger Buvette | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen | Quartiertreffpunkt Lola Les Gareçons to go | KLARA | L’Ultimo Bacio Gundeli | Didi Offensiv | Café Spalentor HausBAR Markthalle | Shöp | Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite | Wirth’s Huus IN BERN Äss-Bar Marktgasse | Burgunderbar | Hallers brasserie | Café Kairo | Café MARTA Café MondiaL | Café Tscharni | Lehrerzimmer | Lorraineladen | Luna Lena | Brasserie Lorraine | Dreigänger | Generationenhaus | Löscher | Sous le Pont | Rösterei | Treffpunkt Azzurro | DOCK8 | Café Paulus | Becanto | Phil’s Coffee to go IN BIEL Äss-Bar Inizio | Treffpunkt Perron bleu IN BURGDORF Bohnenrad | Specht IN CHUR Café Arcas | Calanda | Café Caluori | Gansplatz | Giacometti | Kaffee Klatsch | Loë | Merz Punctum Apérobar | Rätushof | Sushi Restaurant Nayan | Café Zschaler IN DIETIKON Mis Kaffi IN FRAUENFELD Be You Café IN LENZBURG Chlistadt Kafi | feines Kleines IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer IN LUZERN Jazzkantine zum Graben Meyer Kulturbeiz & Mairübe | Blend Teehaus | Bistro & Restaurant & Märkte Wärchbrogg | Pastarazzi | Netzwerk Neubad | Sommerbad Volière | Arlecchino IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz IN STEIN AM RHEIN Raum 18 IN ST. GALLEN S’Kafi IN UEKEN Marco’s Dorfladen IN USTER al gusto IN WIL Caritas Markt IN WINTERTHUR Bistro Sein IN ZUG Bauhütte | Podium 41 IN ZÜRICH Café Noir | Zähringer | Cevi Zürich | das GLEIS Kleinwäscherei | Kiosk Sihlhölzlipark | Quartiertreff Enge | Quartierzentrum Schütze Täglichbrot | Flussbad Unterer Letten | GZ Witikon | GZ Wipkingen jenseits im Viadukt | Kafi Freud | Kumo6 | Sport Bar Cafeteria | Zum guten
Heinrich BistroWeitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise
Café Surprise – eine Tasse Solidarität
Zwei bezahlen, eine spendieren.
«Amsel, Drossel, Fink und Star» aus dem bekannten Kinderlied aus dem 19. Jahrhundert kann man hierzulande noch zwitschern hören. Aber ob «sie alle lustig sind, flink und froh sich regen», das lässt sich in Zweifel ziehen, schaut man sich das Ausmass des Vogelschwunds in der Schweiz einmal genauer an.
Die sogenannten Roten Listen der Internationalen Naturschutzunion beurteilen das Aussterberisiko einer Art auf globaler Ebene, für manche tragen wir gesonderte Verantwortung. Die Liste der national prioritären Arten in der Schweiz enthält derzeit 118 Vogelarten, von denen 50 auf spezielle Artenförderungsmassnahmen angewiesen sind.
Vogelschwund ist, wie sämtlicher Verlust an Biodiversität, ein schleichender Prozess. Zu leicht gewöhnen wir uns daran. Nicht nur, weil wir Menschen für einen Grossteil davon verantwortlich sind und das nur ungern zugeben. Auch weil die Folgen nicht immer unmittelbar, sondern oft erst zeitverzögert spürbar werden. Zum Beispiel als Stille im Frühjahr. Surprise-Literaturautor
Ralf Schlatter bedauert diese und hat für uns darüber geschrieben – mit ein bisschen Humor trotz des ernsten Themas. Ab Seite 8.
Im dritten Teil unserer Serie zu Digitalisierung geht es um das Sammeln von Daten und dessen Folgen, um die Gefahren und Vorzüge
künstlicher Intelligenz und um digitale Überwachungsmethoden. Vieles scheint beängstigend, auch weil es im Gegensatz zum Artensterben rasant vonstatten geht, manches macht aber auch Hoffnung. Ab Seite 12.
Der Fotograf Toby Binder interessiert sich für Jugendliche, die an Orten aufwachsen, die ihnen wenig Perspektive bieten. Über einen langfristigen Vertrauensaufbau zu seinen Protagonist*innen ist es ihm möglich, mit der Kamera einen Einblick in Subkulturen zu bekommen, die ein Gegenentwurf zur Stigmatisierung und Exklusion sind.
Auf g elesen
News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
In Deutschland werden immer häufiger Obdachlose im Auftrag der Behörden durch die Polizei von ihren Schlafplätzen vertrieben. Allein in Hamburg gab es voriges Jahr 240 solche Räumungen, wie die Polizei mitteilte. Gemäss der Strassenzeitung Hinz&Kunzt sind diese Zahlen zu tief angesetzt: Ihre Umfrage bei den Bezirksämtern brachte ans Licht, dass Obdachlose in mindestens drei von vier Fällen bereits dann ihren Schlafplatz verlassen, wenn ihnen eine Räumung angekündigt werde – in solchen Fällen sei die konkrete Durchführung nicht mehr nötig und würde entsprechend statistisch auch gar nicht erfasst.
von Schlafplätzen im öffentlichen Raum allein in Hamburg
Minister*innen und Staatssekretär*innen der deutschen Ampelkoalition haben sich vergangenes Jahr 142 Mal zu persönlichen Gesprächen mit Vertreter*innen der Immobilienwirtschaft getroffen. Das geht aus einer Anfrage im Bundestag hervor. Mit Mieter*innenorganisationen traf sich dieselbe Regierung hingegen nur 50 Mal. Allein Wirtschaftsminister Robert Habeck traf sich zehn Mal mit der Immobilienfirma Vonovia, kein einziges Mal mit dem Mieterbund. Wenig überraschend also lassen die Verbesserung des Mieterschutzgesetzes und das Vorkaufsrecht für Kommunen weiterhin auf sich warten.
Einer von vier Medienberichten über Menschen mit Behinderungen verletzt die UN-Behindertenkonvention, so eine neue Studie von Media Affairs zur Inklusion und Behinderung im öffentlichen Diskurs. Zu oft werde eine diskriminierende sowie klischeebehaftete Sprache verwendet, um über Betroffene zu reden.
T-Shirts und Sommerkleider, lange und kurze Hosen, Pullover, Schuhe. Danach fragt die Kirchliche Gassenarbeit Bern traditionellerweise, wenn sie in den sozialen Medien einen Spendenaufruf für ihre Klient*innen platziert. Für eine Aktion Anfang Mai hat sie ihr Repertoire nun erweitert.
Denken wir an menschliche Grundbedürfnisse, kommen uns Wärme, Schlaf und Ernährung in den Sinn. Aber auch Ruhe und Entspannung. Klar, wen massive Sorgen plagen, dem*der erscheint es vielleicht unmöglich, an so etwas zu denken wie: Sich auch mal etwas Gutes zu tun. Dafür ist keine Zeit, keine Kraft und kein Raum. Und doch ist auch klar, dass ausgeruht und erholt jeder Knoten weniger verworren wirkt.
Selbstfürsorge, Achtsamkeit, Mental Health sind Schlagworte unserer Zeit. Selbst die Fachwelt diskutiert, wenn sie über Armut spricht, zunehmend über psychische Gesundheit. So etwa jüngst Anfang Juni an der von der Berner Fachhochschule organisierten nationalen Gesundheit-und-Armuts-Tagung mit dem Ziel: «Psychische Gesundheit von Armutsbetroffenen stärken».
Nun kostet im Park in der Sonne liegen oder ein Spaziergang im Wald nichts (in Bern sind auch die Freibäder kostenlos). Doch für viele wohltuende Freizeitaktivitäten braucht es ein Eintrittsticket. Also benannte die Gassenarbeit Bern ihren Spendenaufruf dieses Mal mit «Self-Care für alle!» und fragte nach Gutscheinen fürs Theater, Kino oder ein Konzert, für einen Coiffeurbesuch, für SBB-Tageskarten oder die Gurtenbahn, für das Hallenbad, die Sauna, das Hammam, für eine Massage oder Wellness. LEA
An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.
Vor Gericht
Nein, ein politischer Prozess sei das nicht, sagt der Staatsanwalt. Sondern ein normales Strafverfahren. Doch es fällt schwer, den Fall nicht im Kontext der Basel-NazifreiDemonstration 2018 zu sehen. Da hatte sich die Basler Justiz selbst in ein politisches Licht gerückt – inklusive einer Rüge des Bundesgerichts wegen Willkür und Voreingenommenheit. Die Anklage gegen den 31-jährigen Aktivisten zeigt, dass sie an ihrer harten Gangart festhält. Die schwersten Delikte – Landfriedensbruch sowie Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte – betreffen den G20-Protest in Hamburg 2017 und einen Basler Demonstrationszug gegen die türkische Offensive in Afrin 2018. Bezüglich einer Brückenblockade zugunsten des Widerstands in Rojava 2019 geht es um die «Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen», dies bei der Strassenblockade vor einer Kundgebung zu den Basel-Nazifrei-Prozessen um Verkehrsregelverletzungen.
In der Anklage ist viel vom «schwarzen Block» die Rede und einem «einschlägig vorbestraften und wiederholt an gewalttätigen Demonstrationen mitwirkenden Beschuldigten». Der sagt dazu bloss: «Ja, ich bin politisch aktiv und werde es auch bleiben.» Eigenhändige Gewalt, sagt der Staatsanwalt, könne ihm nicht nachgewiesen werden. Ein friedlicher Demonstrant sei er aber nicht. Denn friedlich mitmarschierende Demonstrant*innen leisteten psychologische Unterstützung für die gewalttätigen Teilnehmer*innen. Videoaufnahmen
sowie DNA-Spuren zeigten: Der Mann war dabei und habe die Gewalt mitgetragen, teils als «Leader-Figur mit Megafon». Dafür soll er 10 Monate ins Gefängnis.
Aus Sicht des Strafverteidigers vernachlässigt das Strafgericht Basel seine wichtigsten Aufgaben: die Pflege des demokratischen Rechtsstaats, die Wahrung der Grundrechte. Die gälten nämlich auch für den «schwarzen Block». Die Anklage zeuge von Vorurteilen des Staatsanwalts. Der Beschuldigte sei nicht vorbestraft, die DNA könne ihm nicht eindeutig zugeordnet werden, der Strafantrag sei krass überhöht. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei klar: Friedliche Demonstrant*innen sind durch die Versammlungs- und Meinungsäusserungsfreiheit geschützt – auch bei Randale. Auch Verspätungen im öffentlichen Verkehr müsse ein Rechtsstaat ertragen. Der Verteidiger will einen vollumfänglichen Freispruch.
Das Gericht hält fest: Die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration ist nicht strafbar – und spricht den Angeklagten diesbezüglich frei. Doch in Hamburg, das zeigten Videos: «Da hat der Beschuldigte den demokratischen Boden verlassen.» Bezüglich der Afrin-Demo in Basel sei die Anwesenheit des Mannes nicht erwiesen; die DNA-Probe ist ein Mischprofil – nur ein Indiz, kein Beweis. Ein Schuldspruch ergeht wegen der «Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen». Auch die Brücken- und Strassenblockaden seien über ein duldbares Mass hinausgegangen. Ins Gefängnis muss der Aktivist aber nicht – es bleibt bei einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu 40 Franken und einer Busse von 1800 Franken.
Es gab eine Zeit – nach einem Sturz aus dem sechsten Stock des Universitätsspitals (siehe Surprise Nr. 544) –, als mir klar wurde, dass ich die Stadt Zürich verlassen musste, wenn ich physisch und psychisch gesund werden wollte. Mein erster Gedanke war, ich will mit Tieren arbeiten und die Menschen, vor allem in Massen, meiden.
So gelangte ich aufs Land in ein Bauernhaus, das zum BeWo, Betreuten Wohnen, gehörte. Dort gab es verschiedene Tiere, darunter auch ein Gänsepaar. Gänse gehören zu den Tieren, die sich ein Leben lang treu bleiben.
Kaum war ich dort, geschah es, dass ein Fuchs den Gänserich holte. Wir fanden nur noch seinen Kopf im blutigen Schnee. Schnell war unsere Betreuerin informiert, und sie rief sofort den Chef des BeWo an. Dieser meinte, es wäre wohl das Beste, der Gänsefrau auch gleich den Hals umzudrehen. Ich war empört und sagte: Das machen wir sicher
nicht. Wir könnten doch die Gans von den Stallungen zu uns herauf vor das Wohnhaus nehmen. Ihr könnt das ja versuchen, meinte der Chef. Ich müsse aber die Verantwortung für die Gans übernehmen.
Zuerst wollten wir alle gemeinsam die Gans einfangen, welch ein Kabarett! Also schickte ich alle weg und hatte prompt keine Mühe mehr, die Gans ruhig, mit meinen Armen um ihre Flügel gelegt, aus ihrem Gehege zu tragen. Auf der Strasse dann liess ich sie runter und sie watschelte ganz ruhig neben mir her bis zum Wohnhaus. Oben angelangt, also nur zehn Minuten später, rief ich den Chef an. Der glaubte es kaum.
So gelangte ich an eine Gans, die ich Emma nannte, weil ihr Watschelgang an eine ältere Frau erinnerte. Die Freundschaft mit ihr war rar und aussergewöhnlich schön. Zusammen überwanden wir unsere zwar unterschiedlichen, aber doch schlimmen Erlebnisse. Jeden Abend sass ich eine halbe bis eine ganze
Stunde mit Emma vor dem Haus. Wir fanden Trost und Verständnis beieinander. Wobei sie mir immer wieder mit ihrem Schnabel zärtlich am Ohr knabberte. Mit dem Schnabel, mit dem sie auch Fremde vom Haus fernhielt, besser als manch ein Hofhund.
Leider musste ich das BeWo nach einem Jahr verlassen, da ein Schicksalsschlag mich wieder nach Zürich brachte. Was aus Emma geworden ist, habe ich leider nie erfahren. Als ich anrief, um mich nach ihr zu erkundigen, hiess es nur lapidar, man gebe ehemaligen Bewohner*innen keine Auskunft. Noch heute denke ich ab und zu an sie und an die tolle Freundschaft, die wir hatten.
KARIN PACOZZI, 56, verkauft Surprise in Zug. Sich um Emma zu kümmern, bedeutete ihr so viel, dass es ihr endlich gelang, auch besser zu sich selbst Sorge zu tragen.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Die Schweiz wird als eines von wenigen Ländern in Europa in den kommenden drei Dekaden ein Bevölkerungswachstum erleben. Die Zahl der Einwohner*innen wird gemäss dem mittleren Szenario des Bundesamtes für Statistik von 8,7 auf 10,4 Millionen zunehmen. Zu diesem Bevölkerungswachstum kommt eine Verschiebung der Gewichte zwischen den verschiedenen Altersgruppen. Diese Veränderungen können gut mit dem Altersquotienten abgebildet werden. Dieser zeigt die Relation zwischen den Rentner*innen (65plus) und der erwachsenen Bevölkerung (20–64 Jahre). Nimmt der Altersquotient über die Zeit zu, wächst die ältere Bevölkerung schneller als die Erwerbsbevölkerung. 2020 hatte die Schweiz einen Altersquotienten von 33 Prozent, 2050 wird dieser auf 46 Prozent gestiegen sein.
Der Altersquotient spielt in der Alterspolitik eine unrühmliche Rolle. Er wird gerne zitiert, um aufzuzeigen, dass die Finanzierung der Altersvorsorge, insbesondere der AHV, immer schwieriger wird. Von Jahr zu Jahr verteilt sich die Last einer Rente auf immer weniger Schultern. Das ist ein Trugschluss. Die AHV interessiert sich nicht für die Köpfe, sondern für deren Portemonnaie. Entscheidend ist, wie viel die Bevölkerung im Erwerbsalter verdient und wie viele Renten aus den Lohnabzügen finanziert werden müssen.
Der Altersquotient hat darum eher eine gesellschaftspolitische und eine sozialplanerische Bedeutung. Eine Gesellschaft des langen Lebens funktioniert anders, als wir es heute gewohnt sind. Das Zusammenleben der verschiedenen Generationen
Altersquotient der Kantone 2050
wird sich verändern, Kultur und Konsum werden sich stärker an den Vorlieben und Bedürfnissen der älteren Menschen ausrichten.
Der Altersquotient gibt auch Hinweise zur personellen Planung in der Infrastruktur. Die wachsende Zahl älterer Menschen hat andere Mobilitäts und Freizeitbedürfnisse, braucht mehr Personal in der Betreuung und Pflege, sucht andere Formen des Wohnens und Zusammenlebens. Fachpersonen aus den Sozialen Berufen werden gefragt und gefordert sein. Für die meisten Facetten dieser sozialen Infrastruktur sind die Kantone und ihre Gemeinden zuständig. Darum ist ein Blick auf die kantonalen Altersquotienten wichtig. Ins Auge sticht, dass diese sich ganz unterschiedlich entwickeln. So nimmt der Altersquotient des Kantons Genf zwischen 2020 und 2050 nur von 26 auf 34 Prozent zu, während der Altersquotient des Kantons Graubünden im gleichen Zeitraum von 37 auf 67 Prozent und jener des Kantons Tessin von 40 auf 68 Prozent steigt. Kantone wie Schwyz, Baselland und das Wallis werden 2050 Altersquotienten von 55 und mehr Prozenten haben. Anders sieht es in den Kantonen Zürich, BaselStadt und der Waadt aus; hier erreicht der Altersquotient nicht einmal den Wert von 40 Prozent. Dieser Vergleich macht deutlich, wie unterschiedlich die Kantone alterspolitisch gefordert sind. Das heisst aber nicht, dass man den Kantonen die Alterspolitik überlassen sollte. Zum Beispiel braucht es trotzdem ein nationales Anrecht auf Betreuung.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Natur Die Vogelwelt hat sich in den letzten hundert Jahren drastisch reduziert. Still und leise. Dass das Verschwinden schleichend vor sich geht, macht es so schwierig, das Ausmass zu begreifen. TEXT RALF SCHLATTER ILLUSTRATIONEN CHI LUI WONG
«Ich bliibe debii! Ich bliibe debii!», ruft der Gartenbaumläufer. Ruft's und läuft spiralförmig den Baumstamm empor, mit seinem elegant gekrümmten Schnabel, perfekt, um unter die Rinde zu stochern. Ich bin froh, das zu hören von ihm. Dass er dabeibleibt. Dass er dableibt. Dass es ihn noch gibt.
Wir stehen im Auenwald, an der Reuss, bei Rottenschwil. Auf der Suche nach denen, die noch da sind. Es sind immer weniger. Und immer wieder flattern sie auf den Tisch, auf den Bildschirm, wie ein Schwarm Raben, Unglücksraben, warum auch immer die so heissen: die Berichte über das Sterben der Vogelarten. Die Naturschutzorganisation BirdLife Schweiz hat aus ihrem Archiv den Stand der Vogelwelt in der Schweiz aus ihrem Gründungsjahr vor hundert Jahren hervorgeholt, zum Vergleich mit heute. Sie ahnen es, liebe Leser*innen, das Ergebnis ist trostlos. «Morgen morgen morgen kommt der Gerichtsvollzieher!», ruft der Buchfink.
Nun ja, mein lieber Buchfink, der ist schon lange hier. Wir haben ihn selber geholt. Aber wir wollen ihn nicht sehen. Morgen vielleicht, aber nicht heute. Die Sonne scheint grad so schön, wir leben ja noch, und die Vögel pfeifen, was will man mehr. «Shifting baseline» nennt sich das im Wissenschaftsjargon: Die Arten sterben schleichend, und genauso schleichend gewöhnen wir uns daran. Die Schweizer Vogelwelt vor hundert Jahren also. Wie wir es in nur vier Generationen geschafft haben, das alles zu vernichten.
Mir zieht es das Herz zusammen, als ich das lese. Wie vielfältig diese Welt einmal war. Dass wir in der Schweiz damals nur halb so viele Menschen waren wie heute, ist vielleicht einer der Gründe, aber sicher nicht der einzige. «Morgen morgen morgen kommt der Gerichtsvollzieher!»
Immer, wenn es mir weh wird ums Herz, schliesse ich mich Ruth Grünenfelder an, meiner Liebsten, wenn sie loszieht in die Welt der Vögel, denn alles, was ich von den Vögeln weiss, das weiss ich von ihr. Heute also an die Stille Reuss, diesen alten gebogenen Arm des Flusses, als wir dem Fluss noch erlaubten, zu mäandern, jetzt ist er abgeschnitten, unter Naturschutz gestellt. Naturschutzgebiet, wie absurd eigentlich, der Mensch schützt die Natur vor dem Menschen. «Morgen morgen morgen kommt der Gerichtsvollzieher!»
In den Obstgärten, damals, vor hundert Jahren, da brüteten noch der Rotkopfwürger, der Gartenrotschwanz, der Wendehals und der Steinkauz. Der Rotkopfwürger ist ausgestorben, den Gartenrotschwanz und den Wendehals habe ich erst einmal im Leben gesehen, in Maienfeld, und war völlig aus dem Häuschen, der Steinkauz musste kürzlich zum Vogel des Jahres erklärt werden, um die letzten seiner Art zu retten. «Morgen morgen morgen kommt der Gerichtsvollzieher!» Ja, liebe Leser*innen, damit müssen Sie für den Rest dieser Lektüre leben, und Sie kommen noch gut weg damit. Der Buchfink singt diese Strophe über tausend Mal pro Tag.
Mit dem Zweiten Weltkrieg kam die sogenannte «Anbauschlacht». 60 000 Hektaren Land wurden entwässert, 11 000 Hektaren Wald gerodet und 80 000 Hektaren Land melioriert, wie man so schön sagt: verbessert. Ertragreicher gemacht. Ein Hektar ist ein Fussballfeld. Weil die Menschen sich gegenseitig abschlachteten, hat man in der Schweiz die Natur geschlachtet. «Morgen morgen morgen kommt der Gerichtsvollzieher!»
Also gut, wenn Sie unbedingt eine andere Phrasierung wollen: «Fritz Fritz Fritz bring mer no es würzigs Bier!» Wegen grassierendem Alkoholismus – irgendwie musste der Mensch ja das Abschlachten verarbeiten – liess der Bundesrat 1955 Millionen von HochstammObstbäumen fällen. «Fritz Fritz Fritz bring mer no es würzigs Bier!» Es folgte die absolut gnadenlose landwirtschaftliche Effizienz, Monokulturen, Pestizide, Übernutzung, Überdüngung, gnadenlos bis heute, der Rest ist traurige Geschichte.
Wenn das Habitat verschwindet
Wir sehen tatsächlich eine Zwergdommel, einen Teichrohrsänger, später Kiebitze. Vor hundert Jahren brüteten in der Linthebene und anderen Feuchtgebieten noch der Grosse Brachvogel, die Bekassine, der Rotschenkel, das Tüpfelsumpfhuhn, das Kleine Sumpfhuhn und das Zwergsumpfhuhn. Nur der Kiebitz ist davon als Brutvogel noch übrig, und auch nur dank Artenförderungsprogrammen. Die Singdrossel, das hat uns einmal der Ornithologe und Vogelstimmenimitator Uwe Westphal beigebracht, müsse man sich als Touristin vorstellen: «Wohin? Wohin? Wohin? Montreux? Montreux? Montreux? Piz Palü? Piz Palü?» Schöne Idee, nur können Vögel nicht einfach verreisen oder auswandern. Vögel, die in ihrer Heimat kein Habitat mehr haben, sterben dort einfach aus. «Morgen morgen morgen kommt der Gerichtsvollzieher!»
Das geschieht alles still. Wenn eine Art ausstirbt, stirbt sie still aus. Ich glaube nicht, dass der letzte Rotkopfwürger der Schweiz wusste, dass er der letzte Rotkopfwürger der Schweiz war, bevor er starb. Bevor er still starb.
Ich stelle mir die Welt vor ohne Menschen. Es wäre eine stille Welt. Im Frühling aber wäre sie laut. Wunderschön laut. «Wie wie wie hab ich dich so liiiieb!», ruft die Goldammer jetzt, zuoberst auf einer Hecke sitzend, ihrer Singwarte. Das Rebhuhn gab’s, früher, rund um Zürich herum, die Grauammer, den Baumpieper, den Raubwürger, das Braunkehlchen. Rebhuhn und Raubwürger sind verschwunden, für immer, kein Wunder, das Rebhuhn haben wir Menschen sogar noch gejagt. Vor einiger Zeit war ich mit drei Ornitholog*innen im Hochmoorgebiet von Rothenturm, es ging darum, brütende Braunkehlchen zu zählen. Es sind mehr oder weniger die letzten im Mittelland. Das Braunkehlchen hat das Pech, ein Wiesenbrüter zu sein, seine Lebensgrundlage verschwindet im QuadratmeterPro Sekundentakt. Und leider kann es die Tafeln nicht lesen, wo Naturschutzgebiet draufsteht, und wehe, es macht sein Nest ein paar Meter weiter. Die Vogelschützer*innen haben ihnen extra sogenannte Cluster gemacht, Nistflächen, mit extra Bambusstöcklein, zum Draufsitzen. Alles abgezählt und kartiert. Da standen wir dann, ein kalter Wind ging, schauten mit klammen Fin
gern durch unsere Feldstecher und machten Kreuze auf der Karte, wenn wir ein Braunkehlchen sahen. Und hofften, dass es nistet. Nach vier Stunden und zwölf gesichteten Braunkehlchen gingen wir wieder nach Hause. Zwölf. «Morgen morgen morgen kommt der Gerichtsvollzieher!» Ich sehe noch diese Bambusstöcklein, wie sie, wie ein Mahnmal für unser schlechtes Gewissen, mit dem kleinen, wunderschönen Vogel drauf im Wind leicht hin und her schaukeln.
Sich anpassen oder abgehängt werden
«Hol Surchruut, Rüedu! Hol Surchruut, Rüedu!», gurrt die Ringeltaube. Fünf Silben. Die Türkentaube hat drei. Ich merke sie mir mit «Erdoğan». Na ja, nicht sehr galant, ich weiss, die Türkentaube kann ja nichts dafür. Sie ist eine der wenigen Arten, die zugelegt haben in den letzten Jahrzehnten. Warum? Sie haben sich dem Menschen angepasst. Kulturfolger nennt man diese Vögel. Die Saatkrähe gehört auch zu ihnen. Die dann vom Menschen wieder vertrieben wird, weil sie ihm zu laut ist, so im Trupp. Ach, Mensch. «Spitzbueb! Spitzbueb! Sitz i da! Sitz i da!», ruft die Kohlmeise. Ach, Meise. Spitzbueb war leider gestern. «Morgen morgen morgen kommt der Gerichtsvollzieher!»
Was bleibt den Vögeln denn anderes übrig, als sich dem
Menschen anzupassen. Nur schaffen das leider nicht alle. Wann haben Sie zum letzten Mal eine Feldlerche gehört? Hoch oben, am Himmel? Von der man sagt, sie jubiliere? Nun, das Jubilieren hat schon lange einen sehr zynischen Unterton. Wir sehen noch einen Kuckuck, zurück von seiner Tausende von Kilometern langen Reise. Auch er selten, heutzutage. Weil seine Wirtsvögel früher brüten, weil es immer wärmer wird, und er deswegen die Eiablage verpasst. Er ist zu spät. Ja, das hängt eben alles zusammen, auf wundersame Weise. Nun hat der Mensch das ökologische Gleichgewicht in einem Tempo aus dem Lot gebracht, dass die Evolution nicht mehr nachkommt. Einen Pirol hören wir, ebenso selten. Wir sehen einen Neuntöter, der seine Beute auf Dornen steckt, um sie später zu fressen, und den prächtigen Eisvogel, wie er knapp über die Wasseroberfläche zischt. Dessen Name übrigens von Eisen kommt, von seinem rostroten Bauch. Und die Mönchsgrasmücke, mit ihrem virtuosen Gesang, für den es keinen Merkspruch gibt, weil da die menschliche Sprache schlicht versagt. Über vierzig Arten sehen oder hören wir, an diesem Frühlingsmorgen, bei der Stillen Reuss, im Naturschutzgebiet.
Mittlerweile muss man wissen, wo man hingehen muss, um sie alle zu erleben.
«Ich bin nicht zimperlich mit dir!», ruft die Blaumeise. «Schelm! Dieb!», antwortet der Hausspatz. Denken wir Menschen uns aus. Mit der Sprache, heisst es, hätten wir angefangen, unseren Bezug zur Natur zu verlieren. Und irgendwann wird es so weit sein, dass die Natur uns Menschen verliert. «Morgen morgen morgen kommt der Gerichtsvollzieher!»
Der Gedanke hat, mit Verlaub, etwas Tröstliches. Bis dahin bleibt uns nur, die zauberhafte Welt der Vögel zu bestaunen, ihre Schönheit zu geniessen und ihnen Sorge zu tragen. Was wir gernhaben, das schützen wir. Die Goldammer leuchtet in der Sonne. Wir schauen uns an. Ein Lächeln huscht über unsere Gesichter. «Wie wie wie hab ich dich so liiiieb!»
Ralf Schlatter ist Autor und Kabarettist (ralfschlatter.ch).
Sein Vogelwissen hat er sich bei seiner Frau Ruth Grünenfelder angeeignet: Sie ist Feldornithologin und bietet Vogelexkursionen an (gimpel.ch).
Vogelstimmen im Podcast: Radiojournalist
Simon Berginz widmet sich diesmal der Schönheit des Gezwitschers – gegen die Stille. surprise.ngo/talk
Und schauen dorthin, wo sie Teilhabe an der Gesellschaft ermö glicht.
Die Digitalisierung führt nicht automatisch zu einem besseren Leben. Denn dafür müsste radikal umgedacht werden. Fünf Beispiele, wo es noch hapert, und zwei, die Hoffnung machen.
Algorithmen, künstliche Intelligenz und Datensammlungen erreichen fast jeden Winkel des menschlichen Lebens. Dabei werden längst nicht alle auf die Reise mitgenommen – stattdessen führt die Digitalisierung zu neuen Formen der Ausgrenzung. Andererseits finden manche Menschen, die am Rand der analogen Gesellschaft leben, nur dank digitaler Mittel ihren Weg (siehe Surprise 548/23 und 550/23).
Klar ist: Die Digitalisierung ist eine vielschichtige Gratwanderung. Diese zu meistern und die Chancen und Risiken auszuloten, haben sich digitale Ethiker*innen zur Aufgabe macht. Sie untersuchen, wie die Digitalisierung verantwortungsvoll ablaufen kann. Das vorläufige Fazit: Bestehende Ungleichheiten werden durch digitale Mittel alleine kaum je aus der Welt geschafft. Integration und die Ermächtigung von Minderheiten gelingen nur dort, wo sie explizit zum Ziel gemacht werden – sei es mit fairen Algorithmen oder dank Unterstützungstools für die Schwachen in unserer Mitte. Lässt man der Entwicklung einfach ihren Lauf, resultieren auch in der algorithmischen Welt Ausbeutung, Rassismus und Leistungsdruck. Ein flüchtiger Augenschein.
Ist von Kolonialismus die Rede, denken viele von uns wohl an Kaffee, Segelschiffe, Sklaverei und Genozid. Und an Länder, die sich in einem anderen Land Ressourcen aneignen, um damit schamlos ökonomischen Profit zu machen. Im digitalen Zeitalter hat der Kolonialismus einen neuen Dreh erhalten: Digitalkonzerne wie Google oder Apple können ihre Produkte oft nur deshalb entwickeln und programmieren, weil sie enorme Datenmengen sammeln, für die sie nicht bezahlt haben. Datenmengen, die sie sich in praktisch jeder digitalen Interaktion aneignen, ohne dass wir dazu unser Einverständnis geben. Denn jede Suchanfrage im Internet, jede Wegnavigation mit
dem Smartphone und jede Verwendung von «smarten» Endgeräten generiert nebenbei interessante Daten, welche die grossen Digitalkonzerne zu nutzen wissen.
Das System dahinter bezeichnet die Soziologin Shoshana Zuboff als «Überwachungskapitalismus». Das tägliche Leben, unser Alltag und sogar unsere Körper generieren durch die Digitalisierung Informationen, mit denen Konzerne wiederum neue Produkte entwickeln oder alte verbessern können – um daraus Profit zu schlagen.
Ein Beispiel: Die Fitnessuhren von Fitbit versprechen dank der Aufzeichnung von Puls, Schrittanzahl und so weiter ein gesundes Leben. Doch gleichzeitig liefern die Uhren an unseren Handgelenken dem Unternehmen eine Unmenge von Daten über unsere Körper und unser Leben. Diese nutzt Fitbit – ohne dafür zu bezahlen –, um ihre Uhren oder Apps weiterzuentwickeln und dann wieder an uns zu verkaufen. Ein Modell, das offenbar lukrativ ist: 2019 übernahm Google Fitbit für 2,1 Milliarden Dollar, um damit die eigenen digitalen Gesundheitsdienstleistungen zu verbessern. Der digitale Kolonialismus dreht sich nicht um Öl, Kautschuk und Bananen, sondern um die Spuren, die unser Leben im Netz hinterlässt.
Krankenkassen wünschen sich gesunde Menschen. Diese zahlen ihre Prämien, beanspruchen aber wenig Leistungen. Entsprechend versuchen die Kassen, ihre Kund*in
an Daten erfasst eine Smartwatch über den*die Träger*in pro Monat.
nen zu einem «gesunden Lebensstil» zu bewegen. Immer öfter geschieht das mit Apps – so auch bei der Helsana. Wer die Helsana+App nutzt, kann täglich Punkte sammeln und Geldprämien erhalten. Bis zu 300 Franken winken im Jahr. Dafür muss man bloss die Anweisungen auf dem Smartphone befolgen. Wer ein Frühlingsrezept des Helsana Coach nachkocht und ein Beweisfoto einschickt, erhält 150 Punkte. Eine Runde durch den Wald joggen ist – mit der Fitnessuhr aufgezeichnet – 100 Punkte wert. Und 15 Minuten Achtsamkeitsübungen werden mit 50 Punkten belohnt.
Helsana ist kein Einzelfall. Apple, Google und Versicherungen auf der ganzen Welt geben vor, dadurch die «Gesundheit zu demokratisieren». Sie schwätzen uns digitale Mittel auf, damit wir «die eigene Gesundheit in die Hand nehmen». Ein perverses Narrativ. Denn die teuren Gadgets mit Pulsaufzeichnung oder Schlafanalyse können sich nur jene leisten, die ohnehin genug Geld haben, um grundsätzlich gesund zu leben. Einer Schichtarbeiterin bringt es reichlich wenig, wenn sie von der Smartwatch ermahnt wird, ihren Schlafrhythmus zu «optimieren». Eine Alternative für Menschen mit weniger Geld ist, sich durch die Versicherungen überwachen zu lassen, um an günstige Prämien und Belohnungen zu kommen. Hinter der Demokratisierung steckt also eine Sortiermaschine: Entweder hat man das nötige Kleingeld zur Verfügung und lässt sein Leben datafizieren oder man ist schlicht selber schuld, wenn man krank wird – und ist dann womöglich schlechter versichert.
Kein Gedicht ohne «clickwork»
Im Frühling 2023 verbreitete sich ChatGPT wie ein Lauffeuer. Das sogenannte Large Language Model (LLM) konnte wunderbare Konversationen führen, Gedichte im Stil von Homer schreiben, Code programmieren oder Liebesbriefe verfassen. Damit das gelingen konnte, wurde ChatGPT in den Jahren zuvor mit einer gigantischen Menge an Daten gefüttert: aus Wikipedia, Newswebsites, Diskussionsforen, Büchern oder Patenten. So kamen insgesamt mehrere hundert Gigabyte Daten zusammen –vieles davon urheberrechtlich geschützt.
Aber Achtung, schrieben die Entwickler*innen des Chatbots: «GPT3 wurde mit willkürlichen Daten aus dem Internet trainiert und kann daher anstössige Inhalte und Sprache enthalten.» Diese Warnung kam nicht von ungefähr. Denn was dabei herauskommt, wenn ein Chatbot ungefiltert auf die Welt losgelassen wird, erlebte Microsoft bereits am 23. März 2016. Damals veröffentlichte der Konzern den Chatbot Tay, musste ihn aber schon nach 16 Stunden wieder vom Netz zu nehmen. Innert kürzester Zeit war Tay zu einer rassistischen, hetzerischen Software mutiert.
Um das bei ChatGPT möglichst auszuschliessen, wurden in Kenia sogenannte Clickworker*innen ausgebeutet. Kenia gehört zu den weltweit wichtigsten Märkten der Gig Economy. Für weniger als 2 Dollar in der Stunde mussten die Angestellten am Laufmeter verstörende, anstössige und illegale Inhalte, die vom Chatbot produziert wurden, erkennen und kennzeichnen. Das deckte das TimeMa
gazin auf. Dank der kenianischen Billigarbeiter*innen lernte das Programm, was erwünscht und was tabu war. Nicht nur war die Arbeit miserabel entlöhnt, sie war für die Menschen auch traumatisierend – täglich wurden sie mit höchst verstörenden, künstlich produzierten Aussagen konfrontiert. All das, damit wir uns für die nächste Geburtstagskarte in Sekundenschnelle ein Haiku dichten lassen können.
Überwachung ist eine zweischneidige Sache. Es ist ein ausgesprochen effizientes Werkzeug, um die eigene Bevölkerung auf Kurs zu bringen und unerwünschtes Verhalten zu sanktionieren. Mit sogenannten Antennensuchläufen lässt sich zum Beispiel in der Schweiz rekonstruieren, welche Mobiltelefone – und damit welche Menschen – sich zu einem bestimmten Zeitpunkt im Umkreis einer bestimmten Funkantenne aufhielten. Zugegeben: Das kann bei der Aufklärung von Verbrechen helfen oder die Suche nach vermissten Personen erleichtern. Es kann aber auch viele Unschuldige treffen. So wurden nach einer Vergewaltigung in Emmen im Juli 2015 die Daten von fast 2000 Handys detailliert ausgewertet und 371 Männer mussten einen DNATest machen.
Die Uhr ruft Hilfe
Und doch: Welche frisch gebackenen Eltern sind nicht froh über ein Babyphone? Bei der Carearbeit können Überwachungstools eine Erleichterung sein. Stürzt der alleinlebende Vater im Badezimmer, wird das von der Smartwatch am Handgelenk sofort registriert – und die Uhr kann sogar automatisch Hilfe aktivieren. Menschen mit Demenz können dank GPSTrackern mehr Autonomie, Bewegungsfreiheit und Lebensqualität gewinnen. Sie und die Angehörigen wissen: Im Notfall werden sie gefunden. Eine Stütze für alle Beteiligten – aber auch sie mit Schattenseiten: Denn wie viel Überwachung bürden wir den Schwachen auf, nur damit wir uns sicherer fühlen?
Die eGFR ist ein Wert, von dem die wenigsten gehört haben. Es sei denn, Sie haben eine Niereninsuffizienz und befinden sich auf der Warteliste für eine Nierentransplantation. Denn die «estimated Glomerular Filtration Rate» schätzt, wie gut eine Niere noch funktioniert. Dafür sind in den Spitälern verschiedene Schätzformeln im Einsatz. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Menschen rassifizieren. Wer vom Personal als «Schwarz» klassifiziert wird, erhält automatisch bessere Nierenwerte – was mitunter einen negativen Einfluss auf die Behandlung hat. Die Begründung: Menschen mit dunkler Haut produzierten mehr Kreatinin pro Tag, was die Schätzung der eGFR beeinflusst. Die medizinische Beweislage dafür ist dünn und gespickt mit rassistischen Vorurteilen wie dem, dass Schwarze automatisch mehr Muskelmasse hätten.
So reproduzieren sich in Algorithmen die Vorurteile und rassistischen Diskriminierungen der analogen Welt. Weisse Menschen und Männer werden auf Bildern besser erkannt als Schwarze und Frauen. Beim «predictive policing» werden Menschen festgenommen oder kontrolliert, weil sie im «falschen» Quartier wohnen und die «falsche» Hautfarbe haben. Und in Übersetzungssoftware werden GenderStereotypen reproduziert: «The doctor arrived on time» wird zu «Der Arzt kam pünktlich», aber «The nurse arrived on time» wird zu «Die Krankenschwester kam pünktlich», dabei sind doctor und nurse im Englischen weder weiblich noch männlich. All das verdeutlicht: Algorithmen sind nicht automatisch fair – und schon gar nicht objektiv.
In Basel gibt es 1260 Überwachungskameras im öffentlichen Raum. In Zürich dürften es über 4000 sein. Die SBB hat gemäss eigenen Angaben fast 25 000 Kameras installiert, dazu kommen tausende Kameras in Trams und Bussen. An deren Anblick haben wir uns gewöhnt, obwohl wir nicht wissen, was sich dahinter verbirgt. Viele Kameras sind heute «intelligent». Sie sind mit Software ausgestattet, die Gesichter und Muster erkennen können. Oder sie lassen sich mit einem System in der Zentrale verbinden, das diese Auswertungen in Echtzeit erledigt.
Der digital überwachte öffentliche Raum ist ein gefährlicher Trend. Wer ausschert oder sich «untypisch» verhält, ist suspekt. Menschen, die «herumlungern», werden von intelligenten Kameras ebenso erkannt wie ein Entreissdiebstahl. Alles, was nicht in den geregelten Alltag passt, sticht heraus: eine gestürzte Person, jemand, der auf den Zug rennt oder in einem Mülleimer wühlt. Die automatisierte Gesichtserkennung, die potenziell alle von uns erfasst, ist lediglich die Spitze des Eisbergs.
Allzu gerne kritisieren wir autoritäre Überwachungsmethoden in fernen Ländern: Das Sozialkreditsystem in China oder die digitale Überwachung und Unterdrückung von Menschenrechtsaktivist*innen in SaudiArabien, Ecuador oder Griechenland. Was wir vergessen: Die gleichen Werkzeuge sind längst unter uns. Wer heute einen Job sucht, wird vermutlich einem Algorithmus begegnen. Algorithmen entscheiden, was für Angebote wir im Netz zu Gesicht bekommen. Und sie entscheiden immer öfter
betreibt die SBB.
auch darüber, welche Bewerber*innen überhaupt in die engere Auswahl kommen. Das erspart den Personalbüros das aufwendige Durchforsten der Bewerbungsdossiers. Software wie HireVue oder Modern Hire kann automatisch entscheiden, wer weiterkommt, und schickt dem Rest eine Absage. Die Tools durchforsten Lebensläufe nach bestimmten Kriterien und werten das Motivationsschreiben oder Stimme und Mimik in einem Bewerbungsvideo aus. Das hat seine Tücken: Weil die Systeme im Training auf bestehende Daten zurückgreifen, können sich bereits vorhandene Diskriminierungen im Betrieb weiterverbreiten: Arbeiteten bisher vor allem weisse Männer im Unternehmen, könnte das System lernen, dass weisse Männer bevorzugt werden müssen. Diese Diskriminierung gibt es auch im herkömmlichen Bewerbungsverfahren – Algorithmen verfestigen sie weiter.
Dabei könnten Algorithmen und digitale Bewerbungsprozesse unsere Vorurteile und Diskriminierungen stattdessen auch ausmerzen. Das versucht ein Team der Universität Köln. Wenn man Algorithmen «nach den richtigen Kriterien aufsetzt und kontinuierlich mithilfe von Kontrollmechanismen auf ihre eigene Diskriminierung überprüft, treffen Algorithmen fairere Entscheidungen als Menschen», argumentieren die Forschenden. Denn die algorithmische Auswertung könne auch aufzeigen, wo Diskriminierung überhaupt stattfindet, und entsprechende Gegenmassnahmen einleiten.
Der flüchtige Augenschein zeigt: Algorithmen, Datensammlungen und Überwachung sind alles andere als Allheilmittel. Sogenannte technologische Solutionist*innen geben zwar vor, mit vielen Daten und schlauen Algorithmen noch das komplizierteste Problem gelöst zu bekommen. Doch den Beweis dafür sind sie uns nach wie vor schuldig. Zukunftsweisender wäre zudem, Profit und Effizienz nicht vor Gemeinschaft und Fairness zu stellen.
Digitalisierung: eine Serie in fünf Teilen
Teil 1: Der digitale Graben, Surprise Nr. 548
Teil 2: Fehlender Zugang, Surprise Nr. 550
Teil 3: Ungleiche Datensammlung, Surprise Nr. 552
Teil 4: Migration und Digitalisierung, Surprise Nr. 553
Teil 5: Blick in die Zukunft, Surprise Nr. 554
Recherchefonds: Dieser Beitrag wurde über den Surprise Recherchefonds finanziert. surprise.ngo/recherchefonds
Jugend Der deutsche Fotograf Toby Binder begleitet seit Langem Jugendliche im Duisburger Stadtteil Hochfeld. Sie kämpfen mit den Folgen von Armut, Migration und Stigmatisierung – und pflegen als Ausgleich ihre eigene, lokal geprägte Subkultur.
Ihre Eltern kommen aus Osteuropa, sie sind hier aufgewachsen, doch noch lange nicht angekommen: Jugendliche in Duisburg-Hochfeld, wo über 90 Prozent der unter 18-Jährigen eine Migrationsgeschichte haben.
Hochfeld – das ist ein Stadtteil von Duisburg mit 18 000 Leuten, eingeklemmt zwischen Innenstadt, Rotlichtviertel und Industrie. Die Hälfte der Jugendlichen und Kinder wächst hier in Armut auf, neun von zehn haben eine Migrationsgeschichte. Früher stammten sie vor allem aus der Türkei und aus Albanien, inzwischen kommen sie auch aus Rumänien und Bulgarien – Rom*nja machen 15 Prozent der Bevölkerung Hochfelds aus. Neben Antifa-Graffiti sieht man hier erstaunlich viele Deutschlandfahnen – ob sie ein Zeichen der Integration sind oder eines der Abgrenzung, ist nicht klar. Sehr viele der jungen Menschen jedenfalls betrachten sich nicht als Deutsche, sie fühlen sich weder akzeptiert noch integriert – und das, obschon sie hier geboren wurden und den lokalen Dialekt sprechen. Zu ihrer Identifikation nutzen sie die Postleitzahl von Duisburg-Hochfeld, nämlich 053 – deshalb heisst meint Fotoprojekt «#053kids».
In diesem Umfeld ist das Fotografieren schwierig. Die Leute sind misstrauisch, ein Fremder fällt schnell auf, vor allem, wenn er mit einer Kamera unterwegs ist. Als ich das erste Mal dort war, kam ich ohne Bilder heim und wusste nicht, ob das Projekt funktionieren wird. Dann lernte ich einen Jugendlichen kennen, der mich seiner Clique vorstellte. Mittlerweile habe ich mir ein Netz von über hundert Jugendlichen aufgebaut, und inzwischen wissen wohl alle in Hochfeld, dass ich kein Zivilpolizist bin und was ich hier mache. Ich fotografiere nicht alles, was ich sehe, und ich publiziere auch nicht alles, was ich fotografiere. Wenn ich wiederkomme, bringe ich Papierabzüge meiner Bilder mit, auch das schafft Vertrauen. Obschon die Kids finden, ich solle lieber Videos von bekannten Rapper*innen machen – solchen, wie sie selbst einmal werden möchten.
Wie bei meinem früheren Projekt über die Belfaster Jugend lerne ich auch jetzt viele Jugendliche kennen, die enormes Potenzial haben und die eine reelle Chance verdient hätten, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Aber vor allem in sozial benachteiligten Milieus scheint der Weg oft vorgezeichnet, und es ist für die Jugendlichen schwer, dort überhaupt herauszukommen. Das finde ich absolut inakzeptabel.
TOBY BINDER, 46, hat an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart Grafik-Design mit Schwerpunkt Fotografie studiert. Seine Arbeit über Jugendliche in Belfast ist als Buch unter dem Titel «Wee Muckers» (Heidelberg, 2019) erschienen.
Wenig Perspektiven: Die Jugendlichen in DuisburgHochfeld verbringen viel Zeit in Parks und auf den Strassen. Drogen und Gewalt gehören oft zum Alltag – und der Wunsch, irgendwann berühmt zu werden, auf YouTube oder einer Bühne.
Ausstellung In «Homo Urbanus – A Citymatographic Odyssey» zeigen zehn Filme über Weltstädte, wie Menschen den Stadtraum nutzen.
TEXT DIANA FREIEine Strassenverkäuferin in Seoul bietet Fisch an, am Boden auf dem Trottoir ausgelegt, sie selbst vor parkierten Motorrollern kauernd. Ein Mann in Neapel steht in Badehose am Meer und gleichzeitig neben der Strasse, wo der Stadtstrand mehr Stadt als Strand ist. Tourist*innen im überschwemmten Venedig stehen auf Holzplanken und müssen sich damit abfinden, dass ihre Sightseeing-Tour hier plötzlich abbricht. Eine Frau, ebenfalls in Neapel, führt ihren Hund Gassi – indem sie in ihrer Parterre-Wohnung sich aus dem Fenster lehnt mit der Leine in der Hand, während das Hündchen im feschen Jäckchen draussen auf dem Trottoir steht.
Es sind Szenen des Sich-Aneignens, des Überlebens, des Verschmelzens von Menschen mit dem Stadt-Körper. Innen- und Aussenräume gehen ineinander über, auf ebenso absurde wie anschauliche Art. Die Filme über den Homo Urbanus des Künstler*innenduos Bêka & Lemoine, die im S AM Schweizerisches Architekturmuseum in Basel in vier verschiedenen Räumen grossformatig projiziert werden, zeigen das Nebeneinander in den Städten dieser Welt und die Gleichzeitigkeit von Funktionali-
Rahmenprogramm:
Surprise Stadtführung
«Homo Urbanus» verhandelt unterschiedlichen Nutzungen und Freiheitsgrade im öffentlichen Raum, die im Rahmenprogramm auch durch verschiedene Stadtrundgänge erfahrbar gemacht werden. Die Sozialen Stadtrundgänge von Surprise fokussieren auf das Thema der sozialen Ausgrenzung. Im Juni ist eine Tour Teil des Rahmenprogramms der Ausstellung.
Sozialer Stadtrundgang, Do, 22. Juni, 18 bis 19.30 Uhr, Treffpunkt und Einführung: S AM, Steinenberg 7; Anmeldung: event@sam-basel.org
täten und Bedürfnissen. Und manchmal auch die Selbstverständlichkeit der Zweckentfremdung durch die Bewohner*innen. Da ist ein Mann, der auf dem Autoparkfeld Golf spielt. Oder die Geschäftsleute, die über einen Sportplatz zwischen den Grossstadthäusern schlendern und dabei die vordefinierten Markierungen ignorieren. Sie gehen, Sonnenschirm in der Hand, wortwörtlich darüber hinweg.
Wenn Ila Bêki und Louise Lamoine Städte filmen, werden daraus keine Städteporträts– jedenfalls nicht solche, wie sie Tourismusbüros in Auftrag geben würden. Es geht ihnen auch nicht um den Alltag in einer spezifischen Stadt, sondern um das Städtische, den urbanen Raum an sich. Und darum, was er mit den Menschen macht. Und was sie mit ihm machen.
Sich durch den Alltag kämpfen
Bêki & Lamoine beobachten, wie die Menschen tagtäglich gegen das Umfeld kämpften, das sie sich selbst geschaffen hätten, sagen sie in einem Video, in dem sie sich gegenseitig interviewen (nicht ohne sich dabei ein bisschen über Journalist*innen lustig zu machen). Sie fangen so das Menschliche in diesen Städten ein, das sie meist an den Rändern, abseits des Spektakulären, finden. Sie filmten oft ältere Leute und Kinder, Menschen, die in der Grossstadt oft am meisten zu kämpfen hätten, sagen sie. Für diese seien urbane Räume nicht eingerichtet: «Die Stadt ist für effiziente Menschen gebaut, solche, die produzieren und arbeiten», sagt Bêki. All die anderen suchen sich ihre eigenen Wege, entwickeln ihre eigenen Methoden, um den Alltag zu bewältigen. Oft sind in den Filmen auch Stadtbewohner*innen zu sehen, die Dinge transportieren müssen. Die sich vorankämpfen und Waren gegen den Strom von Menschen, Verkehr oder Wasser anstemmen (in Bogotá fällt es vom Himmel, in Venedig flutet es die Stadt vom Meer her).
Die beobachtenden, fragmentarischassoziativ montierten Filme zeigen zehn Weltstädte: Bogotá, Doha, Kyoto, Neapel,
St. Petersburg, Seoul, Shanghai, Tokio und Venedig. Erklärungen oder Kommentare gibt es nicht, und so wissen wir vielleicht nicht genau, was es mit dem Festzug mit den traditionellen Kostümen in Shanghai auf sich hat, und doch wissen wir um die Feierlichkeit, die er in sich trägt. In vielem sehen wir vielleicht auch die leichten Abweichungen im Vergleich zu dem, was wir kennen. Manchmal sind es auch die schieren Ausmasse, die Vertrautes neu erscheinen lassen, wie bei einem riesigen Friedhof, ebenfalls in Shanghai, der dem Stadtbild mit seinen Hochhäusern gar nicht unähnlich sieht.
Die Stadtszenen wirken einmal absurd oder beschwerlich, ein anderes Mal lustig oder rührend. Die einen jäten Unkraut aus den Ritzen im Asphalt, als seien sie im eigenen Garten, andere putzen und fegen die Trottoirs. Mit Sorgfalt wird der eigene Lebensraum sauber gehalten, man kümmert sich ums eigene Habitat inmitten des Getümmels von Passanten und Verkehr. Wieder verschmelzen hier Innen- und Aussenräume, diesmal im Akt des Aufräumens. Das Putzen wird so plötzlich zur Geste des Urbanen, zu einer Form der Aneignung des Stadtraums, der ihn erst zum belebten Ort macht.
In Rabat stehen Sonnenschirme am Strand, die, mit Badetüchern verhängt, zu kleinen Zelten werden. Oder Verkäufer, die ihre Backwaren nicht in einem Ladenlokal, sondern auf im Kofferraum aufgereihten Backblechen präsentieren. Mehr improvisiert als kommerzialisiert, und doch geht es letztlich überall um den Versuch, möglichst gut über die Runden zu kommen. Und so wird im intuitiven Verstehen des urbanen Raums deutlich, dass Stadt spannend wird, wenn sie ihre eigenen Formen des Zusammenlebens hervorbringt.
«Homo Urbanus – A Citymatographic Odyssey by Bêka & Lemoine», bis So, 27. August, S AM Schweizerisches Architekturmuseum, Steinenberg 7, Basel. www.sam-basel.org
Kino Eine ivorische Mutter und ihre beiden Söhne versuchen in Frankreich Fuss zu fassen und entfremden sich dabei immer stärker.
Der Spielfilm «Un petit frère» ist ein sensibel inszeniertes Drama.
TEXT MONIKA BETTSCHEN
Paris 1989: Wenn Eugénie (Audrey Kouakou) die junge Rose (Annabelle Lengronne) anschaut, eine Verwandte aus der Elfenbeinküste, die gerade mit ihren zwei Söhnen bei ihr untergekommen ist, liegt als Sorge getarnte Missbilligung in ihrem Blick. Denn Rose legt grossen Wert auf ihre Eigenständigkeit und auf eine gepflegte Erscheinung. Sie ist selbstbewusst und nicht auf den Mund gefallen. Eigenschaften, die einer alleinerziehenden Mutter aus Eugénies Sicht wohl nicht zustehen. Sogleich stellen Eugénie und ihr Mann klar, dass diese Bleibe nur vorübergehend sei. Und um ihren Auszug zu beschleunigen, drängt Rose sie an einem Fest, mit einem Landsmann anzubandeln, der sowohl an Rose als auch an ihren Söhnen Jean und Ernest Interesse zeigt: «Du solltest jemanden haben, der die Kinder liebt. Nicht jemanden, den du liebst.» Doch Rose denkt nicht daran, sich nur um des äusseren Scheines willen auf einen Mann einzulassen. Später beim Abwasch stellt sie klar: «Ich wähle meine Männer selber aus. Es gibt Typen, die sagen: ‹Du gehörst mir.› Ich gehöre niemandem.»
Fest entschlossen, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, hält sich Rose mit einem Reinigungsjob über Wasser. Stets ist sie darauf bedacht, ihr Gesicht und ihre Freiheit zu wahren. Wenn ihr ein Mann gefällt, ergreift sie die Initiative, zum Beispiel als sie eine lockere Affäre mit einem Handwerker beginnt, den sie bei der Arbeit kennenlernt.
Neben ihrem eigenen Streben nach Selbstbestimmung will sie ihre Söhne auf die Härte des Lebens vorbereiten. So bläut sie ihnen in einer Eisdiele ein, in der Schule besser als alle anderen zu werden und nicht vor anderen zu weinen. Jean, der Ältere, löffelt still sein Eis. So wie er auch im späteren Verlauf, ganz dem Rat der Mutter folgend, die eigenen Gefühle hinunterschlucken wird. Mit tragischen Folgen für den familiären Zusammenhalt.
Gute Noten allein reichen nicht Roses hohe Ansprüche an sich selbst und an ihre Söhne setzen den Ton in «Un petit frère», einer Familiensaga von Regisseurin Léonor Serraille, die sich über drei Jahrzehnte erstreckt und sich in drei Teile gliedert. Davon ist jeder einem Familienmitglied gewidmet. Zu Beginn steht Rose im Zentrum, danach folgen Jean und Ernest. Während der Anfang von Zielen und Träumen erzählt, setzt danach eine schleichende Zersetzung ein.
Im zweiten Teil sind Jean und Ernest Teenager und leben in Rouen, dem Wohnort eines Mannes, den Rose kennengelernt hat. Während der Woche arbeitet sie weiterhin in Paris, sodass die ganze Hausarbeit vorwiegend an Jean hängenbleibt. Als sie zu Besuch kommt, erinnert sie Jean an eine bevorstehende Aufnahmeprüfung und dass Schulgebühren anfallen werden. Sie werfen sich über den Küchentisch hinweg einen Blick voller unausgesprochener Vorwürfe zu. Später bei einem Stadtbummel be-
Familienszene 2: Jahre zuvor sucht Rose ihr Glück in Rouen. Und will das Beste für die Kinder.
Buch Mit der fiktiven Geschichte um Cagliostros Ehefrau gelingt Satu Blanc ein unterhaltsames und informatives Zeitpanorama.
Lorenza hat nur einen Wunsch: Sie will raus aus dem Armenviertel in Rom, in dem sie als Tochter eines Kesselflickers gefangen ist. Sie will in Seide gehüllt leben, träumt von London, Prag und Wien. Und vor allem von Versailles, dem Inbegriff von Glanz und Gloria. Aber ihre Träume sind nicht nur verlockend. Manche sind auch düster, blutige Vorahnungen. Denn Lorenza hat Visionen, eine Gabe, die sie nicht kontrollieren kann. Doch notfalls täuscht sie Hellseherei auch nur vor und führt ihre Spielgefährten hinters Licht.
Bis eines Tages ein Magier auf der Piazza auftritt, ein Wunderheiler, der ihr in einer ihrer Visionen erschienen ist. Einer, der es wie sie liebt, den Menschen etwas vorzugaukeln. Dieser Scharlatan erkennt ihre Gabe sogleich und schenkt ihr das erste Seidenband ihres Lebens. Und obwohl sie ihn durchschaut, willigt sie ein, ihn zu heiraten. Denn er ist ihre Fahrkarte in die grosse Welt. Dafür ist sie sogar bereit, Rafi, ihre Jugendliebe, zu verlassen.
treten Jean und Ernest einen Plattenladen, während Rose vor der Tür wartet. Jean beobachtet seine Mutter durchs Fenster und sieht sie in diesem Moment so, wie sie von anderen nicht gesehen werden möchte: verloren und zerbrechlich. Jean spürt, wie eine wachsende Verantwortung auf ihm lastet. Und seine Freundin Camille, weiss und aus wohlhabenden Kreisen, macht ihn auf eine unangenehme Tatsache aufmerksam: Wer sich mündlich gut ausdrücken könne, zeige den anderen, dass er es drauf habe. Danach seien Noten nicht mehr wichtig. Diese Erkenntnis, dass gute Leistungen alleine kein Garant sind, um aufzusteigen, sondern dass es auch darauf ankommt, die richtigen Codes zu kennen, bringt sein Weltbild ins Wanken. Er verliert den Halt und arbeitet nicht mehr für die Schule. Der Versuch, sich zu assimilieren, fordert von allen drei Familienmitgliedern grosse Opfer: Sie verlieren sich in diesem schmerzvollen Prozess selbst und sie driften immer weiter auseinander. Ihre Figuren seien Held*innen der «unsichtbaren und stillen Integration», sagt Regisseurin Serraille; und sie sind es auf tragische Weise.
Nach Jahren treffen Rose und ihr Sohn Ernest wieder aufeinander. Mittlerweile unterrichtet er Philosophie. Sein Schwermut irritiert Rose. Sie tadelt ihn, er verbringe zu viel Zeit mit Weissen, deren imaginäre Krankheiten, wie etwa die Depression, ihn befallen würden. Sie, deren Ziel es war, dass ihre Söhne es in Frankreich schaffen, fühlt sich nun ihrem Jüngsten gegenüber, dem dies tatsächlich gelungen ist, fremd.
«Un petit frère»,
Aus Lorenza wird Serafina, Gräfin von Cagliostro, deren Träume sich an der Seite ihres Hochstapler-Gatten zu verwirklichen scheinen. Vor allem, nachdem Cagliostro als Freimaurer Zutritt zu den höchsten Adelskreisen erhält. Dabei steht immer er im Mittelpunkt. Sie ist nur schöne Staffage. Er nutzt ihre Gabe aus, übertreibt, wird immer unvorsichtiger, hört nicht auf ihre Warnungen. So führen sie ein Leben auf der Flucht mit immer neuen Identitäten.
Auf dem Höhepunkt ihrer Erfolge, als sich Versailles endlich für sie öffnet, bricht das Kartenhaus zusammen. Fälschlicherweise als Mitschuldige in der berühmten Halsbandaffäre angeklagt, landen sie für zehn Monate in den Kerkern der Bastille. Nur dank Rafis Hilfe, der in der Kirche Karriere gemacht hat, kommen sie frei. Es folgen London, wo Cagliostro erneut entlarvt wird, und schliesslich Basel, wo sie beim Seidenbandfabrikanten Jakob Sarasin Unterschlupf finden. Am Ende ist es wieder Rom, in dem sich der Kreis, nach einem Intermezzo des Glücks mit Rafi, schliesst. Die Faktenlage um die historische Serafina ist äusserst dünn. Zwar ist der Aufenthalt des Ehepaars Cagliostro in Basel verbürgt, aber ansonsten hat sich die Autorin, Schauspielerin und Historikerin Satu Blanc, wie sie selber schreibt, viele Freiheiten bei der Ausgestaltung der Figuren genommen. Dadurch ist ihr ein Lebens- und Geschichtspanorama der Jahre 1763 bis 1789 gelungen, das sowohl unterhält als auch informiert. Ein Mystery-Roman am Vorabend der Revolution, in dem sich die Titelheldin immer mehr in ihre Träume von Seide verstrickt.
CHRISTOPHER ZIMMERSatu Blanc: Serafina. Gräfin di Cagliostro. Roman. Zytglogge 2022. CHF 33.90
Basel
«Chlütter, Chole, Chlotz», Theater, Mi, 21. Juni, 19 Uhr, Sa, 24. Juni, 17 Uhr, So, 2. Juli, 17 Uhr, sogar theater, Josefstrasse 106 (im Innenhof). sogar.ch
im Vorverkauf erhältlich, für alle anderen sind bei freiem Eintritt frühzeitige Reservierungen erforderlich. DIF
Fribour g Belluard Bollwerk, Theaterfestival, Do, 22. Juni bis Sa, 1. Juli, Festivalzentrum Derrière-les-Remparts 14. belluard.ch
«Neuchâtel International Fantastic Film Festival
NIFFF», Fr, 30. Juni bis Sa, 8. Juli, Festivalzentrum Théâtre du Passage 4, Passage Maximilien-de-Meuron. nifff.ch
Was würdest du mit einem grossen Klumpen Gold anstellen? Deinen Bruder fürs Zimmeraufräumen anstellen, deiner Familie ein Haus kaufen oder die Operation deiner Grossmutter bezahlen? Für das Dokumentartheater «Chlütter, Chole, Chlotz» ging die Autorin und Regisseurin Anna Papst in Interviews mit Kindern von 8 bis 10 Jahren der Frage nach, wie diese die eigene Bestechlichkeit, Privilegien oder aber die eigene oder fremde Armut erleben. Heranwachsende begreifen früh, dass Geld Macht verleiht. Sie verstehen, dass sie sich damit selbst kaufen können, was die Eltern ihnen nicht kaufen wollen. Das sogar theater zeigt jeweils zum Ende der Spielzeit ein Quartierprojekt. Das Thema Geld bietet sich hier, wo das sogar theater zuhause ist, aus vielen Gründen an: Das ehemalige Industrie- und Arbeiter*innenquartier rund um die Langstrasse ist inzwischen ein Trendviertel für diejenigen, die sich die steigenden Mieten leisten können. Die Einkommensschere der Quartierbewohner*innen weitet sich und reicht schon jetzt von der Sozialhilfe bis zum Spitzengehalt. DIF
Basel
«Kaserne Globâle», Theaterfestival, Do, 22. bis Sa, 24. Juni, Kaserne Basel, Klybeckstr. 1b. kaserne-basel.ch
In der «Kaserne Globâle» bringt die in Lausanne lebende Choreografin Jolie Ngemi mit der Produktion
«NKISI» von Ritualen aus dem Kongo inspirierte Hexerei und Heilkraft in die Reithalle. Eisa Jocson und Venuri Perera wiederum geben mit «Magic Maids» Einblick in ihre Recherche zur Ausbeutung von Hausarbeiter*innen aus dem globalen Süden. Und an allen drei Festivalabenden lädt das nur 15-minütige Stück «Dear Laila» des Installationskünstlers Basel Zaraa je eine Person dazu ein, über Kopfhörer in die Welt des palästinensischen Geflüchtetenlagers Yarmouk in Damaskus einzutauchen. Dazu passt auch die Diskussionsrunde «Possible Futures»: Die Künstlerin Ntando Cele, der Historiker, Schriftsteller und Diversitätscoach Henri-Michel Yéré und die Theaterwissenschaftlerin Alexandra Portmann sprechen über die Demokratisierung von Strukturen und Veränderungen in der Theaterlandschaft. Nur für drei Veranstaltungen («NKISI», «Do you know this song?» und «On behalf of a collective sigh…») sind Tickets
Die 40. Ausgabe des Belluard folgt dem Wellengang: Wasser zieht sich durch das Festivalprogramm. So setzt sich im Tanzstück «Cachalotte» das Collectif Ouinch Ouinch mit Seemannsliedern entlang der Ufer der Saane in Bewegung. Etwas weiter flussabwärts, auf dem Schiffenensee, werden die Kunstschaffenden und Theaterregisseur*innen Maria Magdalena Kozłowska und Pankaj Tiwari ihre «Opera to the People» von einem Boot aus singen. Und die Klangkünstler*innen Amber Meulenijzer und Gérald Wang führen ihre Mikrofone in einer Soundperformance unter der Pérollesbrücke spazieren. Die isländisch-schwedischen Performerinnen Amanda Apetrea & Halla Ólafsdóttir hingegen werden in Sälkvinnorna selbst zu Robben. Um die Wandlungsfähigkeit weiblicher Körper geht es auch in der letzten Vorstellung des Festivals – «Dragon, Rest Your Head on the Seabed» – in Zusammenarbeit mit Synchronschwimmerinnen, die im Schwimmbad La Motta aufgeführt wird. Das Meer ist auch ein Grenzraum und ein Ort, der mit Gewalt und Verschwinden verbunden ist. Die Geschichte der Migration und der Kolonialherrschaft wird in unterschiedlichen belgischen Dokumentartheaterstücken verhandelt. DIF
Das Neuchâtel International Fantastic Film Festival NIFFF widmet seine Retrospektive «Female Trouble» der Repräsentation weiblicher Archetypen im Genrekino. Das Sonderprogramm mit rund 20 Spielfilmen und einer öffentlichen Gesprächsrunde befasst sich mit der Wahrnehmung und Repräsentation von Frauenfiguren im Genrekino. Gerade der fantastische Film bietet zwar inhaltlich grosse Freiräume, ist aber auch ein Nährboden für hartnäckige Klischees – da werden schon mal weibliche Opfer dargebracht oder Heldinnen gepeinigt. Dennoch sind es auf den zweiten Blick oft auch Emanzipationsgeschichten, die fantastische Filme erzählen. Das NIFFF hat sie ausgegraben und zeigt und bespricht zum Beispiel «Lady With a Sword» (1971) von Kao Pao-shu, «Aliens» (1986) von James Cameron oder «Female Prisoner #701: Scorpion» (1972) von Shun’ya Ito. Sie alle laufen gesellschaftlich diktierten Normen zuwider. DIF
Surprise-Standort: Coop
Einwohner*innen: 17 683
Sozialhilfequote in Prozent: 1,6
Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 26,6 Erste Besiedelung: 4000 Jahre vor unserer Zeitrechnung
Die Lorze strömt durch Cham, zahlreiche Brücken führen über den kleinen Fluss, es kommt schon fast ein Venediggefühl auf, auch hier stehen Gebäude im Wasser, vor allem alte Industriebauten. Die Industrie spielte eine wichtige Rolle, doch wie so vielerorts hat sie ihre Glanzzeiten hinter sich. Das Areal der Papierfabrik wird überbaut, eine riesige Baustelle, umgeben von einem Endlostransparent, auf dem Sinnsprüche wie «In der Ruhe liegt die Kraft» gedruckt sind, die in einem gewissen Widerspruch zum erzeugten Baulärm stehen. Die Neubauten werden sich vom weiter entfernt liegenden ursprünglichen Papieri-Dörfli stark unterscheiden, eine vor rund hundert Jahren erbaute Reihenhaus-Siedlung für Arbeiterfamilien, die 2007 abgerissen wurde.
Dafür gibt es hier eine begrünte 20erZone, auf der gemütlich und gefahrlos Velo gefahren werden kann, während vorne
auf der Hauptstrasse der Verkehr rauscht. Eine riesige, mit einer grünen Front verzierte Dreifachturnhalle steht den umliegenden Schulhäusern zur Verfügung. Der Fluchtweg ist freizuhalten, der Défibrillateur steht bereit.
Ein Minion aus Holz kündet von der Geburt eines Kindes, während etwas weiter hinten ein fast so grosser Minion aus Stoff im Container gelandet ist.
Vor dem Gemeindehaus blüht die Blumenwiese, die im suburbanen Raum den gemähten Rasen langsam aber sicher verdrängt. Darin tummeln sich drei hölzerne Bären, das Wappentier von Cham. Auch eine mit Efeu behangene Kuh gibt es und aus Holz den Schriftzug CHOMEDY. Das Gebäude dahinter beherbergt sowohl die Schwinghalle als auch die Luftdruckwaffenanlage. Am Lorzenweg reihen sich die Wellness-Angebote
aneinander, Parity (nicht zu verwechseln mit Parität) und Achtsamkeit, Kinesiologie, Wegfindung, Auflösung von Blockaden sind Teil des vielfältigen Angebots, bevor der Weg ins Grüne führt. Etwas unromantisch die einzige Bank auf diesem Abschnitt, sie besteht aus Metallrohren und ist von Betonmauern umgeben, trotzdem (oder deswegen?) haben sich hier S+S gefunden, wie ein gespraytes Herz beweist. Der Weg endet beim Kreativraum der Zentralschweizer Tapetendienstleister.
Interessante Öffnungszeiten bieten die Kleiderläden an, teilweise wurden die Angaben von Hand nachkorrigiert, eine Besitzerin weist auf ihr Alter hin und darauf, dass sie an ihren Freitagen «sportmässig» nichts unternehmen konnte und darum die Öffnungszeiten anpassen musste.
Der lokale Eishockeyclub hat am Samstag ein Heimspiel, in einer Woche findet die Chamer Ruderregatta statt. Rund um den Lorzesaal, in dem bald der CHAMpion 2023 verliehen wird, gibt es eine grosse Ludothek und eine etwas kleinere Bibliothek, die auf den Schweizer Vorlesetag aufmerksam macht. In der öffentlichen Toilette brennt blaues Licht, eine Massnahme gegen das Injizieren von Drogen.
Neben Papier war auch die Herstellung von Milchpulver einst ein wichtiger Wirtschaftszweig von Cham, das hiesige Unternehmen wurde mit der Weltfirma Nestlé fusioniert, geblieben ist neben dem herrschaftlichen Firmensitz ein Shop, in dem Produkte der unzähligen zum Unternehmen gehörenden Marken angeboten werden. Der kleine Park daneben ist zugesperrt.
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
Benita Cantieni CANTIENICA®
Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich
Gemeinnützige Frauen Aarau
Madlen Blösch, Geld & so, Basel
Breite-Apotheke, Basel
Spezialitätenrösterei derka ee, derka ee.ch
Boitel Weine, Fällanden
Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
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InoSmart Consulting, Reinach BL
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Kontakt: Caroline Walpen
Team Marketing, Fundraising & Kommunikation
Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.
Aktuell beschä igt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue beru iche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng begleitet. So erarbeiteten sich die Chancenarbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebensgrundlage.
Einer von ihnen ist Negussie Weldai «In meinem Alter und mit meiner Fluchtgeschichte habe ich schlechte Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt. Darum bin ich froh, bei Surprise eine Festanstellung gefunden zu haben. Hier verantworte ich etwa die He ausgabe oder übernehme diverse Übersetzungsarbeiten. Mit dieser Anstellung ging ein grosser Wunsch in Erfüllung: Meinen Lebensunterhalt wieder selbst und ohne fremde Hilfe verdienen zu können.»
Scha en Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende.
Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.
Unterstützungsmöglichkeiten:
1 Jahr CHF 5000.–
½ Jahr CHF 2500.–
¼ Jahr CHF 1250.–
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#Schalaktion Strassenfussball / Ma g azin «Jedes Mal gern»
Gern schicke ich Ihnen einen Fan-Schal. Ich hoffe, Sie können ihn brauchen und bekommen viele Schals. Lese das Surprise jedes Mal gern.
IDA THOMANN, Uetendorf
#549: Zukunft auf dem Eis «Bedenkenswert»
Die jüngste Nummer ist besonders spannend: die beiden so anschaulichen Artikel über die Rom*nja, pendelnd zwischen Norwegen und Rumänien und über Kirgistan mit diesem mutigen Team junger Frauen, aber auch derjenige zur Ausstellung im Cartoonmuseum in Basel. Bedenkens- und lesenswert!
DANIEL ZÜST, Rigi Kaltbad
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Sara Winter Sayilir (win)
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#548: Alles online «Eine gewaltige Vision»
Der Start zur Serie Digitalisierung hat bei mir gewaltig eingeschlagen. Super recherchiert und eindrücklich berichtet. Spontan sind mir zwei Punkte/Probleme ins Auge gestochen, wofür ich mindestens theoretische (aber vielleicht auch illusorische) Lösungsansätze habe:
1) Banken und Ämter etc. profitieren von der Digitalisierung, indem sie einem grossen Teil ihrer Klientel keine Belege/Bestätigungen etc. in Papierform mehr liefern müssen. Dieser Profit sollte eigentlich genügen, um bedürftigen Personen, die keinen Online-Zugang haben, die nötigen Dokumente – wie früher allen – gratis zuzustellen oder am Schalter zu überreichen. Die Frage ist nur, wer könnte da Druck machen? Politische Parteien? Die Caritas?
2) In vier Jahren, 2027, soll wieder eine Landesausstellung stattfinden. Planung, Realisierung, Bauten und deren Abbau werden Millionen verschlingen. An- und Abreise für den Besuch der Ausstellung werden mehr Verkehr und eine zusätzliche Umweltbelastung generieren. Wenn diese Ausstellung virtuell durchgeführt würde, könnten Millionen eingespart werden. Diese müssten für die «Ausrüstung» aller Einwohner*innen der Schweiz mit topmoderner ITInfrastruktur und Schulung verwendet werden. Dann gäbe es keine Zweitklass-Schüler*innen mehr, Stellensuchende, die bisher keinen eigenen Computer hatten, wären in der Lage, ein aktuelles Bewerbungsdossier zu machen etc. Damit würde sich die Schweiz auf einen Schlag weltweit an die Spitze der digitalisierten Länder katapultieren. Eine gewaltige Aussicht (und Vision).
Ich weiss, das alles ist eher utopisch. Aber die schreiende Ungerechtigkeit, die aus dem ersten Bericht Ihrer Serie hervorgeht, hat mich zu diesen beiden Überlegungen gezwungen.
ERWIN OBRECHT, Jona
Ständige Mitarbeit
Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer
Mitarbeitende dieser Ausgabe
Toby Binder, Andri Gotsch, Timo Lenzen, Tomislav Martić, Karin Pacozzi, Sara Ristić, Ralf Schlatter, Chi Lui Wong, Florian Wüstholz
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.
Gestaltung und Bildredaktion
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«Ich wurde in einem Dorf im Südwesten Serbiens geboren. Dort habe ich die Sonderschule besucht, was für mich nicht leicht war, aber die Lehrer mochten mich. Als unsere Eltern starben, verkauften meine Schwester und ich die Wohnung, in der wir lebten, und machten uns auf die Suche nach einem besseren Leben. In den 1990ern arbeitete ich auf dem Bau, wo ich mich verletzte. Schon als Kind hatte ich mir die Hüfte ausgekugelt, das machte alles nur noch schlimmer. Daraufhin zogen wir in einen Vorort von Belgrad, ich fand für kurze Zeit einen Job als Türsteher. Dort leben wir bis heute.
Zu Beginn war es in Belgrad ziemlich hart für mich. Mir fehlten meine Freunde von früher, wir hatten ein enges Verhältnis zueinander. Doch dann fand ich im Internet einen Sportverein «Živimo zajedno», das bedeutet: Gemeinsam leben. Wie der Name sagt, geht es dabei nicht nur um Sport, sondern vor allem um soziale Kontakte und Zusammenhalt. Schon bald konnte ich dort arbeiten und beim Training helfen. Ich spiele Tischtennis, Fussball und vor allem Basketball. Bereits in der Schule mochte ich Sport viel lieber als Mathematik. Wir haben im Verein eine eigene Basketball-Mannschaft, wir trainieren regelmässig und sehr hart. Schon zweimal haben wir bei Turnieren für Menschen mit einer körperlichen Behinderung mitgemacht und eine Medaille gewonnen. Jetzt bereiten wir uns für die Special Olympics vor, dort werden wir auf harte Konkurrenz treffen. Im Moment steht bei mir eine Hüftoperation an, über die ich viel nachdenke, und ich werde langsam nervös. Bisher konnte ich trotzdem Basketball spielen – aber wird das in Zukunft auch noch der Fall sein?
Weil ich für Miete und Unterhalt mehr Geld benötigte, begann ich vor bald zehn Jahren mit dem Verkauf der Strassenzeitung Liceulice. Zuerst hatte ich ziemlichen Bammel, weil das Geschäft nur schleppend vorankam und ich kaum Zeitungen verkaufte. Doch inzwischen ist alles anders: Ich habe eine Menge Stammkund*innen, war schon mehrmals Verkäufer des Monats und bekam sogar eine Medaille, weil ich so viele Ausgaben unter die Leute brachte.
Meine Arbeit als Liceulice-Verkäufer ist mir sehr wichtig, denn ich kann damit meine Rechnungen bezahlen. Ich verkaufe nicht bloss an einem Standort, sondern bin es gewohnt herumzulaufen, was mir sehr gefällt. Mein Erfolgsgeheimnis besteht darin, dass ich auf die Leute zugehe, mich mit meinem Namen vorstelle, ihnen einen «Guten Tag» wünsche und sage: «Wenn Sie die Zeitschrift kaufen, können Sie anderen helfen!» Eine Dame sagte einmal zu mir, dass ich stets lächle und sie deshalb bei mir das Magazin kaufe. So ist es: Je mehr man sich auf die Leute einlässt, umso mehr werden sie die Zeitung kaufen. Ich treffe mich mit oft anderen Verkäufer*innen, zum Beispiel mit Svetlana. Wir kennen uns schon lange und wir trinken
regelmässig einen Kaffee zusammen. Auch mit den anderen verabrede ich mich gerne, wir reden, hören Musik und kochen miteinander. Das bedeutet mir viel, denn so kann ich einiges lernen. Tatsächlich weiss ich gerade mal, wie man Eier kocht –mehr noch nicht.
Wenn ich zuhause bin, schlafe ich viel und wache erst spät auf. Ich trinke am Morgen gerne einen Kaffee. Abends stöbere ich auf Facebook herum, ich schaue mir im Internet Shops mit Sportartikeln an oder höre Musik. Ich bin jetzt bald Mitte fünfzig. Manchmal träume ich davon, endlich in Rente zu gehen. Ich würde meinen Ruhestand in Belgrad verbringen und weiterhin die Strassenzeitung verkaufen, denn das erfüllt mich sehr. Womöglich sind dies die schönsten Augenblicke in meinem Leben: Wenn ich auf der Strasse stehe, mit den Leuten plaudere und Liceulice verkaufe.
Trotzdem habe ich noch einen Traum: Ich wünsche mir, dass meine Schwester und ich uns wieder eine Wohnung kaufen können und endlich ein eigenes Dach über dem Kopf haben. Hoffentlich kann ich uns diesen Traum noch verwirklichen, bevor ich in Rente gehe.»
Mit freundlicher Genehmigung von LICEULICE / INTERNATIONAL NETWORK OF STREET PAPERS
Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah.
Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang
So 21. Mai, 11– 17 Uhr Schützi, Olten
So 11. Juni, 11– 17 Uhr Helvetiaplatz, Zürich
Sa 9. September, 11– 17 Uhr Kaserne, Basel
So 15. Oktober, 11– 17 Uhr Reitschule, Bern
Alle Infos auf surprise.ngo/strassenfussballl