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CHF 6.–

Begegnung

Im Salon

Wellness und Beauty gehören nicht nur denen, die es sich leisten können.

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Strassenmagazin Nr. 553 30. Junibis 13.Juli 2023 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

BETEILIGTE CAFÉS

IN AARAU Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 | the green corner, Rain 27 IN ALSTÄTTEN SG Zwischennutzung Gärtnerei, Schöntalstr. 5a IN ARLESHEIM Café Einzigartig, Ermittagestr. 2 IN BAAR Elefant, Dorfstr. 1 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Barista Bar Basel, Schneidergasse 16 | Bioladen Feigenbaum, Wielandplatz 8 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | KLARA, Clarastr. 13 | Flore, Klybeckstr. 5 | frühling, Klybeckstr. 69 Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreff Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | L’Ultimo Bacio Gundeli, Güterstr. 199 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 Café Spalentor, Missionsstr. 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Shöp, Gärtnerstr. 46 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 Wirth’s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Marktgasse 19 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Café Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b | Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Lena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Sous le Pont, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | DOCK8, Holligerhof 8 | Café Paulus, Freiestr. 20 | Becanto, Bethlehemstr. 183

Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Inizio, Freiestrasse 2 | Treffpunkt Perron bleu, Florastrasse 32 IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht, Hofstatt 5 IN CHUR Café Arcas, Ob. Gasse 17 | Calanda, Grabenstr. 19 | Café Caluori, Postgasse 2 | Gansplatz, Goldgasse 22 | Giacometti, Giacomettistr. 32 | Kaffee Klatsch, Gäuggelistr. 1 | Loë, Loestr. 161 | Merz, Bahnhofstr. 22 | Punctum Apérobar, Rabengasse 6 Rätushof, Bahnhofstr. 14 | Sushi Restaurant Nayan, Rabengasse 7 | Café Zschaler, Ob. Gasse 31 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz & Mairübe, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Markt Wärchbrogg, Alpenquai 4 & Baselstr. 66 | Rest. Wärchbrogg, Alpenquai 4 | Bistro Vogelgärtli, Sempacherstr. 10 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseliquai | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN UEKEN Marco’s Dorfladen, Hauptstr. 26 IN USTER al gusto, Oberlandstr. 82 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZUG Bauhütte, Kirchenstr. 9 | Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Café Noir, Neugasse 33 | Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | GZ Bachwiesen, Bachwiesenstr. 40 | Kleinwäscherei, Neue Hard 12 | Kiosk Sihlhölzlipark, Manessestr. 51 | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. Schütze, Heinrichstr. 238 | Täglichbrot, Friesenbergplatz 5 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | GZ Witikon, Witikonerstr. 405 | GZ Wipkingen, Breitensteinstr. 19a jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

Etwas für sich tun

Für viele Menschen ist ein gepflegtes Äusseres ein Zeichen dafür, dass man auf sich achtgibt und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist. Das Erscheinungsbild ist unsere Fassade: Wer adrett aussieht, riskiert weniger kritische Blicke, kann eine schwere Lebenslage besser verstecken, schämt sich weniger. Doch Selbstpflege braucht Zeit, Geld und auch ein Gefühl der Legitimität. Darf ich mir überhaupt etwas gönnen, das nur mir selbst zugutekommt? Gerade jenen, die viel Carearbeit machen, die einer älteren Generation angehören oder wenig prestigeträchtigen Jobs nachgehen, erscheint es womöglich unbescheiden, etwas nur für sich zu tun.

Diese Zusammenhänge möchte der GrandBeauty-Schönheitssalon im deutschen Leipzig aufbrechen. Hier haben Menschen eine Chance auf Arbeit, die aufgrund von Asylrestriktionen, Sprachkenntnissen oder nicht anerkannten Abschlüssen nirgendwo unterkommen. Und im von Rechtsextremismus gebeutelten Sachsen nicht ganz irrelevant, bringt der Salon auch Leute zusammen, die sonst nicht miteinander in Berührung kämen, ab Seite 8.

Im vierten Teil unserer Digitalisierungsserie geht es darum, wie der Schweizer Staat und das europäische Abschottungssystem digitale Daten dafür nutzen, Menschen ohne Schweizer Pass und Asylbewerber*innen zu überwachen. Auch zu mir wird es beim Basler Migrationsamt ein Dossier geben, wie auch zu jedem einzelnen Mitglied meiner kurdisch-türkischen Familie. Weil wir Fremde waren – und wohl auch bleiben, da diese Fichen auch bei Einbürgerung nicht zwangsläufig gelöscht werden. Immerhin kann man Einsicht beantragen. Mehr zu Migration und Digitalisierung ab Seite 20.

Im Spätsommer werden in Zürich iranische Kulturplakate ausgestellt – eine Gelegenheit nach der Rolle von Kultur und Kulturschaffenden im Iran zu fragen und dabei den Blick auf die mutigen Widerständigen zu richten, zu denen seit langer Zeit auch Parastou Forouhar gehört. Das Interview mit der Künstlerin ab Seite 14.

Surprise 553/23 3 Editorial
4 Aufgelesen 5 Na? Gut! Erfolgreicher Protest 5 Vor Gericht Der Knaller
Verkäufer*innenkolumne Qui a raison: maman ou papa?
Moumouni antwortet Was bedeutet eigentlich Feminismus heute? 8 Iran Wenn Kulturschaffen politisch ist 14 Altersarmut Schambehaftet 16 Begegnung Wellness mit Mehrwert 20 Serie: Digitalisierung Die Daten der Migrant*innen 24 Ausstellung Selbstverständlichkeit zeichnen 27 Tour de Suisse Pörtner in Mettmenstetten 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt «Ein eigenes Dach über dem Kopf» 26 Veranstaltungen
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TITELBILD: KAROLIN KLÜPPEL SARA WINTER SAYILIR Redaktorin

Aufgelesen

News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Besser schützen

Erntehelfer*innen haben ein grösseres Unfallrisiko als Arbeiter*innen auf dem Bau oder in der Industrie, so eine neue Studie des deutschen Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Trotzdem sind sie unzureichend geschützt – und das, obschon die deutsche Regierung ihnen 2022 eine angemessene Kranken- und

Unfallversicherung zugesagt hatte. Falls sie krank werden oder sich verletzen, bleiben sie grösstent eils auf den Behandlungskosten sitzen. Im Schnitt arbeiten pro Jahr 275 000 Erntehelfer*innen in der deutschen Landwirtschaft.

275000 Erntehelfer*innen

in Deutschland haben eine unzureichende Kranken- und Unfallversicherung.

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«Eine leuchtende Liebeserklärung an die klassische Musik.»

Echo Magazine

«Brillant, berauschend und inspirierend.»

Radio France

DIVERTIMENTO

Versteckte rechte Gewalt

Das Bundeskriminalamt (BKA) verzeichnete letztes Jahr einen Höchststand an politisch motivierter Kriminalität. Die grösste Gruppe bildet dabei die Rubrik der «nicht zuzuordnenden Straftaten». Der Verband der Opferberatungsstellen kritisiert diese Zuordnung des BKA scharf, denn man könne auf diese Weise nicht erkennen, dass sich dahinter neue Formen des Rechtsextremismus versteckten. Und zwar eine Form, die «nur das Gewand gewechselt habe» und nun als Verschwörungstheorien daherkomme, denen im Kern «Antisemitismus und Rassismus» zugrunde liegen.

Ungleiche Überlebenschancen

Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen einen Herz-Kreislauf-Stillstand überleben, ist 50 Prozent geringer als bei Männern. Dies ergab eine Studie aus den Niederlanden. Ein Grund für die geringere Überlebensquote ist, dass die jeweiligen Ersthelfer*innen die Ursache für den Zusammenbruch nicht rechtzeitig erkannten. Dadurch verzögerten sich die Notfallmassnahmen und der Einsatz des Rettungsdienstes.

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NACH EINER WAHREN GESCHICHTE EIN FILM VON
Mention-Schaar
Marie-Castille
EIN ORCHESTER
JETZT IM KIN O
FÜR ALLE
MEGAPHON,
BODO,
HINZ & KUNZT, HAMBURG GRAZ
BOCHUM/DORTMUND

Erfolgreicher Protest

Sicher nicht zufällig am 20. April, an Hitlers Geburtstag, tauchte im Google Play Store das Spiel «Slavery Simulator» auf. Darin konnten Spieler*innen gemäss Beschreibung «Sklav*innen tauschen, kaufen und verkaufen» und ihnen Folter zufügen. In Brasilien, wo die Folgen der Sklaverei bis heute spürbar sind, war die Wut vieler Menschen gross. So twitterte die Abgeordnete der Regierungspartei PT Denise Pessôa: «Es ist absurd, dass ein Spiel erhältlich ist, das Grausamkeiten und Hassreden gegen Schwarze Menschen verbreitet. Unser Land wurde mit dem Blut der Schwarzen Bevölkerung aufgebaut. Menschen wurden getötet und gefoltert.»

Renata Souza, Aktivistin und Politikerin aus Rio de Janeiro, setzte hinzu: «Google und der Entwickler müssen sich für dieses Hassverbrechen und den Rassismus verantworten.» Der im Play Store angegebene Spieleentwickler Magnus Games Studio erklärte derweil in einer Pressemitteilung, er habe mit dem Spiel nichts zu tun und sei Opfer einer Diffamierung.

Einen Monat nach der Lancierung hat Google das Spiel nun aus dem Play Store entfernt. Ein GoogleSprecher hielt gegenüber der BBC fest, dass im Play Store keine Apps zugelassen würden, die Gewalt förderten oder zu rassistischer Hetze und Hass anstachelten. Wie das Spiel trotzdem in den Google Play Store gelangen konnte, dazu hat die brasilianische Staatsanwaltschaft eine Untersuchung eingeleitet. Gemäss dem frisch gegründeten brasilianischen Ministerium für ethnische Gleichstellung soll der Entwickler rechtlich zur Verantwortung gezogen werden. LEA

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.

Vor Gericht

Der Knaller

Es ist eine lange Deliktsliste, über die das Bezirksgericht Bülach zu befinden hatte: Täuschung der Behörden, Vergehen gegen das Betäubungsmittel- und das Waffengesetz, Förderung des illegalen Aufenthalts, Begünstigung, Urkundenfälschung, Diebstahl, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung. Der Knaller aber ist: Sprengung eines Geldautomaten – in der Schweiz ein fast schon symbolträchtiger Akt.

Aber eben nur fast. Den Täter*innen ging es natürlich nicht um ein Statement, sondern um Cash. Wie der Staatsanwalt sagt: Es ist der moderne Bankraub – und ein wachsendes Problem. Waren es 2018 in der Schweiz noch vier gesprengte Automaten, flogen 2021 schon 24 in die Luft. Darunter Ende August jenes Jahres einer in Dietlikon. Aus einer Garage in der Nähe stahl die Täter*innenschaft das notwendige Material: eine Schweissanlage und zwei Gasflaschen. Dies wurde auf E-Trottis zum Bankomaten gekarrt und eine Detonation mit einem Feuerball von zehn Metern Durchmesser ausgelöst. Das Resultat: 70000 Franken Sachschaden.

Das Pech war: Die zufällig ebenfalls 70000 Franken in den Geldkassetten des Geräts mussten die Täter*innen zurücklassen. Der Sockel hatte der Explosion standgehalten. Dann fanden die Strafverfolger*innen auch noch an den Mischventilen der beiden Gasflaschen am Tatort die DNA jenes Mannes, der nun vor Gericht steht.

Gemäss Staatsanwalt «ein verfahrenserprobter Berufskrimineller». Man war dem 47-Jährigen schon länger wegen Drogendelikten auf der Spur. Drei Mal habe sich der Beschuldigte der GPS-Tracker, die an

seinen Autos angebracht wurden, umgehend wieder entledigt. Einmal, indem er das Fahrzeug einfach verkaufte, wie sich der Staatsanwalt entrüstet. Während er zu den Drogendelikten plädiert, nehmen die Seufzer des Gerichtsvorsitzenden das Resultat in diesen Anklagepunkten vorweg. Denn Pech klebte auch an den Händen der Polizei: Beim Zugriff auf die mutmassliche Cannabis-Plantage des Beschuldigten war bereits alles abgeerntet. Zwar konnte die Polizei das Videomaterial sichern – doch tags danach wurde der Server gestohlen. Als die Polizei die mutmasslichen Mittäter verhaften wollte, gelang ihnen die Flucht.

Immerhin befand sich in der Wohnung auch ein Handy mit Selfies des Beschuldigten in der Indoor-Plantage – als die Pflanzen noch da waren. Was aber nicht beweist, dass es sich um verbotenen THC-Hanf handelt. Der Nachweis, dass er ein Grossdealer sein soll, gelingt also nicht. Er wird einzig wegen Besitzes von 2,3 Gramm synthetischem Cannabis verurteilt.

Es wäre vielleicht von Vorteil gewesen, sich auf die Geschichte mit dem Bankomaten zu konzentrieren, sagt der Gerichtsvorsitzende. Dort habe man die DNA des Beschuldigten und die Ortung seines Handys in den Tagen zuvor am Tatort – dass er Autospengler ist, komplettiert das Bild. Das Gericht verhängt eine Freiheitsstrafe von 64 Monaten statt der vom Staatsanwalt geforderten 77. Hingegen folgen die Richter dem Antrag auf einen Landesverweis von 14 Jahren. Es ist der zweite für den Kosovaren – die Dauer der ersten Wegweisung aus der Schweiz, ganze 7 Jahre, verbrachte er in einem Gefängnis in Albanien. Wegen 110 Kilo Hasch.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER Na? Gut!
YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

Qui a raison: maman ou papa?

Lebe nach dem Verstand, nicht nach dem Herzen. So sagte mein Vater.

Am Tag, an dem er ging, wachte ich in aller Herrgottsfrüh auf. Ich hörte seine Stimme von fern. Er nahm Abschied. Er hatte früher einmal gesagt, ich solle mich in Acht nehmen vor Stimmen.

Meine Mutter lebt nach dem Herzen. Jenes ist so gross, dass sie manchmal verbrennt.

In der Deutschschweiz fasste sie nur schwer Fuss. Sie spricht leicht gebrochen Deutsch, elle aurait préférée rester en France. Dütschschwiizer sind e n äignigs Volk. Zruckhaltend, kühl. Ich bin Deutschschweizer geworden.

Drei von vier meiner Grosseltern waren Lehrer*innen. Meine Eltern ebenso. Beziehungsweise sind, denn Tote leben in der Gegenwart; und was Beruf war, bleibt Berufung. Auch ich falle nicht weit vom Stamm. Deutschstunden erteilte ich. Und Ratschläge geb ich … allzu gern – ob ich sie selbst auch befolge?

Wieso erzähl ich das? Weil Familiäres den Ofen heizt. Bei Surprise geht’s ja nicht um Ziffern, Zahlen und Nummern. Surprise sucht Persönliches, Heimeliges. Für mich, trotz Tragik in den Themen oft, ein Wohlfühlheft. Wer sich damit wohlfühlt, lässt Nachbarn dran teilhaben.

Übrigens: Mein Vater ist Mathematiker.

NICOLAS GABRIEL, 58, noch für ein paar Tage, demzufolge Sternzeichen Krebs – und immens harmoniebedürftig, wie er selber sagt. Verkauft Surprise an der Uraniastrasse in Zürich.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

Verkäufer*innenkolumne
ILLUSTRATION: ANDRI GOTSCH

Moumouni antwortet

Was bedeutet eigentlich Feminismus heute?

Ich stehe in einem Zigarrenladen und denke mir, ich könnte mir aus Spass eine kaufen. Die Verkäuferin nimmt mich mit nach hinten in den klimatisierten Raum und dort in die teurere Ecke, weil sie davon ausgeht, dass ich mein eigenes Geld habe und genug davon. Seit meine Grossmutter von ihrem Vater und ihren Brüdern dafür verspottet wurde, dass sie eine höhere Ausbildung verfolgen wollte, und sich durchsetzte, haben die Frauen in der Familie mütterlicherseits ihr eigenes Geld. Und nachdem ihr diverse Kinder, Greise und sonstig Hilfsbedürftige in der Familie zur Sorge zugeschoben und in den Weg gelegt wurden und sie diese fertig umsorgt hatte, konnte sie das Geld auch für sich selbst ausgeben. Der Zigarrenladen hat einen ähnlichen Flair wie

das salonartige Wohnzimmer meiner Grossmutter. Sie hat dort ebenfalls eine Zigarre ausgestellt. Sie war teuer, aber man kann sie wohl nicht mehr rauchen. Die Verkaufsperson erzählt mir von den Vorzügen der teuren und dem herb-kakaoigen Geschmack der teureren und wie ich sie pflegen muss. Geniessen, zu einem guten Glas Rum. Auf keinen Fall mit Cola oder Eis mischen. Ich überlege mir zu sagen: Ich bin doch kein Mädchen! Ich lasse es. Ich spiele mit dem Gedanken, die Verkäuferin mit heimzunehmen. Grossmutter erzählte mir, wie anstrengend Wäschewaschen zu Zeiten ihrer Mutter war, schon anders heute. Sie kann sich den Namen ihrer Putzfrau nicht merken und benutzt einen türkischen Stellvertreternamen für sie.

Es ist dunkel, als ich heimgehe. Ich habe eine Gänsehaut vom Sternenhimmel und den dunklen Ecken, an denen ich vorbeigehe. Meine Nachbarin hat mir erzählt, dass sie tatsächlich mal Zigarren gerollt hat auf Kuba. Für Touris zum Zugucken. Meistens Männer, die mehr wollten.

Nachts träume ich, schwanger zu sein. Alle sagen, es wird sicher ein Junge, weil mein Bauch so oder so geformt ist oder weil ich zu dieser und jener Zeit Appetit auf Fleisch habe. Als ich gebäre, fehlt dem Ding das Geschlecht. Eine Last fällt von mir ab. Ich bin eine Frau ohne Mädchentugenden – was soll ich einem Mädchen schon beibringen, damit es einen guten Mann bekommt? Ich wähle einen Namen, der weder Rocky noch Cinderella ist. Der Mann kommt heim. Er hängt sein Brusthaar an den Kleiderhaken, aber vergisst, die Schuhe abzuklopfen. Er sagt, wie war dein Tag, Schatz, und ich scheisse ihn zusammen. Essen habe ich schon gemacht. Aber er trinkt lieber einen Proteinshake. Er macht trotzdem den Abwasch und seit paar Monaten findet er alle dazu notwendigen Utensilien selbst. Das Kind wächst schnell. Es bekommt ein Geschlecht, aber die beim Einwohnermeldeamt finden es nicht. Wir gehen wieder heim.

Als ich aufwache, merke ich, dass ich immer noch im Zigarrenladen stehe. Die Verkaufsperson hat einen schweren Zigarrenanzünder in der Hand. Von ihren Achselhaaren, die unter ihrem Shirt hervorschauen, tropfen Schweissperlen, die ihren sehnigen Arm herunterrollen. «Auf keinen Fall ein Zündholz benutzen, die Spitze muss langsam und gleichmässig brennen.» Das gehe lang, aber es lohne sich. Deshalb war ich wohl eingeschlafen. Als die Zigarre endlich brennt, sagt die Verkäuferin: Super, dass jetzt auch mehr Frauen Zigarren rauchen! Wenn’s dir Spass macht, freu ich mich, wenn du wieder vorbeikommst. Wir Zigarrenfrauen müssen zusammenhalten!

FATIMA MOUMOUNI bekommt von nun an jeweils Fragen von der Redaktion gestellt, die sie beantwortet.

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ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL

Iran Gestalt der Macht und Macht der Gestaltung: ein Gespräch mit der iranischen Künstlerin Parastou Forouhar über Kunst und Politik.

INTERVIEW PASCAL BERNHARD

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«Ist es noch schön, oder schon furchtbar?»
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Die grösste Sammlung iranischer Plakatkunst ausserhalb Irans liegt – in der Schweiz. Die Plakate bewarben im Verlauf der Jahrzehnte Kunstausstellungen, Theateraufführungen und Filmfestivals, hingen in Buchläden und Cafés. Weitere Werke wurden nun im Auftrag von Bettina Richter, Leiterin der Plakatsammlung des Museum für Gestaltung Zürich, vom Grafiker Majid Abbasi bei verschiedenen Gestalter*innen angefragt und gelangten als Schenkung in die Plakatsammlung des Museums. Dort wird die Sammlung im Sommer und Herbst zu sehen sein. Eines der Werke bewarb auch die Ausstellung «I surrender» der in Deutschland lebenden Widerstandskünstlerin Parastou Forouhar.

Wann waren Sie das letzte Mal in Iran? Parastou Forouhar: Im November 2022. Wie immer bin ich zum Jahrestag der Ermordung meiner Eltern vor 24 Jahren zurückgekehrt. Die Aufstände, die Revolution und ihre Parole – «Frau, Leben, Freiheit» – waren omnipräsent. Ich hatte also das Glück, Zeitzeugin des iranischen Aufbegehrens zu werden.

1998 wurden Ihre Eltern, die Oppositionellen Dariush und Pervane Forouhar, brutal ermordet, man könnte sagen: hingerichtet. Damals gab es eine Reihe politisch motivierter Tötungen von Dissident*innen, mindestens 80 Fälle sind bekannt, man bezeichnet sie auch als «Kettenmorde». Eine unabhängige Untersuchung fand nie statt. Fürchten Sie um Ihr Leben, wenn Sie einreisen?

Ich habe immer Probleme bei der Einreise. Mein Gepäck wird durchsucht, ich werde verhört, auf der Strasse bin ich unter ständiger Beobachtung. Es ist also nie eine einfache Reise – sie verlangt mir immer viel Mut ab. Ich mache mir Sorgen um mein Leben und das meiner Liebsten. Dennoch möchte ich die Entscheidung, ob ich reise oder nicht, nicht meiner Angst überlassen, sondern meinen Aktivismus fortführen. Wie lange noch? Diese Frage stelle ich mir bei jedem Besuch von Neuem.

Helfen gute Kontakte, etwa zu den Behörden, um sich abzusichern?

Die Behörden sind die langen Arme des iranischen Regimes. Mit ihnen zu koope-

1 Der Titel der Ausstellung, für die das Plakat von Mojtaba Adibi wirbt, ist ein Wortspiel: ‹Khat› bedeutet Schrift oder Schreiben, während ein ‹Khati› eine Person ist, die die herrschenden Normen überschreitet.

2 Das Plakat für ein Strassenkunstfestival mit Kunstwerken aus Teheran und New York zeigt eine Verschmelzung von Freiheitsstatue mit dem Teheraner Shahyad-Turm. Dieser wurde 1969 – 71 gebaut und nach der Revolution 1979 in Azadi-Turm oder Freiheitsturm umbenannt. Die verlaufenden Tropfen erinnern an Blut.

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2 QUELLEN: MOJTABA ADIBI, [KHAT-E KHATI / ABOUSAEED E SKANDARI], 2019; STUDIO FA /  MAHI FATEHI, NEW YORK / TEHRAN  / GROUP STREET ART EXHI BITION, 2014

rieren, würde die Reise nur unsicherer machen. Was man tun kann: sich auf die Reise vorbereiten. Das verhindert aber nicht, dass mein Herz rast, wenn ich den Sicherheitsbereich im Flughafen durchquere.

Unter den ab Juli in Zürich ausgestellten Exponaten ist ein Plakat, mit dem 2009 Ihre Ausstellung «I surrender» beworben wurde (siehe S. 12 unten) – inmitten der Proteste der sogenannten Grünen Bewegung. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?

Auch damals war ich im November zum Gedenken meiner Eltern nach Iran gereist. Auch damals waren Aktivist*innen auf den Strassen. Wie heute antwortete das Regime mit Repression, Misshandlung und Mord. Dennoch war die Bewegung, als ich einreiste, noch in vollem Gange. Gemeinsam mit der Teheraner Azad-Galerie, deren Mitarbeiterinnen zum Teil bis heute zu meinen engsten Freunden zählen, wollte ich ein Zeichen setzen. Die Ausstellungen der Galerie sind vor und nach 2009 immer wieder verboten worden – damals hat man uns erstaunlicherweise gewähren lassen.

Wie wichtig ist Kunst in Zeiten des Protests?

Wenn das Regime Schwäche zeigt, muss man das ausnutzen. Zeitfenster, in denen das Regime nicht versucht, das kulturelle Schaffen zu unterdrücken, sind selten. Das gleiche gilt für Momente, in denen die Sicherheitskräfte zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt sind, um Orte der Freiheit zu bekämpfen.

Was haben Sie damals in der Ausstellung präsentiert?

Die Installation trug den Namen «I surrender», zu Deutsch «Ich ergebe mich». In einem Raum schwebten bedruckte Heliumballons unter der Decke. Die schwarzen Schnüre der Ballons fielen nach unten, in ihnen haben sich die Besucher*innen der Ausstellung verstrickt und verheddert. Luftballons stehen für die heiteren Augenblicke des Lebens. Doch sobald das Publikum an den Schnüren zog, entdeckte es auf die Ballons gedruckte Folterszenen. Das Gefühl der Leichtigkeit wird gebrochen, es offenbart sich die harte Realität in Form von Gewalt. Die Luftballons haben wir dann verkauft. Die Gewalt des iranischen Staates fand so Einzug in die Wohnungen der Besucher*innen. Die Ballons verbreiteten sich wie Flugblätter.

Aufgegeben haben Sie nicht. Warum dann der Ausstellungstitel «I surrender»? Aufgeben bedeutet auch Offenheit. Die Heliumballons sind für mich wie eine weisse Fahne. Es geht um mehr, als gegenüber dem Regime zu kapitulieren. Dahinter verbirgt sich auch ein visuelles Konzept, das Aufgeben einer bestimmten Idee. Aufzugeben ist ein Gefühl. Den Ballons ist eine Bedrohlichkeit eigen, die ich einfangen wollte.

Der Grafiker Reza Abedini hat das Plakat zu «I surrender» entworfen. Hat er Ihre Intentionen richtig getroffen? Reza Abedini hat immer wieder mit der Azad-Galerie gearbeitet. Sein Poster fand

1 Peyman Pourhosein vom Studio Kargah hat das Plakat für die Produktion «Horses Stomp at the Window» entworfen. Das interdisziplinäre Theaterprojekt dreht sich um die Geschichten dreier Menschen, deren Leben durch Krieg zerstört wurde.

2 Dieses Plakat wurde von Saam Keshmiri für das hundertjährige Bestehen des Konservatoriums von Teheran entworfen. Wie ein lyrisches Gedicht ist der Text gleichmässig über den zur Verfügung stehenden Raum verteilt, seine rhythmischen Zeilen erinnern an Notenlinien.

3 Majid Abbasi hat dieses Plakat zum ersten Todestag des armenischiranischen Musikers

Emanuel Melik-Aslanian (1915 – 2003) entworfen. Dieser hatte einmal die Perfektion der Fugen von Bach mit der Poesie des Sufi-Mystikers und Dichters Rumi verglichen. Auf dem Plakat steht daher eine Zeile von Rumi: «Ein wahrer Mensch ist mein Wunsch.»

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Jin,

Auslöser der landesweiten Massendemonstrationen in Iran seit September 2022 war der Tod der 22-jährigen iranischen Kurdin Jîna Mahsa Amini. Sie fiel in Polizeigewahrsam ins Koma, nachdem sie in Teheran von der sogenannten Sittenpolizei festgenommen worden war, weil sie ihr Kopftuch nicht vorschriftsgemäss getragen habe. Amini starb drei Tage nach ihrer Festnahme. Darauf folgte eine monatelange Protestwelle, bei denen vor allem junge Menschen auf die Strasse gingen, um gegen die Unterdrückung durch das religiös legitimierte Regime zu demonstrieren und mehr Freiheit bis hin zu Systemwechsel zu fordern. Mittlerweile sind die Aktionen weniger geworden. Die Regierung liess Tausende verhaften und Hunderte hinrichten, weitere Prozesse stehen an. WIN

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Jiyan, Azadî –Frau, Leben, Freiheit
QUELLEN:
TRUE HUMAN IS MY DESIRE], 2004
STUDIO KARGAH / PEYMAN POURHOSEIN, HORSES STOMP AT THE WINDOW
2, 2012, 2019; STUDIO KAR GAH / SAAM KESHMIRI, [CELEBRATING THE CENTENARY OF TEHRAN MUSIC ACADEMY; MAJID ABBASI, [A

1 Der 2021 verstorbene Kambiz Derambakhsh galt als der populärste Karikaturist Irans. Der aus dem pinken Hintergrund ausgeschnittene Schriftzug erlaubt uns einen Blick auf sein Gesicht.

2 Reza Abedinis Plakat zur Installation «I Surrender» von Parastou Forouhar erinnert an die schwebenden Ballons mit ihren herabhängenden Schnüren, auf denen Folterszenen abgebildet sind. Auf dem Plakat sind die Ballons aber auch kompakte Schriftzeichen, die den Titel der Ausstellung sowohl in Englisch als auch in Farsi buchstabieren.

ich schön, insbesondere wie er die Ballons der Installation veranschaulicht hat. Auf den ersten Blick ist die Bedrohlichkeit der Szenerie nicht zu erkennen. Das entspricht genau meinem eigenen künstlerischen Schaffen: Aus der Ferne tut sich ein weiter, schöner Raum auf, und erst bei näherer Betrachtung ändert sich dieser Eindruck. Gewalt bleibt damit nur individuell erfahrbar.

Als Medium sind Plakate per Definition für die Öffentlichkeit bestimmt. Wie präsent sind Poster wie die von Reza Abedini im öffentlichen Raum in Iran?

Diese Plakate bewerben Ausstellungen, Theaterstücke oder sonstige kulturelle Veranstaltungen. Dennoch sind sie auf den Strassen Irans nur selten zu sehen. Sie werden vielmehr per Post verschickt oder sind in Galerien, Kaffeehäusern und anderen, geschützten Räumen ausgestellt. Inzwischen wird der öffentliche Raum von anderen Medien dominiert: Graffitis, Schablonen und Parolen.

Wie steht dies im Verhältnis zu den Graffitis im öffentlichen Raum, mit denen die Protestierenden derzeit auf ihre Forderungen hinweisen?

Der revolutionäre Geist einer Gesellschaft entsteht nicht aus dem Nichts. Es braucht eine kritische Zivilgesellschaft, die für den Wandel einsteht. Die öffentlichen Aktionen auf den Strassen Irans speisen sich aus einer Kulturszene, die sich in den letzten Jahren zunehmend politisiert hat und dabei eine eigene Ästhetik entwickelt hat. Darum zensiert das Regime Kunst und Künstler*innen, denn die streben nach Freiheit.

Hat das iranische Regime nicht auch eine eigene Kultur geschaffen?

Natürlich. Das Regime fördert eine bestimmte Art von Kultur. Da geht es um politische Geschichte, Musik, Lieder und Gedichte, die die Führung glorifizieren. Propagiert werden auch Verschwörungstheorien, beispielsweise wenn dem Ausland die Schuld für Proteste in die Schuhe geschoben wird. Es ist ein oberflächlicher Kulturbetrieb, doch das Regime versteht sein Handwerk. Immer wieder blamiert es sich dabei aber auch fürchterlich – Gott sei Dank.

Und wie gehen Sie an Kunst heran?

Ich breche mit der Sprache des Regimes und arbeite mit einer Ästhetik, die – anders als die iranische Propaganda – Ironie

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PARASTOU FOROUHAR wurde 1962 in Teheran geboren, ihr Kunststudium schloss sie 1990 dort an der Universität ab. Heute lebt sie in Deutschland.

und Ambivalenz in sich trägt. Und ja, es geht darum, die Betrachter*innen zu verwickeln, sie sollen sich hin- und hergezogen fühlen. Meine Kunst stellt die Frage: Ist es noch schön, oder schon furchtbar?

Damit verstecken Sie die Gewalt in Ihrer Kunst?

Nein. Aber ich erinnere an die Verantwortung der Betrachter*innen dafür, wie sie auf die Kunst blicken.

Sind Ausstellungen wie jene in Zürich derzeit in Iran denkbar?

Die Szene rund um die Azad-Galerie ist nach wie vor aktiv. Während der Proteste hat das Haus seine Räumlichkeiten zu Ateliers umgebaut. Jeden Nachmittag fanden offene, politische Gesprächsrunden statt.

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Auch finanziell half die Galerie und unterstützte Künstler*innen, deren Einkünfte aufgrund des Ausnahmezustands weggefallen waren.

Welchen Beitrag hat die Kunstszene an die Protestbewegung geleistet?

Sie ist kreativ in ihrem Protest. Es waren vor allem Kunststudent*innen, die die jüngste Protestwelle in Iran losgetreten haben. Sie haben nicht nur in Teheran protestiert, auch in Isfahan und in den kurdischen und belutschischen Gebieten. Mit ihren Kunstaktionen, Plakaten und Filmvorführungen hat die iranische Kunstszene den Geist der Revolution geformt und sich stärker positioniert als 2009.

Dennoch scheinen die Proteste gescheitert zu sein. Zumindest wenn man das Ziel Regimesturz als Massstab nimmt. Das Ziel war eine Veränderung der Zustände. Die Proteste haben einen Bewusstseinswandel herbeigeführt. Sie haben eine Generation geformt, die für ihre Rechte einsteht und nicht bevormundet werden möchte. So perfide das Regime auch agiert, indem es etwa auf Folter und Giftanschläge auf Kinder zurückgreift: Die Veränderungen in der Gesellschaft lassen sich nicht rückgängig machen.

Also waren die Proteste ein Erfolg? Ja. Zwar können die Menschen noch immer nicht vollständig über sich selbst entscheiden, aber es herrscht ein neues Bewusst-

sein für die Ungerechtigkeit der Verhältnisse. Die iranische Gesellschaft weiss, was Recht und was Unrecht ist – und auf welcher Seite die Regierung steht. Unsere politische Vision konnte sich noch nicht entfalten, weil das Regime versucht, solche Ideen im Keim zu ersticken. Doch der Zeitpunkt wird kommen, an dem die Proteste das Regime wie ein Tsunami hinwegspülen werden. Jede Frau, die kein Kopftuch mehr trägt, die so das Gesetz bricht, ist ein Sieg.

Ein Gesetzesbruch, den das Regime zukünftig wohl hinnehmen muss. Es ist wie in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung: Jedes Gesicht, das sichtbar ist, bedeutet einen Sieg.

Im Rahmen der Ausstellung «Visuelle Poesie – Zeitgenössische Plakate aus dem Iran» wird Parastou Forouhar am 29. September um 18 Uhr im Hörsaal 1, Toni-Areal an einer Podiumsdiskussion zum Thema Kunst und Widerstand am Beispiel Iran teilnehmen. Die Ausstellung ist vom 21. Juli bis 29. Oktober 2023 im Museum für Gestaltung Zürich zu sehen. museum-gestaltung.ch

Das Interview stammt aus zenith 01/2023 und erscheint mit freundlicher Genehmigung. zenith.me

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«Aufgeben bedeutet auch Offenheit.»
FOTO: ZVG
QUELLEN: I SURRENDER, 2009; DAMOON KHANJANZADEH, [KAMBIZ DERARMBAKHSH], 2007; REZA ABEDINI, PARASTOU FOROUHAR

745 000 7,9 %

Menschen leben in der Schweiz unter der Armutsgrenze (2295 CHF pro Monat für eine Einzelperson, 3989 Franken für Familie mit zwei Kindern), das sind

8,7 % der Bevölkerung (Stand 2021).

der Bevölkerung können sich finanziell keine regelmässigen Freizeitaktivitäten leisten, 3 Prozent können nicht mindestens einmal pro Monat Freunde oder Familie zum Essen treffen (Stand 2021).

Beschämt und versteckt

Altersarmut Hundertausende Senior*innen leben in der Schweiz unter der Armutsgrenze. Weil sie sich dafür schämen, beziehen viele keine Ergänzungsleistungen.

Eine Dreiviertelmillion – so viele Menschen sind in der reichen Schweiz arm. Besonders auffallend ist der Anteil älterer Menschen: Rund 300 000 Senior*innen haben weniger als 2400 Franken pro Kopf und Monat zur Verfügung und leben damit unter der Armutsgrenze, so eine neue Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Auftrag von Pro Senectute. Diese Zahlen passen nicht recht zum Bild von der Schweiz als «Land der reichen Alten». In die Welt gesetzt wurde es vor gut fünfzehn Jahren, als das Bundesamt für Sozialversicherung eine Umfrage veröffentlichte, der zufolge jedes siebte Senior*innenpaar über ein Nettovermögen von mindestens einer Million Franken verfügt. Beides stimmt.

Ungerechte Altersvorsorge

Die Gründe für Altersarmut sind vielschichtig. Ein sozialpolitischer besteht im Drei-Säulen-Modell, das 1972 im Schweizer Gesetz verankert wurde. Mit der Einführung der zweiten Säule – die einkommensabhängige berufliche Vorsorge – wurden jene Menschen benachteiligt, die nicht ihr ganzes Erwerbsleben in der Schweiz verbrachten, keine bzw. nur eine Teilzeitarbeit

hatten oder generell über ein niedriges Einkommen verfügten. Tatsächlich sind gemäss Studien insbesondere Frauen, Personen ohne obligatorische Ausbildung sowie Menschen mit Migrationsgeschichte von Altersarmut betroffen.

Die sozialpolitischen Bestrebungen zur Bekämpfung der Altersarmut richten sich entsprechend auf eine AHV-Revision (die letzte wurde 2022 per Volksabstimmung hauchdünn angenommen) sowie insbesondere auf eine Anpassung der zweiten Säule, sodass auch Personen mit einem Teilzeitpensum oder geringerem Einkommen ausreichend abgesichert sind.

Ein weiterer Grund ist eher sozialpsychologischer Art. Seit Jahren ist bekannt, dass Senior*innen die Ergänzungsleistungen EL nicht beziehen, obschon sie Anspruch darauf haben. Gemäss einer neuen Studie handelt es sich allein im Kanton Basel-Stadt dabei um fast einen Drittel aller Pensionär*innen; rechnet man das auf die gesamte Schweiz hoch, wären es 230 000 Personen.

Wieder sind die Gründe mannigfaltig. So fehlt es manchen Bezugsberechtigten bisweilen an den nötigen Informationen über die Sozialleistungen, andere entschei-

den sich bewusst gegen die Bezüge, weil sie kein Geld vom Staat annehmen möchten. Ein Grossteil der Leute aber, und dies zeigen auch Untersuchungen etwa aus Deutschland, bezieht deswegen keine EL, weil sie sich schämen.

Scham ist eine ausgesprochen komplexe Emotion und kennt unterschiedliche Ausprägungen. Die in den Sozialwissenschaften so genannte «Anpassungsscham» ist durch die Angst vor der Geringschätzung durch andere charakterisiert; ausgelöst wird sie dadurch, dass eine Person glaubt, den vorherrschenden gesellschaftlichen Normen nicht zu entsprechen. Im Zusammenhang mit Armut haben diese Normen häufig mit Verantwortung, Wohlergehen bzw. Selbstoptimierung, Status oder Konsum zu tun. Die Scham äussert sich oft im Gefühl, versagt zu haben und nicht mehr mithalten zu können. Inzwischen ist auch empirisch belegt, dass dieses Gefühl wiederum dazu führt, dass sich die betroffenen Personen vom sozialen Leben immer mehr zurückziehen, sich isolieren und irgendwann unsichtbar werden.

In einem in Surprise 546/23 erschienenen Porträt berichtet eine von Altersarmut betroffene Frau, wie sie Einladungen

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Schweizer Rentner*innen haben weniger als 2400 CHF pro Person und Monat zur Verfügung (Stand 2022); dagegen hat jedes siebte Senior*innenpaar ein Nettovermögen von mindestens einer Million Franken.

Menschen sind sog. Working Poor, d.h. sie haben trotz Arbeit kein Einkommen über der Armutsgrenze, das sind 4,2 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung (Stand 2021).

mit allerlei erfundenen Ausreden ausschlägt, denn sie kennt die Norm: Wer eingeladen wird, muss selber irgendwann einladen. Doch dazu fehlt ihr das Geld sowie ein Zuhause, das sich zeigen lässt. Sie geht auch an keine kulturellen Anlässe mehr, trifft sich mit Freundinnen zum Kaffee nur, wenn es unbedingt sein muss, und auch kleinere Unternehmungen wie Zugfahrten zu Bekannten kann sie sich nicht leisten. Gemäss der neuen Armutsstudie des Bundes müssen 7 Prozent der Schweizer Bevölkerung aus finanziellen Gründen auf regelmässige Freizeitaktivitäten verzichten, 3 Prozent können es sich nicht leisten, sich mindestens einmal im Monat mit Freunden oder der Familie zum Trinken oder Essen zu treffen.

Kampf gegen die Armen

Wo Leute sich schämen, gibt es in aller Regel andere, die diese beschämen. Beschämung kann Formen annehmen, die unbestritten einen Akt der physischen Gewalt darstellen – etwa dann, wenn dadurch ein Menschen erniedrigt, gefügig gemacht, auf die Rolle eines Opfers reduziert oder öffentlich «an den Pranger» gestellt werden. Aber auch subtile Formen der Beschämung zielen darauf ab, Hierarchien zu etablieren oder aufrechtzuerhalten; denn wer andere beschämt, ist grundsätzlich immer mächtiger – zum Beispiel aufgrund des sozialen Status –, und kann so derjenigen Person, die sie mit Scham belegt, «ihren Platz zuweisen», sie kontrollieren und, sollte sie sich nicht entsprechend verhalten, sogar bestrafen.

Dieses Wechselspiel von Scham und Beschämung spielt in der heutigen Sozialpolitik eine wesentliche Rolle. Es schlägt sich, unter anderem, im Konzept der Eigenverantwortung nieder. Nach dieser Auffassung sind armutsbetroffene Personen –egal, welchen Alters – an ihrer jetzigen Situation vielleicht nicht vollumfänglich selber schuld; in jedem Fall liegt es aber in ihrer eigenen Verantwortung, sich unter Einhaltung gewisser Regeln darum zu bemühen, ihre Lage zu verbessern.

Diese Regeln werden von den Sozialdiensten festgelegt und dementsprechend überwacht. Bekanntlich sind gerade die Kontrollmechanismen für Personen, welche Sozialleistungen beziehen, besonders ausgeprägt. Mehr noch: Die heutige Sozialpolitik tendiert klar dazu, «Unkooperative» mit Abzügen zu bestrafen – so werden Menschen genannt, die sich an die Vorgaben nicht halten können oder wollen. Eine von der SVP initiierte «AG Sozialpolitik» möchte dieses Paradigma von «Fördern und Fordern» noch straffer gestalten; freilich zuungunsten der Armutsbetroffenen (dazu Surprise 471/20).

Der angebliche Kampf gegen die Armut entpuppt sich so als Kampf gegen die Armen. Wie effektiv die Mechanismen der Beschämung sind, zeigen unzählige Aussagen von Betroffenen. So fasst ein Rentner, der in Surprise 477/20 porträtiert wurde, seine Situation mit den schlichten Worten zusammen: «Keine Tragödie, keine Scheidung, keine Krankheit, nicht mal Angst vor dem Tod. Niemand hat Schuld. Ausser ich.» Tatsächlich würden viele aus

einer Innenperspektive heraus ihre Scham und Schuldgefühle als persönliches Versagen deuten, analysiert die Psychotherapeutin Dorothee Wilhelm. Aus ihrer Sicht führt auf dieser individuellen Ebene der Weg aus der Scham über Vertrauen, Wut und Selbstliebe.

Auf der gesellschaftspolitischen Ebene wird es schwierig sein, der Scham entgegenzuwirken. Eine Diskussion über die strukturellen Bedingungen etwa von Altersarmut, wie sie weiter oben schon genannt wurden, dürfte unumgänglich sein. Zugleich müsste das neoliberale Paradigma des «Wer will, der kann» genauso hinterfragt werden wie das damit nach wie vor einhergehende Stereotyp der selbstverschuldeten Armut («Wer arm ist, ist selber schuld«).

Aber auch die Mechanismen der Beschämung gilt es offenzulegen, um kritisch über deren soziale Konsequenzen zu reden – das Spektrum reicht, wie bereits angedeutet, von schleichender Vereinsamung über den Verlust des Selbstwertgefühls bis hin zu Unsichtbarkeit.

Allerdings sollte man nicht zu illusorisch sein. Armut ist grundsätzlich vermeidbar, zumal in reichen Wohlstandsländern wie der Schweiz. Zugleich sind es genau diese Gesellschaften, welche die Armen offenbar so dringend brauchen. Nicht nur, um sie zu bemitleiden. Sondern auch, um sie zu bevormunden. Und um sich zu vergewissern, dass es diese Kluft gibt zwischen ihnen, die abgehängt sind, und den anderen, die es anscheinend geschafft haben.

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Das Schöne in dir

Begegnung Im Schönheitssalon «Grand Beauty» in Leipzig kommen Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammen. Was sie eint: Der Wunsch nach Austausch, Nähe und Akzeptanz.

«Ich sehe aus wie Pumuckl», sagt Angela und blickt in den Spiegel. Ihre grauen Haare hat sie am Hinterkopf zu einem kleinen Zopf zusammengebunden, die Lippen fest aufeinandergepresst, ihre Mundwinkel zeigen nach unten. Unwirsch zupft sie mit den Fingern an einzelnen Strähnen, die sich aus dem Zopf gelöst haben und zu allen Seiten abstehen. «Ich war krebskrank», sagt die 63-jährige Leipzigerin, «im Perückenladen haben sie mir meine Haare abrasiert und eine Perücke mitgegeben». Getragen hat sie die Perücke nie, «damit war ich einfach nicht ich selbst». Ihre Haare sind mittlerweile nachgewachsen, aber grau und dünn geworden. Meist trägt sie ein zum Turban geknotetes Kopftuch oder eine Mütze, immer einen Zopf. «Auf meinem Kopf herrscht Wildwuchs», sagt Angela. Die Lebensfreude, die ihr lilafarbener Wollpullover ausstrahlt, erreicht ihre Augen nicht.

Angela ist heute zu Gast im Schönheitssalon «Grand Beauty», der in einem weissen Häuschen im Leipziger Robert-Koch-Park liegt. Jeden Freitag werden hier Haare geschnitten, Wimpern verlängert, Augen geschminkt, Gesichter massiert. Es ist kein klassischer Schönheitssalon, sondern ein sozial-künstlerisches Projekt, das Barrieren abbauen soll. «Ein Ort, an dem Menschen

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TEXT KRISTIN KASTEN FOTOS KAROLIN KLÜPPEL
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Leipzig DEUTSCHLAND

aus verschiedenen Kulturen zusammentreffen», sagt die künstlerische Leiterin Frauke Frech, «immer mit der Einladung: Zeige uns, wer du wirklich bist». Es gehe um Gespräche, die sonst keinen Raum haben – über Kopftücher, Selbstliebe, Henna-Tattoos, die Frisuren arabischer Clanchefs und Rassismus. Die Schönheitsexpert*innen haben fast alle eine Migrationsgeschichte. «Einige sind vor Krieg und Gewalt geflüchtet, andere vor vielen Jahren mit den Eltern eingewandert», sagt Frauke. Heute sind Beauty-Experts aus Venezuela, Palästina, dem Irak, Afghanistan und Deutschland da. »Sie alle haben in ihrem Herkunftsland eine passende Ausbildung gemacht oder hatten eigene Salons.»

Die künstlerische Leiterin Frauke Frech gibt kurz vor Saloneröffnung letzte Anweisungen: «Bitte nochmal durchsaugen. Mülltüten nachfüllen. Oberflächen abwischen.» Ihre knallrot geschminkten Lippen lachen gerne, ihrem Blick entgeht nichts. Mit viel Mühe und Liebe zum Detail hat sie im Salon eine Wohnzimmer-Wohlfühlatmosphäre im Retrolook erschaffen. Von «Kund*innen» möchte die Performance-Künstlerin nicht sprechen, lieber von «Gästen». «Wir bieten keine Dienstleistungen an, sondern wollen die Menschen zu uns einladen. Als Gäste dür-

1 Im Schonheitssalon «Grand Beauty» wird gefönt, toupiert, geschminkt –auch um sich näher kennenzulernen.

2 Angela war krebskrank, sollte eine Perücke tragen; jetzt möchte sie den, wie sie sagt, «Wildwuchs» auf dem Kopf wieder in Form bringen.

fen sie sich hier fallenlassen, können sich wie zuhause fühlen.» Ihr Traum vom eigenen Salon wurde durch den Gewinn des Power of the Arts Awards 2021 möglich, der Initiativen auszeichnet und fördert, die sich mit Hilfe der Kultur für eine offene Gesellschaft einsetzen. Auch Stiftungen und Sponsoren unterstützen das Projekt. «Wer in den Salon kommt, muss nichts bezahlen, aber offen sein für andere Menschen und Kulturen», sagt Frauke.

In Form bringen

Und diese Offenheit fehle in Sachsen vielerorts, findet die 20-jährige Mara Hesse. Sie ist selbstständige Makeup-Artistin, Dozentin an der Deutschen Pop Akademie und gebürtige Leipzigerin, wird aber aufgrund ihres Kopftuchs oft nach ihrer Herkunft gefragt. In Leipzig hat sie keinen Salon gefunden, der sie einstellen wollte – trotz des hohen Bedarfs an Arbeitskräften in der Branche. Mara arbeitet mittlerweile in Berlin, bildet dort Nachwuchskräfte aus und hilft freitags ehrenamtlich im Schönheitssalon mit. «Allein, dass Menschen hierher kommen, ist etwas sehr Schönes, weil es zeigt, dass sie Interesse haben, Menschen aus anderen Kulturen kennenzulernen.»

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Der Rassismus in der Gesellschaft macht der jungen Frau grosse Sorgen. Umso wichtiger sei das Projekt. «In unseren Räumen können wir den Menschen zuhören, mit ihnen reden und alles in ein anderes Licht rücken.» Jede Frage ist erlaubt, solange sie respektvoll gestellt wird. Auch wenn es immer wieder Aussagen gibt, die Mara «richtig triggern», wie sie sagt, «beispielsweise wenn Menschen sagen, dass sie sich im Urlaub auch der Kultur des Gastgeberlandes anpassen müssen». Und das auch von Geflüchteten erwarten. «Die Menschen sind aber nicht freiwillig gegangen, sondern geflüchtet, vielleicht sogar fast im Meer ertrunken.» Mara schüttelt den Kopf, findet den Vergleich unerträglich. «Leute, die so denken, wecken Ängste in mir.» Trotzdem sucht sie immer wieder das Gespräch, will Aufklärungsarbeit leisten. «Oft frage ich mich, wie ich meine Argumente formulieren kann, damit sie bei den Menschen nachwirken.»

Auch Jule ist heute zu Gast im Salon. Sie trägt grosse Tunnelohrringe, Nasenpiercings und hat ein Tattoo im Nacken. Jule ist zum zweiten Mal hier. Bei ihrem ersten Besuch hat sie künstliche Wimpern angeklebt bekommen, das war vor einem Monat, «und sie halten immer noch», freut sich Jule, die vor allem die entspannte Atmosphäre im Salon mag. Aus Lautsprechern schallen Indie-Songs, auf einem Tisch ist eine kleine Teebar eingerichtet, an den Wänden hängen Kunstpostkarten und Fotografien. «Nach meinem letzten Friseur-Besuch vor eineinhalb Jahren habe ich mir die Haare komplett abrasiert, so schlimm sah ich aus», erzählt Jule. Nun sind sie nachgewachsen und sollen in Form gebracht werden.

Raum für Geflüchtete und Einsame

Jule zeigt auf ihrem Handy ein Bild von der Frisur, die ihr vorschwebt. Die 50-jährige Friseurin Ibtisam Zaher blickt darauf und nickt. In Libyen hatte die Palästinenserin ihren eigenen Friseursalon, «Weisse Rose» hiess er. Vor acht Jahren kam sie nach Deutschland. Bis heute hat sie nur eine Duldung, darf nicht arbeiten. Seit einem knappen Jahr gehört sie zum Grand-Beauty-Team, will ihr Deutsch verbessern und endlich wieder tun, was sie so liebt. Menschen schön machen, ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern. «An der Seite schräg abrasieren und hinten länger lassen?», fragt Ibtisam. Jule nickt. Sirrend rasiert Ibtisam hinter und über dem Ohr ein Dreieck heraus, lässt aber ein paar Millimeter stehen. Sie schneidet, fönt, toupiert. «Cool», sagt Jule. Mara klatscht in die Hände: «Jule 2.0!» Sie trinken noch einen Tee zusammen, lachen. Als Jule gegangen ist, fragt Mara ihre Kollegin, ob Frauen in Libyen auch so kurze Haare tragen wie Jule. Die Friseurin lacht. «Nein, in Libyen haben alle lange Haare. Kurze Haare reichen bis hier», sagt sie und zeigt an ihre Schulter.

Auf dem schwarzen Friseurstuhl nebenan sitzt derweil Maja. Die gebürtige West-Berlinerin fühlt sich von ihrer aktuellen Frisur gelangweilt. Die langen, grau-weissen Haare sollen ab. «Schulterlang wäre vielleicht gut», sagt Frauke, nimmt die Haare der 60-Jährigen und hält sie hoch, so dass Maja sehen kann, wie es am Ende aussehen würde. Die Zwei kommen schnell ins Plaudern. Frauke erzählt von den Anfängen 2014, als sie das Projekt «Spread More Beauty» ins Leben gerufen – aus einer Notwendigkeit heraus, wie sie sagt. Damals wollte sie Geflüchteten ohne Arbeitserlaubnis einen Raum geben. »Ich wollte auf das zugreifen, was sie können und lieben und ihnen eine Plattform bieten», sagt sie, «aber nicht versteckt, sondern im öffentlichen Raum». Viele Jahre war das Projekt als Pop-Up-Format in Deutschland

1 Vor einem Monat liess sich Jule künstliche Wimpern ankleben, heute gibt es einen neuen «Grand Beauty»Haarschnitt.

2 «Wir bieten keine Dienstleistungen an, sondern wollen die Menschen zu uns einladen», sagt Frauke Frech, Leiterin des Schönheitssalons.

3 Im Salon sind sie Expertinnen für Schönheit, draussen machen sie sich Sorgen um Rassismus: Ibtisam Zaher und Mara Hesse.

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unterwegs, tourte zeitweise mit einem Schönheitsmobil durch Sachsen. Nun hat das internationale Team den festen Standort im Leipziger Stadtviertel Grünau. «Unsere kleine Villa», nennt Frauke das herrschaftliche Haus mit den grünen Fensterläden. Grünau ist ein einkommensschwaches Viertel, in dem viele Senior*innen mit kleiner Rente und Menschen an der Armutsgrenze leben. Bei der letzten Bundestagswahl gingen hier teilweise über ein Viertel der Stimmen an die AfD. «Wir hatten den Eindruck, der Stadtteil kann unser Projekt gut gebrauchen, weil die Menschen die Hürden zueinander ganz unbemerkt überspringen können», sagt Frauke. Viele ältere Menschen kommen in den Salon, so auch auch ein Paar aus der Nachbarschaft, das es sich fast jede Woche auf dem Sofa bequem mache. «Hier kommen sie ein bisschen unter Leute.» Einsamkeit sei ein grosses Problem in dem Viertel. Genau wie das fehlende Geld. «Daher ist es wichtig, dass unser Salon unentgeltlich zugänglich ist.»

Wie durch ein Wunder

Auf Ibtisams Stuhl sitzt mittlerweile Angela, die den Krebs besiegt, aber die Freude an ihren Haaren verloren hat. Sie ist durch einen Zeitungsartikel auf das Projekt aufmerksam geworden. «Ich bin ehrlich, ich hatte einfach kein Geld für einen Friseurbesuch», sagt Angela. Ibtisam fährt mit der Hand durch Angelas Haare, die sich im Nacken zu Locken krausen. «Nicht zu viel abschneiden», sagt Angela schnell, «ich will mir immer noch einen Zopf machen können». Die Friseurin schüttelt den Kopf, «die Locken im Nacken muss ich etwas abschneiden», sagt sie und lächelt Angela im Spiegel an. Dann spricht sie kurz auf Arabisch mit ihrer Kollegin Mara, die dabei steht. «Ibtisam meint, dass Stufen gut wären», sagt Mara und erklärt Angela nochmal, was die Friseurin vorhat. Angela zieht die Augenbrauen hoch. «Na gut», sagt sie dann schliesslich, «sie ist die Expertin».

Während Ibtisam Angelas Haare schneidet, verwickelt Mara sie in ein Gespräch über Kopftücher. «Es gibt da einen Laden in der Georg-Schumann-Strasse, da gibt es tolle Tücher aus Jerseystoffen zu günstigen Preisen.» Mara zeigt ihr Fotos von der Aussenfassade und dem Schaufenster, damit Angela den Laden findet. Dann stellt Ibtisam den Fön an und zieht die Haare immer wieder über eine Rundbürste. Wie durch ein Wunder werden die dünnen Strähnen zu einer voluminöse Hollywood-Frisur. Danach trägt eine Makeup-Artistin Lidschatten, Wimpertusche, Rouge und zartrosa Lippenstift auf. «Ich staune, was man alles machen kann», sagt Angela, als sie sich im Spiegel erblickt. Sie fährt sich mit den Händen durch die Haare, lacht. «Sie so glücklich zu sehen, macht mich glücklich», sagt Ibtisam. Mit dem Handy machen sie noch ein Foto von sich beiden, zur Erinnerung. «Ich komme wieder», sagt Angela und guckt sich ein letztes Mal im Spiegel an. «Ich fühle mich wie ein Star.»

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«Wer zu uns kommt, muss nichts bezahlen, aber offen sein für andere Menschen und Kulturen.»
FRAUKE FRECH

Serie: Digitalisierung In einer Serie machen wir uns der Gräb en, welche die Dig italis ierung s chafft .

Und schauen dorthin, wo sie Teilhabe an der Gesellschaft ermö glicht .

Serie: DigitalisierungIn einer fünfteiligen Serie machen wir uns auf die Spur der Gräben, welche Und schauen dorthin, wo sie Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht.

Auf Schritt und Tritt verfolgt

Menschen, die sich über nationale Grenzen bewegen, werden immer stärker digital überwacht. Ihre Smartphones werden durchleuchtet, ihre Lebensgeschichte landet in Migrationsdossiers und ihre Daten werden im ganzen Schengenraum ausgetauscht.

Menschen, die sich über nationale Grenzen werden immer stärker überwacht. Ihre Smartphones werden durchleuchtet, ihre landet in und ihre Daten werden im ganzen

Zwei Millionen Dossiers. Eines für jede ausländische Person, die in der Schweiz lebt. So viele sogenannte Migrationsdossiers sind bei den kantonalen Migrationsämtern angelegt. Darin findet sich fast alles, was die Schweizer

Zwei Millionen Dossiers. Eines für ausländische Pertionsdossiers sind bei den kantonalen Darin findet sich fast alles, was die Schweizer Behörden über die ausländische Bevölkerung weiss.

Dossiers

ein Geburtsschein, ein Betreibungsregisterauszug, Name

oder Informationen über

Auch höchst –

die Sexualität – werden das Recherchekollektiv «Reflekt» zusammen

Manche dieser Dossiers sind dünn und kaum brisant: ein Geburtsschein, ein Betreibungsregisterauszug, Name und Geburtsdatum. Andere sind hunderte Seiten dick. In ihnen finden sich Polizeirapporte, Gesprächsprotokolle oder Informationen über Familienmitglieder. Auch höchst intime Details – wie Liebesbriefe oder Informationen über die eigene Sexualität – werden abgespeichert. Das fand das unabhängige Recherchekollektiv «Reflekt» zusammen mit dem «Beobachter» im letzten Jahr heraus.

Auf unbestimmte Zeit fichiert Solche Dossiers und in Aktenschränken aufbewahrt. Wer zu musste das Telefon in die Hand nehmen oder sich der Inhalt in vielen Kantonen und sogar nach Stichworten durchsuchen. Das macht es für die Behörden zu –neue Informationen zu den Dossiers hinzuzufügen

Solche Dossiers gibt es schon seit Jahrzehnten. Früher wurden sie noch auf Papier angelegt und in Aktenschränken aufbewahrt. Wer Zugang zu Informationen wollte, musste das Telefon in die Hand nehmen oder persönlich vorbeigehen. Heute lässt sich der Inhalt in vielen Kanto nen digital abfragen und sogar nach Stichworten durchsuchen. Das macht es für die Behörden viel einfacher, Informationen über Ausländer*innen zu beschaffen – und

Das Resultat: Täglich gehen mehr als 100000 Anfra gen im System ein. Denn eine ganze Reihe von Behörden hat Zugriff auf die Migrationsdossiers: Nebst den kantonalen Migrations- und Zivilstandsämtern sind das auch das Staatssekretariat für Migration (SEM), die Kantonspolizei, das Grenzwachtkorps, die Bundespolizei (Fedpol) sowie der Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Dabei können die Staatsangestellten nicht nur auf Informationen zurückgreifen, die von Gesetzes wegen gespeichert werden müssen, wie etwa der Bezug von Sozialleistungen,

Das Resultat: 100 000 Anfraim ein. Denn eine Reihe von Behörden hat auf die Nebst den kantonalen und Zivilstandsämtern sind das auch die Kantonspolizei, das Grenzwachtkorps, die Bundespolizei sowie der Nachrichtendienst des Bundes Dabei können die nicht nur auf Informationen werden müssen, wie etwa der Bezug von Sozialleistungen, Straftaten oder schulische Disziplinarmassnahmen. Oft

erhalten sie auch Einblick in Daten, die eigentlich nicht gesammelt werden müssten: Scheidungsakten, Verkehrsbussen – oder eben Liebesbriefe, die niemanden

erhalten sie auch Einblick in Daten, die eigentlich nicht t g esammelt werden m ü ssten: Scheidun g sakten, kehrsbussen – oder eben n etwas angehen.

Das Problem: Eine systematische Übersicht und Anaüber die ausländische abspeichernn, es nicht. Denn eine Datenauskunft müssen Betroffene e selber zus

Dunkel zu mit Betroffenen stellen. Doch viele fürchteten sich vor den Konsequenzen bei den Migrationsbehördenn. Das veranschaulicht den der r datafizierten Obwohl Betroffene ein Recht auf und Auskunft n sie davon nicht Gebrauch. Es könnte eine weitere Notiz bis zum Lebensende bei der nächsten n der Aufenthaltsbewilligung hat.

Das Problem: Eine systematische Übersicht und Analyse dessen, was die Schweizer Behörden über die ausländische Bevölkerung genau wissen und abspeichern, gibt es nicht. Denn eine Datenauskunft müssen Betroffene selber beantragen – ein Recht, das ihnen gesetzlich zusteht, sie aber nur selten einfordern. Um mehr Licht ins Dunkel zu bringen, wollte Surprise gemeinsam mit Betroffenen Einsichtsgesuche stellen. Doch viele fürchteten sich vor den Konsequenzen bei den Migrationsbehörden. Das veranschaulicht den sogenannten Chilling-Effect der datafizierten Migrationsüberwachung. Obwohl Betroffene ein Recht auf Transparenz und Auskunft hätten, machen sie davon nicht Gebrauch. Es könnte ja eine weitere Notiz in den Akten landen, die dann womöglich bis zum Lebensende gespeichert bleibt und Folgen bei der nächsten Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung hat.

Wer hat worauf Zugriff?

Behörden Datenbanken

Grenzwachtkorps

Zivilstandsämter

Migrationsdossier

Fedpol: Bundespolizei

KAPO: Kantonspolizei

MIGRA: Migrationsämter

NDB: Nachrichtendienst des Bundes

SEM: Staatssekretariat für Migration

ZEMIS: Zentrales Migrationsinformationssystem

FLORIAN WÜSTHOLZ
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Denn die Migrationsdossiers bleiben bei Menschen ohne Schweizer Pass bis zum Lebensende in den digitalen Aktenschränken liegen – und werden auch gegen sie verwendet. 2020 entschied zum Beispiel das Zürcher Verwaltungsgericht, dass die Aufenthaltsbewilligung eines Mannes nicht verlängert wird; der Grund war unter anderem eine 20 Jahre alte Strafverfügung wegen «Dieb-

M Mannes nicht wird; der Grund war unter and wegen «Diebs stahls im Verkaufsladen».

Selbst wer sich einbürgern lässt oder das Land verlässt, bleibt noch Jahrzehnte lang fichiert. Viele Kantone haben eine Löschfrist von zehn Jahren, andere gar keine. Ein Recht auf Vergessenwerden – im Strafregister werden Einträge nach einer bestimmten Zeit restlos gelöscht –

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Kein Recht auf Privatsphäre

Dass die Privatsphäre von Menschen aus dem Ausland kaum etwas wert ist, zeigt sich bereits beim Grenzübertritt. 2017 führte das SEM ein Pilotprojekt durch: Um die Identität, Herkunft und Reiseroute von Asylbewerber*innen zu ermitteln, wertete es die Daten auf deren Smart-

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Im sechsmonatigen Pilotprojekt wollte das SEM her ausfinden, ob sich mit diesem tiefen Blick ins private Leben für den Asylprozess interessante Informationen extrahieren lassen. Konkret wertete das SEM zwischen November 2017 und Mai 2018 in den Bundesasylzentren Chiasso und Vallorbe die Datenträger von 574 Menschen aus. Und wurde, wenig überraschend, fündig: Bei 42 da von fand man Hinweise auf die Identität der Person, weitere 19 gaben Informationen über das Herkunftsland preis

u und 24 über die Reiseroute. Für das SEM ein Erfolg. Imm merhin konnte in 15 Prozent der Fälle Informationen bes schafft werden – ein «signifikanter Mehrwert» für die V Verfahren, wie es im offiziellen Bericht heisst

Das Projekt fiel nicht vom Himmel. Im März zuvor reichte SVP-Nationalrat Gregor Rutz eine parlamentarische Initiative ein, die von Geflüchteten forderte, Einsicht in ihre Handydaten zu liefern. 2021 folgte das Parlament dem Anliegen – auch mit Verweis auf die Ergebnisse des Pilotprojekts. Dass dessen Aussagekraft nicht besonders gross war, musste zwar selbst der Bundesrat eingestehen. Die «Wirksamkeit und Geeignetheit» der Auswertung von Datenträgern im Asylprozess könne «zum heutigen Zeitpunkt nicht abschliessend beurteilt werden», hiess Interessiert hat das aber nicht. Auch andere Kritik an der Praxis blieb ungehört. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) sprach bei der Auswertung von Handydaten von einer «rechtsstaatlich höchst bedenklichen» Massnahme. Selbst in Strafverfahren würde der Zugang zu Datenträgern restriktiver gehandhabt. Fazit: Die Privatsphäre von Asylbewerber*innen ist weniger wert als jene von mutmasslichen Straftäter*innen. «Nur weil man nichts zu verbergen hat, darf der Staat doch nicht alles von einem wissen», kritisierte die SFH. «Asylsuchende müssen im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht zwar alle für das Verfahren relevanten Informationen offenlegen –nicht aber sämtliche höchst persönlichen, sensiblen und

zuvor reichte SVP-Nationalrat Rutz Initiative die von Geflüchteten Einsicht in ihre 2021 das Parlament dem – auch mit Verweis auf die des PiDass dessen nicht besonders war, musste zwar selbst der Bundesrat D ie «Wirksamkeit und Geei g netheit» der Auswertun g von «zum es 2021 an der Praxis blieb Die Schweizerische nahme. Selbst in Strafverfahren würde der Zugang zu restriktiver Fazit: Die Privatwert als vo n m ut m ass li c h e n S t ra f täte r*inn e n «Nu r we il m a n nichts zu hat, darf der Staat doch nicht alles von einem wissen», kritisierte die SFH. müssen im Rahmen ihrer für das Verfahren relevanten Informationen nicht aber sämtliche schützenswerten Daten.»

Diese Einschätzung teilte auch das UNHCR und zweifelte zudem an der Aussagekraft der Massnahme. «Handys können bei einer Flucht über einen langen Zeitraum von mehreren Personen verwendet werden», schrieb es im Zuge der Gesetzesrevision. «Auch von Schleppern. Ferner können elektronische Beweismittel leicht verändert oder vernichtet werden.» Evaluationen in Deutschland hätten gezeigt, dass der Nutzen im Verhältnis zum Aufwand eher gering sei. Tatsächlich rechnet der Bundesrat aufgrund der Einführung der Massnahme mit beträcht lichem Mehraufwand: Jeder einzelne Fall sei «relativ aufwändig» und es sei davon auszugehen, dass zusätzliches Personal benötigt werde, schreibt der Bundesrat in einem Bericht zum Gesetz. Pro Tag dürften bald mehr als 30 Auswertungen durchgeführt werden, rechnete das SEM vor. Somit würden pro Jahr über 8000 Menschen bis in

Diese teilte auch das UNHCR und zweifelte zudem an der der Massnahme. «Handys bei einer Flucht über einen langen Zeitraum im vernichtet werden » in hätten zum Aufwand eher sei. Tatsächlich rechnet der Bundesrat der der Massnahme mit beträchtlichem Mehraufwand: einzelne Fall sei «relativ aufund es sei davon dass zusätzliches Personal werde, schreibt der Bundesrat in einem Bericht zum Gesetz. Pro Tag dürften bald mehr als 30 SEM vor. Somit über 8000 Menschen bis in alle digitalen Winkel durchleuchtet.

Für die Digitale Gesellschaft Schweiz bedeutet diese Massnahme einen «schweren in das Grundrecht der Solche liessen sich nur mit Gründen und mit verhältnismässiMitteln – weder das eine noch das andere stellt die Gesellschaft fest. «Eine hinreichende Risiko- und wurde nicht schreibt der Verein in seiner Vernehmlassungsantwort zum Gesetzesentwurf. «Für den wären indes detaillierte, vertiefte und zwinum zu können, wie den vers chiedenen Problemen und Fra g en hinsichtlich Schutz der Privatund Datenschutz tatsächlich werden muss.» Trotz Kritik wird das noch treten.

Für die Digitale Gesellschaft Schweiz bedeutet diese Massnahme einen «schweren Eingriff in das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre». Solche Eingriffe liessen sich nur mit gravierenden Gründen und mit verhältnismässigen Mitteln rechtfertigen – weder das eine noch das andere stellt die Digitale Gesellschaft fest. «Eine hinreichende Risiko- und Folgenabschätzung wurde augenscheinlich nicht vorgenommen», schreibt der Verein in seiner Vernehmlassungsantwort zum Gesetzesentwurf. «Für den geplanten schweren Grundrechtseingriff wären indes detaillierte, vertiefte Abklärungen und Erläuterungen zwingend, um überzeugend darlegen zu können, wie den verschiedenen Problemen und Fragen hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit, Grundrecht auf Schutz der Privat sphäre, Verhältnismässigkeit und Datenschutz tatsächlich Rechnung getragen werden muss.» Trotz Kritik wird das Gesetz noch in diesem Jahr in Kraft treten.

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A Anfragen im Schengener Informationssystem SIS n nach Jahren 3 0 6 9 12 15 in Mrd 2017 2018 2019 2020 2021 2022

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ist die Schweiz nicht allein. Sie zum massiven Ausbau des Schengener Informationssystem an dem die Schweiz ebenfalls ist. Das SIS dient den Behörden im Schengenraum beim Informationsaustausch in den Bereichen «Sicherheit und

Mit dieser behördlichen Überwachungsmanie gegenüber jenen, die eine Grenze in ein anderes Land überschreiten, ist die Schweiz nicht allein. Sie passt zum massiven Ausbau des Schengener Informationssystem (SIS), an dem die Schweiz ebenfalls beteiligt ist. Das SIS dient den Behörden im Schengenraum beim Informationsaustausch in den Bereichen «Sicherheit und Grenzmanagement». Insbesondere können Polizei und Grenzschutz nach Menschen und Gegenständen – Autos, Waffen, Dokumenten –

schen und – Autos, Waffen, Dokumenten –im ganzen Schengenraum fahnden

Die grosse digitale Suche

Im Grunde ist das SIS ein Pinboard, wo unterschiedliche Behörden «Ausschrei-

über Personen oder – zum Beispiel, wenn ein Haftbefehl eine Person oder ein Auto oder Nummernschild

Im Grunde ist das SIS ein gigantisches digitales Pinboard, wo unterschiedliche Behörden sogenannte «Ausschreibungen» abspeichern. Darin enthalten sind Informationen über Personen oder Gegenstände – zum Beispiel, wenn ein Haftbefehl gegen eine Person vorliegt, es eine Einreiseverweigerung gibt oder ein Auto oder Nummernschild beschlagnahmt werden soll. Im System finden sich aber auch biometrische Daten – Fingerabdrücke und Gesichtsbilder – von sogenannten «Drittstaatenangehörigen», die

auch biometrische Daten – und Gesichtsbilder – von sogenannten «Drittstaatenangehörigen», die in ihr Herkunftsland zurückkehren müssen.

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fanden sich auf dieser digitalen Fahndungs liste über 86 Millionen Gegenstände und Informationen von über einer Million Menschen. Nach ihnen suchen Grenzbeamte an Grenzübergängen und Flughäfen. Und das nicht zu selten. Im letzten Jahr gingen 12,7 Milliarden Abfragen im System ein – 82 Prozent mehr als im Vorjahr

und 91 Prozent mehr als vor Pandemiebeginn. of-

Unentbehrlich

Für Geflüchtete sind Smartphones meist ein Segen –

Für Geflüchtete sind meist ein –und manchmal auch ein Fluch.

fenbar noch nicht. 2023 wurde das nochmals massiv und der Kreis der erweitert. Darüber europäischen

ECRIS

Das reicht dem europäischen Grenzschutzregime of fenbar noch nicht. 2023 wurde das System nochmals massiv ausgebaut und der Kreis der Zugriffsberechtigten erweitert. Darüber hinaus wird es mit der europäischen Fingerabdruckdatenbank Eurodac, der Visumsdatenbank und dem europäischen Strafregister ECRIS verknüpft. Auch ein noch zu entwickelndes Entry-/Exit-System, das alle Grenzübertritte von Nicht-EU-Bürger*innen registriert, wird ins SIS eingebettet. So soll ein «gemeinsamer Identitätsspeicher» für den Schengenraum entstehen, in dem Informationen über sämtliche Bürger*innen gespeichert sind – alles schön organisiert und durchsuchbar. Damit ja kein Grenzübertritt und keine Bewegung uner-

alle Grenzübertritte von registriert, wird ins SIS So soll ein Identitätsspeicher» für den entstehen, in dem Informationen über sämtliche chert sind – alles schön und durchsuchbar. Damit kein Grenzübertritt und keine unerfasst bleibt.

Digitalisierung: eine Serie in fünf Teilen

Teil 1: Der digitale Graben, Surprise Nr. 548

Teil 2: Fehlender Zugang, Surprise Nr. 550

Teil 3: Ungleiche Datensammlung, Surprise Nr. 552

Teil 4: Migration und Digitalisierung, Surprise Nr. 553

Teil 5: Blick in die Zukunft, Surprise Nr. 554

Recherchefonds: Dieser Beitrag wurde über den Recherchefonds finanziert. surprise.ngo/recherchefonds

über den Surprise Recherchefonds finanziert.

«Ob Grenzpolizei, Behörden oder Schlepper – sie können mir alles nehmen, nur mein Handy nicht.» Solche Sätze hört man oft von Geflüchteten auf ihrem Weg etwa in die EU-Staaten. Tatsächlich gehören Smartphones zum Wichtigsten, das sie bei sich tragen: dank ihnen bleiben sie mit ihren Familien in Kontakt, können via Karten und Navigations-Apps mit Schleppern kommunizieren, sich untereinander per GPS über Routen austauschen und gegebenenfalls Notsignale an Hilfsorganisationen senden. Auch unmittelbar nach der Ankunft in einem fremden Land bleibt das Smartphone und damit der Zugang zum Digitalen unentbehrlich, wenn es etwa darum geht herauszufinden, wo es Beratungsstellen gibt, welche Behörden aufzusuchen sind oder wer Sprachkurse anbietet; hierzu gibt es in unterschiedlichen Ländern inzwischen eigens dafür entwickelte Apps, wie zum Beispiel in Deutschland «Integreat».

alles nehmen, nur mein nicht.» Solche Sätze hört man oft t von Geflüchteten auf ihrem etwa in die EU-Staaten. Tatsächlich zum h dank ihnen bleiben sie mit ihren Familien in Kontaktt, können via Karten und über Routen austauschen n und an sendenn. in t zum unentbehrlich, wenn es etwa darum herauszufinden, wo es Berawelche aufzusuchen sind oder wer r es in unterschiedlichen Ländern n inzwischen n Deutschland

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Freilich hat das Handy auf der Flucht auch seine Tücken. So sind die Informationen, etwa in einschlägigen Facebook-Gruppen oder auf Telegram, nicht immer vertrauenswürdig; nachweislich bewegen sie dort auch Schlepper, die Geflüchtete gezielt in die Irre führen. Um derlei vorzubeugen, haben NGOs spezielle Apps entwickelt – etwa «Refugee Transit» –, wo laufend Information über Gefahren entlang der Fluchtrouten gesammelt werden. Schliesslich hinterlassen Smartphones eine Unzahl digitaler Spuren. Sichere Verschlüsselungssoftware kostet Geld und ist umständlich zu bedienen; geht es «bloss» um Fluchtwege, sind inzwischen Navi Apps verfügbar, die auch offline funktionieren. Nicht zuletzt dürfen Behörden in den Ankunftsländern vermehrt die Handys der Geflüchteten auswerten, sofern die Identität, die Nationalität oder der Reiseweg von Asylsuchenden nicht anders festgestellt werden können. In der Schweiz wurde dies vom Parlament 2021 beschlossen ( ausführlich Seite 22).

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Selbstverständliches zeichnen

Ausstellung Das Werk der schwedischen Comic-Künstlerin Liv Strömquist dreht sich um nackte Körper, blutige Binden und Promi-Gossip – doch bloss an der Oberfläche.

2017 bis 2019 erhitzte ein Bild von Liv Strömquist, gemalt an die Wände einer Stockholmer Metrostation, die Gemüter. Darauf abgebildet waren zwei glückliche Eiskunstläuferinnen: grösstenteils in Schwarz-Weiss gehalten, die Körper detailarm, stark vereinfachte und dennoch ausdrucksstarke Gesichter. Eine Stelle auf dem Bild war auffällig rot: In den entblössten Unterhosen der beiden Eiskunstläuferinnen – und damit über den Köpfen der Pendler*innen – abgebildet war Menstruationsblut. Rund dreissig Klagen gingen gegen das öffentliche Kunstwerk ein, die Rede war von Unsittlichkeit, Geschmacklosigkeit, Tabubruch und davon, dass nicht alles Private öffentlich zelebriert werden sollte.

Die Reaktionen fielen so aus, wie es Strömquist im Grunde antizipiert hatte: «Ich wollte die utopische Fantasie einer Welt schaffen, in der weder Scham noch Verlegenheit wegen Menstruationsblut existieren», sagte sie damals. Dass ihr Bild genau das abbildete – eine Utopie –, verdeutlichten die empörten Reaktionen.

Scham und Verlegenheit sind zwei Motive, die sich durch das Werk Strömquists ziehen: Immer wieder geht es um weibliche Körper und wie historische als auch aktuell lebende und herrschende Männer auf sie reagieren. Strömquist zeichnet für einen offenen, enttabuisierten Umgang mit Themen wie dem weiblichen Zyklus, Geburt, Liebe und Sexualität. Das Zürcher Literaturmuseum Strauhof zeigt nun das Werk der feministischen Comic-Autorin im Rahmen der Ausstellung «Liv Ström-

quist – Fruits of Knowledge». Einen thematischen Schwerpunkt der Ausstellung, die noch bis Anfang September dauert, bildet die Neuerzählung der Geschichte der Vulva.

Kritisch und schnodderig Geboren wurde Strömquist 1978 in Lund. Sie studierte Politikwissenschaften und arbeitete zwischenzeitlich als Radiomoderatorin. Über die Landesgrenzen hinaus wurde Strömquist durch ihre zwei Bände «Der Ursprung der Welt» und «Der Ursprung der Liebe» berühmt. In ersterem nähert sie sich mit Zeichnungen und vergleichsweise vielen Worten der Vulva. Dabei mischt sie unterschiedliche Zugänge irgendwo zwischen historisch, biologisch, kulturell und absurd und führt über diese Wege die Leser*innen an ein Organ heran, über welches zu sprechen wahlweise als sexualisiert oder aber als eklig gewertet wird. In «Der Ursprung der Liebe» geht Strömquist auf die gleiche Weise vor, mit einem Schwerpunkt auf Fragen rund um Liebe, Beziehungen – und Prinz Charles.

Warum sie gerade das Medium Comic für ihr Werk gewählt hat, erklärte Strömquist in einem Interview mit dem deutschen Kunstmagazin Monopol wie folgt: «Wenn ich nur Texte schreibe, langweile ich mich. Ich finde Comics sehr unprätentiös, sie sind keine ‹Hochkultur›, man liest sie auf dem Klo, Kinder lesen sie, und sie kommen in allen sozialen Schichten vor. Zeichnen macht mich ausserdem einfach glücklich.»

Auf den Covers ihrer Werke sind jeweils Fotografien der Künstlerin selbst zu sehen: mal mit gespreizten Beinen neben einer Maschinenpistole, mal im Prinzessinnenkostüm auf einem Schwan reitend, umgeben von Wasserlinien mit den Gesichtern der britischen Königsfamilie. Die Comics dagegen sind vorrangig schwarz-weiss, manchmal auch plötzlich bunt, wild und flächendeckend gemalt, dann wieder folgen Seiten mit eher wenig Action und viel Dialog, schliesslich Einschübe mit Fotografien von Personen, Relikten oder Situationen.

Ihre Inspiration bezieht Strömquist nach eigener Angabe aus der bildenden Kunst, der Populärkultur und der Bibel. Ihre Zeichnungen sind feministische Gesellschaftsanalysen, Kapitalismuskritik und schnoddrige Kommentare in einem. Ihr Zugang ist dabei oft anekdotisch, oft komisch und manchmal auch etwas peinlich. Das ist gewollt, denn die Provokation, die in den Augen so mancher von Strömquists Werk ausgeht, passiert nicht etwa durch den Tabubruch der Künstlerin, sondern durch eine Konfrontation der Leser*innenschaft mit der eigenen Prüderie über allgegenwärtige, aber immer noch tabuisierte Themen wie der Liebe, der Vulva oder der Menstruation.

«Liv Strömquist – Fruits of Knowledge», 8. Juni bis 3. September, Dienstag bis Freitag 12 – 18 Uhr, Donnerstag 12 – 22 Uhr, Samstag und Sonntag 11 – 17 Uhr. strauhof.ch

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TEXT NATALIA WIDLA

Veranstaltungen

Baden

«Ana Vujić – Another Sleepless Night», Ausstellung, bis So, 9. Juli, Mi bis Fr, 14 bis 17 Uhr, Sa/So 12 bis 17 Uhr, Eintritt frei, Kunstraum Baden, Haselstrasse 15. kunstraum.baden.ch

Seit über fünf Jahrzehnten betreibt die Stadt Baden einen eigenen, nicht kommerziell ausgerichteten Ausstellungsraum, der sich mit der Zeit zu einer kleinen Kunsthalle entwickelt hat. Aktuell ausgestellt ist Ana Vujić –1981 in Serbien geboren, lebt und arbeitet in Basel – mit ihren Zeichnungen von monumentaler Grösse. Inspiriert sind sie von kunsthistorischen Klassikern, aber der rohe Strich ihrer Schwarz-Weiss-Bilder unterläuft deren gepflegte Distinguiertheit und holt die Inhalte aus den oft (ehr)furchteinflössenden Museumshallen ins Hier und Jetzt. Oder gleich direkt auf die Strasse, wenn Vujić ihre Bilder im öffentlichen Raum platziert. Entstanden sind sie vielleicht in «sleepless nights», in schlaflosen Nächten, denn für Vujić ist die Nacht ein Freiraum, in dem Fantasie und Realität nahtlos ineinander übergehen und dem Denken keinerlei Grenzen gesetzt sind. Am Sonntag, 2. Juli, findet um 11 Uhr ein Künstlerinnengespräch statt und um 13.30 Uhr der Talk «Balkan On My Mind» mit der Künstlerin sowie mit Ivana Kvesić (Direktorin Fantoche), Sandi Paučić (Präsident Visarte Zürich) und Petra Nježić (Künstlerin, Aarau). DIF

Bern

«125 Jahre YB. Bern und die Young Boys  –  Die Ausstellung zum Jubiläum», bis Jan. 2024, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Bernisches Historisches Museum, Helvetiaplatz 5. bhm.ch

auf die lange und wechselvolle Geschichte des Berner Sport Clubs zurück und vermittelt auf (hier wohl endlich mal wirklich) sehr spielerische Weise, wieso die Young Boys mehr als ein Fussballclub sind und eher ein Stück Berner Geschichte. Vier zeitliche Schwerpunkte werden gesetzt: die Gründungszeit, die goldenen Fünfzigerjahre, das drohende Aus in den Neunzigerjahren und die grossen Emotionen um die sportlichen Erfolge 2018. DIF

Schaffhausen

denen Emotionen, Sehnsüchten, Erinnerungen, Verlusten und Chancen um? Was meinen wir zu verlieren, was hoffen wir zu gewinnen? Zwanzig Künstlerinnen aus Berlin und der Schweiz reagieren mit ihren Werken auf die aus ihrer Sicht dringlichsten Themen. Die einen setzen sich mit unserem Ökosystem auseinander, mit der Macht und Gewalt der Natur, die gleichzeitig so gefährdet ist. Sie machen sich Gedanken zur Zukunft unserer Kinder, zu unserem Verhältnis zu Tieren und unseren Ernährungsgewohnheiten. Andere fokussieren auf politische Entwicklungen, Kriege, das tägliche Nachrichtengeschehen, Leistungsgesellschaft und Kapitalismus. Ebenfalls auf dieser künstlerischen Shortlist der dringlichsten Themen der Gegenwart steht die Digitalisierung, die Durchmischung von virtueller und realer Welt – aber auch die zwischenmenschliche Kommunikation. DIF

Winterthur

«Common Ground», 8. Biennale Weiertal, Do bis Sa, 14 bis 18 Uhr, So, 11 bis 17 Uhr, bis So, 10. September, Rumstalstrasse 55. biennaleweiertal.ch

darum, wie eng sie miteinander verknüpft sind. Dies wird im Hinblick auf die gegenwärtige globale Ausbeutung von Mensch und Natur und auf die Verteilung von Ressourcen auf einem Planeten deutlich, der unser «gemeinsamer Boden» sein soll. Mit 17 künstlerischen Beiträgen wird der Garten im Weiertal zum Ort der Reflexion – und vielleicht zum Geburtsort gesellschaftlicher Utopien, die von hier aus in die Welt getragen werden. Kuratiert hat die OpenAir-Ausstellung im Weiertaler Garten ausserhalb von Winterthur

Sabine Rusterholz Petko, beteiligt sind 17 Künstler*innen. Anreise: Ab Bahnhof Wülflingen den Schildern «Kulturort Weiertal» folgen (ca. 20 bis 30 Min. Fussweg). Vom 14. Juli bis 21. August wegen Streckenunterbruch Bus Nr. 7 ab Bahnhof Winterthur benutzen. DIF

Zürich

«Monster Chetwynd –  Profusion Protrusion», Ausstellung, bis So, 17. Sept., Cabaret Voltaire, Spiegelgasse 1. cabaretvoltaire.ch

Am 14. März 1898 gründeten vier Berner Gymnasiasten ihren eigenen Fussballclub – den FC Young Boys. Die ersten Jahre spielt die Mannschaft direkt hinter dem Bernischen Historischen Museum: Hier also war das allererste YB-Fussballfeld, das während der Laufzeit der Ausstellung mit einem Mitmachangebot neu ins Szene gesetzt wird. «125 Jahre YB» blickt

«Irritation: The Art of Getting Lost», Ausstellung, bis So, 16. Juli, Do 18 bis 20 Uhr, Fr 16 bis 18 Uhr, Sa/So 12 bis 16 Uhr, Vebikus Kunsthalle Schaffhausen. vebikus-kunsthalle-schaffhausen.ch

Wir leben in einer Zeit ergebnisoffener Entwicklungen in den verschiedensten Bereichen: Identität, Politik, Umwelt, Macht etc. Wie gehen wir mit den damit verbun-

Wörtlich könnte «Common Ground» mit «gemeinsamer Boden» übersetzt werden. Der Begriff aus der Sprachwissenschaft bezieht sich auf den Raum, in dem es überhaupt erst möglich wird, sich zu verständigen, einen Konsens zu finden. Allerdings: Welche Menschen haben die Ressourcen, sich Gehör zu verschaffen? Um diese Frage kreist die diesjährige Biennale Weiertal: Es geht um soziale und ökologische Gerechtigkeit und

Im Gewölbekeller des Cabaret Voltaire, den man durch einen offenen Schlund betritt und der die Gäste in andere Welten entführt, steht einer der Köpfe von Monster Chetwynd. Dahinter befindet sich eine kleine Ausstellung, die den Auftakt zu Chetwynds künstlerischer Bespielung der Kneipe im Cabaret Voltaire vom 25. August 2023 bis Ende Juli 2024 bildet. Chetwynds Werke, seien es Performances oder Installationen, sind von überschwänglicher Absurdität und hintergründiger Komik, für jeden verständlich und doch reich an kulturellen Bezügen. Da sind Anspielungen auf die steinernen Masken des alten Roms wie auch an das christliche Motiv des «Höllenmauls» und es steckt die Auseinandersetzung mit der Ikonographie von Gesichtern darin genauso wie eine Hommage an frühchristliche Theaterstücke. Studiert hat Monster Chetwynd, 1973 in London geboren, nicht nur Kunst, sondern auch Geschichte und Sozialanthropologie. Mit dem Do-it-yourself-Charakter und der Prozesshaftigkeit ihrer Kunst knüpft sie an das Erbe von Dada an. Denn das Cabaret Voltaire ist bis heute ein Ort geblieben, wo sich avantgardistische Künstler*innen austoben. DIF

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BILD(1): «ANA VUJIĆ, BILD(2): YB MUSEUM, BILD(3): CLAUDIA LUPERTO

Pörtner in Mettmenstetten

Surprise-Standorte: Bahnhof

Einwohner*innen: 5625

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 15,7

Sozialhilfequote in Prozent: 1,5

Anzahl Vereine: 48

Am Bahnhof, hinter der Wertstoffsammelstelle und in der Nähe des ausgeschilderten Pferde-Reformhauses, dröhnt «Back in Black» von AC/DC, abrupt reisst die Musik ab, nur das Schlagzeug spielt weiter. Nach einigen Takten setzt die Band wieder ein, ehe sie nach eineinhalb Strophen wieder stoppt. Die Band ist offensichtlich vom Band bzw. vom Datenträger, nur das Schlagzeug ist live. Oder etwa doch nicht? Im Café Mättmi hängt immerhin ein signiertes Bild einer Status-QuoCoverband, vielleicht übt hier bereits die Konkurrenz.

Banken gibt es in Mettmenstetten nicht besonders viele, Bänke hingegen schon. Besonders häufig ist die Kombination Baum und Bank anzutreffen, erstmals am Bahnhof, wo unter zwei prächtigen, eingefriedeten Kastanien zwei Bänke

stehen, eine grosse Tafel heisst einen im Ort und im Knonauer Amt willkommen, auch ein Abfallkübel steht bereit. Nur die Sonne fehlt, die einen im Schatten dieser Bäume verweilen liesse, aber zum Verweilen bieten sich noch viele Gelegenheiten. Sogar ein Bahnhofsrestaurant gibt es, eine seltener werdende Institution.

Im Industriegebiet wirbt das Gesundheitszentrum Gut mit dem Slogan «Gut ist gut», weiter vorne ein Metallbauer mit «Schweres leicht gemacht». Eine Kampfsportschule findet sich ebenso wie ein Magnetzentrum. Junge Männer besprühen auf dem Trottoir einen aus Karton vermutlich selbst gebauten Töggelikasten. Jemand hat in einem Anfall von Fernweh «Zurigo» an die Wand gesprayt. Eine niedrige, mit Graffiti verzierte Unterführung, die

man nachts nicht unbedingt benützen möchte, bringt einen zum Rennweg, der zu einem veritablen Schulhaus-Cluster führt, der über ein eigenes Wegweisersystem verfügt. Von der Tagesstruktur über den Kindergarten bis zur Turnhalle ist alles da. Dazu Bänke unter Bäumen, Bänke zwischen Sträuchern, eine der ganzen Fassade eines lindgrünen Schulhauses entlang verlaufende Bank.

Vorbei an einer grossen Baustelle gelangt man auf Wanderwege, die Rasen sind hier selten gemäht, es blühen Magerwiesen, in einer ist ein kleiner Acker versteckt. Auf einer Info-Tafel am Bach, die zum 900-Jahre-Jubiläum der Gemeinde aufgestellt wurde, ist der detaillierte Zonenplan der Gemeinde aufgedruckt, es gibt unter anderem die Kernzonen A – C sowie Wohnzonen für zwei- und dreistöckige Gebäude, mit oder ohne Gewerbe. Wem das nicht genug Information ist, kann auf der Gemeindeverwaltung (ein modernes Gebäude mit Bänken davor) oder im Internet eine detaillierte Broschüre beziehen.

Sogar in privaten Gärten gibt es Bänke unter Bäumen. Hinter der reformierten Kirche hat es eine Bank, neben der Kirche eine Bank unter einer Tanne, vor der Kirche lehnenlose Bänke. Auf der anderen Seite der Strasse das Denkmal für den bis 1910 bestehenden Standort der Sonntagschule, ein etwas unheimliches Zwillingsmädchenpaar und einen Knaben darstellend, dahinter ein Findling, daneben eine Bank unter zwei Bäumen. Ein Kiesweg führt zwischen alten Bauernhäusern hindurch, richtig idyllisch ist es hier, und denkt man sich das Rauschen der Strasse weg, könnte man in einer anderen Zeit sein.

Um die Ecke ein riesiger Lindenbaum, an der Wand dahinter: eine Bank.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Tour de Suisse

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

Benita Cantieni CANTIENICA®

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

Breite-Apotheke, Basel

Spezialitätenrösterei derkaffee, derkaffee.ch

Boitel Weine, Fällanden

Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

Kaiser Software GmbH, Bern

InoSmart Consulting, Reinach BL

Maya-Recordings, Oberstammheim

Scherrer & Partner GmbH, Basel

BODYALARM - time for a massage

EVA näht: www.naehgut.ch

TopPharm Apotheke Paradeplatz

AnyWeb AG, Zürich

Cobra Software AG www.cobrasw.ch

Praxis Dietke Becker

Beat Vogel - Fundraising-Datenbanken, Zürich

InhouseControl AG, Ettingen

Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag

Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

Kontakt: Caroline Walpen

Team Marketing, Fundraising & Kommunikation

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA

Das Programm

Wie wichtig ist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Eine von vielen Geschichten

«Noch nie habe ich irgendwo länger gearbeitet als bei Surprise» sagt Roberto Vicini. Seit über 15 Jahren verkauft der 61-Jährige das Strassenmagazin in der Zürcher Innenstadt. Dabei nimmt er sich gerne Zeit für einen Schwatz und steckt seine Kundschaft mit seinem Lachen an. Er braucht nicht viel, lebt sehr bescheiden. Dennoch ist Roberto Vicini froh um die zusätzliche Unterstützung im SurPlus-Programm. Er ist viel mit dem ÖV unterwegs, um an seinen Verkaufsplatz zu kommen. «Obwohl es nur kurze Strecken sind, schlägt der Ticketpreis schnell auf mein kleines Budget». Neben dem Abonnement für den Nahverkehr erhält der Surprise-Verkäufer zudem 25 bezahlte Ferientage und ist bei Krankheit sozial abgesichert.

Weitere

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende

Derzeit unterstützt Surprise 29 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

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½ Jahr: 3000 Franken

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Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus

#551: Unser Leben

Besten Dank für die Idee, den Frauen, denen es nicht gut geht, eine Stimme zu geben. Und den Frauen, die einen Beitrag geschrieben haben, herzlichen Dank. Die Geschichten haben mich sehr bewegt, bin ich doch in einer Frauenwelt aufgewachsen. Meine Mutter war eine Argentinien-Schweizerin, ich hatte zwei Schwestern, meine Frau war Brasilien-Schweizerin. So hatte ich eine Idee, wie es in den Macho-Ländern zu und her geht, und sah, wie die Schwestern in der von Männern dominierten Schweiz aufwuchsen. Wenn nicht alle Menschen als gleichwertig und gleichberechtigt betrachtet werden, endet das Drama der Jahrtausende alten Unterdrückung der Frau nie. Und ich bin mit dem Theologen Hans Küng einig: Friede auf Erden kann erst entstehen, wenn die grossen Religionen untereinander Frieden haben. Keine Religion ist besser als die andere.

ROMAN HAUSMANN, Oberrieden

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Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win)

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Reporterin: Lea Stuber (lea)

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#Strassenmagazin «Kein Bargeld mehr»

Kann Surprise mit Twint bezahlt werden? Ich habe seit längerer Zeit kein Bargeld mehr dabei, viele Leute in meinem Umfeld auch nicht. Ich denke, dass Sie diese Möglichkeit unbedingt schaffen müssen, um den Verkäufer*innen mehr Einnahmen zu ermöglichen.

MARTIN WÄLCHLI, ohne Ort

Ständige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Pascal Bernhard, Nicolas Gabriel, Andri Gotsch, Ruben Hollinger, Kristin Kasten, Karolin Klüppel, Timo Lenzen, Natalia Widla, Florian Wüstholz

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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Anmerkung von Surprise

Seit letztem Jahr ermöglichen wir unseren Verkäufer*innen, die Hefte via Twint bezahlen zu lassen. Bisher nutzt nur eine Minderheit diese Option. Einerseits ist es für Armutsbetroffene nicht selbstverständlich, ein Bankkonto und eine Email-Adresse bzw. Handynummer zu haben, wodurch ihnen der Zugang zu Twint verwehrt bleibt. Andererseits möchten einige Verkäufer*innen aber auch schlicht beim Bargeld bleiben, was wir akzeptieren.

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«Ein eigenes Dach über dem Kopf»

«Ich verkaufe schon seit mehr als zehn Jahren Surprise in Bremgarten bei Bern, beim Kalchackermärit. Es hat dort einen Migros und Denner, eine Drogerie, einen Coiffeur und eine Bäckerei. Der Arbeitsweg mit Postauto, Tram und Bus dauert fast eine Stunde, weil ich auf der anderen Seite der Stadt Bern wohne. Aber ich möchte keinen anderen Platz als diesen. Es haben sich in all den Jahren so viele schöne Kontakte ergeben.

Meist bin ich am Freitag und Samstag dort, manchmal auch noch am Mittwoch oder Donnerstag. Seit Corona verkaufe ich deutlich weniger Hefte als vorher. Ich weiss nicht genau, woran es liegt. Vielleicht haben die Leute mit Corona, dem Krieg und der Teuerung weniger Geld und sind sparsamer geworden?

Mit dem Verkauf von Surprise habe ich nach der Trennung von meinem Mann angefangen. Er ist 2007 aus Eritrea geflüchtet und hat hier Asyl bekommen. Zwei Jahre später, am 9. September 2009, bin ich mit unseren fünf Kindern in der Schweiz angekommen. Leider hat unsere Ehe hier nicht mehr lange gehalten. Seither und vor allem seit der jüngste Sohn in der Schule ist, versuche ich, den beruflichen Einstieg zu schaffen. Bisher hat es aber noch nicht richtig geklappt.

Ich habe vor ein paar Jahren ein sechsmonatiges Praktikum in einer Altersheim-Küche gemacht und kürzlich ein Praktikum in der Hauswirtschaft in einem Altersheim. An beiden Orten bekam ich gute Zeugnisse, aber sie hatten keine Stelle frei.

In Eritrea habe ich drei Jahre lang eine Coiffeur-Schule besucht. Dazu habe ich die Kinder jeweils bei den Eltern und Schwiegereltern gelassen und bin von unserem Dorf für mehrere Tage in die Hauptstadt Asmara gefahren, wo ich bei Verwandten übernachten konnte. Ich habe dort die Frisiertechniken für afrikanisches Haar gelernt und auch eigene Frisuren entwickelt. Es ist schade, dass mir diese Ausbildung hier nicht viel hilft. In Bern gibt es nur ganz wenige Coiffeursalons, die auf afrikanisches Haar spezialisiert sind.

Eigentlich träume ich davon, mich selbständig zu machen, als Coiffeuse oder vielleicht auch mit Caterings. Ich könnte Spezialitäten aus meinem Heimatland zubereiten, aber auch europäische Gerichte für Geburtstage, Taufen oder Hochzeiten. Da aber beides am Anfang viel kostet und riskant ist, ist das nicht besonders realistisch. Deshalb halte ich nach anderen Möglichkeiten Ausschau. Weil es mir im Praktikum im Altersheim sehr gefallen hat, suche jetzt eine Stelle im Bereich Hauswirtschaft und Reinigung. Interessieren würde mich aber auch die Pflege. Eigentlich würde ich gerne den Pflegekurs machen, den das Schweizerische Rote Kreuz anbietet, doch dafür fehlt mir das nötige Deutsch-Zertifikat Niveau B1.

Senait Arefaine, 39, verkauft Surprise in Bremgarten bei Bern, sie hatte daheim eine Ausbildung zur Coiffeurin gemacht und würde auch jetzt liebend gerne frisieren – oder in der Pflege arbeiten.

Die B1-Prüfung zu schaffen, ist mein nächstes Ziel. Lernen ist für mich jedoch nicht so einfach, weil ich in Eritrea nur drei Jahre zur Schule gehen konnte. Da es insgesamt zu viele Kinder hatte, entschied das Los, wer mit sieben Jahren in die erste Klasse durfte. Ich hatte Pech und konnte erst mit neun zur Schule gehen. Mit zwölf wurde ich dann verheiratet und bekam mit fünfzehn das erste Kind. Das war in Eritrea früher normal, vor allem auf dem Land.

Weil ich als Kind nicht lange in die Schule gehen und lernen durfte, gefällt mir das Lernen heute umso mehr. Hätte ich mehr Geld für Deutschkurse, hätte ich dieses Zertifikat schon lange und würde bereits für die B2-Prüfung lernen!»

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Surprise-Porträt
FOTO: RUBEN HOLLINGER
Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

Entlastung

Sozialwerke

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Bild: Marc Bachmann

Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.

Ein Strassenmagazin kostet 6 Franken. Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.

Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft.

Alle Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.

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