Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.
BETEILIGTE CAFÉS
IN AARAU Rest. Schützenhaus, Aarenaustr. 1 | Rest. Sevilla, Kirchgasse 4 | the green corner, Rain 27 IN ALSTÄTTEN SG Zwischennutzung Gärtnerei, Schöntalstr. 5a IN ARLESHEIM Café Einzigartig, Ermittagestr. 2 IN BAAR Elefant, Dorfstr. 1 IN BACHENBÜLACH Kafi Linde, Bachstr. 10 IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstr. 18 & Elsässerstr. 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Barista Bar Basel, Schneidergasse 16 | Bioladen Feigenbaum, Wielandplatz 8 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | KLARA, Clarastr. 13 | Flore, Klybeckstr. 5 | frühling, Klybeckstr. 69 Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreff Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreff Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Bad. Bahnhof | L’Ultimo Bacio Gundeli, Güterstr. 199 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 Café Spalentor, Missionsstr. 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Shöp, Gärtnerstr. 46 | Tellplatz 3, Tellplatz 3 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 Wirth’s Huus, Colmarerstr. 10 IN BERN Äss-Bar, Marktgasse 19 | Burgunderbar, Speichergasse 15 | Generationenhaus, Bahnhofplatz 2 | Hallers brasserie, Hallerstr. 33 | Café Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | MondiaL, Eymattstr. 2b | Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Lena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Löscher, Viktoriastr. 70 | Sous le Pont, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | DOCK8, Holligerhof 8 | Café Paulus, Freiestr. 20 | Becanto, Bethlehemstr. 183 Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Äss-Bar, Rue du Marché 27 | Inizio, Freiestrasse 2 | Treffpunkt Perron bleu, Florastrasse 32 IN BURGDORF Bohnenrad, Bahnhofplatz & Kronenplatz | Specht, Hofstatt 5 IN CHUR Café Arcas, Ob. Gasse 17 | Calanda, Grabenstr. 19 | Café Caluori, Postgasse 2 | Gansplatz, Goldgasse 22 | Giacometti, Giacomettistr. 32 | Kaffee Klatsch, Gäuggelistr. 1 | Loë, Loestr. 161 | Merz, Bahnhofstr. 22 | Punctum Apérobar, Rabengasse 6 Rätushof, Bahnhofstr. 14 | Sushi Restaurant Nayan, Rabengasse 7 | Café Zschaler, Ob. Gasse 31 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstr. 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG Chlistadt Kafi, Aavorstadt 40 | feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LIESTAL Bistro im Jurtensommer, Rheinstr. 20b IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz & Mairübe, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Markt Wärchbrogg, Alpenquai 4 & Baselstr. 66 | Rest. Wärchbrogg, Alpenquai 4 | Bistro Vogelgärtli, Sempacherstr. 10 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseliquai | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Fritigmärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN UEKEN Marco’s Dorfladen, Hauptstr. 26 IN USTER al gusto, Oberlandstr. 82 IN WIL Caritas Markt, Ob. Bahnhofstr. 27 IN WINTERTHUR Bistro Sein, Industriestr. 1 IN ZUG Bauhütte, Kirchenstr. 9 | Podium 41, Chamerstr. 41 IN ZÜRICH Café Noir, Neugasse 33 | Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | das GLEIS, Zollstr. 121 | GZ Bachwiesen, Bachwiesenstr. 40 | Kleinwäscherei, Neue Hard 12 | Kiosk Sihlhölzlipark, Manessestr. 51 | Quartiertr. Enge, Gablerstr. 20 | Quartierzentr. Schütze, Heinrichstr. 238 | Täglichbrot, Friesenbergplatz 5 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | GZ Witikon, Witikonerstr. 405 | GZ Wipkingen, Breitensteinstr. 19a jenseits im Viadukt, Viaduktstr. 65 | Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76 | Zum guten Heinrich Bistro, Birmensdorferstr. 431
Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise
Richten und Henken
Ich habe schon viele Texte gelesen, denen ein Zitat vorangestellt ist. Aber ich kann mich nicht erinnern, an der entsprechenden Stelle jemals einen Yogi-Tea-Spruch gelesen zu haben.
Dass Dmitrij Gawrisch genau einen solchen bemüht, wirkt im besten Sinn grotesk und setzt bereits den ganz eigenen Ton seiner Geschichte. Seine Hauptfigur wird sich denn auch tatsächlich am eingangs zitierten inneren Frieden abarbeiten.
«Richten und Henken» ist das Thema dieses Hefts. Und man sieht: Es wird nicht nur da draussen in der Welt gerichtet und gehenkt, sondern genauso im Inneren. Mäandrierend erzählt auch Joël László von eigenen Obsessionen, die auf einem Spaziergang zu bröckeln beginnen – oder kurzerhand weggelutscht werden.
Dichten und Denken, Richten und Henken – das sind Begriffe, die für uns mit der Frage verbunden sind, wer die Macht hat, wer das Sagen. Oder auch: Wer hat die Kraft, die Welt zu verändern? Die, die dichten? Die, die richten? Es ist ein Heft
Illustrationen
6 Simon Chen Warten auf den Friedensrichter
10 Dmitrij Gawrisch Der letzte Tag
14 Sara Wegmann
Sırma: Hongkong
voller spielerischer Zugänge geworden zu einem düsteren Thema. Natürlich sind da auch ernsthaftere Töne, dafür wunderbar filigran gebaut. Gerade in der lyrischen Form bei Azizullah Ima.
Bei Simon Chen zeigt sich, dass die formalen Umstände Menschen fast eher zum feindlichen Gegenüber machen als die Streitsache an sich. Auch die Arbeitswelt ist ein Spiegelbild menschlichen Machtgebarens, wie es Dominic Oppliger sehr anschaulich macht.
Daumen hoch, Daumen runter: Im Grunde sind das Gesten, die ein harsches Urteil bedeuten. Online sind sie schnell verteilt. Milena Moser erzählt in scheinbar leichtem Ton von sozialer Kontrolle und von Klatsch und Tratsch als Machtmittel. Und noch virtueller –bedrückend dystopisch – wird es im Auszug aus Sara Wegmanns Debütroman «Sırma».
20 Azizullah Ima Wie uferlos sind Kummer und Küste
22 Milena Moser Richte nicht, auf dass du nicht.
25 Joël László Bonbon
27 Rätsel
28 SurPlus Positive Firmen
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
Silvain Monney ist seit seiner Kindheit ein ComicFan, weshalb er sich für den Zeichentrickfilm entschieden hat. Nach seinem BA an der HSLU arbeitete er als freier Illustrator und Zeichentrickfilmer, dann wechselte er in die Gartenarbeit. Heute teilt er seine Zeit zwischen den Pflanzen und dem Zeichnen auf.
18 Dominic Oppliger Der Pinguin
Aussenminister
30 SurprisePorträt «Vermutlich bin ich längst ein Europäer»
Warten auf den Friedensrichter
Ob er auch mit dem Auto gekommen sei, bricht Kägi das schwere Schweigen. Er steht am Fenster des Gemeindehauses und schaut auf den Parkplatz hinunter.
Ja, antwortet Nachbar Brunner einsilbig, ohne den Blick von seinem Mobiltelefon abzuwenden.
Kägi stellt sich vor, sie wären zusammen gefahren. Das Schweigen im Auto wäre noch unerträglicher gewesen. Je kleiner der Raum, desto dichter das Schweigen. Kägi fragt sich, ob das Physik ist. Aber es wäre ohnehin nicht in Frage gekommen, Gegner fahren nicht gemeinsam zur Verhandlung.
Es wird wieder geschwiegen und entweder aus dem Fenster (Brunner) oder auf die nichtssagenden Bilder an der Wand des Vorzimmers (Kägi) geschaut. Die beiden Nachbarn, der eine stehend, der andere sitzend, blicken abwechselnd auf ihre Uhren. Als es zufällig synchron passiert, platzt Kägi der Kragen.
Warum der Friedensrichter denn nicht komme, regt er sich auf, es sei schon zwanzig nach, er müsse in einer Stunde wieder, das Handy nähme er auch nicht ab.
Und dieser Termin, steigt jetzt auch Brunner ein –gemein sam erlittener Ärger verbindet –, «Montagvormittag zehn Uhr», der habe wohl das Gefühl, man sei arbeitslos.
Was er seinem Chef denn gesagt habe, fragt ihn Kägi.
Es sei etwas mit der Mutter im Altersheim, das gehe den Chef schliesslich auch nichts an.
Schweigen. Jetzt steht Kägi auf, tritt zum Fenster und verdrängt damit seinen Kontrahenten. Abwechselnd starrt er auf die Uhr und auf den Parkplatz. Als könne er damit die Ankunft des Erwarteten beschleunigen.
Diese Beamten, mault jetzt der andere, liessen auf sich warten und kassierten dafür auch noch Steuergelder.
Kägi weiss, dass Friedensrichter keine Beamten sind, behält es aber für sich.
Ob er das Beamten-Mikado kenne, fragt Brunner.
Das Beamten-Mikado, erwidert Kägi, nein.
Der, der sich als Erster bewegt, hat verloren.
Höfliches Lachen von Kägi. Er kannte den Witz natürlich.
Lauerndes Schweigen. Kägi ist unsicher, ob seine Reaktion auf den Witz als Gesprächsbeitrag zählt oder ob er nun an der Reihe ist. Brunner nimmt ihm die Entscheidung ab.
Warum er denn diese Klage eingereicht habe, wagt er sich nun aufs Glatteis, ob das denn wirklich nötig gewesen sei.
Kläger Kägi ist etwas überrumpelt. Brunner will also zur Sache kommen.
Er wolle eben seine Drohne zurück, antwortet er sachlich.
Wenn er gewusst hätte, sagt der Beklagte, dass er Klage einreichen würde, hätte er ihm das Ding vielleicht schon runtergeholt. Aber es sei halt einfach gefährlich, das Dach sei alt und brüchig. Beim Unwetter vor zwei Jahren habe der Hagel reihenweise Ziegel zerschlagen. Dazu seien sie moosbewachsen und deshalb sehr rutschig. Das sei ihm irgendein fremdes Spielgerät einfach nicht wert.
Ob er denn eine Ahnung habe, was so eine Drohne koste, entgegnet der Kläger. Das Gespräch ist lanciert.
Ja, das habe er ihm schliesslich schon mehrmals gesagt und geschrieben. Aber das sei nicht sein Problem, rechtfertigt sich Brunner, er könne ja nichts dafür, wenn er seine Drohne auf seinem Dach lande.
Er habe ihm auch schon mehrmals erklärt, gibt Kägi zurück, dass er sie nicht absichtlich dort gelandet habe, sie sei abgestürzt, die Fernsteuerung habe ausgesetzt. Das «verdammt nochmal!» kann er sich gerade noch verkneifen.
Die Drohne sei doch jetzt sowieso kaputt, behauptet Brunner.
Das könne man erst wissen, wenn man sie in Augenschein genommen habe, erwidert der Drohnenbesitzer. Und dafür müsse man sie von dort oben runterholen, und zu dem Zweck müsse er ihm Zugang zu seinem Hausdach gewähren, ob das denn so schwierig zu verstehen sei. Kägi hätte nicht gedacht, dass er den Begriff Inaugenscheinnahme, den er im Schreiben des Friedensrichters gelesen hat, jemals verwenden würde.
Der Wind werde sie früher oder später sicher runterwehen, meint Brunner und schaut zum sechsundvierzigsten Mal auf seine iWatch, welche auch seinen Puls anzeigt, der jetzt leicht erhöht ist.
Offenbar nicht, sagt Kägi, das Objekt liege nämlich auf der windabgewandten Seite des Daches.
Es sei nicht seine Schuld, kontert der andere, dass er das blöde Ding auf der windabgewandten Seite des Daches parkiert habe.
Er habe sie nicht dort parkiert und sie sei kein blödes Ding, schreit jetzt Kägi, sondern ein 4K Multikopter im Wert von 1200 Franken. Ein «verdammt nochmal!» beendet den Satz.
Das sei nichts gegen den Dachschaden, den er bei einer Bergung riskiere, bilanziert Brunner.
Wer hier einen Dachschaden hat, ist klar, denkt sich Kägi. Er bezweifelt, ob es eine gute Idee war, das Gespräch zu eröffnen ohne Anwesenheit des Friedensrichters. Der Weg zu einer Schlichtung scheint in weite Ferne gerückt. Jetzt klein beigeben kommt für ihn aber nicht in Frage.
Nur dass er es wisse, wendet er sich nun an Brunner, falls sie sich nicht einigen könnten und er seinen Besitz nicht rausrücke, würde er nicht zögern, den Fall ans richtige Gericht weiterzuziehen. Nichts will Kägi weniger, hofft aber auf die Kraft der Einschüchterung.
Er erntet eisernes Schweigen.
Er erinnert sich an seine früheren Nachbarn, mit denen er und seine Frau ebenso wenig Kontakt hatten wie mit Brunners. Eines Tages hatten sie sie aber zufällig in den Ferien im Südtirol getroffen, sodass sie sich gezwungen fühlten, zusammen essen zu gehen. Er fragt sich, wie weit man als Schweizer reisen muss, bis man sich wieder freut, Landsleute zu treffen. Aber einem Zeitgenossen wie Brunner möchte er nicht einmal im abgelegensten Urwald auf Borneo begegnen. Ein gemeinsamer Termin beim Friedensrichter scheint ihm aber auch nicht erfreulicher.
Schon fünf nach halb, ärgert sich jetzt Brunner. Schon fünfunddreissig Minuten Verspätung, das sei ja wohl die Höhe.
Ja, aber das sei nichts gegen die fünfeinhalb Wochen, die seine Drohne bereits auf seinem Dach liege und Kälte und Nässe ausgesetzt sei; für den jetzigen Zustand seines Flugobjekts sei er definitiv mitverantwortlich, greift der Kläger den Beklagten jetzt wieder an.
Soso, er wolle ihn jetzt also auch noch für die Folgeschäden des selbstverschuldeten Drohnenabsturzes auf fremdem Wohneigentum verantwortlich machen, ätzt Brunner zurück.
Gehässiges Schweigen. In der Ferne vernimmt man das Dröhnen der Südanflugschneise.
Kägi fällt das Sprichwort «Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach» ein, weiss aber nicht, was in diesem Fall der Spatz sein könnte.
Brunner tippt energisch auf seinem Handy herum. Kägi holt Atem.
Er wolle ihm einen Vorschlag machen, beginnt er. Brunner hält inne. Am Wochenende käme sein Göttibub zu Besuch, fährt Kägi fort. Ein kleiner Klettermax. Der könne die Drohne doch schnell runterholen. Er sei erst acht und höchstens dreissig Kilo schwer, da gäb‘s sicher keinen Dachschaden und der Bub hätte erst noch Freude an der Herausforderung.
Brunner steckt sein Handy ein und schaut ihn skeptisch an.
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Sie gewaltbetroffenen Migrant*innen Schutz, Mut und Selbstbestimmung.
Der Junge sei sehr geschickt, betont Kägi. Er klettere im Verein, seit er vier sei.
Aber wenn dem Knirps dann etwas passiere, wendet Brunner ein, er sehe schon die Blick-Schlagzeile «Göttibub, zu Besuch bei Götti, stürzt von Nachbars Dach», wer dann hafte?
Es werde schon nichts passieren, und das Dach sei ja nicht steil. Und man könne den Bub ja von der anderen Seite her sichern.
Brunner überlegt fieberhaft. Er steht auf und blickt auf den Parkplatz hinunter. Jetzt hofft er, dass sich der Friedensrichter noch etwas Zeit lässt.
Warum er erst jetzt mit dem Vorschlag komme, fragt er seinen Gegner. Dann hätten sie sich den Gang zum Friedensrichter, der ohnehin nicht auftauche, ersparen können.
Kägi windet sich. Der Krach mit seiner Frau gestern Abend sitzt ihm noch in den Knochen. Sie fand das mit dem Göttibub eine Schnapsidee sondergleichen und meinte, wenn er dem Brunner jetzt entgegenkomme, sei er ein Schlappschwanz.
Es sei eben so, erklärt Kägi jetzt, von sich aus hätte er nicht geklagt, aber seine Frau hätte darauf bestanden.
Brunner nickt unmerklich. Nach einigem Zögern bekennt er, dass es bei ihm eigentlich auch seine Frau sei, die Angst um die Dachziegel habe, es sei eben ihr Elternhaus.
Zum ersten Mal schauen sich die beiden Männer auf Augenhöhe an. Bevor die Stimmung allzu persönlich wird, macht Brunner Nägel mit Köpfen.
Aber am Wochenende sei sie sowieso weg, da könne man das eventuell schnell angehen …
In diesem Moment stürmt der Friedensrichter herein. Es tue ihm ausserordentlich leid, beteuert er ausser Atem, aber es wäre etwas mit der Mutter im Altersheim gewesen. Kägi und Brunner können ein gemeinsames Losprusten gerade noch unterdrücken. Er habe notfallmässig hinfahren müssen, erklärt sich der völlig Verschwitzte, und hätte in der Hektik auch noch sein Handy zuhause liegen lassen. Er entschuldige sich in aller Form, er danke fürs Warten, jetzt sei er da, sie möchten doch bitte in sein Büro kommen, ob sie einen Kaffee wünschten.
Die Sache sei erledigt, rufen die beiden Herren wie aus einem Mund, der Göttibub werde es richten. Samstag zwei Uhr, sagt Brunner zu Kägi, eine Leiter habe er. Samstag zwei Uhr, bestätigt letzterer, er schaue, dass der Bub Klettergurt und Seil dabei habe. Dann geben sich die Nachbarn die Hand.
Der Friedensrichter versteht nicht, aber dass die Schlichtungsverhandlung ausfällt, ist ihm in diesem Moment auch recht.
Als Brunner zwei Minuten später vom Parkplatz auf die Strasse einbiegt und beschleunigt, wird eine grosse Magnolienblüte, welche auf dem parkierten Autodach gelandet war, weggeweht.
Kägi muss in der nahen Migros noch ein paar Sachen besorgen, die ihm seine Frau aufgetragen hat. Vor dem Eingang steht ein Mann in einer roten Jacke, der ein Heft zum Verkauf anbietet. Der Asiate erinnert Kägi an die Reise in den Urwald von Borneo, die er nie gemacht hat und wohl auch nie machen wird. Er hat gerade ein paar hundert Franken Verhandlungsgebühren gespart und drückt dem freundlich lächelnden Mann mit einem «Stimmt so» eine Zwanzigernote in die Hand. Er nimmt das Magazin entgegen, ohne das Heftthema zu beachten: Richten und Henken.
SIMON CHEN , geboren 1972 in Fribourg, ehemaliger Schauspieler, seit 2007 hauptberuflicher SpokenwordAutor und Moderator. Freier Mitarbeiter von Radio SRF (Zytlupe). 2015 betrat er die Kabarettbühne, im Herbst 2023 hat er Premiere mit seinem vierten Soloprogramm «Im Anfang war das Wort». Simon Chen lebt in Zürich.
Der letzte Tag
TEXT DMITRIJ GAWRISCHFrieden beginnt in deinem Inneren. Yogi Tea
Du holst aus und schlägst den Alarm tot.
Dein Kopf fällt zurück ins Kissen. Dein Brustkorb hebt und senkt sich schwer.
Du rührst dich nicht. Horchst.
Es bleibt still.
Sonst war es immer das Geheul der Lastwagen, das dich viel zu früh aus dem Schlaf riss.
Oder das Zwicken von Donald Trumps Krallen an der Tapete.
Du kratzt deinen verkrusteten Bauch, ziehst die Gardine beiseite und öffnest das Fenster.
Über den Himmel dümpeln Schafe.
Sie sehen harmlos aus, aber du weisst, was in ihren Bäuchen steckt. Die Strandelster hat es nicht gewusst. Als die ersten Hagelkörner fielen, hüpfte sie noch sorglos über den offenen Strand. Viel zu weit vom nächsten Baum entfernt, unter dem du kauerst. Sie versucht noch zu fliehen. Ein Eisklumpen trifft sie am Flügel. Sie kippt zur Seite, verliert an Höhe. Rappelt sich nochmals auf. Aus deinem sicheren Unterstand schaust du ihr dabei zu, wie ihre Flügel um ihr Leben schlagen. Wie sie in die falsche Richtung flattert, aufs offene Meer hinaus statt zum Wald. Wie sie abermals getroffen wird, diesmal am Kopf, wie du der Verrenkung nach urteilst, die durch ihren ganzen Körper fährt. Sie fällt in die aufgewühlte Gischt.
Kaum war der Sturm vorüber, glühte die Sonne wieder zur gewohnten Stärke auf und verbrannte deinen Nacken.
Jetzt schält er sich. Du reisst Hautfetzen ab, steckst sie dir in den Mund und denkst an Natalie. Unter diesem unheilverkündenden Himmel würde sie sich wohlfühlen.
Du bist froh, dass die Welt gross genug ist, damit Menschen einander verloren bleiben.
Du bist auch froh, dass dein Onkel heute Abend nach Hause kommt und du zurück kannst.
Der neue Mitbewohner hatte gelacht: Wie heisst sein Kater?
Der andere wollte dich besuchen kommen. Aber dann sagtest du ihm, dass das Haus deines Onkels nicht direkt an der Ostsee stehe, sondern in einer brackigen Bucht. Prompt musste er am Wochenende am Donutstand einspringen.
Noch am Fenster streifst du T-Shirt und Unterhose ab.
Drehst den Hahn auf, wirfst die Brause an.
Heisses Wasser spült die Schlieren der Nacht von deinem Körper. Über dem Abfluss staut es sich und bildet Formen.
Eine Niere.
Afrika.
Ein Augenpaar, aufgerissener Mund.
Ein Totenkopf aus Schleim und Schaum treibt auf dem Wasser. Du erschauerst. Du richtest die Duschbrause darauf und löst den Schädel auf. Du hast den Tod besiegt. Der Gedanke erheitert dich, aber nur kurz.
Du ziehst eine frische Unterhose an und ein fleckenloses T-Shirt. Unten in der Küche machst du eine Dose Whiskas auf und füllst die braune Sülze in Donald Trumps Napf.
Du trittst in die Sandalen, schliesst die Riemen und ziehst die Tür ins Schloss.
Wind zupft an den Haaren deiner Arme und Beine. Zum ersten Mal hörst du das Scheppern der Eichen, die die Landstrasse säumen. Statt der rumorenden Lastwagenkolonne zeigt sich in der Ferne einzig ein dunkelblauer Golf. Auf der Höhe des Altenheims verlangsamt er und dreht um.
Du spürst, wie die Zivilisation sich zurückzieht. Die Fenster des Bahnhofs sind vernagelt, die Gleise durchgerostet. Gerippe von Kränen verstellen die Landschaft. Die Umfahrung ist fertiggebaut, jetzt machen auch die Lastwagen einen Bogen um die Gegend. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch der Segelhafen verlegt wird. Dann bleiben hier nur noch Greise mit ihren klapprigen Gebissen. Und Waldmenschen, die in verstreuten Baracken hausen, Hasenfallen aufstellen und mit Luftgewehren auf leere Bierdosen schiessen.
Du betrittst den letzten verbliebenen Laden.
Eine Tüte suchst du vergebens.
Am Griff der Brotzange klebt Rotz.
Weil keiner hinsieht, streckst du die Hand in die Auslage und greifst alle Croissants durch. Dasjenige, das sich am wenigsten trocken anfühlt, trägst du zur Kasse.
Eigentlich magst du keine Croissants, aber etwas Besseres gibt es hier nicht.
Als die schwangere Kassierin dich kommen sieht, tippt sie den Preis eines Croissants ein.
Wie gestern.
Vorgestern.
An allen Tagen davor.
Du drückst ihr die abgezählten Münzen in die Hand.
Sagst: Sie vergeht überhaupt nicht
Sagt sie: Wie bitte?
Sagst du: Sie vergeht überhaupt nicht, will ich dir sagen, es ist gar keine Zeit, und es ist auch kein Leben.
Sagt sie: Ich verstehe nicht.
Sagst du: Ich auch nicht.
Deine Mitbewohner hatten recht, in den beiden Wochen hier hast du dich gelangweilt.
Weil du weisst, dass ihr euch nicht wiederseht, fügst du hinzu: Viel Glück.
Sie sagt: Auf Wiedersehen.
Zum Abschied ziehst du aus dem Automaten am Ausgang einen Pappbecher Cappuccino. Mit extraviel Schaum.
Hinunter zum Hafen nimmst du den schattigen Weg zwischen verblühten Magnolien. Auf einem abgeschliffenen Pflasterstein rutschst du aus und verschüttest deinen Milchschaum.
Du fluchst.
Dann beisst du ab.
Kaust.
Tunkst.
Beisst nochmals ab.
Kaust lange. Verziehst das Gesicht.
Du wirfst das trockene Croissant ins Gebüsch.
Den Hafen findest du verlassen vor. In der Ferne glänzen noch einige Segel, bevor die Landzunge auch sie verschluckt.
Du setzt dich auf die Bank.
Sinkst tiefer.
Breitest die Arme aus.
Streckst die Beine.
Siehst tatsächlich aus, als würdest du es geniessen.
Die Pappeln
Du atmest in den Bauch.
Ihr Rauschen
Stehst wieder auf.
Du spürst deinen verbrannten Nacken.
Saurer Magen
Uferweg
Schlick, wo sich das Wasser während der Ebbe zurückgezogen hat
Staubiger Fussballplatz
Eine Holzbank
Noch eine
Und noch eine morsch
Spatzen, die sich um eine Brotrinde streiten
Noch mehr Pappeln
Ihr verrenktes Schattenspiel auf dem Asphalt
Scherben
Heil Hitler
Der Gedanke lässt dich zusammenzucken.
Sie sitzen keinen Meter vom Gehweg entfernt im Gras.
Das Kind streckt sein pummeliges Ärmchen zum Hitlergruss.
Dann stösst es einen prolligen Laut aus und reisst den zahnlosen
Mund zu einem diabolischen Grinsen auf.
Der Vater lässt die Zeitung sinken.
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EXTREME UNGLEICHHEIT: SO SIEHT’S AUS.
HOHE VERLUSTE KURZ VOR
Hoch ist die Niederlage niedrig die Hochlage
Das Kind verbeisst sich in den Panzer einer Holzschildkröte und knurrt.
Der Vater sieht, dass du die Schlagzeile gelesen hast. Auch ich habe mir einen anderen Sommer gewünscht, weisst du. Ich wollte viel spazieren. Verborgene Orte entdecken. Nachdenken. Mich im Wald auf einen Baumstumpf setzen und Gedichte schreiben, während der Kleine schläft. Und lesen wollte ich. Ganz viel. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Kennst du es? Du nickst.
Hast du es gelesen?
Du schüttelst den Kopf.
So geht es den meisten. Sie nehmen sich vor, es irgendwann zu tun, aber kaum jemand kommt über die ersten hundert Seiten hinaus. Ich habe mir ein Ziel gesetzt: alle sieben Bände, 5300 Seiten, bevor das Kind eins ist. Aber statt Proust zu lesen, kaufe ich die Zeitung und komme zum Hafen. Ich bin jeden Tag hier. So wie du. Ich breite die Decke aus. Lege das Kind darauf. Immer auf den Bauch. Der Kleine mag das nicht besonders, aber das sei gesund, sagt der Arzt, das stärke seine Rückenmuskeln. Ich verteile Spielzeug um ihn herum, Ringe, Rasseln. Er muss sich anstrengen, um sie zu holen. Das sei gesund, sagt der Arzt, so erfahre ein Kind die Freuden der Fortbewegung. Ausserdem wird jemandem, der ein Ziel vor Augen hat, nie langweilig. Ich sitze daneben und feuere ihn an. Wenn er ein Spielzeug erreicht hat, steckt er es sich in den Mund wie ein Hund den Knochen. Ich lobe ihn, nicht zu euphorisch, er soll sich mit dem Erreichten ja nicht zufriedengeben. Dann nehme ich ihm das Spielzeug wieder weg. Er protestiert, bricht in Tränen aus, aber ich bleibe hart. Es ist in seinem eigenen Interesse.
Ich selbst arbeite am Schreibtisch, habe einen krummen Rücken, Plattfüsse, eine schiefe Nasenwand. Ich vertrage keine Laktose, kurz vor seiner Geburt habe ich den Test gemacht, das erklärt endlich meinen Blähbauch. Ein Mängelexemplar, das bin ich. Dass ich noch am Leben bin, ist nicht mein Verdienst. Wenn du
Rund zwei Dutzend Milliardäre besitzen gleich viel Vermögen wie fast vier Milliarden Menschen. Das ist nicht nur unfair, sondern auch gefährlich. Damit extreme Ungleichheit nicht die Welt zerreisst, braucht es jetzt Ihre Solidarität.
Kämpfen Sie mit für globale Fairness! solidar.ch
Spenden mit QR-Code oder unter www.solidar.ch/de/ mithelfen
jetzt ein Messer zücken und auf mich losgehen würdest, könnte ich weder mich noch ihn beschützen. Das wäre ja auch nicht nötig, dachten wir, nicht in dieser Zeit, nicht in diesem Erdteil. Aber wenn ich die Schlagzeilen lese, bin ich mir nicht mehr sicher. Hast du schon mal eine Waffe abgefeuert? Eine Schrotflinte lassen wir auch gelten. Ich habe ein einziges Mal geschossen, auf einer shooting range in den USA. Aus einem vollautomatischen Maschinengewehr. Du drückst den Abzug, ganz leicht, eigentlich tippst du ihn nur an. Aber das reicht schon, damit zehn Kugeln auf die Zielscheibe prallen. Und du dir vorstellen kannst, dass sie nicht Papier durchbohren, sondern Muskelgewebe, Lungen, Milz, wie sie Blutgefässe auseinanderreissen, Knochen zersplittern. Der Geruch von verbranntem Schiesspulver steigt dir in die Nase. Du willst dich geil fühlen, wenigstens einmal in deinem Leben als ganzer Kerl. Aber jedes Mal wenn du den Abzug drückst ist da bloss Leere, die rhythmisch gegen deine Schulter hämmert. Ich habe Angst, dass sie eines Tages auch meinen Jungen holen. Der Zufall ist grausam. Und allmächtig. Deshalb trainiere ich ihn, so gut ich kann. Babyschwimmen, später wird er Karate machen, Hanteln stemmen, Ausdauerlauf. Er soll eine Chance haben. Falls der Krieg zu uns
Du drehst dich um und gehst. Stolperst über einen abgebrochenen Ast.
Du eilst zum Haus.
Schon von Weitem siehst du, dass die Tür einen Spaltbreit offen steht.
Im Erdgeschoss hörst du Schritte.
Vom Schlüsselbund löst du das kleine Taschenmesser, das du vor vielen Jahren als Werbegeschenk von der Sparkasse gekriegt hast.
Du klappst es auf.
Deine Hände zittern.
Du ziehst die Sandalen ab und trittst barfuss ins Haus. Inzwischen weisst du, welche Dielen knarzen.
In der Küche huscht ein Schatten über die Wand.
Dort werden die richtigen Messer aufbewahrt. Mit einem Fleischmesser würdest du dich sicherer fühlen.
Trotzdem kommst du Schritt für Schritt näher.
Eine Bewegung.
Mit zusammengekniffenen Augen stichst du zu.
Dein Onkel Alfons steht vor dir. Kreidebleich. Dann lacht er auf.
Donald Trump leckt an seiner Pfote.
Du lässt das Taschenmesser fallen.
Er sagt: Ich wusste gar nicht, dass ich Getränke im Haus habe, die sowas anrichten.
Dein Onkel übergibt sich fast vor Lachen.
Ihr umarmt euch. Dein Körper sackt zusammen, du zitterst noch immer.
Du steigst die Treppe hoch, machst die Tür zu und fällst aufs Bett. Hinter deinen Schläfen tickt ein dumpfer Schmerz.
Bald klopft es an die Tür.
Lass uns was essen, bevor du fährst, sagt der Onkel, ich lade dich ein.
Er steigt in seine beigen Halbschuhe und stopft die Geldbörse in die hintere Hosentasche. Du suchst deine Sandalen, bis dir einfällt, dass du sie vor der Haustür abgestreift hast.
Ihr folgt den Pflastersteinen hinunter zum Hafen. Sie strahlen Wärme ab, die deine nackten Beine umschlingt. Ein Boot hat die Segel gerafft und steuert mit brummendem Motor seinen Anlegeplatz an.
Donald Trump trottet euch mit frischverbundener Pfote hinterher. Als ihr euch an einen Vierertisch setzt, legt er sich ins Gras. Ihr müsst lange warten, bis euer Bier gebracht wird. Die Seeterrasse ist voll. Um die Tische verteilen sich sonnengebräunte Segler und ihre Ehefrauen. Während die Männer lauthals lachen, nippen die Frauen Weisswein und funkeln still vor sich hin. Ihr stosst an. Der Onkel dankt dir, dass du dich während seiner Reise um das Haus und seinen Kater gekümmert hast: So fett und zufrieden war Donnie noch nie.
Er bestellt Matjes auf Schwarzbrot und als Hauptgang Heilbutt mit Bratkartoffeln.
Du hörst ein Japsen, dann siehst du den Vater an einem winzigen Tisch vorne am Wasser. Sein Kopf ist gebeugt, die Stirn gerunzelt. Mit dem Zeigefinger wischt er den Bildschirm seines Telefons hin und her. Geistesabwesend schaukelt sein Fuss den am Tisch geparkten Kinderwagen, aus dem ein vergnügtes Kindergesicht ragt. Du winkst ab, du hast keinen Hunger.
Hast du dich mit Natalie noch immer nicht versöhnt?, fragt der Onkel.
Sein Matjesfilet wird gebracht. Er beisst ab. Bückt sich, als ein Zwiebelring zu Boden fällt. Er sticht mit der Gabel hinein und hebt ihn auf. Tupft ihn mit der Serviette sauber und schiebt ihn sich in den Mund.
Noch kauend beginnt dein Onkel von glänzenden Lavasteinen zu erzählen, die er auf Lanzarote gesehen hat.
Und du? Nimmst dein Bier und gehst an lärmenden Seglern vorbei auf den Kinderwagen zu.
DMITRIJ GAWRISCH, geboren 1982 in Kyjiw, UKR, schreibt Prosa, Theaterstücke, Hörspiele und literarische Reportagen. Er wuchs in Bern auf und studierte zunächst Betriebs und Volkswirtschaft an der Universität Bern. Mit seinem ersten Theaterstück «Brachland» wurde Gawrisch 2011 zum Stückemarkt beim Berliner Theatertreffen eingeladen. Es folgten weitere Stücke, die auf Bühnen im In und Ausland aufgeführt wurden. Gawrisch war Stadtschreiber in Jena und Rottweil und arbeitet in Teilzeit als Redakteur bei der Zeitschrift Reportagen. Er pendelt zwischen Bern und Berlin und war in der Spielzeit 2022/23 Hausautor bei Bühnen Bern.
NZZ am Sonntag
«Eine wuchtige Dystopie.»192 Seiten, Leinen bedruckt, Fr. 30.–978-3-03926-055-3
Sırma: Hongkong
TEXT SARA WEGMANNDie kursiven Stellen im Text entsprechen Zitaten, die die Autorin aus indischen, türkischen und chinesischen Spielfilmen und Fernsehserien frei ins Deutsche übersetzt hat.
Eric war ein automatischer Freund. Er half seinen Schülern automatisch, er unterstützte sie automatisch und fühlte automatisch mit ihnen mit.
– Du weinst. Warum?
– Lisa hat mich geschubst.
– Warum hat Lisa dich geschubst?
– Weiss nicht.
Lisa, komm mal her!
Warum hast du Helen geschubst?
– Sie hat mein Tablet genommen.
– Helen, wo ist dein Tablet?
– In meiner Tasche.
– Warum holst du dein Tablet nicht?
– Weiss nicht.
Komm, geh es holen und entschuldige dich bei Lisa, dass du ihr Tablet genommen hast. Und du, Helen, entschuldige dich, dass du sie geschubst hast.
Die Mädchen entschuldigten sich, und da stand Henri. Henri mit seiner selbstprogrammierten Drohne.
– So eine schöne Drohne. Erzähl mir, wie du sie programmiert hast. Fast allein, nur deine Mama hat dir ein bisschen geholfen. So eine schöne Drohne. Und fliegen kann sie auch. Toll! Henri legte die Drohne auf den Tisch und aktivierte sie auf dem Joypad. Sie hob langsam ab und Henri lenkte sie in Kreisen im Raum herum.
– Toll!
– Darf ich jetzt mit ins Bootcamp?
– Aber bestimmt!, sagte Eric, ich melde dich gleich heute an.
– Ich darf mit. Ich darf mit!, freute sich Henri.
Aber als Eric Henris Aufnahme in das Drohnenbootcamp auslösen wollte, löste er eine Fehlermeldung aus.
Aber das hätte jedem passieren können.
Der Lehrer wurde auf die Fehlermeldung aufmerksam. Du weisst, was ich meine?
Aber das hätte jedem passieren können.
Der Lehrer wurde auf die Fehlermeldung aufmerksam. Ich weiss es. Ich verstehe dich.
Aber das hätte jedem passieren können.
Es dauerte nicht lang, 2046 zu renovieren. Der Lehrer wurde auf die Fehlermeldung aufmerksam.
Auf seinem Tablet erschien eine Warnanzeige: Anmeldung abgelehnt. Er klickte sie an und lud eine PDF-Datei herunter. Dann las er: «Score 400, Ausschluss von extracurricularen Aktivitäten.» Der Lehrer, der eine solche Anzeige zum ersten Mal sah, dachte, die Fehlermeldung müsse ein Fehler sein. Er druckte die Fehlermeldung aus und ging damit zum Direktor der Schule. –
Ich habe bei der Anmeldung eines Schülers zum Drohnencamp eine Fehlermeldung erhalten, sagte er.
– Sie sind der Erste, der von einer Fehlermeldung berichtet, sagte der Direktor, die Fehlermeldungen sind noch ganz neu. Sie wurden bei der Zusammenführung der Datensysteme eingerichtet. Da ist wohl der Score von jemandem neu berechnet worden. Zeigen Sie mal her! Der Direktor las die PDF-Mitteilung in ihrer Gänze. Super, dass wir dich endlich erwischt haben!
– Es handelt sich aber um einen sehr guten Schüler, sagte der Lehrer vorsichtig.
– Er mag Ihnen als ein guter Schüler erscheinen. Glauben Sie den Daten!, sagte der Direktor, hier werden Informationen über ihn, sein Umfeld, seine genetischen Voraussetzungen so zusammengeführt, dass man eigentlich fast unfehlbar klären kann, ob der Schüler sich für extracurriculare Aktivitäten eignet oder nicht. Sehen Sie mal, ein Score unter fünfhundert. Der Schüler sollte einfach brav seine Hausaufgaben machen und versuchen, nicht allzu negativ aufzufallen. Wir hätten gerne, dass er sich wieder in die Gemeinschaft integriert! – Er fällt nie negativ auf. Er ist vorbildlich. Das verwundert mich ja gerade, erklärte der Lehrer.
Wenn Sie meinen, dass das System hier einen Fehler gemacht haben könnte, machen Sie die Eltern des Kindes auf die Fehlermeldung aufmerksam und klären Sie sie darüber auf, dass sie nachfragen können, warum ihr Kind so niedrig eingestuft wurde. Vielleicht hat es auf dem Pausenhof eine Schlägerei begonnen oder einer alten Dame die Handtasche geklaut. Behalt ihn im Auge!
Das Kind ist acht Jahre alt, er würde so etwas nie tun.
Wie gesagt, Sie können den Eltern ja sagen, dass sie sich um Aufklärung bemühen können.
Der Lehrer rief Alexandra noch auf der Arbeit an und bat sie, in die Schule zu kommen. Er habe etwas mit ihr zu besprechen. Es gehe um das Drohnenbootcamp. Alexandra sagte ihm, sie werde die Möglichkeit eines Gentests nicht noch einmal besprechen.
Darum gehe es nicht, versicherte er ihr. Sie lief beim Telefonieren in ihrem Büro auf und ab und sah durch die gläserne Front ihres Büros hinaus zu den anderen Hochhäusern, die ihr auf Augenhöhe entgegensahen, als wären sie miteinander bekannt und berechtigt, mit ihr per Luftlinie durch die Stadt zu kommunizieren. Sie ignorierte sie und konzentrierte sich auf Henris Lehrer.
Es ging also nicht um einen Gentest oder den Grund, warum der Androide nicht antwortete.
Es hatte also nichts damit zu tun, dass ihr Mechanismus veraltet war. Es ging also nicht um einen Gentest.
Um was ging es dann?
Sie fuhr zur Schule und ich hörte eine merkwürdige Stimme durch die Wand. Der Lehrer bat sie, zur Unterredung mit ihm hinauszugehen. Er wollte nicht auf den Schulhof, wo Henri mit den anderen spielte. Alexandra sah ihn nur kurz von Weitem, er führte sie zur Schule hinaus und sagte:
Ich wollte nicht, dass dieses Gespräch aufgezeichnet wird. Aber vielleicht war das unsinnig. Alles, was ich Ihnen sage, weiss das System längst. Es ist eine verrückte Welt da draussen!
– Was meinen Sie damit?, fragte Alexandra.
– Ich kann Ihren Sohn nicht für das Drohnenbootcamp anmelden. Er reichte ihr die Fehlermeldung und Alexandra, die nur schlecht chinesische Zeichen lesen konnte, brauchte etwas länger, um alles zu entziffern. Dann scannte sie es auf dem Handy zur Sicherheit noch einmal ein und besah die Übersetzung genauer. Es war wahrscheinlicher, dass ... Sie besah die Übersetzung genauer, aber die Bedeutung blieb ungefähr gleich.
Sie besah die Übersetzung genauer, aber die Bedeutung blieb ungefähr gleich. Hast du seine Telefonnummer?
Warum fragst du ihn nicht? Sie besah die Übersetzung genauer, aber die Bedeutung blieb ungefähr gleich.
Wie konnte sein Score auf vierhundert abrutschen?, fragte sie.
Das weiss ich nicht, ich sehe nur, dass es so ist, und Schüler, deren Score so niedrig ist, dürfen nicht an extracurricularen Aktivitäten teilnehmen, sagte er und deutete auf den Hinweis im Dokument. Ich denke, dass irgendein neuer Zusammenhang in seinen Daten entdeckt worden sein muss, der bei der Zusammenführung der verschiedenen Systeme über die letzten Monate auf seinen Score angerechnet wurde.
– Das muss ein Fehler sein.
– Ich hoffe, dass es ein Fehler ist. Sie haben die Möglichkeit, das auf dem Amt zu klären.
Sie musste das klären. Sofort. Aber da hatte ich mich schon an 2047 gewöhnt.
Sofort? Sagten sie auf dem Amt. Sofort? Das gäbe es nicht. Sofort? Haben sie Sie sowas schon mal gehört?
Erst müssen die Daten freigegeben werden.
– Es sind die Daten meines Sohnes, sagte Alexandra, aber das kümmerte sie nicht.
Sie sollte sich gedulden. Eine Einsicht beantragen, es handle sich ja nicht um eine einfache Scoreauskunft für eine neue Wohnung oder eine Jobbewerbung, sondern um die Offenlegung einer plötzlichen Scoreabwertung, und das in einem neuen System. Dann erhielt sie die erste detaillierte Scoreeinsicht. Die, die jeder beantragen konnte und die man innerhalb einer Woche zugeschickt bekam. Grüne und rote Balken zeigten hier, wie verantwortungsbewusst jemand lebte. Henris Scoreeinsicht sah folgendermassen aus: Ernährung war zu achtzig Prozent grün.
Sport war zu achtzig Prozent grün.
Einhaltung sozialer Regeln war zu sechzig Prozent grün. Einhaltung gesetzlicher Regeln war zu 98 Prozent grün. Einhaltung politischer Regeln war zu achtzig Prozent rot. Persönliche Begabung war zu achtzig Prozent rot.
Genetische Veranlagung war zu fünfzig Prozent rot.
Sie verstand es nicht. Hatte Henri am 4. Juni vielleicht ein Bild vom Tiananmen gemalt? Hatte er einen Witz über die Regierung gerissen? Sie fragte ihn, ob er sich erinnern könne, etwas über die Regierung gesagt zu haben, über das Regierungsoberhaupt, über die Partei. Er sagte, er habe nichts dergleichen gesagt. Henri hatte ein gutes Gedächtnis. Sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte, und ich zeichne dir eine Landkarte.
Sie warteten auf die Einsicht in die Hintergrunddaten, die den Algorithmus dazu bewogen hatten, Henri so oft mit einem roten Balken zu versehen. Das könne etwas Zeit in Anspruch nehmen. Bei aller Digitalisierung oder wegen aller Digitalisierung müssten erst einmal alle Genehmigungen eingeholt werden, erklärte die Sachbearbeiterin auf dem Amt. Und so warteten sie. Und während sie warteten
und warteten und warteten
wartete Alexandra eines Tages vor Henris Schule, dort, wo sie immer auf ihn wartete. Sie sah auf die Uhr, er sollte längst draussen sein. Eric wusste, wann sie ihn abholte, er schickte ihn immer pünktlich zur Tür, damit sie nicht warten musste. Aber Henri kam nicht. Sie wartete und wurde unruhig. Sie fragte sich, ob sie jetzt in die Schule hineingehen sollte, um nachzufragen, wo Henri sei oder ob sie lieber bleiben sollte, wo sie war, für den Fall, dass er gerade dann aus der Schule kam und sich wunderte, wo sie war. Sie fluchte innerlich darüber, dass sie ihm kein Handy gekauft hatte, weil Sırma es für unnötig gehalten und gemeint hatte, das Handy würde ihn nur unter Druck setzen, seine Scores dauernd mit denen der anderen Kinder zu vergleichen. Das hatte sie überzeugt. Sie wollte nicht, dass Henri sich von Scores unter Druck setzen liess.
Der Text ist ein Auszug aus «Sırma» von Sara Wegmann. Der Roman ist 2023 im Telegramme Verlag, Zürich, erschienen.
SARA WEGMANN , geboren 1985, studierte Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder und Literarisches
Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Promotion in Sozialanthropologie. Sie lebt nach längeren Aufenthalten in Berlin, Istanbul und Kairo heute in Zürich. Der Roman «Sırma» ist ihr erstes Buch.
Der Pinguin
Der Pinguinkopf schob sich in Peters Blickfeld und versperrte die Sicht auf die Arbeitsumgebung.
«Du hast bestimmt zwei Minuten Zeit.» Kein Wort der Begrüssung.
«Ja, klar», hörte Peter sich sagen.
Die schwarzen Pupillen in den wässrig-grauen Pinguinaugen musterten ihn eindringlich. «Lass mich raten … Erdmännchen?»
«Fast. Gleiche Familie. Aber nein, heute bin ich eine Fuchsmanguste.»
Der Pinguinkopf senkte sich leicht nach unten und zur Seite und schien einen Moment nachzudenken.
Peter, unsicher, was nun gefragt war, fuhr fort: «Das war die gleiche Familie wie die Erdmännchen. Die lebten bis Mitte 21. Jahrhundert im südlichen Afrika.»
Der Pinguin erstarrte. Für eine Sekunde schöpfte Peter Hoffnung – war die Übermittlung abgebrochen?
Nein. Im Gefieder oberhalb des Schnabels zuckte es unmerklich.
«Nun gut», quäkte der Pinguin und begann erwartungsgemäss: «Ich spreche im Vertrauen zu dir. In einem kollegialen Sinne, sozusagen. Und auch wenn es eher die Leitungsebene betreffende Geschehnisse sind, so ist es trotzdem wichtig, dass auch du ins Bild gesetzt wirst. Es sind zwar keine Geheimnisse, aber …»
Hinten links in der Arbeitsumgebung begann eine neue Chatnachricht von Luca zu hüpfen. Peter wischte sie mit einer Handbewegung vor den Pinguin. Habe für uns bei Kidane’s Finest um 18 Uhr reserviert. Freue mich! Luca. Die Anzeige unten rechts zeigte 17:03:41. Peter schob die Nachricht zur Seite und hörte den Pinguin: «… das sind Vorgänge, die seit Jahrzehnten innerhalb unserer Institution passieren und weiterhin passieren werden, darum ist das …»
Wie viele Male hatte er den Pinguinschnabel schon dieses «Du hast bestimmt zwei Minuten Zeit» krächzen hören? Seit wann gab sich die Leitungs-Entität eigentlich das Aussehen eines Pinguins? In welcher Form war sie wohl davor in Erscheinung getreten?
Der Pinguin schnatterte weiter: «… und somit verzögert das 71. Re-Assessment des internen Umstrukturierungsplans erneut den Launch des neuen …»
Eine Nachricht von seinem Vater pushte sich in Peters Blickfeld: Rovaniemi ist heute zurückgekommen! Ozma und ich sind ja so froh. Nur sein Schnurren funktioniert noch nicht wieder richtig. Da ist ein Störgeräusch drauf. Klingt wie abgehacktes Fauchen. Wir hoffen bloss, es ist kein Virus!
Peter erinnerte sich ans Bewerbungsgespräch für diese Stelle. Wie er dem Monolog des Pinguins halbwegs zu folgen versuchte, während links von ihm schweigend die zwei grauen Kreise der Human-Resources-Entität schwebten. Ausser den üblichen Begrüssungsfloskeln gab sie für die Dauer des Gesprächs keinen Pieps von sich, ganz auf den Scan von Peter konzentriert. Seit er hier angefangen hatte, lebte auch er mit der Gewissheit, dass die dort oben mehr über ihn wussten, als ihm lieb sein konnte. Wussten sie von seinen Tagträumen? Waren sie von Interesse für irgendwen?
«… es braucht einfach grössere Konzentration …», weckte ihn die Pinguinstimme. Peter bemerkte Schweisstropfen auf seinen Wangen. In der Falte unter seinem Kinn wurde es heiss. Konzentration? Ging es hier um ihn? «… ohne noch dichter aufeinanderfolgende AssessmentBallungen wird es nie einen Launch geben können …»
Er atmete auf. Mit leichtem Fingertippen veranlasste er eine Anpassung in der Klimatisierung und spürte auf seiner Haut die Schweisstropfen augenblicklich abkühlen und trocknen. Bestimmt war es langsam an der Zeit, der Leitungs-Entität Zustimmung zu zeigen. Er hörte sich ein nachdenkliches «Mhm …» von sich geben und sah sich in Gedanken in Fuchsmangustengestalt mit seinen Artgenoss*innen in der eindunkelnden Savanne herumtollen. Eine kühle Abendbrise, die ihm durchs Fell strich und Gräser wogen liess. Hatte es in der Savanne Abendbrisen gegeben?
Weiter hinten in der Arbeitsumgebung vernahm Peter das Zwitschern eines Vogels. Das müsste eine Amsel sein. Jedoch – im Lebensraum der Fuchsmanguste, im südlichen Afrika? Nein, das konnte nicht sein. Klang aber nach Amsel. Hatte er versehentlich eine Einstellung falsch … Amseln, Mamselln, Damseln, Hanseln. Die einzige Vogelstimme, die er in der Regel mit jener der Amsel zu verwechseln glaubte, war die der Dohle. Er wischte sich die
Information zum hier erklingenden Exemplar herbei: Bokmakiri (Telophorus zeylonus), ausgestorbene Vogelart des südlichen Afrikas.
Mittlerweile hörte sich das Zwitschern ganz und gar nicht mehr wie das einer Amsel an. Und waren es sowieso Drosseln und nicht Dohlen? Sohlen, Wohlen, Holen, Bohlen, Fohlen, Molen, Kohlen … Peter gestand sich ein, keine Ahnung von Vogelstimmen zu haben.
Das Pinguinquaken schreckte ihn auf: «… deshalb muss ich von dir jetzt wissen, ob du willst oder nicht.»
Peter sah die beiden schwarzen Punkte in den grauen Augen auf sich ruhen. Hatte ihm der Pinguin gerade eine Frage gestellt?
Er dachte ans Gesprächsführungsseminar. Herr*in der Lage bleiben, den Ball schnell zurückspielen. Mechanisch hörte er seine eigene Stimme sagen: «Das kommt natürlich auf die Bedingungen an. Also, es hängt davon ab, ob …»
Abgebrochener Satz. Keine Frage formuliert. Die Seminarleitung wäre nicht zufrieden.
Die Pinguinäuglein starrten ihn unangenehm lange an.
«Was meinst du mit Bedingungen? Ich frage dich, ob du willst oder nicht.»
Durch Peters Zungenmuskel stieg ein heisses Kribbeln bis hoch in die Schläfen. Was zum Geier war die Frage gewesen? Ruhig bleiben, nicht zu lange warten.
«Na ja, aufs erste Hören klingt es gut», brachte er endlich über die Lippen. Sprechpause, Mund leicht öffnen, Zunge entspannen. Wie sich das wohl bei einer Fuchsmanguste mimisch zeigt? «Aber ich denke, ich müsste mir das kurz überlegen können.»
Die Pinguinäuglein fixierten ihn stechend.
«Gut … Bis wann?», krächzte der Schnabel.
War das Ungeduld? Okay, Peter, Kurzpassspiel.
«Nicht lange. Nur kurz.» Jetzt nicht erwischt werden, alles auf eine Karte setzen, die Frage des Pinguinkopfs herausbekommen, sprechen, bevor der andere spricht.
«Wie wär’s, wenn wir uns heute Abend zum Abendessen treffen? Das wollten wir doch schon lange einmal machen. Da könnten wir es in Ruhe besprechen.»
Oh je, wie würde er Luca beibringen, dass Dinner bei Kidane’s Finest schon wieder nicht klappte?
Die Augen des Pinguins durchbohrten ihn. Sein Schnabel schien sich zu einem menschlichen, breiten Grinsen zu verziehen. Das Gefieder in den Schnabelwinkeln zuckte. «Dann ist das ein Ja?»
Peter stutzte. «Wie meinst du das? Nein, ich muss mir das eben erst noch …»
Weder freundlich noch forsch fiel ihm der Pinguin ins Wort: «Das, was du vorschlägst, ist ein Ja auf meine Frage, ob du mich heute Abend zum Abendessen treffen willst oder nicht.»
Das Hüpfen einer neuen Nachricht Lucas flackerte am Rande von Peters Sichtfeld. 17:21:42. Freundliches «bokma-kiri» klang in seinen Ohren. Er nahm einen tiefen Atemzug, doch spürte die Luft im Moment des Einatmens gleich wieder aus seinem Körper entweichen. Der Pinguin grinste nun nicht mehr. Je länger Peter ihn betrachtete, umso zerzauster wirkte sein Gefieder, seine Äuglein blass und kraftlos. Immer deutlicher umgab ihn eine fast greifbare Aura der Traurigkeit.
DOMINIC OPPLIGER, geboren 1983 in Schlieren, ist Autor der Mundarttexte «giftland» (2023) und «acht schtumpfo züri empfernt» (2018, beide im Verlag Der gesunde Menschenversand) und lebt in Zürich. Als Musiker veröffentlichte er zahlreiche Alben mit verschiedenen Formationen (u.a. Doomenfels). Er war Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der ZHdK im Departement Kulturanalysen und Vermittlung und dozierte im Bereich kreatives Schreiben.
Wie uferlos sind Kummer und Küste
TEXT AZIZULLAH IMA
Ich sitze, etwas lässt mich aufstehen Ich stehe, etwas setzt mich Ich suche, etwas findet sich Und finde ich, suche ich wieder Was ist das, das sich fortwährend gegen mich stemmt? Wer ist das, der sich fortwährend mit mir bekämpft? Ich falle zurück, ich richte mich auf Ich erhebe mich, dann falle ich wieder Kein kleines Gläschen und kein kleinster Zug Rauch Haben mich je gefesselt, haben mich je berauscht Es weint in mir, wenn ich mich so winde und wende, denn Weinen, das ist kein Wasser, das aus den Augen fliesst Weinen, das ist kein Traumbild, das in die Augen flieht Was ist das, das sich fortwährend gegen mich stemmt? Wer ist das, der sich fortwährend mit mir bekämpft? ***
Heimweh hab’ ich
Wie der Leib nach der Seele Heimweh hab’ ich
Wie nach dem Du das Ich Heimweh, wie es nur der einsam Ertrinkende kennt Der des Tags im Wasser strampelt der des Nachts im Wasser strampelt Und wie uferlos sind Kummer und Küste … Wie uferlos, wie uferlos!
Aus dem afghanischen Persisch (Dari) übersetzt von Sarah Rauchfuss.
AZIZULLAH IMA erlangte 1987 sein Lizenziat von der Pädagogischen Universität Kabul. Mehrere seiner Gedichtbände in afghanischem Persisch erschienen in Afghanistan und Europa. Zusätzlich wurden sein Roman «Shengari» und eine Sammlung von Kurzgeschichten publiziert. 2011 wurde sein Roman «die neunundneunzigste Frau» durch Kabul Pen gedruckt. Neben zahlreichen Artikeln, Kritiken, Gedichten und Kurzgeschichten, die in Print und Online herauskamen, kann ein Teil von Imas Werken in Originalsprache auf seiner Website eingesehen werden.
Richte nicht, auf dass du nicht.
TEXT MILENA MOSER«Warum bist du zuhause?»
«Ich? Ich wohne hier!»
Nia klingelt nicht. Muss sie auch nicht. Sie hat einen Schlüssel. «Du bist jederzeit willkommen», hab ich gesagt. Und auch so gemeint. Seit sie hier in der Stadt das Gymnasium besucht, kommt sie öfter vorbei. Oder eher, im ersten halben Jahr kam sie öfter. Manchmal brachte sie Freundinnen mit. Sie schauten sich meine alten Fotoalben an und legten sich meine Halsketten und Gürtel um. Sie klimperten auf meinem Klavier.
Jetzt, fällt mir auf, hab ich sie schon länger nicht gesehen.
Sie lässt ihre Sachen fallen, ihr Rucksack löst sich von ihrem Körper und landet mit einem dumpfen Knall auf dem Parkettboden. Das Ding ist riesig, es muss eine Tonne wiegen. Kein Wunder, ist ihr Rücken so krumm wie der einer alten Frau. Es folgen die Sporttasche, die übergrosse, viel zu warme Teddybärjacke, eine zerknitterte Plastiktüte. Sie schlüpft aus ihren Turnschuhen, ohne sich bücken zu müssen. Das konnte ich auch mal. Dann macht sie einen grossen Schritt über ihre Besitztümer hinweg und auf mich zu. Doch als ich sie umarmen will, weicht sie geschmeidig aus und gleitet auf Sockenfüssen weiter.
Als ich sie im Wohnzimmer einhole, liegt sie schon längs auf dem Sofa, die Schultern zum Fragezeigen gekrümmt. Handy, Ohrstöpsel. Ich beobachte sie einen Moment lang. Schlucke eine Frage nach der anderen hinunter:
«Warum bist du nicht in der Schule?»
«Ist alles in Ordnung?»
«Hast du Hunger?»
Aber ich sage nichts. Ich gehe in die Küche und mache ihr ein Käsebrot mit Mayonnaise und ganz vielen Essiggürkchen. So, wie sie es mag. Ich giesse den Kräutereistee, den ich nur für sie kaufe, in ein Glas voller Eiswürfel.
Sie schaut kurz auf, als ich den Teller und das Glas neben sie hinstelle.
«Warum bist du nicht im Yoga?» Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll. «Du bist doch sonst immer im Yoga.»
Stimmt. Dreimal die Woche geh ich ins Yoga, und am Donnerstag hab ich meine Schreibgruppe. Vormittags bin ich selten zuhause. Eigentlich nie.
Das weiss Nia. Sie ist nicht hier, um mich zu sehen.
Ich hole tief Luft, und dann erinnere ich mich: Ausatmen. Ich bin nicht ihre Mutter. Ich bin nicht mal ihre Grossmutter. Ich hab sie gehütet, als sie klein war. Ihre Mutter, Melly, zog nach ihrer Scheidung in diesen Block, in dem ich immer noch wohne. Wir trafen uns im Lift, kamen ins Gespräch, ich bot meine Hilfe an. Schliesslich wusste ich noch zu gut, wie überwältigt ich in ihrer Situation gewesen war, zwanzig Jahre früher. Oder dreissig? Viel schien sich jedenfalls nicht verändert zu haben. Wenn überhaupt, war der Druck, der auf Melly lastete, noch grösser als damals. Was wir an Rechten verloren hatten, war uns an Ansprüchen aufgeladen worden.
Ich schaue mir Nia genauer an. Sie hat abgenommen, seit ich sie zuletzt gesehen habe. Ihre Fingerspitzen sind unter dem abgeblätterten schwarzen Nagellack rot und geschwollen.
Also sage ich nichts. Ich gehe in mein Zimmer und ziehe mich um. Ich lasse mir Zeit. Als ich zurückkomme, hat sie ihr Käsebrot gegessen. Ihren Eistee getrunken. Sie schaut zu mir auf. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Ich knie mich vor sie hin und breite die Arme aus. Und sie schmeisst sich gegen mich, wie sie das als Kind immer getan hat.
«Oh, Lome!», weint sie. Ich heisse Salome, aber das konnte Nia nicht aussprechen, als wir uns kennenlernten. Ich mag Lome. Es klingt ein bisschen wie Oma.
«Ist ja gut», murmle ich. Und dann erzählt sie mir alles.
Früher war das ja die Rolle der alten Frauen: Zu sehen und zu richten. Zu verurteilen und das Urteil zu vollstrecken. Nein, letzteres passierte meist ganz von selbst. Sie waren überall, die alten Frauen, auch wenn wir sie nicht sahen. Sie lösten sich irgendwie in der Umgebung auf. Wir nahmen sie nicht wahr. Sie uns hingegen schon.
«Warum warst du nicht in der Schule?», fragte meine Mutter, als ich zur exakt selben Zeit wie sonst immer nachhause kam. «Und woher hattest du Geld für Süssigkeiten?»
Jemand hatte mich gesehen, Frau Huber oder Frau Weber oder das Fräulein Altdorfer. Auf der Strasse, im Krämerladen. Ich hatte sie nicht gesehen.
Es war ein quartierweites Überwachungssystem. Und es kontrollierte keineswegs nur uns Kinder. Ohne diese selbsternannten Sittenwächterinnen hätte meine Mutter vermutlich nie erfahren, dass mein Vater jeden Tag nach der Arbeit im Bahnhofbuffet ein Bier trank, oder zwei, bevor er nachhause kam. Oder dass meine Schwester Anna sich heimlich mit Toni von der Tankstelle traf, der nicht nur älter war als sie, sondern auch ein AUSLÄNDER. Und vermutlich der einzige Mann, den meine Schwester je geliebt hat.
Wäre ich von der Schule geflogen, wenn sich die alten Frauen nicht eingemischt hätten? Hätten sich meine Eltern scheiden lassen? Wäre meine Schwester ins Welschland geschickt worden, wo sie anfing zu kiffen und dann, genau wie in dem Warnfilm, den sie uns in der Schule zeigten, Schritt für Schritt in die Sucht abrutschte?
Diese alten Frauen waren vermutlich jünger als ich jetzt. Was trieb sie an? Und was hatten sie davon?
Jahre später las ich ein Buch, das Klatsch und Tratsch als das einzige Mittel erklärte, mit dem Frauen Einfluss und Macht ausüben konnten. Das hatte offenbar mit den mittelalterlichen Waschweibern angefangen, die die Flecken auf den Leintüchern genau inspizierten und interpretierten. Und ihre Schlüsse erst miteinander besprachen und dann mit der Gemeinde teilten.
Diese Frauen waren gefürchtet. Diese Frauen hatten Einfluss. Nicht offiziell vielleicht, aber doch. Frau Weber, Frau Huber, das Fräulein Altdorfer.
Ich erinnere mich noch, wie toll meine Freundinnen das Buch fanden. «Eine feministische Rehabilitation», sagten sie. Ich konnte das nicht nachvollziehen. «Im Ernst jetzt? Das ist unsere einzige Möglichkeit?»
Heute ist die schmutzige Wäsche überall, in jedem Telefon, in jedem Computer. Jeder kann sie sehen. Und es sind längst nicht mehr nur die Frauen, die sie nutzen, um Macht auszuüben. Heute sind sie wirklich unsichtbar, die Richter und Henker, sie sind anonym. Vielleicht sind es vierzigjährige Männer, die sich im Internet als vierzehnjährige Mädchen ausgeben und andere terrorisieren. Oder in Fallen locken. Oder so erniedrigen, dass sie sich nicht mehr in die Schule trauen. Und sich stattdessen jeden zweiten Tag in der Wohnung ihrer quasi-Grossmutter verstecken.
«Interessant, dabei hab ich doch grad gelesen, dass die jungen Mädchen heute mit elf schon ...», fängt Bettina an. Ich bringe sie mit einem Blick zum Schweigen.
Es heisst, man sagt, ich hab gelesen ...
Genau.
«Und die Eltern?» Melly hatte sich bei der Schulleitung beschwert, welche wiederum auf die Internetplattform verwies, welche sich ihrerseits hinter den Nutzungsbedingungen verschanzte. Das werde vorübergehen, war die offizielle Haltung. Und sonst könne Nia ja die Schule wechseln.
«Als sei sie das Problem!», ereifere ich mich.
«Wir könnten Nia zu uns in die Schreibgruppe einladen und ihr unsere Geschichten vorlesen», schlägt Bettina vor. Ich schnaube nur. Das ist ungefähr das Letzte, was Nia jetzt braucht: noch mehr Leute, die sie nicht kennen und sich in ihr Privatleben mischen. Ich bestelle ein Tiramisu. «Zwei Löffel!»
Am Donnerstag bin ich an der Reihe, der Schreibgruppe ein Thema zu geben. «Eine Rachegeschichte», sage ich. «Ausgangslage: Ein junges Mädchen wird im Internet brutal gemobbt, auf einer Plattform, die vor allem von Jugendlichen genutzt wird. Die Eltern und die Schulleitung können oder wollen nicht helfen. Was nun?»
Das Thema kommt nicht gut an. Deprimierend, langweilig, was hat das mit uns zu tun? Am lautesten stöhnt Carlo, unser Quotenmann und der einzige in unserer Gruppe, der unter vierzig ist. Man würde doch denken, dass er dem Thema noch am nächsten ist. Bettina, die mich am besten kennt, runzelt die Stirn und flüstert «Nia?», aber ich ignoriere sie. Und dann senken wir die Köpfe und Stille tritt ein. Nur das Kratzen von Carlos Füllfederhalter ist zu hören, das heftige Klacken der Tastaturen, die wir wie die mechanischen Schreibmaschinen behandeln, auf denen wir das Zehnfingersystem gelernt haben.
Am Ende der Stunde lesen wir einander unsere Geschichten vor. Aber das hilft mir nicht weiter. Keine ist realistisch. Keine ist durchführbar. Am wenigsten meine: Ich beschreibe eine Gang von älteren Frauen, angeführt von mir. Wir sind die Anti-Waschweiber der Vergangenheit, wir sind die Rächerinnen. Wir tragen unsere alten Lederjacken und Töffstiefel wie Rüstungen, wir haben uns mit Ketten und Schlagringen bewaffnet und marschieren geschlossen auf das Schulhaus zu. Schweigen senkt sich über den Pausenplatz. Bei unserem Anblick beginnen die Schuldigen zu zittern, weinend brechen sie zusammen, geloben Besserung. Ha, ha.
Zuhause suche ich meine alte Lederjacke. Ich hab sie ewig nicht getragen, vielleicht auch verschenkt. Nein, da ist sie, ganz hinten im Schrank, hinter dem Skianzug, den ich auch nicht mehr brauche. Probehalber schlüpfe ich hinein. Sie ist mir jetzt in den Schultern etwas zu weit. Das Leder ist trocken und in den Ellbogen brüchig, die Nieten stumpf. Aber es ist genau wie damals. Sobald ich sie anhabe, fühle ich mich unbesiegbar.
Ich löse eine der Sicherheitsnadeln, mit denen ich sie verziert habe, und befestige einen Zettel daran.
Für dich, Nia, schreibe ich drauf. Und lege die Jacke aufs Sofa.
Als ich am nächsten Tag von meiner Yogastunde zurückkomme, ist sie weg.
MILENA MOSER , geboren 1963, ist eine der erfolgreichsten Schweizer Schriftsteller*innen. Sie hat über zwanzig Bücher, zahlreiche Essays, Artikel, Kolumnen, Hörspiele verfasst. Seit 2004 leitet sie Workshops im kreativen Schreiben in San Francisco, in Santa Fe und in der Schweiz. Mit der Musikerin Sibylle Aeberli wagte sie 2011 mit dem gemeinsamen Programm «Die Unvollendeten» den Sprung auf die Bühne. Die gebürtige Zürcherin lebt in San Francisco.
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Nach der Schreibgruppe gehen Bettina und ich zusammen Pizza essen. Ich erzähle ihr alles. Wie harmlos es begonnen hat, mit Kommentaren, die man so oder so lesen konnte. Mit giftigen Stacheln, die in Komplimente eingewickelt waren. Die Nias Aussehen, ihr Verhalten, vor allem aber ihre Sexualität betrafen. Oder das Fehlen derselben. Nia war komplett unerfahren und hatte auch kein Bedürfnis, das zu ändern. Jedenfalls nicht jetzt. Eine Spätzünderin, hätten wir gesagt. Zu meiner Zeit hätten die alten Weiber das gutgeheissen. Heute reizte es sie zum Angriff. Nicht die alten Weiber. Ich meine, die Jugendlichen. Ich meine, die Roboter. Ich meine, ich weiss nicht wen.
in denken Gegen sätzen denken
Literaturhaus Zürich live und auf der digitalen Bühne
Sept–Okt 2023
12.9. Paolo Giordano
14.9. Isolde Schaad
18.9. Homeira Qaderi
21.9. Gianna Molinari
28.9. Judith Keller
3.10. Ilija Trojanow
12.10. Çiğdem Akyol
25.10. Francesca Melandri
Bonbon Aussenminister
Mein Aussenminister ist mir wichtig. Denke ich an ihn, legt sich ein warmes Gefühl über einen Gegenstand, der mir ohne ihn fern und abstrakt erscheint. Ich bin ein Gymnasiast. Ich ringe mit grossen Fragen. Das Schöne ist: Ich brauche bloss den Fernseher einzuschalten, und schon sehe ich meinen Aussenminister, der dasselbe tut. Selbstlos stellt er sich vor uns hin und formuliert seine Gedanken so, dass ich sie mit auf mein Zimmer nehmen kann. Im Pausenhof am nächsten Morgen vertiefen wir, was er uns gesagt hat. Seine persönliche Energie überträgt sich auf unsere gymnasialen Körper. Politik, das fühlen wir dank ihm ganz deutlich, ist ein uns allen gemeinsamer Gegenstand. Wir formen ihn, so wie er uns formt.
Dass mein Aussenminister in unserem Nachbarland wohnt, stört mich nicht. Eher vertieft es den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen ihm und mir. Einmal sitzen wir zu später Stunde noch draussen vor dem Sevilla. Melancholisch schimmert das dunkelorange Kneipenschild über unseren Köpfen. In der Mitte des Tisches kreisen sechs hartgekochte Eier um eine Streuwürze. Als jemand an meinem Aussenminister zweifelt, rufe ich, dass er ihn nicht verstehe. Und ergänze, dass dieser seinem Wesen nach ein Ketzer sei.
Das Eierkarussell beschleunigt. Ich bestelle mein fünftes Glas Bier. Aussenminister meiner Sehnsüchte, denke ich und fühle, wie dein Geist mich streift. Ein Ketzer? Genau. Denn du bist unterwegs in geheimer Mission. Der Zweck deines Regierens? Dass alles Regieren verschwinde. Dein innerer Antrieb? Dass alle Macht einem umfassenden Geist der Freiheit weiche.
Viele Jahre später bin ich Hausautor an einem Stadttheater. Mein Aussenminister ist längst nicht mehr im Amt. Er schreibt an seinen Memoiren und besucht als Politikberater Bühnen. Manchmal spielt er in einem Werbefilm mit. Da will es der Zufall, dass mein Aussenminister zu einem Podiumsgespräch an unser Theater eingeladen wird. Als mir zu Ohren kommt, dass er bereits am Vorabend eintrifft, lasse ich über die Schauspieldramaturgie anfragen, ob er womöglich für einen Stadtspaziergang zu begeistern sei. Und siehe da: Mein Aussenminister geht auf den Vorschlag ein.
Leider beginnt der Tag mit einem feinen Regenschleier. Ich betrete die Lobby. Die Rezeption telefoniert auf sein Zimmer. Kurz darauf schreitet mein Aussenminister aus dem Lift. Flüchtig reicht er mir die Hand. Gehen wir, sagt er. Ich lasse mich nicht zweimal bitten.
Im Gehen nenne ich ihm meine liebste Vorstadt. Dazu zwei persönliche Stadthöhepunkte: die Reste einer cluniazensischen Klosteranlage sowie das Mühlrad der einstigen Papiermühle. Mein Aussenminister bleibt stehen. Erstmals blickt er mich wirklich an.
Sehr schön, sagt er, und geht sogleich weiter.
Wir schlagen die Mantelkragen hoch. Woher er gestern angereist sei? Abu Dhabi. Jetlag? Kaum.
Die Papiermühle, sage ich, war wichtig für Erasmus von Rotterdam.
Beim Wort Erasmus bleibt mein Aussenminister zum zweiten Mal stehen. Seine Augen leuchten auf.
Erasmus, sage ich, ist im Münster begraben.
Das wisse er natürlich, gibt mein Aussenminister zurück. Und geht weiter.
Eingangs der Vorstadt kommt uns ein Schauspieler auf dem Fahrrad entgegen. Ich signalisiere ihm, dass er weiterfahren soll. Instinktiv ist mir klar, dass ein Zufallsgespräch meinen Aussenminister unangenehm berühren würde. Der Schauspieler lächelt und radelt davon. Er hat verstanden. Freilich ohne zu verstehen, wer da neben mir geht.
Wahrscheinlich, denke ich, dass es im Nachbarland anders ist. Dass man meinen Aussenminister dort unaufhörlich erkennt. Dass man ihm zunickt und stumm staatsmännischen Respekt zollt.
Mein Aussenminister ist vom persischen Golf angereist. Ich versuche, das Gespräch auf den Kronprinzen von Saudi-Arabien zu lenken. Seine Meinung in der Sache interessiert mich.
MBS, sagt mein Aussenminister.
Muhammad bin Salman, bestätige ich.
Wir stehen am Rest der Mauer, die einst das Kloster der Cluniazenser begrenzt hat. Mein Aussenminister schweigt. Verstohlen blicke ich ihm von der Seite ins Gesicht. Er
ist kein schöner Mann. Er erinnert an ein schräg angeschnittenes Stück Wurst. Aber vielleicht liegt das am Regen. Und wahrscheinlich gleichen alle alternden Männer irgendwann einem angeschnittenen Stück Wurst.
Gemeinsam schauen wir die Mauer hoch. Für einen Augenblick drängt die Macht der Geschichte jeden Gedanken an die Gegenwart beiseite. Weit über tausend Abteien hat der Orden der Cluniazenser gezählt. Jede einzelne Abtei war ein diplomatischer Aussenposten burgundischer Herrschaft.
Mein Aussenminister und ich, wir blinzeln in den Niesel. Da raschelt es in einer alten Baumkrone. Ein Vogel hebt ab und zieht direkt über unseren Köpfen zwei Kreise. Als er sich auf die Klostermauer setzt, sehen wir, dass es ein Falke ist.
Wie in einer Fabel blicken mein Aussenminister und ich zum Falken hoch. Ehrfurcht packt uns. Zweifel sind ausgeschlossen: Uns und niemand anderen meint sein strenger Falkenblick.
Hättest du mich in diesem Moment gefragt, ich hätte genickt und geantwortet: Natürlich, der Vogel hält den berühmten Käse im Schnabel. Jawohl, um nichts anderes kann es sich dabei handeln als um die Politik.
Der Weg zur Klosterkirche führt durch den letzten erhaltenen mittelalterlichen Friedhof. An einem Grabstein bleibt mein Aussenminister stehen und seufzt. Ich betrachte die Inschrift genauer.
Hier liegt begraben Margarethe Vischer-Burckhardt nebst Knäblein, heisst es da. Ich denke an die fünf Frauen meines Aussenministers. Meines Wissens sind sie alle noch am Leben. Eine Träne kullert seine Wange hinab. Vielleicht, denke ich, hat auch er einst einen Knaben verloren?
Kurz darauf setzen wir uns auf eine nasse Parkbank. Das Portal der Kirche ragt steil empor. Die Stadt und ihr Treiben sind verschwunden auf dem kleinen Platz. Hinter diesen Mäuerchen lagen früher die Gewürzgärtlein der Mönche. Über den Kräuterbeeten vermischten sich Thymianduft und das Geflüster burgundischer Diplomatie.
Es zieht uns eine Gasse hinab. Wir wirbeln ums Eck. Wir schreiten über einen kleinen Kanal. Und stehen plötzlich wie
eingesponnen in tausend mit Perlen bezogenen Silberfäden. Die Fäden sind fest angebunden an die schäumende Gischt. Am Holz des alten Mühlrades schwebt ein erschöpfter Fleck Moos vorbei. Die Schaufeln drehen. Sie wiegen die Atmosphäre in einem beständigen Rhythmus. Die Wasserperlen? Zeitkapseln voller Geschichte.
Mein Aussenminister und ich: Wir werden verwirbelt von einer humanen Wucht. Ein riesiger Bogen Papier fliegt mir entgegen. Er legt sich über Augen, Mund und Ohren. Ich sehe nichts. Ich höre nichts. Ich kann nicht mehr reden.
Der Bogen ist eine frisch gedruckte Zeitungsseite. Ich bin ein junger Student und sitze am hölzernen Küchentisch meiner ersten Wohnung. Der Boden ist terracottafarbener Klinker. Ich und ein Schulfreund teilen uns drei Zimmer sowie das Abonnement jener Zeitung, die zu unserer Studienzeit als gezielter Anachronismus noch immer in gestrengem Schwarz-Weiss erscheint.
Das Rad der Papiermühle dreht. Bogen um Bogen fliegen die Doppelseiten herein. Zeitungen stapeln sich auf unserem Küchentisch. In den Ecken des Wohnzimmers, neben unseren Betten: kleine Stapel, hohe Stapel. Geschenke schlagen wir in Titelseiten ein. Brate ich scharf an, lege ich Zeitung über die Pfanne, bis sie vor Fett trieft. In meine nassen Schuhe stopfe ich vergangene Tage. Malen und streichen wir, dient die Zeitung als Abdeckung. Unters Bein des wackelnden Bürotisches? Einen Wirtschaftsteil. Verfolge ich Fliegen, drehe ich einen Stock aus ihr. Meine Buchzeichen? Lange Streifen aus dem Feuilleton. Bei Kinderbesuch basteln wir Hüte und Schiffe aus Sonntagsbeilagen. Und überhaupt, am
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Morgen, am Abend, im Park, auf dem Klo, im Kino vor dem Film und vor dem Einschlafen – lesen wir Zeilen, Absätze, nehmen wir Zeitung um Zeitung häppchenweise zu uns.
Meine Zeitung und ich sind eine Liebesgeschichte. Mehr noch: eine Eroberung. Weit vor dem Eintritt ins Gymnasium kaufe ich mir mit meinem Taschengeld meine erste Ausgabe. Wir sind auf Klassenfahrt. Ganz für mich allein setze ich mich in ein Zugabteil. Beine übereinander, dann ruckartig die Zeitung aufgeschlagen, so habe ich es mir abgeschaut. Der Zug gleitet seiner Klassenfahrtbestimmung entgegen. Und ich bin längst mittendrin. Bis zum Umsteigen in Arth-Goldau ringe ich verbissen.
Ich entsinne mich einer körperlichen und geistigen Erschöpfung. Rubriken und Bunde, Zahlenkolonnen aus dem Wirtschaftsteil, Schlagworte, Ländernamen, politische Analysen und das kulturelle Durcheinander eines Feuilletons, von dem ich nicht den geringsten Begriff habe – ungefiltert gerät es in mich hinein. Als ich mit der Klasse aus dem Zug steige, ergeht es mir wie nach dem Verlassen einer Kultstätte. Ich habe geopfert. In erster Linie, wie immer bei religiösen Dingen: meine Zeit. Und natürlich viel guten Willen. Was ich dafür erhalten habe? Rauch, Myrrhe. Und ein Gefühl persönlicher Erwähltheit.
Beide werden wir von weither zurückgeholt, als das Mühlrad aus unerklärlichen Gründen mitten im Lauf scharf innehält. Mein Aussenminister reibt sich die Augen. Die Papiermühle hat ihn verjüngt. Er wirkt schlanker. Sein Anzug, von Anfang an eine Nummer zu gross, hängt an ihm wie das Glitzerpapier am Bonbon. Wir blicken uns
Wir sind für Sie da.
grundsätzlich ganzheitlich
an. In seinen grünen Augen schimmert eine friedfertige Weite. Doch etwas darin will nicht recht stimmen. Täusche ich mich oder bietet sich hier einer tatsächlich als sentimentale Lutschpastille an?
So viel habe ich verstanden: Mein Aussenminister ist einer, der sich an fremde Gräber stellt, um über sich selbst zu weinen. Jetzt aber geht er noch einen Schritt weiter.
Sein Angebot entkräftet mich. Ja, ich habe die spaziergängerische Auseinandersetzung mit ihm gesucht. Aber so etwas?
Nein.
Und nochmals nein. Sage ich zu mir selbst.
Am Ende aber kann ich doch nicht widerstehen. Leicht beuge ich mich vor. Und beginne, ich weiss nicht warum, an ihm zu schlecken.
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JOËL LÁSZLÓ, geboren 1982 in Zürich, schreibt Theaterstücke und Prosa, zudem arbeitet er als Bibliothekar und Übersetzer aus dem Arabischen.
Zuletzt erschien von ihm u.a. das Hörspiel «Am Rande des Untergangs vergnügt sich das Kapital» auf Deutschlandfunk Kultur. Joël László war 2017/18 Hausautor am Theater Basel. Buchhandlung im Volkshaus
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Rätseln und gewinnen
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Die 25 positiven Firmen
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.
Beat Vogel - Fundraising-Datenbanken, Zürich
Buchhaltungsbüro Balz Christen, Dübendorf
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Ref. Kirche, Ittigen
Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti
Benita Cantieni CANTIENICA®
Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich
Madlen Blösch, Geld & so, Basel
Breite-Apotheke, Basel
Spezialitätenrösterei derka ee, derka ee.ch
Boitel Weine, Fällanden
Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim
Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden
Kaiser Software GmbH, Bern
InoSmart Consulting, Reinach BL
Maya-Recordings, Oberstammheim
Scherrer & Partner GmbH, Basel
BODYALARM – time for a massage
EVA näht: www.naehgut.ch
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SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA
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Wie wichtig ist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?
Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.
Eine von vielen Geschichten
«Noch nie habe ich irgendwo länger gearbeitet als bei Surprise» sagt Roberto Vicini. Seit über 15 Jahren verkauft der 61-Jährige das Strassenmagazin in der Zürcher Innenstadt. Dabei nimmt er sich gerne Zeit für einen Schwatz und steckt seine Kundschaft mit seinem Lachen an. Er braucht nicht viel, lebt sehr bescheiden. Dennoch ist Roberto Vicini froh um die zusätzliche Unterstützung im SurPlus-Programm. Er ist viel mit dem ÖV unterwegs, um an seinen Verkaufsplatz zu kommen. «Obwohl es nur kurze Strecken sind, schlägt der Ticketpreis schnell auf mein kleines Budget». Neben dem Abonnement für den Nahverkehr erhält der Surprise-Verkäufer zudem 25 bezahlte Ferientage und ist bei Krankheit sozial abgesichert.
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Derzeit unterstützt Surprise 29 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.
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#552: Enormes Potenzial, keine Chance «Jugend – Jugendliche: aber ohne Mädels»
Die Wahrnehmung im Untertitel reiht sich in eine mindestens fünfhundert Jahren alte Tradition. Die Ausdrücke «Jugend» und «Jugendliche» werden verwendet, dabei handelt es sich ausschliesslich um Jungs. In einer einzigen Gruppenfoto kommen Mädels vor, im Text nicht. Schon Urs Graf (Schweizer Künstler um 1500) betitelte eine Zeichnung eines nackten Knaben als «Kind». Wie soll das Bewusstsein von Gleichwertigkeit entstehen, wenn auch der SurpriseRedaktion die Unstimmigkeit nicht auffällt?
ISABELLE WANNER, Baden
Anm. d. Red.
Tatsächlich fokussiert die Geschichte und die Bildauswahl auf männlich gelesene Protagonisten. Es ist eine Realität, dass ein männlicher Fotograf in einem solchen Setting leichter Zugang zu Jungs findet. Andererseits wird auch deutlich, dass es ein Langzeitprojekt ist und dies nur ein Ausschnitt. Surprise hat den publizistischen Anspruch, die Welt in all ihren Facetten zu zeigen und Diversität sichtbar zu machen. Dies geschieht jedoch nicht immer in allen Beiträgen, sondern in Hinblick auf die gesamte publizistische Arbeit.
#Strassenma g azin «Verletzt»
Ich finde das Surprise etwas sehr Gutes und Nötiges. Was mir nicht gefällt, ist, dass Sie den Genderstern anwenden. Muss dieser Unsinn mitgemacht werden? Surprise ist eine mutige Zeitung, aber dass dieser Stuss auch bei Ihnen Einzug gehalten hat, irritiert mich. Es ärgert mich, diese «Schwul ist cool»-Mentalität! Wir als Gesellschaft haben grössere Probleme und sollten uns nicht mit solchen Eigendünkel-Problemen herumschlagen. Auch verletzt diese Gendersprache das religiöse Empfinden aller derer, die an den Gott der Bibel glauben. Und dazu zähle ich mich auch.
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556/23
«Vermutlich bin ich längst ein Europäer»
«Ich komme aus Gambia, aufgewachsen bin ich in einer Kleinstadt im Landesinneren. Mein Vater arbeitete einige Jahre in Nigeria und auf Madagaskar, dann kehrte er in seine Heimat zurück und wurde Viehzüchter. Ich habe acht Geschwister, drei Schwestern und fünf Brüder. In unserer Stadt gab es keine Schule, die nächste war einige Stunden entfernt. So habe ich in meiner Kindheit weder Lesen noch Schreiben gelernt.
Schon als Bub musste ich aus Gambia fort, meine Eltern meinten, ich hätte es besser in Spanien, wohin ein Onkel von mir ausgewandert war. So kam ich nach Barcelona. Weil das Geld knapp war, musste ich schon früh arbeiten, hatte mal hier einen Job, mal dort. Dann wurde ich in der Metallindustrie angestellt, in dieser Branche blieb ich fast zwanzig Jahre. Die Arbeit war hart, aber man konnte gutes Geld verdienen, jedenfalls für meine Verhältnisse: 1600 Euro im Monat. Weil ich inzwischen geheiratet hatte, konnte ich dieses Geld gut gebrauchen. Ich ging immer wieder für ein, zwei Monate nach Gambia zurück. So lernte ich meine Frau kennen, sie stammt aus der Region, in der ich aufgewachsen war. Wir haben inzwischen vier Kinder.
Dann kam die grosse Wirtschaftskrise, das war um 2012. Unsere Firma kam in immer grössere Schwierigkeiten und musste Leute entlassen. Ich hatte damals Glück, aber ein paar Jahre später war es so weit: Die Firma machte Konkurs und ich stand ohne Arbeit und Geld da. Wie weiter?
Freunde von mir erzählten von der Schweiz, da sollte es noch genügend Arbeit geben. Also machte ich mich 2017 mit dem Zug von Barcelona nach Genf auf. Dort traf ich auf Leute, die ebenfalls aus Westafrika kamen und sich hier schon ein wenig auskannten. Sie brachten mich in Kontakt mit einer Organisation, die Geflüchtete unterstützt. Von ihnen bekam ich den Rat, mich bei den Ämtern zu melden und dann nach Lausanne zu fahren, um Arbeit zu suchen. Dort übernachtete ich immer wieder mal in der Notschlafstelle und nahm Gelegenheitsjobs an, mal auf dem Bau, mal auf den Feldern.
Weil ich nach all den Jahren in Spanien einen gültigen EU-Pass hatte, war es für mich bestimmt einfacher, hier Fuss zu fassen als für andere, die als Flüchtlinge hierherkommen; inzwischen habe ich den B-Ausweis. Jedenfalls brachte mich meine Arbeit von Lausanne über Umwege nach Basel. Dort lernte ich einen Mann aus Gambia kennen; von ihm hörte ich von Surprise und dass ich mich doch bei dem Verein melden solle.
Und so verkaufe ich seit nun schon fünf Jahren das Strassenmagazin. Das hat mir gerade am Anfang sehr geholfen: Ich wurde bei Surprise jederzeit unterstützt, konnte viele Kontakte knüpfen und allmählich die deutsche Sprache lernen. Ich
glaube, ich bin ein recht guter Verkäufer, jedenfalls arbeite ich hart. Daneben verdiene ich Geld in einer grossen Kantinenküche in Kleinbasel. So kann ich die Miete bezahlen, Essen und Kleider und vor allem für meine Familie in Gambia etwas auf die Seite legen. Abends bin ich oft allein. Dann koche ich mir etwas – manchmal so viel, dass es für zwei, drei Tage reicht –, lege mich hin und lese in einem Buch.
Zurück nach Gambia? Nein, das könnte ich mir nicht mehr vorstellen. Ich habe den Grossteil meines Lebens in Europa gelebt, erst in Spanien, jetzt in der Schweiz. Meine Mentalität ist inzwischen ganz anders als jene meiner Verwandten und Freunde in Gambia. Vermutlich bin ich schon längst Europäer geworden.
Natürlich vermisse ich meine Kinder und meine Frau. Und es ist mein Traum, dass sie eines Tages zu mir in die Schweiz ziehen. Doch jetzt ist noch nicht die Zeit dazu, denn die Schweiz ist sehr teuer und ich möchte gerne auf eigenen Füssen stehen können. Mit dem Geld, das ich nach Gambia sende, kann ich meinen Kindern eine gute Schulausbildung ermöglichen, und das ist das Wichtigste. Sie sollen, anders als ihr Vater, Lesen und Schreiben lernen, damit sie eine gute Basis haben fürs weitere Leben.»
JEDEN FRANKEN WERT.
Das Strassenmagazin Surprise für CHF 8.–
Menschen in prekären Verhältnissen leiden gerade besonders unter steigenden Preisen. Surprise reagiert und erhöht am 8. September erstmals seit 14 Jahren den Heftpreis um zwei Franken.
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