Strassenmagazin Nr. 557 25. Aug. bis 7. Sept. 2023
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Palästina
Die neuen Märtyrer Sie sind jung, haben kaum Perspektiven. Im Westjordanland wächst der Widerstand gegen die israelische Besatzung und die eigene Regierung. Seite 14
Kultur
Solidaritätsgeste
Kultur
Solidaritätsgeste
STRASSENCHOR STRASSEN-
CAFÉ SURPRISE CAFÉ SURPRISE
CHOR
Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Sozialwerke Entlastung Sozialwerke
BEGLEITUNG UND BEGLEITUNG BERATUNG UND
Unterstützung Unterstützung
Zugehörigkeitsgefühl Zugehörigkeitsgefühl
Entwicklungsmöglichkeiten Entwicklungsmöglichkeiten
BERATUNG
Job
Expertenrolle
Job
Expertenrolle
STRASSENMAGAZIN STRASSENMAGAZIN
STRASSENFUSSBALL STRASSEN-
Erlebnis Erlebnis
FUSSBALL
SOZIALE STADTRUNDSOZIALE GÄNGE STADTRUNDGÄNGE
Information
Perspektivenwechsel Perspektiven-
Information
SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT
wechsel
Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN 0900 0000 1255 1455 3 wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen inCH11 der Schweiz. Unser Angebot und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3
BETEILIGTE CAFÉS
Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.
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Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise
TITELBILD: KLAUS PETRUS
Editorial
Auf sich gestellt Sie sind palästinensische Teenager und tragen Abschiedsbriefe bei sich, sollten sie von den Israelis getötet werden. Es sind Zeilen der Verzweiflung, aber auch der Wut. Einer von ihnen ist Omar, 14, der bei sich zuhause in Bethlehem während einer Razzia von einem israelischen Soldaten erschossen wurde. «Vergib mir, Mutter, und weine nicht», so lautete die erste Zeile von Omars Brief. Dabei wusste seine Mutter von nichts, weder von diesem Brief, den er schon Monate lang bei sich trug, noch was im Kopf ihres Sohnes vor sich ging. Heute macht sie sich Vorwürfe: «Habe ich mich zu wenig gekümmert um ihn?» «Wir sind allein, keiner hilft uns», sagt Jamal, Omars bester Freund. Wo sie aufwachsen, gibt es kaum Perspektiven, der «Erzfeind Israel» scheint auf immer in ihren Köpfen zu sein und die Passivität der eigenen Leute, zumal der älteren, stösst ihnen auf: «Wieso lasst ihr das alles mit euch geschehen?», fragen sie, durchaus
4 Aufgelesen 5 Na? Gut!
Pakistanische Brote 5 Vor Gericht
Coppin vs. Ireland 6 Verkäufer*innenkolumne
Familiennachzug 7 Moumouni antwortet
Womit sollten wir aufhören?
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8 Abschied
Herr Tielemann macht weiter
vorwurfsvoll. Einfach dasitzen und nichts tun, das könnten sie nicht, sagt Jamal entschlossen. Wie weit die Jungen bereit sind zu gehen, lesen Sie ab Seite 14. Auf sich gestellt ist auch Herr Tielemann, Anfang 80. Viele Jahrzehnte lebte er Seite an Seite mit seiner Frau, jetzt ist sie in einem Pflegeheim, kann sich weder bewegen noch reden. Als Herr Tielemann realisierte, dass er sie allmählich loslassen musste, verlor er erst den Boden unter den Füssen, dann lernte er zu akzeptieren, was unwiderruflich ist. Schritt um Schritt kehrte er ins Leben zurück, ging an ein klassisches Konzert, machte kleine Ausflüge, begann Badminton zu spielen, und neuerdings macht er Linedance – ein Tanz ohne Partner*in zwar, dafür mit viel Spass, wie Herr Tielemann sagt. Mehr über diese besondere Liebesgeschichte ab Seite 8. KL AUS PETRUS
Redaktor
14 Palästina
Omars letzte Zeilen 22 Kino
Fragmente der jenischen Identität 24 Buch
Im Schulzimmer angekommen 25 Buch
Geraubte Freiheit 26 Veranstaltungen
27 Tour de Suisse
Pörtner in Münchenstein 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Nachruf
Der Blick für die schönen Momente
3
Aufgelesen
News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Eine Puppe im Wandel der Zeit Wussten Sie, dass nach wie vor jede Minute weltweit 100 Barbie-Puppen verkauft werden? Als Barbie 1962 auf die Welt kam, war sie blond, hatte einen Pferdeschwanz und gelockten Pony, volle Lippen, auffallend lange Wimpern sowie Proportionen, die mehr der männlichen Phantasie entsprechen als den tatsächlichen Massen einer Frau – weswegen Barbie schon früh feministische Kritik erfahren musste. Dabei sah ihre Erfinderin, die Amerikanerin Ruth Handler, Barbie bewusst als Alternative zu den damaligen Babypuppen, sie schneiderte ihr Berufskleidung (darunter Männerberufe) sowie einen Doktorhut. Überhaupt wurde Barbies Wandel über die Jahrzehnte hinweg zum Spiegel gesellschaftspolitischer Entwicklungen. So gibt es Barbies in verschiedenen Haar- und Hautfarben, unterschiedlichen Körpermassen, Barbies mit jüdischen Ritualgegenständen und solche mit Hidschab, und auch mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten aus Politik, Sport, Kultur und Wissenschaft tauchen regelmässig als Barbie auf – wie zuletzt die berühmte Primatenforscherin Jane Goodall.
BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE
4
Wohin geschaut wird Nur 6 Prozent aller Einkommensmillionär*innen in Deutschland wurden letztes Jahr vom Finanzamt überprüft, das sind 870 Steuerzahler*innen. In drei von vier Fällen gab es eine Nachforderung, pro Prüfung wurden im Schnitt 109 000 Euro fällig. Ganz anders sieht es bei den Bürgergeld-Be ziehenden aus, wie die «Grundsicherung für Arbeitssuchende» in Deutschland neu heisst. Hier wurden von durchschnittlich 5,2 Millionen Bezüger*innen 1,2 Mil lionen Fälle mittels standardisier tem Datenabgleich zwischen Jobcenter und anderen Behörden überprüft. Der Ertrag pro über- prüften Fall betrug hier im Schnitt 273,50 Euro. Die Zahl der überprüften Einkommensmillionär*innen sank in den letzten zehn Jahren stetig.
HINZ & KUNZT, HAMBURG
Cool and dirty Engagierte Surfer haben in Brighton einen Protest gegen die zunehmende Verschmutzung britischer und internationaler Gewässer veranstaltet. 2022 wurden 389 000 Vorfälle von Einleitung ungeklärten Abwassers in britische Wasser wege registriert, 75 Prozent der britischen Flüsse stellen ein ernst zunehmendes Risiko für die menschliche Gesundheit dar (und sicher auch für die tierliche), 5000 Mal wurde Abwasser an Stellen eingeleitet, die zum Baden vorgesehen sind. Die Organisation Surfers against Sewage fordert, ab spätestens 2030 keine ungeklärten Abwässer mehr in Badege wässer zu entlassen. Derweil hat ein Austernfarmer die britische Regierung verklagt und fordert eine Vorverlegung des Stopps für Wasserversorger, Abwässer in öffentliche Gewässer zu entsorgen – derzeit ist die Deadline das Jahr 2050.
THE BIG ISSUE, LONDON
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Na? Gut!
Pakistanische Brote Ein deutscher Bäcker wollte eine freie Stelle in seiner Bäckerei besetzen. Doch weil er niemanden fand, wandte er sich an eine regionale Arbeitsvermittlung und schliesslich interessierte sich ein Geflüchteter für den Job. Der neue Mitarbeiter aus Pakistan hatte Lust, in der Bäckerei pakistanische Rezepte auszuprobieren. Erst zögerte der Chef, doch dann stimmte er der Idee zu. Nicht nur lernte er von seinem Mitarbeiter neue Techniken, auch gehören einige der Rezepte inzwischen zu den meistverkauften Produkten der Bäckerei. Das Beispiel stammt von Wirtschaftsprofessor Robin Pesch und seiner Forschung zur Arbeits platzintegration von Geflüchteten an der Northumbria University im englischen Newcastle. Pesch sieht im Einstellen von Geflüchteten ökonomische Vorteile für Unternehmen, gerade wenn in vielen Branchen Arbeitskräfte fehlen. Ein deutsches Maschinenbauunternehmen beispielsweise entwickelte ein Berufsbildungsprogramm, das explizit Geflüchtete anspricht. Die Perspektiven, Erfahrungen und Fähigkeiten, die Geflüchtete ein bringen, förderten ein innovatives und kreatives Arbeitsumfeld, ar gumentiert Pesch. Eine Führungskraft einer deutschen Bank sagt: «Die Beschäftigung von Geflüchteten wirkte wie ein Katalysator, der Diskussionen auslöste und zum Nachdenken darüber anregte, wie wir miteinander umgehen wollen.» LEA
An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen. Quelle: Auf theconversation.com schreiben Wissenschaftler*innen und Journalist*innen forschungsbasierte News und Analysen. Surprise 557/23
Vor Gericht
Coppin vs. Ireland Selbst vor ihrem Mann verheimlicht sie jahrzehntelang die Erinnerungen an die Misshandlungen. Die Angstzustände, die Selbstmordgedanken. Dann sagt sich die heute 74-jährige Elizabeth Coppin: «Ich muss etwas tun, sonst vergeht dieser Schmerz nie.» Sie erstattet Anzeige. Zwölf Jahre habe sie in Irlands staatlich finanzierten, aber religiös geführten Waisenhäusern zugebracht. Sie sei von Nonnen misshandelt worden, nackt ausgezogen und bis zur Ohnmacht versohlt. Nässte sich ein, musste die nassen Hosen auf dem Kopf tragen. Mit 14 habe man sie in die Magdalenenwäschereien gebracht. Dort sei sie vier Jahre lang gezwungen worden, ohne Lohn zu arbeiten. «Ich brauche Antworten», sagte sie der Polizei. Das war 1997, der Anfang ihrer Suche nach Gerechtigkeit. Von der Polizei hört sie: nichts. Eine spätere Zivilklage: abgewiesen. Bis heute kämpft Coppin dafür, dass ihre Geschichte offizielle Geschichte wird. Zuletzt vor dem UN-Antifolter-Ausschuss. Etwa 10 000 Frauen – «Maggies» – wurden bis 1996 in den Magdalenenwäschereien wie Sklavinnen gehalten. Ursprünglich als Zufluchtsort für Prostituierte gedacht, fügten sie sich in Irland nahtlos ins institutionelle Netz des erzkatholischen Landes. In den Wäschereien verschwanden ungewollte Frauen, auch unverheiratet Schwangere. Sie wuschen die Dreckwäsche der Armee, von Spitälern und Hotels. Lange sah sich der Staat nicht in der Verantwortung; die Wäschereien seien privat gewesen. Eine Untersuchung erfolgte erst
2013, diese stellte fest: Folter oder erniedrigende Behandlung gab es in den Wäschereien nicht. Immerhin wird eine «erhebliche staatliche Beteiligung» eingeräumt: Die Wäschereien erhielten Staatsaufträge, ohne dass sie Mindestlöhne oder Sozialleistungen zahlten. Entschädigt wurden die Maggies erst, als sie mit Hungerstreik drohten. Die Zahlungen erfolgten unter dem Vorbehalt, dass die Frauen auf ihre Prozessrechte verzichteten. Elizabeth Coppin wehrt sich: Damit würden die Menschenrechtsverletzungen nicht berücksichtigt, schreibt sie den Behörden. Denn: Was ist erniedrigende Behandlung, ja Folter, wenn nicht das, was ihr widerfahren ist? Sie erhält nur Absagen und akzeptiert schliesslich die Entschädigung – bringt die Wäschereien aber wieder vor den Antifolter-Ausschuss. Mit der Weigerung des Staats, die Verletzungen ihrer Menschenrechte anzuerkennen, verletze er diese weiterhin. Doch der beharrt darauf: Die geschilderten Taten erreichten nicht das nötige Mass an Grausamkeit, um als Folter oder unmenschliche Behandlung definiert zu werden. Coppins Klage sei ein Relikt aus einer vergangenen Zeit: Unmöglich, die Geschehnisse nach heutigen Rechtsnormen zu beurteilen. In seinem Entscheid stellt der Antifolter-Ausschuss im Mai 2023 fest, dass sich Irland in Coppins Fall ausreichend um Gerechtigkeit bemüht habe. Einig ist man sich im zehnköpfigen Gremium aber nicht. Drei Mitglieder sagen: Die Crux bleibe die mangelhafte Aufklärung der glaubhaften Verdachtsmomente auf Folter. Werde den Überlebenden die Wahrheit verweigert, schliesse man sie auf Lebzeit in ihren Schmerz ein. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich. 5
Verkäufer*innenkolumne
Familiennachzug Ich ging zu einem Anwalt, weil ich ein Gesuch gestellt hatte, damit meine Mutter in die Schweiz kommen darf. Als Erstes musste ich 1500 Franken bezahlen, damit er sich der Sache überhaupt annahm. Schliesslich teilte er mir mit, das Gesuch werde abgelehnt, obwohl ich mich verpflichtet hatte, für meine Mutter zu sorgen. Es sei nicht sichergestellt, dass ich auch in Zukunft für sie sorgen könne, in fünf oder zehn Jahren. Ich habe gedacht, weil ich inzwischen Schweizer Bürgerin bin, wäre es einfacher, meine Mutter zu mir zu holen. Ich habe erklärt, dass ich mein eigenes Geld verdiene, mit Surprise-Verkäufen, und meine Kinder mich auch dabei unterstützen würden, für meine Mutter zu sorgen. Ich habe zudem mehrere Schweizer Freund*innen, die mir schriftlich bestätigt haben, dass sie mir helfen würden. Das Seltsame war, dass man mir mitgeteilt hat, dass das Ganze kein Problem wäre, wenn ich EU-Bürgerin wäre, selbst wenn ich in der Schweiz leben würde. Für Schweizer*innen gilt das anscheinend nicht. Das hat mich sehr überrascht.
ILLUSTRATION: ANDRI GOTSCH
Als meine Mutter noch gesund war, wollte sie schon in die Schweiz kommen. Sie ist inzwischen 75 Jahre alt. Nachdem ihr zuerst der Arm amputiert wurde, brachte ich sie in die Türkei, aber die Behandlung dort war zu teuer, und so musste sie zurück nach Somalia. Für sie ist es schwierig, alleine zu leben. Zudem hatte sie noch Bombensplitter in den Beinen und ist zuckerkrank. Wenn ich sie damals schon hätte in die Schweiz holen können, hätten diese wohl entfernt werden können. In
Somalia wurde ihr auch noch das Bein amputiert, auf derselben Seite wie der Arm. Darum will ich sie unbedingt bei mir haben, damit ich mich um sie kümmern kann. Die Lage in Somalia ist sehr schwierig. Sie war in Somalia in einem Pflegeheim untergebracht, das 800 Franken im Monat kostet. Weil dort ein verletzter Militär behandelt wurde, wurde es von der islamistischen Al-Shabaab-Miliz attackiert. Wer flüchten konnte, floh. Meine Mutter konnte natürlich nicht fliehen. Ich musste nach Somalia reisen, um sie dort rauszu holen. Jetzt ist sie in einem Dorf etwa sieben Kilometer von Mogadischu, bei Verwandten. Für mich ist das sehr schwierig, weil ich eine behinderte Tochter habe, um die ich mich kümmern muss. Darum kann ich nicht immer nach Somalia reisen, wenn etwas mit meiner Mutter ist, das belastet mich sehr. Ich weiss nicht, wie lange sie noch lebt, und hoffe doch immer noch, dass es irgendwie eine Möglichkeit gibt, dass sie bei uns leben kann und andere Menschen in derselben Lage nicht dieselben Probleme bekommen, die ich habe.
SEYNAB ALI ISSE, 51, verkauft Surprise am Bahnhof Winterthur. Auch die Caritas hielt bereits 2017 fest, dass Schweizer*innen, die ihre Familienmitglieder aus einem Drittstaat in die Schweiz nachziehen möchten, schlechter gestellt sind als in der Schweiz lebende EU-Bürger*innen, welche dem Freizügigkeitsabkommen unterstehen. Die Schweiz stellt eine restriktive Einwanderungs politik damit über das Recht auf Familienleben. Seynab Ali Isses Mutter ist am 3. Juni dieses Jahres gestorben.
Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL
den. Es war eine bedrohliche Situation, mit riesigem Messer – so bedrohlich, dass ich die Tragweite nicht ganz verstand und überlegte, ob ich vielleicht fragen sollte, ob ich meine Daten anderweitig speichern dürfe, bevor ich das Handy abgäbe, weil es schade um die Fotos sei. Stattdessen liess ich mir bereitwillig das gute Stück, von dem ich hinterher behauptete, «mein ganzes Leben» sei da rauf gewesen, aus der Hand reissen. Ich habe eine Freundin, deren Leben wirklich ihr Handy zu sein scheint. Als ich mal in Berlin hängengeblieben bin und keine Unterkunft hatte, reichte eine Nachricht – sie schrieb mir in nerhalb von 30 Sekunden zurück –, und ich durfte bei ihr übernachten. Unser Wiedersehen begann damit, dass sie filmte, wie ich aus dem Zug stieg. Bevor wir uns umarmten, drehte sie die Han dykamera und erzählte dieser, wie glücklich sie war, mich zu sehen.
Moumouni antwortet
Womit sollten wir aufhören? Ich liege auf einer Massageliege und bin angespannt. Die Masseurin knetet meine Schultern. Plötzlich vibriert es neben meinem Kopf. Sie nimmt den Anruf entgegen, sagt, dass sie gerade nicht kann, und legt das Handy dann wieder neben meinen Kopf, wo ich im 30-Sekunden-Takt vernehme, dass ihr wer schreibt. «Ich will ja nicht unhöflich sein, aber …», denke ich mir und weiss nicht, wie ich ihr erklären soll, dass das absolut nicht ok ist, während der Arbeit und während ich mich entspannen will und überhaupt. Ich entspanne mich einfach selbst beim Gedanken daran, dass ich grad neulich wenigstens herausgefunden habe, wie man Leuten klarmacht, dass man nicht notwendigerweise über fünfzehn bis unendlich viele Fotos von Urlaub/ Baby/Katze sehen will, ohne dass die Absenderin beleidigt ist. Anscheinend hilft es, laut anzukündigen, man wolle Surprise 557/23
genau drei Bilder sehen und dann – sollten doch mehr kommen – das eigene Handy in die Hand zu nehmen und anzufangen, abwesend zu scrollen. Handys retten Leben! Auf die verschiedenste Art, deshalb sollte man sie nicht verteufeln. Mein Smartphone fordert mich zum Beispiel regelmässig dazu auf, meine Gesundheitsdaten einzugeben, damit es mich bei einem Notfall besser retten kann. Ich war schon an Orten unterwegs, an denen ausschliesslich der Handy gebrauch auf offener Strasse ein Indikator dafür war, wie sicher das Quartier ist: Haben die Einheimischen ihr Handy auf der Strasse in der Hand, ist es sicher. Wenn aber niemand Selfies macht, den Weg, den Börsenkurs oder das Wetter nachschaut, ist Vorsicht vor Taschendieben und Überfällen geboten. Mir ist tatsächlich mal ein Handy geraubt wor-
Im Laufe des Abends filmte sie unsere Gespräche, Witze und Blödeleien und wollte jeweils, dass wir das Video unmittelbar danach zusammen anschauten. Ein paar Videos mussten wir sogar mehrere Male anschauen, weil sie so witzig waren. Ich habe ihr gesagt, dass ich das komisch finde, und fühlte mich dabei wie ein Alien, aber sie hörte nicht auf. Während sie mich geschäftig und selbst verständlich ungefragt auf Instagram verlinkte, ihrem neuen Freund unsere Videos zum Mitlachen schickte und nach Filtern suchte, die am besten verschlei erten, wie fotomüde ich war, fragte ich sie, ob sie an Edward Snowden glaube, um mal wieder ein Gespräch anzufangen. Sie sagte, sie sei da Agnostikerin, sie habe ja nichts zu verstecken. Dann zeigte sie mir endlich, wie ich meinen Kopf in die Kamera halten muss, damit ich besser und ausserdem weniger wie ein Boomer aussehe.
FATIMA MOUMOUNI
ist schon häufig als Boomer bezeichnet worden. 7
Einfach weitermachen Abschied Wilfried Tielemanns Frau lebt in einem Heim. Er selbst ist
noch fit und muss ohne sie klarkommen. Eine Liebesgeschichte. TEXT LINDA TUTMANN
Vor Kurzem hat er ihre Kleider durchgesehen. Das Sommerkleid mit den Blumen, die Strickkleider für den Winter, ihre Blazer und Hosen. Eine ganze Schrankhälfte voller Stoff gewordener Erinnerungen. Ein Kleid hat er vorne über einem Bügel an die Stange gehängt. Blau, mit weissen Längsstreifen. Ihr Lieblingskleid, sie habe es rauf und runter getragen, sagt Tielemann. Er sagt, er wolle bald alles weggeben, nur dieses wolle er behalten. Sie soll es bei ihrer Beerdigung tragen. Wilfried Tielemann ist ein grosser Mann, 82 Jahre alt. Vor dem Besuch hatte er am Telefon gesagt: Ich putze aber nicht extra für Sie. Dann ist es in seiner Wohnung in Hannover-Ahlem, im Norden der Stadt, doch so sauber, als sei noch am Morgen gewischt worden. Früher, sagt er, sei es seine Frau gewesen, die ständig geputzt habe, alle paar Tage Staubwischen, einmal die Woche Saugen. Warum machst du das so oft, habe er sie gefragt. Heute weiss er, warum. Er weiss überhaupt jetzt viel mehr als früher. Am Kühlschrank pinnt ein Foto – vier Jahre ist es alt. Da ist er runder, und er hält seine Frau im Arm. Sie sehen ein bisschen aus wie ein rüstiges Paar aus einem Reisekatalog: Heidi und Wilfried Tielemann, damals 77 und 78 Jahre alt. Sie stehen an einer Reling, hinter ihnen das Meer, der Himmel ist blau. Inzwischen ist es Herbst 2022, durch die Fenster sieht man Rosen, noch von ihr gepflanzt, ein Stück Wiese. Herr Tielemann lebt in einer Wohnung im 8
FOTOS ROMAN PAWLOWSKI
Souterrain, ein rotes Klinkerhaus aus den Siebzigerjahren, mit kleinen Fenstern. Vier Zimmer, Küche, Bad. Er lässt sich jetzt auf einem Stuhl am Esstisch nieder, wie sich nur alte Menschen setzen, vorsichtig, als könne jeden Moment jemand den Sitz wegziehen. Herr Tielemann war Maschinenschlosser, seit 27 Jahren ist er Rentner, seit drei Jahren ist seine Frau in einem Pflegeheim, Pflegestufe 5. Die höchste Stufe. Sie kann nicht mehr selbst essen, kann nicht mehr aufstehen. Dort, wo früher ihr Teller stand, liegen nun drei Ordner, randvoll mit Papieren. Rechnungen, Arztberichten, Briefen der Krankenkasse. Ihr Leben in drei grauen Aktenordnern, Pflege 20, Pflege 21, Pflege 22. Es habe vor fünf Jahren begonnen, da habe das Herz seiner Frau das erste Mal Probleme gemacht. Vorhofflimmern. Die Ärzte verschlossen das sogenannte Vorhofohr mit einem Schirmchen, damit sich dort kein Blut sammeln, gerinnen und in der Folge einen Schlaganfall auslösen kann. 2018 dann der Herzschrittmacher. Am Morgen des 30. September 2019 schliesslich machte ihr Herz erneut nicht mehr mit, das Schirmchen vor dem Vorhofohr war verrutscht. Blut hatte sich im Vorhof gesammelt, und Heidis Herz war zu schwach, um es richtig durch die Adern zu pumpen. Das Gerinnsel, das sich bildete, unterbrach die Blut- und Sauerstoffversorgung ihres Gehirns. Mir ist so schwindelig, habe sie ihm zugerufen, als er gerade in Surprise 557/23
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«Sorg für dich», sagt seine Tochter zu ihm. «Du musst fit beiben und 9 für Mama da sein.»
der Küche das Geschirr vom Frühstückstisch abräumte. Und weg war sie. So erzählt er es. Tielemann wählte 112. Ein Krankenwagen nahm seine Frau mit. Eine Woche lang war sie bewusstlos, es kam zu einer Hirnblutung. Die Ärzte operierten sie mehr als drei Stunden lang. Die halbe Hirnschale wurde ihr abgenommen. Später wollten sie sie wieder einsetzen, dann hiess es: Das Risiko einer erneuten Operation sei zu gross. Auf seinem Handy hat Herr Tielemann die Stationen festgehalten. Seine Frau auf der Intensivstation, im Koma. Mit einem weissen Knäuel Mull im Mund, damit sie nicht auf die Sonde beisst, der halbe Kopf rasiert. Vier Wochen Krankenhaus. Dann Reha. Am 19. Dezember, sie war noch in der Rehaklinik, erhielt Herr Tielemann einen Brief von Heidis Krankenkasse. Dort stand etwas von der Einstufung in den Pflegegrad, von Potenzial, auf das es ankomme, von Selbständigkeit und Fähigkeit zur Teilhabe. Da habe er begriffen, dass Heidi in Zukunft nicht mehr dieselbe sein würde. Und dass das gemeinsame Leben vorüber war. Heidis neues Zuhause von da an: Zimmer 207 im Pflegewohnstift Hannover-Davenstedt, zweiter Stock, rechts den Flur runter. Zehn Minuten zu Fuss von der Wohnung entfernt. Die Wände sind weiss, keine Fotos. «Bringt ja nichts», sagt Herr Tielemann. Am Anfang habe er gedacht, dass er Heidi vielleicht zu Hause pflegen könnte. «Wie
«Das war Heidi. Immer grosszügig, nie neidisch oder eifersüchtig.» Tielemanns auf Kreuzfahrt. 10
wollen Sie das denn machen?», habe der Arzt ihn gefragt. «Ihre Frau braucht rund um die Uhr drei Leute. Wo sollen die denn alle schlafen?» Mitte Januar wurde sie begutachtet: «(...) Frau Tielemann liegt in Seitenlage im Bett, sie ist somnolent und kann nicht erweckt werden, kurzfristig werden die Augen bewegt und geöffnet, fixiert wird nicht. (...) Es bestehen Beeinträchtigungen: der Orientierung (…), der Gedächtnisleistung (...), der Wahrnehmung und des Denkens (…).» Letzte Station war immer Soulac-sur-Mer Kennengelernt haben sie sich 1959 in der Tanzschule. Dort tanzten sie Rumba, Walzer, Cha-Cha-Cha. Erst mit anderen, dann nur noch zusammen. Ihr blonder Zopf, hoch am Kopf zusammengebunden, habe ihm gefallen. «War ja damals modern», sagt er. Herr Tielemann war 19 Jahre alt und machte gerade seine Ausbildung zum Maschinenschlosser, Heidi war ein Jahr jünger und stand kurz vor dem Abitur. Am 19. Mai 1964 heirateten sie im Standesamt in Hannover, am 15. August kirchlich. Am 1. Mai 1965 wurde ihre Tochter geboren. Später besuchte Tielemann die Techniker-Schule, seine Frau arbeitete als Beamtin beim Steueramt. «Wir sind beide rationale Menschen», sagt er. «Keine grossen Liebesschwüre, das brauchten wir nicht.» Sie schliefen jahrelang in getrennten Schlafzimmern, weil
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«Gestern abend war ich beim Badminton. Sind jetzt auch ein paar Jüngere dabei, macht dann noch mal mehr Spass», erzählt er Heidi.
«Wir hatten schon ein tolles Leben.»
ihm das Schlafen schwerer fiel als ihr. Sie wollte ihn nicht stören bei seinem Ringen mit dem Schlaf. Aber jeden Morgen weckten sie sich gegenseitig. War für Wilfried Tielemann die Nacht vorbei, ging er zu seiner Frau hinüber und legte sich zu ihr. War sie früher wach, kam sie zu ihm ins Bett. Und sonst? Sie waren gerne unterwegs, im Camper, Atlantikküste. Die letzte Station immer: Soulacsur-Mer. «Einmal sogar nackt in den Wellen», sagt Herr Tielemann. Sie liessen sich früher pensionieren, 17-mal Kreuzfahrt auf der Aida. 1994 kam der erste Enkel, 1998 der zweite. «Wir hatten schon ein tolles Leben», sagt Herr Tielemann. Jetzt plant er ihre Beerdigung, eigentlich schon seit 2021. Damals hatte sich ein Geschwür an der Darmwand gebildet und war geplatzt. Drei Blutkonserven bekam sie später im Krankenhaus. Sie konnte vorher schon nicht mehr alleine essen, nicht mehr so viele Worte sprechen, aber die Pfleger konnten sie noch in einen Rollstuhl wuchten. Tielemann konnte sie spazieren fahren. Und wenn er mit ihr sprach, sagte sie immerhin: «Ja, ja.» Oder manchmal auch: «Das weiss ich.» Danach konnte sie nur noch
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liegen. Und sie verstummte, schlief immer mehr. Teile von ihr waren weg. Noch während seine Frau um ihr Leben kämpfte, sagt Herr Tielemann, sei er zu einem Beerdigungsinstitut gegangen, habe mit dem Pastor gesprochen, habe einen Friedhof ausgesucht. Von da an, sagt er, sei es ihm immer besser gegangen. Er lebe jetzt auch ein gutes Leben, sagt er. Jeden Tag besucht er sie, von 13 bis 15 Uhr. Wenn sie schläft, geht er etwas früher, manchmal bleibt er etwas länger. Er nimmt eine Nagelfeile aus einem Etui im Nachtschränkchen. Er setzt sich auf ihre Bettkante, er löst ihre verkrampften Finger, jeden einzeln, und feilt ihre Nägel. Dann kämmt er sie. Er hat ein Pulsoximeter gekauft. Er klemmt es an ihren Zeigefinger und misst den Sauerstoff im Blut. Er zupft an dem Schlauch, der die Nahrung transportiert, und kontrolliert, ob sie gleichmässig in den Körper sickert, durch die Bauchdecke Richtung Magen. 1000 Milliliter Kürbis-Karotte, 1500 Kalorien am Tag. Er stellt das Radio an. Backstreet Boys – I Want It That Way, Ben E. King – Stand By Me, und Reinhard Mey – Über den Wolken. Es sei nicht so, dass sie gar nicht kommunizieren könne. Manchmal hält er zum Spass seinen Zeigefinger in ihren Mund – und zieht ihn erst wieder weg, wenn ihre Zähne seinen Finger fast berühren, wenn sie ihren Mund 11
Als es Heidi besser ging, sei da immer noch Hoffnung gewesen. Herr Tielemann liess den Weg 12 bis zu ihrer Terrasse pflastern.
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«Ich sage: Gehirn, hör mit dem Mist auf, das bringt nichts. Das hilft. Irre, oder?»
wieder schliesst. Ihr Blick aber geht ins Leere. «Du Räuber», sagt Tielemann dann. Manchmal drücke sie seine Hand. Seine Frau und doch nicht seine Frau. Er spricht mit ihr: «Gestern Abend war ich beim Badminton, hatte ich dir ja erzählt. War gut. Sind jetzt auch ein paar Jüngere dabei, macht dann noch mal mehr Spass.» «Jonas war bei der Betriebsfeier, muss so zugelangt haben, wollte noch am Tag danach nicht fahren. Ein Freund hat ihn nach Hause gebracht.» «Liebe Grüsse von Janik, ruft mich jeden Abend an um 18 Uhr, wenn er nach Hause von der Arbeit fährt.» Er weiss nicht, was noch bei ihr ankommt, was sie versteht, wo sie gerade ist. «Wer weiss das schon», sagt er. Als es ihr besser ging, sei da immer noch Hoffnung gewesen. Das war schlimm, sagt Herr Tielemann. Er habe immer überlegt: Wie bekomme ich sie noch mal fit? Er habe sie manchmal für ein paar Stunden nach Hause geholt. Er liess den Weg durch den Garten bis zu ihrer Terrasse pflastern. Er besorgte über eBay-Kleinanzeigen einen sogenannten Motomed, eine Art Fitnessgerät für Menschen wie Heidi Tielemann, damit sie ihre Beinmuskulatur im Rollstuhl trainieren konnte. Während Corona, als das Heim für Besucher geschlossen wurde, kaufte er ein iPad. Die Pfleger im Heim setzten seine Frau jeden Tag um die Mittagszeit in ihren Rollstuhl und vor den Bildschirm, wenn Tielemann sie anrief. Und jetzt auch noch Linedance Heute herrscht Klarheit. Wenn er heute nach Heidi gefragt wird, sagt Tielemann: «Sie schläft viel.» Oder: «Man kann nichts machen.» Oder: «Jetzt ist es so.» Herr Tielemann hat sich vor gut einem Jahr eine Uhr gekauft, die vibriert, wenn ihn jemand anruft, so kann er sicher sein, dass das Heim ihn erreicht, wenn was ist. Die Uhr hat ihm Freiheit gegeben. Montags geht er nun zum Faszientraining, von 17 bis 18 Uhr, dienstags ist Badminton von 15 bis 16 Uhr, mittwochs besucht er am Abend Helga und Helmut, alte Freunde, donnerstags macht er Gymnastik von 18.30 bis 19.30 Uhr und um 20 Uhr seit Neuestem auch noch Linedance. Beim Tanzen habe sich Heidi immer beschwert, weil er immer mehr Zeit als sie gebraucht habe, um die Schritte zu lernen. Beim Linedance tanzt man ohne Partner*in. Mal hintereinander, mal nebeneinander. Wenn sich jemand mal in die falsche Richtung dreht, kein Problem. «Macht einfach Spass», sagt Herr Tielemann. Sein Essen holt er sich aus einer Kochwerkstatt, fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt. Er kennt den Koch mittlerweile persönlich, manchmal komme er extra für ihn aus der Küche raus und gebe ihm die Hand. Zwei Tup-
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perboxen hat er dabei, eine für das Hauptgericht und eine für den Nachtisch. Er putzt einmal die Woche. Das gehe eigentlich ganz gut, wenn man mal drin sei, sagt er. Am schwersten: Staubwischen. Auch mit dem Grübeln, sagt Herr Tielemann, sei es mit der Zeit besser geworden. «Ich sage: Gehirn, hör mit dem Mist auf, das bringt nichts. Das hilft. Irre, oder?» Seine Frau mochte keine klassischen Konzerte. Tielemann liebt sie. Vor gut zwei Monaten war er das erste Mal seit über drei Jahren wieder bei einem klassischen Konzert, mit Hannelore, einer Freundin vom Tanzen. Neulich rief ihn sein Enkel an, ob er Lust habe auf einen Ausflug nach Wolfsburg? Dort spiele die Frauenfussballmannschaft. Er setzte sich einfach in den Zug. Ganz alleine. «Das habe ich mir gegönnt», sagt Tielemann. Es war das erste Mal seit Langem, dass er Hannover ohne seine Frau verlassen hat. Er hat nun wieder ein Ich. Was ihm am Wir fehlt? Tielemann sagt: Die Berührungen. Das Kuscheln am Morgen. Das gemeinsame Reisen. Und wie dann Loslassen geht? Tielemann hat seine eigene Theorie: Akzeptanz. Er hat alle Akten gelesen, alle Arztberichte, und mit Medizinern gesprochen. Er weiss, es wird nicht mehr gut werden. Und dennoch oder gerade deswegen sagt er sich: Mein eigenes Leben geht weiter. «Sorg für dich», sage auch seine Tochter zu ihm. «Du musst fit bleiben und für Mama da sein.» Inzwischen ist das vierte Weihnachtsfest ohne sie vorüber. An Heiligabend hat er das erste Mal mit der Familie des neuen Partners seiner Tochter gefeiert. Vierzehn Erwachsene und zwei Babys. Am zweiten Weihnachtstag war er beim Ex-Mann seiner Tochter zum Kaffee eingeladen, und abends kamen seine Enkel zu Besuch. Sie hätten Döner gegessen und Rummy gespielt. «War richtig schön», sagt er. Am Mittag war er wie immer bei seiner Frau. Früher, sagt er, hätten sie manchmal darüber gesprochen, wie sie beerdigt werden wollten. Auf keinen Fall verbrennen, habe Heidi gesagt. Will ja keinen heissen Arsch bekommen. Und sie wolle vor ihm gehen. Dann kann ich mir eine Freundin suchen, hatte Tielemann geantwortet. Mach das mal, habe sie erwidert und gelacht. Herr Tielemann sagt: «Das war Heidi. Immer grosszügig, nie neidisch oder eifersüchtig.» Ob er Angst vor ihrem Tod hat? «Nein.» Und vor seinem? Er sagt: «Nein.»
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Omars letzte Zeilen Palästina Sie sind jung, leben in den Flüchtlingslagern des
Westjordanlandes, haben keine Zukunft und tragen Abschiedsbriefe mit sich – für den Fall, dass sie von den Israelis getötet werden. Wie der 14-jährige Omar al-Khmour. TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS
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Vielleicht lag er ohnehin wach, hatte trübe Gedanken oder konnte einfach nicht von seinem Smartphone lassen. Vielleicht aber schreckte er aus dem Schlaf, als das israelische Militär (es muss gegen vier Uhr morgens gewesen sein) mit gepanzerten Jeeps ins Flüchtlingslager Dheisheh südlich von Bethlehem eindrang und das Feuer eröffnete, und er und seine Freunde rannten auf die Strasse, stellten sich den Soldaten in den Weg und warfen Steine und Flaschen gegen die Fahrzeuge. Oder es war ganz anders, und er hatte mit alldem nichts zu tun, er ging aus Neugier vor die Tür, weil Simsim, sein Hund, ihn weckte, und kam einfach zwischen die Fronten einer Handvoll bewaffneter Palästinenser und israelischer Streitkräfte. Obschon das wohl eher nicht. Denn in seiner Hosentasche fand man diesen Brief, gefaltet und zerfranst. Tatsache ist: Omar Khaled Lutfi al-Khmour, 14 Jahre alt, wurde am Morgen des 16. Januar 2023, um 6 Uhr 40 und 150 Meter von seinem Elternhaus im Flüchtlingslager Dheisheh entfernt, durch einen Schuss eines israelischen Scharfschützen in den Kopf getroffen und erlag noch am selben Nachmittag in einem Spital in Beit Jala in der Nähe von Bethlehem seinen Verletzungen. Dass Omar im Zuge dieser militärischen Operation erschossen wurde, liess zuerst das palästinensische Gesundheitsministerium vermelden, später wurde die Nachricht vom israelischen Verteidigungsministerium bestätigt; letzteres rechtfertigte den Einsatz damit, gegen eine «terroristische Infrastruktur» im Flüchtlingslager Dheisheh vorzugehen. Tags darauf, am 17. Januar, wurde der Junge, sein Name war da schon der eines Märtyrers, auf einer Bahre durch die Strassen getragen, Tausende liefen mit, skandierten Parolen und schwenkten Fahnen. In einem Video der Nachrichtenagentur Middle East Eye ist Omars engster Freund zu sehen, Jamal, und auch Samira, die Mutter, wie sie ihren Jungen auf die Wange küsst, bevor er begraben wird. Tage später wird sie sagen: «Wir nannten ihn Baklava, wie das Gebäck. Weil er so süss war, so lieb, weil er sich immer sorgte um alle anderen. Er bewunderte seine Brüder, kaufte Zigaretten für meinen Mann, er brachte mir Gemüse vom Markt. Und nun bin ich allein.» 16
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Vergib mir, Mutter, und weine nicht. einfach nur da sitzen, wie alle anderen rundherum, die Brüder, Diese letzte Zeile aus Omars Brief, den er wohl schon die Väter, die Lehrer an der Schule, nein, nur das nicht. wochenlang vor seinem Tod bei sich trug – seine Aber was sonst? Mutter wusste nichts davon. Bittere, zornige, feier«Sie haben keine Hoffnung, haben nichts zu verlieren – und schon liche Worte des Abschieds sind es, für den Fall, dass gar nichts zu gewinnen. Sie hören zweimal die Woche, dass einer die Israeli ihn töten und er zum Märtyrer werden von ihnen getötet wurde, sehen auf Facebook Videos, wie israewürde. Jetzt hält die 48-jährige Samira das zerknitlische Siedler palästinensische Bauern vertreiben, wie die Armee terte Blatt mit den Schriftzügen ihres Sohnes, der deren Häuser zerstört, wie Soldaten in Jerusalem auf betende nichts mehr liebte als die Nähe zu seiner Mutter, in Menschen einprügeln. Und sich nichts tut, kein Aufschrei, kein der Hand, sie schüttelt den Kopf und sagt: «Omar Protest, und von der eigenen Regierung nur leere Worte.» Tahwollte nicht sterben, Omar wollte leben. Hätte ich seen Elayyan, 50, arbeitet als Anwalt für die Menschenrechtsorihn denn einsperren sollen? Es ist sowieso eine kleine ganisation al-Haq, sie wurde im Oktober 2021 von der israelischen Welt hier.» Regierung als terroristische Organisation eingestuft. «Diese Abschiedsbriefe», sagt Elayyan, «sind eine Botschaft an das eigene Hier – im Flüchtlingslager Dheisheh bei Bethlehem, wo auf einem Drittel Quadratkilometer 15 000 Volk: nicht aufzugeben, auch wenn der Kampf wieder einmal Menschen leben, wo fast die Hälfte unter 15 Jahre ist aussichtslos ist.» Darin würden sie den Schreiben der palästiund die Arbeitslosigkeit 40 Prozent beträgt. Wo die nensischen Kämpfer der Ersten Intifada Ende der 1980er-Jahre Gassen eng sind, die Häuser marode, die Hoffnungen zerknittert und die Wände zuOmars Mutter Samira wusste nichts vom Abschiedsbrief ihres Sohnes; dass geklebt mit Plakaten von Märtyrern, alles auch er als Märtyrer im Kampf gegen die Israelis zu Grabe getragen wurde, Männer, jung, hip, glatte Haut, rassiger mag sie bis heute nicht glauben. Haarschnitt, ein Lächeln im Gesicht. «Die Toten vor Augen, so wachsen unsere Kinder auf», sagt Samira, sie verwirft die Hände. Stolz war sie auf ihren Sohn, weil Omar keinen Tag in der Schule versäumte, weil er so fleissig war, zuverlässig und nicht fahrig wie seine Brüder, weil er was werden wollte, Ingenieur zum Beispiel. Sie dachte oft bei SAMIR A AL-KHMOU, OMARS MUT TER sich, vielleicht kommt der Bub ja eines Tages raus aus diesem Drecksloch. «Aber ein Märtyrer?», fragt Samira. «Habe ich mich zu wenig gekümmert um ihn?»
«Der Schmerz einer Mutter ist die einzige Wahrheit.»
Nichts zu verlieren, nichts zu gewinnen Schon vor Monaten hatte er mit Omar deswegen Streit, erzählt Jamal, auch er 14 Jahre. «Lass den Unfug, du Narr, das bringt bloss Unglück», habe er gezischt, als dieser ihm vom Brief erzählte. Doch Omar erwiderte bloss: «Wir folgen den Märtyrern Palästinas.» Jamal wusste nicht, ob sein Freund, zu dem er stets aufschaute, bloss Witze machte oder wieder einmal einen seiner Vorträge hielt. Zu jener Zeit tauchten immer mehr solche Briefe auf, kämpferisch diese, voller Angst und Verzweiflung jene, anklagend die anderen. Und das ist bis heute so. An die Öffentlichkeit kommen sie erst, wenn die Teenager tot sind. Davor wussten sie von anderen, die ebenfalls solche Zeilen bei sich trugen und getötet wurden von den Israelis; auf den Sozialen Medien waren die Bilder der Briefe zu sehen und Videos von den Begräbnissen derer, die sie verfasst haben. Und irgendwann waren es ihre eigenen Briefe, die über TicToc verbreitet wurden und die den Anderen zu reden gaben, Omar und Jamal zum Beispiel. Natürlich hätten sie darüber nachgedacht, was zu tun sei, was getan werden müsse, sagt Jamal. Hätten einander geschworen, Surprise 557/23
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Zonen A, B, C
ASERBAIDSCHAN ARMENIEN TÜRKEI ▲
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Israelische Israelische Siedlungen Siedlungen Zone Zone A A
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Zone Zone B B Zone Zone C C 0 0
Ewiger Konflikt Israel Am 14. Mai 1948, dem Tag der Niederlegung des britischen Mandats, rief der Führer der zionistisch-sozialistischen Arbeiterpartei David Ben-Gurion den Staat Israel aus. Gemäss UN-Teilungsplan sollte Israel 56 Prozent der Gesamtfläche gehören, Palästina 43 Prozent; das restliche Prozent machte Jerusalem aus, das unter inter-
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Israelische Siedlungen
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nationale Kontrolle gestellt wurde. In der Folge wurden 750 000 Palästinenser*innen aus ihren Dörfern und von ihrem Land vertrieben, was in Palästina als «Nakba» – zu deutsch Katastrophe – bezeichnet wird. Heute leben in Israel 9 Millionen Menschen. 13,5 Prozent davon sind Haredim, ultra-orthodoxe Juden, von denen die meisten den Staat Israel nicht anerkennen, weil sie glauben, dieser dürfte erst nach der Ankunft des Mes-
Gemäss Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) gibt es vor allem infolge der Nakba und des Sechstagekrieges ca. 5,7 Millionen palästinensische Flüchtlinge, viele leben seit Generationen in Flüchtlingslagern in Jordanien, dem Libanon, in Syrien, Gaza und dem Westjordanland; die Lebensbedingungen dort sind häufig von Armut, Arbeitslosigkeit und eingeschränkten Rechten gekennzeichnet. Das Recht auf Rückkehr der ausserhalb der besetzten Gebiete lebenden Flüchtlinge gehört aus palästinensischer Sicht zu den Bedingungen einer eigenen Staatsgründung. Im Westjordanland befinden sich die meisten Flüchtlingslager in der Zone A in der Nähe grosser Städte wie Bethlehem, Ramallah oder Nablus.
sias errichtet werden. Fast 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Israels sind israelische Araber*innen, auch «israelische Palästinenser*innen» genannt.
Besetzte Gebiete Im Verlauf des Sechstagekrieges vom 5. bis 10. Juni 1967 zwischen Israel und Ägypten besetzte Israel die syrischen Golanhöhen, die Sinai-Halbinsel, den von Ägypten verwalteten Gazastreifen sowie das von Jordanien verwaltete Westjord-
anland. Heute leben in dem von der Fatah-Partei dominierten Westjordanland sowie in Ostjerusalem 3,1 Millionen Menschen. Weitere 2,1 Millionen leben im Gazastreifen, der politisch von der islamis tischen Hamas regiert wird. Seit 1980 beansprucht Israel ganz Jerusalem einschliesslich der östlichen Stadtteile als seine Hauptstadt, wohingegen die Palästinenser*innen Ost-Jerusalem als ihre Hauptstadt deklarieren.
In dem von Israel besetzten Ostjerusalem sowie im Westjordanland (Zone C) leben in ca. 200 Siedlungen über 700 000 jüdische Israelis. Diese Siedlungen werden vom Internationalen Gerichtshof sowie von den Vereinten Nationen als völkerrechtlich illegal eingestuft. Dennoch treibt die israelische Regierung den Siedlungsbau weiter voran, trägt damit zur «Zerstückelung» des Westjordan landes bei und untergräbt so faktisch die Möglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung.
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GRAFIK: BODARA, QUELLE: BIRZEIT UNIVERSITY
ISRAEL
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Im Zuge des sog. Oslo-II-Abkommens zwischen dem israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und dem Palästinenserführer Jassir Arafat wurde 1995 das Westjordanland in drei Zonen eingeteilt: Zone A (18 Prozent des Westjordanlandes) ist vollständig der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstellt; in Zone B (22 Prozent) ist Israel für die Militärverwaltung verantwortlich und die Palästinensische Autonomiebehörde für zivile Angelegen heiten; Zone C (60 Prozent) unterliegt vollständig der israelischen Kontrolle, was u.a. bedeutet, dass Palästinenser*innen dort Land weder bebauen noch bewirtschaften können.
oder der Selbstmordattentäter der Zweiten Intifada 2000 bis 2005 ähneln, meint der Anwalt. Aber er sieht auch Unterschiede. Viel komplexer seien die Schreiben der alten Märtyrer, im Duktus wie im Inhalt, bisweilen würden sie an Predigten erinnern. «Die Briefe der Kids dagegen sind persönlicher. Parteipolitische Parolen finden sich kaum, ebenso wenig Suren aus dem Koran. Und was auch anders ist: Sie kennen die Versäumnisse der älteren Generation, sie klagen an und fragen: Warum lasst ihr all das mit euch geschehen?»
«Wir sind allein, niemand hilft uns.» JAMAL
Wächst der Widerstand? Zu dem Zeitpunkt, da ein israelischer Soldat Omar Khaled Lutfi al-Khmour niederstreckte – es war Mitte Januar –, wurden seit Beginn des Jahres bereits 14 Palästinenser*innen getötet, darunter 4 Jugendliche; bis heute sind es fast 120, 44 davon Kinder. Zusammen mit den Toten des vorigen Jahres ist die Zahl auf fast 400 angestiegen, so viele wie seit Ende der Zweiten Intifada 2005 nicht mehr. Seit dieser Nahost-Konflikt besteht – manche sagen ab der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948, andere datieren ihn auf den Sechstagekrieg im Juni 1967 –, werden Tote gezählt, hüben wie drüben. Daran wird gemessen, wie sehr der Konflikt einmal mehr am Eskalieren ist, oder darüber spekuliert, ob nun doch eine Dritte Intifada die Region erschüttern wird. So auch in diesen Wochen und Monaten. Kaum war Omar unter der Erde, drang das israelische Militär in den Morgenstunden des 26. Januar ins Flüchtlingslager von Jenin ein, drei Stunden dauerte «Unsere Regierung? Sie verhandelt mit dem Feind, steckt unsere eigenen Leute ins die Razzia, neun Tote, darunter zwei ZiGefängnis. Jetzt ist es an uns», sagt Jamal, 14, Omars bester Freund. vilist*innen. Tags darauf erschoss ein 21-jähriger Palästinenser vor einer Synagoge in Ost-Jerusalem noch enger zusammenschweisste. Bis heute ist Jenin, zusammen sieben israelische Zivilist*innen, woraufhin die Westbank in Aufmit Nablus, das Symbol des palästinensischen Widerstands. Und ruhr geriet: In allen grossen Städten, von Hebron über Ramallah wenn die israelischen Streitkräfte, wie in den vergangenen Mobis Nablus, strömten Menschen auf die Strassen, sie schwenkten naten, ihre militärischen Operationen auf diese Städte konzenFahnen und hielten Freudenfeiern ab. trieren, kann dies eigentlich nur eines bedeuten: dass der paläsAnfang Juni wiederholte sich die Szenerie, und wiederum war tinensische Befreiungskampf, nach Jahren der Lethargie, sich es Jenin. Nur starteten die Israelis diesmal Angriffe aus der Luft – aufs Neue entfacht. das gab es in der Westbank seit zwei Jahrzehnten nicht –, sie Aber stimmt das auch? schickten 1000 Soldaten in die Stadt, liessen 300 Leute verhaften, «Es täuscht gewaltig», sagt Tahseen Elayyan von al-Haq. «Die angeblich alles «Terrorverdächtige», 12 wurden erschossen. Die Zahl der Toten, vor allem auf palästinensischer Seite, ist in den Toten, als Märtyrer verehrt, wurden noch am selben Tag durch letzten zwei Jahren zwar angestiegen. Was aber mit einer Stratedie Strassen von Jenin getragen und auf dem Friedhof des Flüchtgie der israelischen Armee zu tun hat, die sie schon während der lingscamps am Stadtrand beigesetzt. Zweiten Intifada erfolgreich erprobte: Shoot to kill.» Bei Razzien werde häufiger und vor allem rascher geschossen, sagt Elayyan, Dieses Jenin, Stadt mit 60 000 Einwohner*innen im Norden der Westbank, gilt den Israelis seit jeher als Hochburg des Tervor sich eine Statistik der Getöteten auf beiden Seiten. «Mehr Tote rors; während der Zweiten Intifada 2002 wurde der Ort dreizehn gibt es nicht deswegen, weil der Widerstand wächst, sondern weil Tage ununterbrochen bombardiert. Was die Menschen dort nur mehr Palästinenser*innen erschossen werden.» Und weil Israels Surprise 557/23
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solche Shoot-to-kill-Strategie verfolge, unbeantwortet. Die Berichte über ihre vermehrten Einsätze in den vergangenen Monaten namentlich in Flüchtlingslagern der Westbank lassen indes keinen Zweifel offen, dass aus ihrer Sicht «terroristische Aktivitäten» auf palästinensischer Seite zunehmen; so jedenfalls rechtfertigt die Armee ihre Razzien. Ähnlich sieht das Khaled Saleh, Sozialarbeiter in Dheisheh, wo Omar geboren, aufwuchs und getötet wurde. Der Vierzigjährige, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte, sagt: «Der Widerstand wächst. In den Flüchtlingslagern bilden sich bewaffnete Zellen. Sie bestehen heute vielleicht nur aus einigen hundert oder tausend Männern, doch sie haben enormen Einfluss, besonders auf die Jugend.» Saleh redet von den «Jenin-Brigaden» oder den «Löwen von Nablus». Niemand weiss so genau, wer sich dahinter verbirgt, wie viele es sind und wer sie unterstützt, finanziell und mit Waffen. Sicher ist, sie agieren autonom, sind keiner Partei verpflichtet, wieder der Hamas, dem Islamischen Dschihad oder der Fatah. «Wir sind bereit» Inzwischen gibt es solche Brigaden nicht allein in Jenin und Nablus, sondern auch in Tulkarm, in Jaba oder Tubas, und es werden, vor allem im Norden der Westbank, immer mehr. Dass die Jenin-Brigaden – die ersten dieser Art seit Jahren – 2021 gegründet wurden, ist für Saleh kein Zufall. Damals hatte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, Jahrgang 1935, die erste demokratische Wahl nach fünfzehn Jahren im Amt verhindert. «Viele zuckten bloss mit den Schultern, andere aber murrten, Wohin man geht, wohin man sieht: Plakate von Märtyrern in den Gassen der nun nehmen wir die Sache selbst in die Hand, aber richAltstädte, palästinensische Fahnen und die Mauer, die das Westjordanland tig», sagt Saleh. Dass es jetzt wieder an der Bevölkerung sei, das vermitteln auch die Kämpfer der Brigaden in von Israel trennt. ihren Videos auf den Sozialen Medien, die zehntausendfach angeklickt werden: «Die Zeit des Wartens ist vorbei, neue Regierung mit Politikern wie Itamar Ben Gvir das alles zuwir sind bereit!» sätzlich befeuere, ist Elayyan überzeugt. Tatsächlich stand Ben Gvir, seit Dezember 2022 Minister für Nationale Sicherheit, beJugendliche seien besonders anfällig auf den Heldenkult der reits mehr als fünfzig Mal wegen Anstiftung zu Gewalt und HassBrigaden, sagt Sozialarbeiter Khaled Saleh. «Sie sind in dieser Phase ihres Lebens unsicher, suchen nach Halt. Schule, Sport, rede vor Gericht. Von seiner Gesinnung zeugen Videos, in denen Soziale Medien, gut und recht – und sonst?» Vor allem die Kids er mit Gleichgesinnten durch Ost-Jerusalem marschiert und «Tod aus den Flüchtlingslagern hätten kaum Perspektiven. Für die den Arabern» skandiert. Oder wo er dazu auffordert, ohne Zögern anderen, die palästinensische Mittelschicht, seien sie Störfriede, auf palästinensische Steinewerfer*innen zu schiessen, einerlei, wie alt sie seien. Auch lobt er öffentlich idie sraelische Soldaten, ungebildet und gewalttätig, niemand wolle mit ihnen etwas zu tun haben. «Zugleich sehen die Kids Videos und Reels der Brigadie Palästinenser*innen töten, er nennt sie «Helden Israels». den, wie sie sich bewaffnen und sich als die Befreier Palästinas Dazu passe, sagt Elayyan, dass die israelischen Behörden immer weniger Fälle von Tötungen durch die Armee untersuchten. inszenieren, als letzte Hoffnung. Und laufen Tag für Tag an den Plakaten der Märtyrer vorbei – kein Wunder, werden die zu ihren «Die Soldaten dürfen abdrücken, zu befürchten haben sie nichts. Es ist wieder einmal einfach geworden, Palästinenser*innen zu Identifikationsfiguren», sagt Saleh. «Und was, Jamal, ist mit euch, mit euch Jungen? Wollt ihr ermorden.» Elayyans Unterstellung wird sich schwerlich belegen werden wie die Kämpfer von Jenin, die Löwen von Nablus?» lassen. Zwar lässt die Pressestelle der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) die Nachfrage, ob die Armee tatsächlich eine «Wir sind allein, niemand hilft uns.» 20
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«Euer Präsident hat versprochen, für die Leute in den Flüchtlingslagern zu sorgen.» «Bah! Der alte Mann lässt sich kaufen, er steckt die eigenen Leute ins Gefängnis und verhandelt mit dem Feind», wirft Jamal ein, der 14-jährige Bub, weswegen sie nicht mehr stillhalten dürften, sich wehren und kämpfen müssten, mit Steinen, Flaschen, Benzin und der Wut, und er zitiert wieder einmal einen Satz aus Omars Brief, jetzt mit Pathos: Auf dass die kommenden Generationen in Freiheit leben mögen. Wo vor Kurzem noch Omar Plakate von Märtyrern an die Wand kleisterte, im Flüchtlingslager Dheisheh bei Bethlehem, sind nun überall Poster mit seinem eigenen Gesicht zu sehen, über dem Eingang zum Camp, entlang der Friedhofsmauer, beim Markt und vor der Schule, auf den Heckscheiben der Autos, auf T-Shirts und daheim, im Hause seiner Eltern: Omar, auch Baklava genannt, mit einer Baseballmütze, im Trainingsanzug Marke Adidas, darüber die Worte: im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen. Ich träume von vielem, auch das stand in Omars Brief. «Töten sie einen von uns, so töten sie uns alle», sagt Mutter Samira. «Niemals wird dieser Schmerz ein Ende haben. Und der Schmerz einer Mutter ist die einzige Wahrheit.» Jamal nimmt ihre Hand, sie versucht zu lächeln. Jeden Tag komme er vorbei, sagt Jamal, der einen schwarzen Hoody mit Omars Konterfei trägt, denn auch das stehe im Brief: Besucht meine Mutter, lasst sie nicht allein. Dieser Brief, der so viel Trauer hinterlässt und neue Wut. «Ich wünsche mir», sagt Samira, «mein Sohn wäre der Letzte gewesen und niemand trage je wieder einen dieser Briefe bei sich.» Doch Jamal sagt bloss: «Du wirst schon sehen.»
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Fragmente der jenischen Identität Kino Dem Dokumentarfilm «Ruäch – eine Reise ins jenische
Europa» gelingt eine vielschichtige Annäherung an eine gesellschaftliche Minderheit im Herzen des Kontinents. TEXT MONIKA BETTSCHEN
Einige Wochen, bevor dieser Text entstand, schlug eine Meldung hohe Wellen: Das Bundesamt für Kultur wolle die Fördergelder für neue Durchgangs- und Standplätze für die nicht-sesshaften Minderheiten der Jenischen, Roma und Sinti kürzen. Die Kommentarspalten füllten sich mit alten Vorurteilen und Misstrauen: Ob diese Leute denn überhaupt Steuern zahlen würden; warum Jenische dauernd herumfahren müssten; und weshalb sie vom Staat unterstützt würden. Kaum verwunderlich also, dass viele Jenische angesichts dieser immer noch existierenden Feindseligkeit den Kontakt mit der Mehrheitsgesellschaft und mit den Behörden eher scheuen. Und wenn da plötzlich drei «Ruäche», Nicht-Jenische, auftauchen, um einen Film über ihre Lebensweise zu machen, müssen diese damit rechnen, erst einmal vor verschlossenen Türen zu stehen. Gäbe es da nicht eine bereits bestehende Freundschaft zwischen einem der Regisseure und einem Jenischen. Der Kontakt zu diesem Insider ermöglichte es Andreas Müller, Marcel Bächtiger und Simon Guy Fässler, während mehreren Jahren Einblicke in den Alltag der Jenischen zu erhalten. Wodurch in Graubünden, Savoyen und Kärnten, festgehalten von der Kamera, neue Freundschaften entstanden. «Ruäch – Eine Reise ins jenische Europa» fängt 22
diese Annäherungen in zarten Momenten ein, in denen dem Filmteam mit Vertrauensbeweisen signalisiert wird, dass man ihr Interesse an ihnen als echt anerkennt. Zum Beispiel, als zwei Männer Essen zubereiten und in der jenischen Sprache über alte Zeiten sprechen. Manches versteht man, manches lässt sich bloss erahnen. Jenische teilen ihren Wortschatz eigentlich nicht mit Aussenstehenden. Lange Zeit diente er ihnen auch als Geheimsprache, um sich vor Gefahren und Verfolgung zu schützen. Der jenische Sänger Mano Trapp, der zu Beginn des Filmes zu Wort kommt, macht in seiner Musik das einst sorgsam abgeschirmte Vokabular der Öffentlichkeit zugänglich. Das geht manchen zu weit. Doch Trapp hält fest, dass es heute bereits Bücher und Wörterlisten gebe, mit denen jeder «Ruäch» Jenisch lernen könne. Allerdings seien dies nur noch Fragmente. «Über die Jahrzehnte ist vieles verloren gegangen, weil es hiess: Sprich nicht Jenisch, verrate dich nicht!» Auch während einer nächtlichen Autofahrt in Savoyen bedauert ein Mann, dass vieles verloren gegangen sei. In solchen Szenen drängt sich die Frage auf, welche Merkmale denn wenn überhaupt – die jenische Identität definieren, die man heute derart bedroht sieht. Der Film Surprise 557/23
BILDER: FRENETIC
will aber keine Schublade schaffen, in die alles Jenische einsortiert werden könnte – von denen gibt es ja bereits zuhauf. Vielmehr ermöglicht er den porträtierten Menschen, selber zu ergründen, was sie als jenisch empfinden. Ist es für die einen das Leben im Wohnwagen oder ihre Arbeit, ist es für die anderen der Familiensinn oder die Sprache. Für Frankie, den Lebenspartner von Isabelle, die das Herz und die Seele eines französischen Clans bildet, ist es die Freiheit. Frankie ist kein Jenischer, lebt aber seit über 20 Jahren mit ihnen. Er wuchs in einfachen Verhältnissen auf und hatte deshalb keine romantisierten Vorstellungen vom Leben der «gens du voyage», als er zu ihnen stiess. «Wir lebten auf dem Land. Es war ein schwieriges Leben. Sechs Leute in einem Zimmer.» Von der Härte des Lebens zeugen auch die vielen zum Teil schmerzhaften Erinnerungen, die Männer und Frauen mit den Filmemachern teilen. So erzählt einer, wie er als Kind beim «Hausieren» in ein Auto gezerrt, in ein Kinderheim und danach zu einem Bauern gebracht wurde, der ihn brutal behandelte. Rund 600 jenische Kinder wurden in der Schweiz zwischen 1926 und 1973 vom «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» ihren Eltern entrissen und in Heimen, Anstalten oder Pflegefamilien platziert (ausführlich Surprise 545/23) – eine Zahl, die im Film aber ebenso wenig angesprochen wird wie die Geschichte der Jenischen. «Ruäch» ist nicht daran interessiert, historische Fakten aufzuzählen, streift diese lediglich im Intro des Filmes. Man erfährt nicht, dass es schätzungsweise 100 000 Jenische gibt, von denen rund 35 000 in der Schweiz leben. Dafür erfährt man umso mehr über deren aktuelle Lebensrealität und darüber, welchen Herausforderungen sie sich heute noch stellen müssen. Zum Beispiel dem Mangel an Standplätzen, der Diskriminierung der Kinder in der Schule oder dem Kampf um eine menschenwürdige Unterkunft, wenn keine reisende Lebensweise mehr gepflegt werden kann. Oder Vorurteilen, genährt von einer diffusen Angst vor Surprise 557/23
Menschen, die ihr Lebensglück nicht in der Sesshaftigkeit finden und deshalb nicht einfach fassbar sind. Vielleicht schwingt dabei gar eine Portion Neid auf eine Kultur mit, deren Angehörige nicht ortsgebunden sein müssen, um als vollwertige Mitglieder einer Gesellschaft zu gelten. Wer nun aber sind die Jenischen? Auf jeden Fall die Nachkommen mutiger Menschen, die jahrhundertelang trotz Repressalien an ihrer Lebensweise festhielten. Bei allen Unterschieden in den gezeigten Lebensgeschichten scheint die Freiheitsliebe der Jenischen fast so etwas wie den gemeinsamen Nenner ihrer Kultur darzustellen. Und dicht unter der Oberfläche schwebt immer wieder der unausgesprochene Wunsch nach einer Zukunft für ebendiese jenische Kultur, was in den Filmszenen mit den jenischen Kindern zum Ausdruck kommt. Sie sind es, die neben den vielen Gesprächen einen besonders tiefen Eindruck hinterlassen. Gegen Ende des Films gehen zwei Buben in Kärnten eine Strasse entlang. Doch anstatt wie im Albtraum aus vergangenen Tagen gewaltsam in ein Auto gezerrt zu werden, entdecken sie am Strassenrand einen verbogenen Ast. «Der Papa hat doch sowas gmacht», sagt der Kleinere. «Stimmt, das hat er uns gezeigt», bestätigt der Ältere. «Ruäch» zeigt, dass es sie noch gibt, die geheimen Zeichen und junge Menschen, die lernen wollen, diese zu lesen. Und so weist ihnen der Zweig den Weg zurück nach Hause. Und vielleicht auch in eine Zukunft, in der die Jenischen weiterhin Teil der Völkergemeinschaft sind. Sofern wir, die Mehrheitsgesellschaft, ihnen diesen Platz auch zugestehen.
«Ruäch – Eine Reise ins jenische Europa», Regie: Andreas Müller, Simon Guy Fässler, Marcel Bächtiger, Dokumentarfilm, CH 2022, 118 Min. Läuft ab 31. August im Kino. 23
Im Schulzimmer angekommen Buch Die Schweiz hat ein Schul-Lehrmittel über Jenische, Sinti und Rom: Es ist ein europäisches Pionierprojekt. Der Initiant Willi Wottreng schildert dessen Entstehungsgeschichte. TEXT WILLI WOTTRENG
Die elfjährige Seraphina ist Sintezza und hat es lange aus Scham für sich behalten. BILD: ZVG
FOTO: ZVG
Lehrmittel über Jenische, Sinti und Roma
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Das Buch: «Jenische – Sinti – Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten in der Schweiz», hg. Arbeitsgruppe «Jenische–Sinti–Roma», 160 Seiten, Zürich 2023. Das Open-Source- Angebot: «Jenische-Sinti-Roma», hg. Arbeitsgruppe «Jenische–Sinti–Roma», in Zusam menarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich. set.ch/jenische-sinti-roma/
Es wäre schon wünschenswert, hörten wir oft, aber leider nicht möglich. Bildungsbehörden verlauteten, sie könnten nichts tun wegen des föderalistischen Staatsaufbaus und der Autonomie der Lehrmittelverlage. Machen wir es also selber, schlug der Autor dieses Textes Vertreter*innen der Minderheiten vor. Hätten wir gewusst, auf welch hindernisreiche Fahrt wir uns da einliessen, wären wir es weniger übermütig angegangen. Fünf Jahre dauerte das Abenteuer. Jetzt ist das Schullehrmittel «Jenische – Sinti – Roma. Zu wenig bekannte Minderheiten» da. Es entstand nicht eine übliche Darstellung von «Menschen mit Wohnwagen», wie in den Medien prominent zu finden. Dargestellt werden die Gruppen der in der Schweiz lebenden Jenischen, Sinti und Roma in ihrer Gesamtheit, mitsamt ihren sesshaften Mehrheitsteilen. Den Klischeevorstellungen jeder Art soll damit entgegengetreten werden. Das vermittelte Wissen sollte nicht aus Büchern abgezapft sein, womit auch deren Fehler übernommen würden, sondern es wird aus dem eigenen Erleben geschöpft. All das zur Vermeidung rassistischer Vorurteile. So entstand ein Lehrmittel nach dem Prinzip «Nichts über uns ohne uns» für die Mittelstufe, geeignet ab der 5. Primarschulklasse. Entwickelt wurde es von einer Arbeitsgruppe mit Stimmen der Minderheiten, darunter einem Vertreter der Jenischen (Venanz Nobel), einem Aktivisten der Roma (Stephan Heinichen), einer Sprecherin der Sinti (Mo Diener) sowie einer Aktivistin der «Gesellschaft für bedrohte Völker» (Angela Mattli). Als Fachdidaktiker stiess Christian Mathis von der Pädagogischen Hochschule Zürich dazu, der mit einem Team die Porträts in Schulaufgaben umsetzte. Erarbeitet wurden je drei Biografien aus den drei Minderheiten. Biografien von nichtprominenten Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts sowie aus verschiedenen Landesteilen. Mit Aussagen aus dem eigenen Empfinden und dem erlebten Alltag. «Wir wollen darüber reden, was Roma sind. Die Menschen müssen mehr wissen über uns», erläutern etwa die Roma-Zwillinge Hasan und Hysen im Interview. Die jenische Eva Moser erzählt aus der Vergangenheit ihrer Familie: «Mein Vater hatte eine traurige Jugend. Als Kind wurde er der Familie weggenommen, als er sieben Jahre alt war. Er kam in ein Kinderheim. Später musste er bei einem Bauern arbeiten, weit weg von den Eltern. Er hatte Hunger und von einem Fenstersims ein Stück Maiskuchen weggenommen, und eine Frau hatte das gesehen. Man glaubte, dass wir Jenischen das Stehlen im Blut haben; dabei hatte er nur Hunger.» Surprise 557/23
Geraubte Kindheit
Es gab auch Überraschungen, die das Projekt verzögerten. So erklärten Minderheitsangehörige, sie wollten gern für Schüler*innen aus ihrem Leben berichten, aber nicht mit Namen und gar Foto in Erscheinung treten. Auf diese Weise entdeckten wir das wichtige Thema des «Coming- out»: der Angst, sich zu zeigen, und zwar wegen erlebter Diskriminierungen und wegen befürchteter Behinderungen im Alltag. Deshalb liessen wir auch vereinzelt Anonymisierungen zu. Die nächste Überraschung: Der Lehrmittelverlag Zürich, unser ursprünglicher Partner, meinte plötzlich, er wolle das Projekt doch nicht realisieren. Im Rückblick vermute ich, man befürchtete, das Buch könnte öffentlichen Ärger hervorrufen, weil es von diesen Minderheiten handelt, die mit negativen Stereotypen verbunden sind, und weil das Lehrmittel von eben diesen Minderheiten selber geprägt ist. Und es gab die ebenso grosse Angst, es würde sich finanziell nicht rentieren. Dabei liessen sich Drittmittel akquirieren: Das Bundesamt für Kultur hat einen beträchtlichen Teil des benötigten Geldes eingeschossen. Die offiziellen Begründungen für den Ausstieg lauteten anders. Es sei nicht klar, warum man sich auf dieser Schulstufe «für die individuellen Lebensgeschichten von erwachsenen Menschen interessieren soll». Und etwas gewunden: Die individuellen Biografien seien «als exemplarische Lebensrealitäten einer Minderheit ohne einen übergreifenden Zusammenhang» in diesem Alter nicht «vermittelbar». Aus der Krise erwuchs ein neues Format: Ein frei zugängliches Angebot im Internet mit Schulaufgaben – sowie eine gedruckte und reich bebilderte Publikation für den Buchhandel. Viele Angehörige der Minderheiten würden sonst nicht recht glauben, dass sie wirklich in den Klassenzimmern angekommen sind, wenn sie nicht ein Buch in den Händen halten können. Und die Lehrpersonen werden den Zugang zum Lehrmittel leichter finden, wenn ihnen ein Buch als Treppenstufe dient. Im Mai 2022 fanden die die ersten Probelektionen in einer fünften Primarschulklasse statt. Als ich das riesige Bild der elfjährigen Sintezza Seraphina auf dem Projektionsschirm im Klassenzimmer sah, kamen mir die Tränen: die zu wenig bekannten Minderheiten sind in der Schule angelangt. Wenn Seraphina das wüsste! Ich erinnerte mich an den Satz, den sie im Interview gesagt hatte: «Ich erzähle meinen Freundinnen nicht von den Sinti. Ich sage halt einfach, dass ich Christin bin. Von den Sinti erzähle ich nicht, weil ich mich ein wenig schäme.»
Buch Béatrice Gysin erzählt künstlerisch
wunderbar zart vom Leben ihrer Grossmutter als Verdingkind. Es gibt diese Momente der Fassungslosigkeit, wenn man sich bewusst wird, wie wenige Jahrzehnte erst vergangen sind seit der Zeit, als ein offensichtlicher Missstand noch allgemeine Praxis war. Wie etwa die Fremdplatzierung von Kindern, die in der Schweiz bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts trauriger Alltag war. Eine behördliche Massnahme, gestützt von Politik und Wissenschaft, die vielen sogenannten Verdingkindern viel Leid zugefügt hat. Betroffene waren fast immer Kinder aus sozial schwachen Familien, von Eltern, die nicht den offiziellen Normen entsprachen. Berta, geboren 1884, die Grossmutter der Künstlerin Béatrice Gysin, ist eines dieser Verdingkinder. Sie ist das vierte Kind einer Kleinbauernfamilie. Als die Mutter bei der Geburt des fünften Kindes stirbt und der Vater dem Alkohol verfällt, werden die Geschwister getrennt und fremdplatziert. Ihrer Kindheit beraubt, wartet ein entbehrungsreiches Leben auf Berta, geprägt von Kälte, Hunger und der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft ohne gesetzlichen Schutz. Recht auf Bildung oder Freizeit hat sie nicht. Spielen ist ein Fremdwort für sie. Und dennoch, so traurig diese Geschichte beginnt, ist sie doch zugleich auch ein kleines Wunder. Denn trotz aller Widerstände und Einschränkungen gelingt es Berta, sich nicht nur im Rahmen des Möglichen als Dienstmädchen, Köchin und Glätterin beruflich weiterzuentwickeln, sondern auch eine Familie zu gründen – und bei allen Härten nie ihren Humor zu verlieren. Das schafften bei weitem nicht alle Verdingkinder; zwei ihrer Geschwister gehen zugrunde. Die Lebensgeschichte von Berta zu erzählen, war für Béatrice Gysin wohl keine leichte Sache. Sie selbst kennt diese nur aus Erzählungen ihrer Grossmutter, und diese haben viele Lücken. Berta erinnert sich nicht einmal an ihre eigenen Eltern, Fotos gibt es kaum. Wie gibt man so ein Leben wieder? Béatrice Gysin hat dafür ein kleines Team um sich geschart. Zum einen die Autorin Bettina Wohlfender, die die Inhalte aus vielen Gesprächen mit Gysin in einem schlichten und berührenden «Récit de vie» eingefangen hat. Und zum anderen die Historikerin Mirjam Janett, die in kurzen Essays den Blick auf die Sozialgeschichte erweitert. Und dann ist da die Künstlerin Béatrice Gysin selbst, die mit wunderbar zarten, wie von der Zeit verschleierten Zeichnungen dem «Lebensalltags-Kunstwerk» ihrer Grossmutter Sichtbarkeit verleiht. Einem Leben, das zwar unvergleichlich und einzigartig ist, dessen Schicksal aber exemplarisch für viele steht. CHRISTOPHER ZIMMER FOTO: ZVG
WILLI WOT TRENG war Initiant des Lehrmittelprojektes «Jenische – Sinti – Roma» und Leiter der Arbeitsgruppe. Er ist Buchautor und Geschäftsführer der Radgenossenschaft Landstrasse, der Dachorganisation der Jenischen und Sinti der Schweiz.
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Béatrice Gysin/Bettina Wohlfender/Mirjam Janett: Berta. edition clandestin 2023. CHF 38.40
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Basel «Treibstoff Theatertage», Festival, Di, 5. bis Sa, 9. Sept., Roxy Birsfelden, Junges Theater Basel, Kaserne Basel. treibstoffbasel.ch
Treibstoff ist ein Zusammenschluss der Kaserne Basel, des Roxy Birsfelden und des Jungen Theater Basel zur Förderung des professionellen Theaternachwuchses. Entsprechend gibt es hier wirklich Entdeckungen zu machen. Zum Beispiel die Performance «Nah am Wasser gebaut», die die Frage verhandelt, wann und warum Gefühle politisch sind. Oder «Replica», ein Stück, das bei den Memes als Internet-Phänomen begann und durch viele Gedanken-Vervielfältigungsprozesse hindurch zum physischen Kopierer fand. Das alles wird zum Spiel zwischen Vorlagen und ihrer Adaption, mit Schablonen und Originalen, die so lange kopiert werden, bis sie verschwinden. Auch das Nachmachen als identitätsstiftender Prozess kommt vor – wobei die Frage ist, ab welchem Punkt einem die Einzigartigkeit dabei abhandenkommt. Und die indische Schauspielerin und Transaktivistin Living Smiley Vidya inszeniert eine verrückte transkontinentale und transkulturelle Reise und verhandelt dabei sowohl ihre bisherigen Arbeiten als auch die politischen Hintergründe der Tatsache, dass sie vor dem immer radikaler werdenden Hindu-Faschismus flüchten musste. DIF
Ernen VS «Zur frohen Aussicht», Kunst in Ernen, täglich von 10 bis 20 Uhr, bis So, 17. Sept. zurfrohenaussicht.org
Zwei ortsspezifische Installationen in einer Stallscheune und einem Stadel, eine neuntägige Wanderung entlang des Rhone-Pilgerwegs und ein feministischer Blick auf den Alpinismus erwarten das Publikum der Ausstellung «Zur frohen Aussicht». Seit 2015 ist in den Walliser Bergen eine lebendige Plattform für das jüngere Schweizer Kunstschaffen entstanden. Die
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Performance-Künstlerin Martina-Sofie Wildberger rief den Feminist Alpine Club (FAC) während ihres ersten Hochtourensommers 2017 ins Leben – ein künstlerisches Kollektiv, das sich aktivistisch und aus feministischer Perspektive in alpinistische wie künstlerische Kontexte einbringt. Für Ernen hat Wildberger mit Josiane Imhasly ein künstlerisches Manifest geschrieben, das als Plakataktion zu sehen ist. Manche Plakate beziehen sich auf gebirgspraktische Herausforderungen, denen sich Frauen und all jene stellen, die nicht dem normierten, männlichen, trainierten, schlanken und gesunden Körper ideal entsprechen: Was, wenn die in den Felsen gehauenen Tritte zu gross sind? Oder: Wie können Frauen in einer Seilschaft mit dem Klettergurt sicher urinieren? Und die Künstlerin Stefanie Salzmann zum Beispiel zeigt in einer Stallscheune im Nachbardorf Mühle-
bach eine Skulptur, welche sie aus der Wolle der Schwarznasenschafe ihrer Familie in Ried-Brig hergestellt hat. In Ernen hat sie zusammen mit Dorfbewohner*innen im «Grosse Garte» auch Färbepflanzen angesät. DIF
Lausanne/Bern «Frontières. Grenzen», Ausstellung, Polit-Forum Bern, bis Sa, 7. Okt., Mo, 14 bis 18 Uhr, Di bis Fr, 10 bis 18 Uhr, Sa, 10 bis 16 Uhr, Polit-Forum Bern, Marktgasse 67 polit-forum-bern.ch Zum hundertjährigen Jubiläum des «Vertrags von Lausanne» beleuchtet das Museé Historique Lausanne in der Ausstellung «Frontières. Le Traité de Lausanne, 1923–2023» die rund acht Monate dauernde Konferenz, die zur Unterzeichnung des Vertrags im Juli 1923 in Lausanne führte. Dieser letzte Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg hat bis heute Auswirkungen auf Europa und den Nahen Osten. Er begründete nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches die bis heute gültigen Grenzen der Türkei und Griechenlands, wobei die nationale Zugehörigkeit über die Religionszugehörigkeit bestimmt wurde. Damit rechtfertigte der Vertrag nachträglich die bereits erfolgte Vertreibung von Millionen von Griech*innen und Türk*innen als «Bevölkerungsaustausch». Die Interessen von ethnisch-religiösen Gruppen wie Kurd*innen, Aramäer*innen, Jesid*innen, Armenier*innen und Alevit*innen wurden nicht berücksichtigt, was sich bis heute auf ihr Leben und auf den Grad ihrer Selbstbestimmung auswirkt. Für die Ausstellung wurden zwölf Per-
sonen interviewt, deren familiäre Wurzeln in der Türkei liegen. Sie leben heute in der Schweiz und erzählen, welche Geschichten und Erinnerungen sie mit dem «Vertrag von Lausanne» verbinden. Diese Geschichten werden parallel zur Ausstellung in Lausanne auch im Demokratie-Turm in Bern gezeigt und von verschiedenen Veranstaltungen begleitet. Zum Beispiel der Debatte «Grenzen und Macht im östlichen Mittelmeer» am Mi, 30. August um 20 Uhr, den Youtube Livestream fndet man auf der Website des Polit-Forum Bern. DIF
Winterthur «Auf der Suche nach der Wahrheit. Wir und der Journalismus», Ausstellung, bis So, 29. Okt., Mi, 12 bis 18 Uhr, Do bis Sa, 10 bis 18 Uhr, So, 10 bis 17 Uhr, Museum Schaffen, Lagerplatz 9. museumschaffen.ch In Zeiten der Polarisierung, Aufmerksamkeitsökonomie und KI steht der Journalismus vor grossen Herausforderungen.:Wie gehen wir mit Informationen um? Welche Verantwortung tragen Medienschaffende heute? Und was wäre eine Gesellschaft ohne Journalismus? Die zweisprachige Wanderausstellung (de/fr) wurde vom Verein Journalistory initiiert, einem Team aus Historiker*innen, die sich der Mediengeschichte und der gesellschaftlichen Bedeutung des Journalismus verschrieben haben. Im Rahmenprogramm nimmt das Museum weitere Fragen rund um den Medienwandel und die Rolle des Journalismus in demokratischen Prozessen auf, ferner ist ein journalistischer Wettbewerb ausgeschrieben namens «Scoop!» DIF
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BILD(1): FRANZISKA MARTIN, BILD(2): STUDIO STUCKY (FAC)
Veranstaltungen
doch den kühlen Schalterraum. Vor dem Einkaufszentrum steht ein überdimensi oniertes Windrad, so eines, wie es Kinder benutzen, keines zur Energieerzeugung. Ganze Schulklassen durchqueren das Zentrum bald in die eine, dann wieder in die andere Richtung, wahrscheinlich ho len sie sich ihre Mittagsverpflegung, die sie an einem kühleren Ort verzehren. Den Ort nicht verlassen kann die Surpri se-Verkäuferin, die auf und ab geht, aber meist ignoriert wird. «Das Leben ist kein Ponyhof», konsta tiert die Jacke eines Mannes mit Elektro-Trottinett, das er vorschriftsgemäss schiebt, denn es herrscht Fahrverbot. Auch einen Fotoautomaten gibt es, aller dings keines dieser hippen alten Modelle, sondern ein moderner, der für Faxen fotos viel zu teuer ist. Die Apotheke verkauft pastellfarbene Pantoffeln und bunte Socken, die der Gesundheit zwar nicht dienen, aber zumindest nicht schaden.
Tour de Suisse
Pörtner in Münchenstein Surprise-Standorte: Einkaufszentrum Gartenstadt Einwohner*innen: 12 049 Sozialhilfequote in Prozent: 2,8 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 26,4 Parkanlage: Der «Park im Grünen» umfasst 130 000 m2 und beherbergt ein 45 Meter langes Modell eines Seismosaurus.
Es ist nicht wirklich eine Stadt und ein Garten schon gar nicht, das Einkaufs zentrum, das mit Glaskuppeln überdacht ist, unter denen es ordentlich heiss wird, noch bevor die erste Hitzewelle das Land erreicht hat. Wer sich an die hochsom merlichen Temperaturen gewöhnen will, kann hier üben. Obwohl erst später Vormittag, wird in der Gartenstadtbeiz, wie das Restaurant eventuell genannt wird, schon Bier ge trunken und Schnipo gegessen. Mögli cherweise deshalb, weil es am Mittag da für zu warm wäre. Eine Gartenabteilung ist immerhin vorhanden, Pflanzen und Erde stehen bereit, um in hoffentlich fruchtbarere und kühlere Gefilde ab transportiert zu werden. Auch ein Big Sale ist angekündigt, in Pavillonzelten, in denen die Temperaturen noch höher Surprise 557/23
sind. Die Schnäppchen wollen verdient sein, trotzdem sind die Zelte gut besucht, vor allem Pfannensets erfreuen sich grosser Beliebtheit, weniger gut laufen Heizlüfter.
Der Interessengemeinschaft der Orts vereine stehen zwei grossflächige An schlagbretter zur Verfügung. Das Ver einswesen scheint denn auch in robuster Verfassung zu sein, der Turnverein Satus besteht bereits seit 100 Jahren, das Motto lautet: «Bei uns können alle mit machen». Wem das zu wenig exklusiv ist, kann dem Unihockey oder Basketball club, dem Frauensportverein oder der Männer- bzw. Frauenriege Neue Welt bei treten. Wer keinen Sport machen will, geht in den Familiengartenverein, der für das echte Gartenleben wirbt, bei dem Ge müse und Blumen gepflanzt werden oder auch im Liegestuhl gelesen werden darf, ganz im Gegensatz zur Gartenstadt, in der dafür kein Platz ist.
Rund um die Trägersäulen des Glasdachs sind Holzbänke montiert, auf denen niemand verweilt, einzig ein Einkaufs korb wurde dort abgestellt. Unter den Bögen hängen Kartonblumen, etwas ver loren steht ein Festtisch herum. Einer der Biertrinker wird von einem heftigen Husten erfasst, sein Hund kommt unter dem Tisch hervor und schaut besorgt.
STEPHAN PÖRTNER
Die Postfiliale ist in poppigem Gelb ge klinkert, davor steht ein Automat, an dem diverse Postgeschäfte rund um die Uhr abgewickelt werden können, um diese Zeit bevorzugen die Menschen je
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist. 27
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Breite-Apotheke, Basel
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Spezialitätenrösterei derkaffee, derkaffee.ch
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Boitel Weine, Fällanden
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Farner’s Agrarhandel, Oberstammheim
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Kaiser Software GmbH, Bern
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InoSmart Consulting, Reinach BL
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Maya-Recordings, Oberstammheim
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Wir alle sind Surprise #Strassenmagazin
#554: Schwere Geburt
«Möchte kein schlechtes Gewissen verspüren»
«Wieso immer noch Tabu?» Habe heute den Bericht über die schwere Geburt gelesen. Leider kommt das Wort Familienplanung/Verhütungsmit tel kein einziges Mal vor. Das erstaunt mich sehr. Fünf Kinder bedeuten eine riesige Verantwortung, brauchen viel Liebe/Geduld/Nerven/Geld. Wieso ist das Thema immer noch Tabu?
Viele Jahre habe ich immer mal wieder – manchmal mehr, manchmal weniger, je nachdem, wie oft ich Surprise-Verkaufenden begegnet bin – euer Magazin gekauft. Seit einiger Zeit habe ich aber gar nicht mehr so Lust auf euer Heft. Die Inhalte sprechen mich häufig nicht mehr an. Ich finde sie mühsam, manchmal ärgere ich mich auch darüber, finde sie anstrengend, hyperkorrekt. Versteht mich richtig, Surprise soll auch aufrütteln, doch nach der Surprise-Lektüre möchte ich kein schlechtes Gewissen verspüren, weil ich in Sachen Gendern nicht auf dem neusten Stand bin, oder weil sich wieder eine Randgruppe benachteiligt vorkommt. Mir fehlt eine gewisse Leichtigkeit, und bei allem Schweren der Humor. Ich habe selber eine Behinderung, mit der ich über viele Jahre einen guten Umgang lernen konnte. Ich werde von meinem Umfeld unterstützt, aber ich bin für mich verantwortlich. Diese Seite fehlt mir manchmal in der Surprise-Sichtweise. Diese Kritik soll Ihre Arbeit nicht schmälern, es ist einfach mein Empfinden.
Man sollte meinen, Asylsuchende, in völliger Armut, in ewiger Abhängigkeit von anderen, nie wissend, ob sie abgeschoben werden, sollten alles daran setzen, nicht schwanger zu werden. Es ist einfach unverantwortlich den Kindern gegenüber, die unter diesen Umständen in die Welt gesetzt werden.
ROLF EICHER, Villnachern
GERHARD CORNU, Felben-Wellhausen
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S. HUMBEL, ohne Ort
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25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassenverkäufer*innen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name
Linda Tutmann, Roman Pawlowski, Willi Wottreng Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh
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FOTO: KLAUS PETRUS
Surprise-Nachruf
Der Blick für die schönen Momente *28. Juli 1960 bis †15. Juli 2023
Emsuda konnte mitreissen – wenn sie lachte, übertrug sich ihre Freude auf den ganzen Raum. An Weihnachten brachte sie Guetzli mit zu Surprise, zum Surprise Strassenchor und in die Surprise Geschäftsstelle. Sie liebte es, anderen eine Freude zu machen, und sie liebte das Backen. Sie war denn auch berühmt für ihr gutes Börek, Teigtaschen mit unterschiedlichen Füllungen aus Käse, Kartoffeln, Spinat und Hackfleisch. Das Rezept dazu hatte sie aus ihrer Kindheit mitgebracht, einer Kindheit und Jugend in den Gebieten Jugoslawiens, die später mal Bosnien und Kroatien werden würden. Emsuda kam als eines von sieben Geschwistern in einer muslimischen Familie in der Nähe von Bihać zur Welt. Religion spielte eine untergeordnete Rolle, die Familie lebte in einfachen Verhältnissen. Unter anderem weil die Mutter früh verstarb, übernahm Emsuda schon früh Aufgaben im Haushalt – wie das Kochen für die gesamte Familie, aber auch Socken stricken aus der Wolle der eigenen Schafe, die dann auf dem Markt verkauft wurden. Mit 14 begann sie regulär zu arbeiten, zunächst reinigte sie Privathaushalte und später auch andere Gebäude, sie schaffte als Pflegefachkraft im Spital und betreute Kinder. Zu arbeiten und unabhängig von Sozialleistungen zu sein, war ihr sehr wichtig. Auch als später in der Schweiz ihre Rückenschmerzen die Arbeit im Reinigungsgewerbe nicht mehr zuliessen, haderte sie mit dem Gedanken, eine Rente zu beanspruchen. Zur Last fallen wollte sie niemandem. Lieber wollte sie selbst helfen und etwas weitergeben. Rührend kümmerte sie sich um eine eritreische Kol legin, die sie beim Heftverkauf kennengelernt hatte, und deren vier Kinder. Emsuda hütete, stützte, umsorgte, wann immer sie konnte. Vielleicht auch, weil ihre eigene Tochter mit dem Enkel zu weit weg lebte – in Kroatien. Zwar reiste Emsuda zu ihnen, wann immer es möglich war, zwischendrin aber brauchte sie auch die Nähe einer anderen Gemeinschaft, Freund*innen, eine Wahlfamilie. Diese fand sie unter anderem im Surprise Stras senchor, wo sie mehr als zehn Jahre begeistert mitsang und in Theaterprojekten mitwirkte. Sie baute auch als Surprise-Verkäuferin eine enge Beziehung zu ihren Kund*innen auf, sodass diese ihr hin und wieder Geschenke machten oder einen Kaffee vorbeibrachten. Emsuda mochte die Menschen und die Menschen mochten Emsuda. 30
Emsuda Loffredo-Cular, Sängerin im Surprise Strassenchor und frühere Surprise-Verkäuferin, 1960–2023.
In die Schweiz war sie durch eine Ehe gekommen, diese war jedoch so unglücklich wie schon die davor. Es kostete Emsuda viel Kraft, sich da herauszukämpfen. Vielleicht fiel es ihr leichter, sich um das Wohlergehen anderer als um ihr eigenes zu kümmern, ganz sicher hat es ihr das Leben aber auch nicht leicht gemacht. Nachdem sie der Gewalt endlich entkommen war, entschied sie sich, trotzdem in der Schweiz zu bleiben. Sie wusste: In Kroatien fände sie keinen Job, dort würde es ihr schlechter gehen. Sie war der Schweiz und vielen Menschen, mit denen sie es hier gut hatte, dankbar. Über die Zeit der Balkankriege sprach sie nicht. Trotz aller Widrigkeiten und dem wenigen Geld, mit dem sie zeitlebens über die Runden zu kommen suchte, richtete Emsuda ihren Blick immer auf die schönen und glücklichen Momente. Ihr Tod kam zu früh und unerwartet. Sie hatte jedoch das Glück, im Kreis ihrer Familie zu sterben. Eigentlich hatte sie dem Enkel noch die Schweiz zeigen wollen. Dazu kam es leider nicht mehr. Beerdigt wurde sie nach muslimischem Ritus in Bosnien. «Eure Hilfe sind wie Kerzen für sie», bedankt sich ihre Tochter für die Anteilnahme. Aufgezeichnet von SAR A WINTER SAYILIR Surprise 557/23
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