Strassenmagazin Nr. 569 16. bis 29. Februar 2024
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Teuerung
Schöner Wohnen Bezahlbarer Wohnraum wirkt für viele so unerreichbar wie eine Luxusvilla. Seite 8
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Bild: Ole Hopp
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Café Surprise – eine Tasse Solidarität
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TITELBILD: BODARA/KI/PHOTOSHOP/LEONARDO
Editorial
Nicht mehr nur Sans-Papiers Vor bald zwei Jahren lernte ich in Lausanne Lamya B. kennen. Sie war mit dem Zahlen der Miete mehrere Monate in Verzug und stand kurz davor, ihre Wohnung zu verlieren. Sie erzählte mir von ihrer Panik, als ihre Vermieterin ihr schrieb, sie solle kündigen, und von ihrer Angst, wenn sie an die Zukunft dachte. Der Artikel, den ich danach schrieb, drehte sich darum, dass unter obdachlosen Menschen besonders viele keine Aufenthaltsbewilligung haben, also Sans-Papiers sind (Surprise 526/22). Nun steigen die Mieten weiter, und es gibt viel zu wenig bezahlbare Wohnungen. Wenn die Kosten für das Wohnen anwachsen, sparen die Menschen beim Essen, bei der Gesundheit oder bei Kursen für die Kinder. Sie werden zunehmend zu Working Poor – sie können von dem, was sie verdienen, nicht mehr leben. «Die Lage ist ernst», sagt Markus
Kaufmann von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Und Aline Masé von Caritas Schweiz kündigt an, dass die steigenden Wohnkosten bald zum grössten sozialpolitischen Problem werden. «Bis in den Mittelstand hinein.» Damals Anfang Juni 2022 war es das Ziel von Lamya B., die Wohnung mindestens bis zu den Schulferien im Juli behalten zu können, damit ihr Sohn nicht aus seiner Klasse gerissen würde. «Ich fühle mich jeden Tag schuldig, dass ich keine langfristige Lösung für ihn finden kann», sagte sie. Welche Folgen die steigenden Mieten und der Mangel an bezahlbaren Wohnungen bereits für weit mehr Menschen als allein für Sans-Papiers wie Lamya B. haben, beschreibt Esther Banz im Artikel ab Seite 8. LEA STUBER
Redaktorin
4 Aufgelesen
8 Teuerung
Albtraum Wohnraum
22 Kino
5 Na? Gut!
Ursache von Long Covid gefunden 5 Vor Gericht
Das nackte Grauen 6 Verkäufer*innenkolumne
Der Schmerz 7 Moumouni antwortet
Wieso ist immer alles dringend?
27 Tour de Suisse
Pörtner in Zürich Wipkingen
14 Alter
«Niemand schämt sich dafür, eine höhere AHV-Rente zu beziehen»
28 SurPlus Positive Firmen
16 Rom*nja
Europas vergessene Sklav*innen
24 Ausstellung
Bis der Weihnachtsmarkt einfriert
29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt
25 Tanz
Im Möglichkeitsraum
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26 Veranstaltungen
Im Niemandsland
«Das Leben in der Schweiz war am Anfang schwierig»
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Aufgelesen News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
FOTOS: LEINANI LUCAS
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Nach dem Sonnenuntergang Im Northwest African American Museum (NAAM) in Seattle ist derzeit die Ausstellung «Positive Frequencies» zu sehen, in der es um den Einfluss der Musik auf zeitgenössisches Schwarzes Kunstschaffen geht. Die Schriftstellerin Leinani Lucas schreibt dazu folgendes: «So wie auf einem der Bilder in grossen Buchstaben ‹MUSIK HEILT› steht, so wurde die Ausstellung zu einem Heilungsraum. Alle vier Künstler konzentrierten sich auf Schwarze Kunst, Schwarze Gesichtszüge und Schwarze Resilienz auf eine Weise, die nicht von unserem kollektiven Trauma bestimmt war. Ich habe mich beim Verlassen von NAAM leichter gefühlt als beim Betreten. Obwohl Teile von Washington und Seattle ursprünglich de facto Sonnenuntergangsgebiete waren – wo es für Schwarze Amerikaner*innen praktisch illegal war, nach Sonnenuntergang draussen zu bleiben –, waren wir alle in einem Museum zusammengekommen, das der Schwarzen Gemeinschaft des pazifischen Nordwestens gewidmet war. Die Ausstellung zelebriert das Schwarzsein in all seiner Pracht und frei von den Fesseln des über Generationen vererbten Schmerzes, während wir uns in unseren nassen Schuhen und Brauntönen versammelten und gemeinsam die Freude teilten, Gemeinschaft zu finden.»
REAL CHANGE, SEAT TLE
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1, 2 C. Bennett: «Always» und «Music Heals» 3 «Emotions Overload» von Myron Curry zeigt die 2012 verstorbene einflussreiche Blues- und Soulsängerin Etta James.
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Na? Gut!
Ursache von Long Covid gefunden In der Schweiz sind laut der Organisation Long Covid Schweiz 300 000 Menschen von Langzeitfolgen von Covid-Erkrankungen betroffen. Weil eine Diagnose bisher nicht möglich ist, erschwert dies auch IV-Abklärungen (Surprise 527/22). Nun haben Forschende der Uni Zürich und des Unispitals Zürich herausgefunden, was Long Covid auslöst, wie sie im Wissenschaftsmagazin «Science» berichten. Die Forschenden untersuchten das Blut von 113 Covid-Patient*innen zum Zeitpunkt der Infektion mit Sars-CoV-2 und sechs Monate später noch einmal. Sie analysierten mehr als 6500 Eiweisse aus dem Blutserum und stellten fest: Vor allem eine Klasse von Substanzen sieht bei LongCovid-Patient*innen deutlich anders aus als bei Gesunden, nämlich das sogenannte Komplementsystem. Das ist ein zentraler, aber wenig bekannter Teil des Immunsystems, das aus über 30 Proteinen besteht und aktiviert wird, wenn eindringende Viren oder Bakterien bekämpft werden müssen. Auch sorgt es dafür, dass beschädigte oder infizierte Körperzellen beseitigt werden. Nach getaner Arbeit kehrt das Komplementsystem normalerweise schnell zurück in den Ruhestand. Nicht aber bei Long-Covid-Patient*innen. Bei ihnen bleibt es auch lange nach der akuten Infektion überaktiv und richtet grosse Schäden an. Es gibt bereits Medikamente, die das überaktive Komplementsystem dämpfen können. Darüber hinaus eröffnen die Erkenntnisse aus der Zürcher Studie Möglichkeiten für eine gezielte Diagnose und potenzielle Therapien. LEA An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.
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Vor Gericht
Das nackte Grauen Es gibt ein Thema, das die Gerichtsreporterin zuverlässig jeglichen Glaubens an die Menschheit beraubt: die Todesstrafe. Jedes Mal, wenn eine Exekution vermeldet wird, wie vor drei Wochen, als im US-Bundesstaat Alabama der Mörder Kenneth Smith hingerichtet wurde: zehrende Gedankenschleifen um staatliches Töten, zwanghaftes Googeln nach jedem Detail. Können die Verurteilten vor der Hinrichtung eigentlich Beruhigungsmittel bekommen? (Nein.) In diesem Fall war es besonders schlimm. Der 58-jährige Smith hatte bereits einen Exekutionsversuch überlebt. Im November 2022 sollte er nach über dreissig Jahren im Todestrakt per Giftspritze getötet werden. Fast vier Stunden lang suchten die Henker*innen eine Vene, an den Armen, den Händen, unter dem Schlüsselbein, mit immer längeren Nadeln. Das Exekutionspersonal – keine medizinischen Fachkräfte – traf stets nur den Muskel. Das ist physisch äusserst schmerzhaft, psychisch nackter Terror, wie Smith später sagte. Um Mitternacht gaben die Vollstrecker*innen auf – der Hinrichtungsbefehl war abgelaufen. Danach lag Smith Tage gekrümmt am Boden seiner Zelle. Er entwickelte eine posttraumatische Belastungsstörung. Von Folter sprach sein Anwalt, der nach der verpfuschten Hinrichtung erneut bis vor den Supreme Court zog, um die Strafe in lebenslange Haft umwandeln zu lassen. Lebenslang, das war auch das Urteil im Geschworenengerichtsprozess gegen Smith. Doch der Richter überstimmte die Juror*in-
nen und verhängte die Todesstrafe. Nach heutigem Recht in Alabama wäre das nicht mehr möglich – rückwirkend liesse sich aber nichts machen, sagte der Supreme Court, das oberste Gericht der USA. Auch das Argument, der Staat dürfe nicht zwei Mal versuchen, Smith hinzurichten, verfing nicht. Aus juristischer Sicht beginnt die Exekution erst, wenn das Gift den Blutkreislauf erreicht hat. Also wurde Smith am 25. Januar dieses Jahres zum zweiten Mal auf den Schragen in der Exekutionskammer geschnallt. Auf eigenen Wunsch sollte er nicht mittels Giftspritze sterben, sondern durch Stickstoffhypoxie. Das Prozedere: Ihm wird eine Maske aufgesetzt, er atmet reinen Stickstoff ein. Nach einigen Sekunden wird er bewusstlos, nach wenigen Minuten stirbt er an Sauerstoffmangel. Theoretisch. Die Methode wurde bisher noch nie angewandt. Die Praxis sah gemäss Zeug*innen so aus: Minutenlang habe sich Smith gewunden, habe gestöhnt, sein Körper habe unkontrolliert gezuckt. «Du sollst nicht töten», steht in der Bibel, auf die viele der konservativen US-Richter*innen schwören. Die Verfassung des Landes, die ihnen ebenso sakrosankt ist, verbietet grausame Bestrafung. Auf diesen Grundsatz stützte sich die linke Minderheit am obersten Gericht der USA, die sich erfolglos gegen die Hinrichtung stellte. Smith werde als Versuchskaninchen missbraucht, schrieben sie. Und: «Die Welt schaut zu!» Das stimmt. 9400 Leser*innen des Gratisblatts 20 Minuten nahmen an einer Umfrage zu Smiths Hinrichtung teil: 10 Prozent finden die Todesstrafe sinnvoll, 43 Prozent finden sie zumindest in Extremfällen sinnvoll. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin
in Zürich.
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Verkäufer*innenkolumne
Der Schmerz
halbwegs gerettet. Doch sehen Sie: Es wäre einfacher gegangen. Mit der besagten Zahnspülung. Rein in den Mund und backebackedurchmixen. (Und dazu natürlich, zwei- bis dreimal täglich, das herkömmliche Putzen.)
Als wir in die Schweiz kamen, hiess es, die Zahnpasta Elmex sei das Nonplusultra. Jetzt, bald 50 Jahre später, lerne ich das Elmex’sche Zahnspülmittel kennen. Die grosse Flasche für daheim, die kleine für auswärts. Nun spüle und spüre: Die Chemie zaubert! … als hätte ich mit Bürste und Paste ganz wild geschrubbt, fühlen sich meine Zähne (die verbleibenden) wie Frischlinge an.
Habe einen obdachlosen Freund. Bürste und Paste sind ihm feindlich gesinnt. Aber mit es bisserl Humor hab ich ihm, von Zeit zu Zeit, die Spülung schmackhaft machen dürfen. Danke ihm, denn sein Schmerz traf auch mich.
Ich hatte einst kein Geld. Dachte drum: Kein Geld, kein Zahnarzt. Meine Zähne waren teils am Verfallen. Füllungen, in Kindes Mund gelegt, waren, 25 Jahre danach, herausgefallen. Für Ersatz, wie gesagt, fehlten Mittel. Stattdessen kam irgendwann der Schmerz. Circa zehntägig, schubweise, zwischendurch verklang er vollends. Der Schmerz sprengte den Schädel. Es half nur noch Aspirin. Und schrubben und schrubben, was das Zeugs hielt. Zahnpasta wurde auf die wunden Stellen geschmiert. Später Knoblauch, was viel wirksamer ist. Knoblauch hat mich
NICOL AS GABRIEL, «fascht sächzgi», verkauft Surprise an der Uraniastrasse. Liebt Bilder von Gabriele Münter, Helen Dahm und Martha Haffter. Zeichnungen von Alois Carigiet und Hergé. Und, «bsunders», Literatur.
ILLUSTRATION: HELENA HUNZIKER
Die Texte für diese Kolumne werden in gemeinsamen Workshops von sozialer Arbeit und Redaktion erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
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ILLUSTRATION: CHRISTINA BAERISWYL
habe. Ich begebe mich in die Drehtür und geniesse. Schon kommt die Tür hinter mir näher. Wenn sie mich einholt, rastet der Sicherheitsstopp ein, das Glas steht und ich bin gefangen. Ich schaue zurück. Da ist ein anderer Drehtürpassant, der erst einsteigen will, wenn ich draussen bin. Aber ich nehme mir Zeit, meine Zeit in der Drehtür. Er vernichtet mich mit seinem vernichtenden Blick. Aber ich bin immer noch da. Er starrt mich an, wie ich da in der Drehtür stehe. Ich mime eine Pantomimin, tue an der Türscheibe so, als wäre da keine. Hauche an das Glas, es beschlägt. Zeichne ein Wort, spiegelverkehrt, sodass er es lesen kann: DLUDEG! Er versteht mich nicht.
Moumouni antwortet
Wieso ist immer alles dringend? Ich kaue seit Wochen ununterbrochen Kaugummi. Das macht die Reisszähne reaktionsfähig. Schnell zubeissen. Schnell schnappen. Schnell reagieren. Schnell antworten. Schnell, schnell, schnell. Was für ein Stress. Bis mir der Physiotherapeut irgendwann mit Plastikhandschuhen in den Mund greift und den Kieferkrampf von innen heraus massiert. Manchmal kriege ich den Mund nicht auf, manchmal habe ich aber auch den Mund zu voll, und manchmal auch einfach die Nase. Dann sollte man in einen Wald gehen, denn der tut so, als wär alles kein Problem, alles normal, alles halt entweder Sommer oder Frühling oder Herbst oder Winter, aber nie was ganz anderes, du solltest dich daran gewöhnt haben, eins nach dem anderen, eins nach dem anderen, eins nach dem … Surprise 569/24
Alle gehen wieder krank zur Arbeit, Sachen müssen ja gemacht werden, Sachen müssen fertig werden, Sachen müssen. Zum Glück gibt es den Schnürsenkel, der immer wieder aufgeht. Die Minute Zugverspätung, die in letzter Zeit freudigerweise häufiger vorkommt. Der Blick auf die grosse Turmuhr, die so unleserlich ist, dass es etwas länger dauert, bis man die Uhrzeit abgelesen hat. Die kleinen Pausen im Alltag. Auf Instagram wieder Werbung für proteinreiche Fertiggerichte mit Sonderpreis für sieben Wochentage und Apps, die einem Bücher zusammenfassen oder die Screentime regulieren. Ich muss noch schnell hier und muss noch schnell da. Die einzige Rettung ist die Drehtür. Die Drehtür in dem grossen Gebäude mit der Glasfassade, in dem so viele Leute arbeiten. Mein Lieblingsort, wenn ich Stress
Wir wissen es beide nicht, doch er scheint sich sicher zu sein, dass die Tür nur die eine Funktion hat: Man geht hindurch, speditiv, um keine Probleme zu machen. Aber warum sind Drehtüren dann so kompliziert? «Da muss was dahinterstecken, irgendwas steckt dahinter», denke ich und drehe mich im Kreis. Ein Genuss. Ich drehe mich noch einmal zu ihm und wispere mit übertriebener Mimik, die meine Zähne mitsamt Zahnfleisch entblösst, denn er kann mich ja nicht hören: LET’S GO! Der Kiefer knackst. Ich bleibe ruckartig stehen. Der Sicherheitsstopp rastet wieder ein. Für 20 Sekunden kann der Mann wieder nicht weiter, nachdem er sich doch durch den kleinen Spalt gezwängt hatte. Ich nutze meinen Vorsprung, verlasse die Drehtür und schaue nie mehr zurück. Man kann die Zeit aufhalten. Und Waffenlieferungen, wie man ja auch Hilfsgüterlieferungen aufhalten kann. Und den Rechtsruck. Und den Lauf der Dinge. Und den Zug, wenn er abfahren will. Und Deportationen. Und Fliessbänder und Fast Fashion und den Klimawandel und Kriege. Aber das muss ja auch wieder alles schnell gehen.
FATIMA MOUMOUNI
stellt sich beim Chillen oft vor, was alles stresst.
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Albtraum Wohnraum Teuerung Die steigenden Kosten und der Mangel an bezahlbaren Wohnungen
verstärken schweizweit die sozialen Probleme. Der Bund delegiert Verantwortung und Kosten an die Kantone, SKOS und Caritas schlagen Alarm. TEXT ESTHER BANZ
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FOTOS BODARA
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60 Franken mehr für die Wohnung, 50 Franken zusätzlich für den Strom und das Heizen und nochmals 120 Franken für die Krankenversicherung aller Familienmitglieder, dazu ebenfalls teuerungsbedingt höhere Ausgaben beim Essen – das kann eine Person oder eine ganze Familie finanziell an den Rand bringen. Und genau das passiert jetzt. Die steigenden Kosten haben für unzählige Menschen dramatische Folgen. Jene, die schon zuvor kaum Puffer im Budget hatten, haben jetzt nichts mehr zu schräubeln. Ohne Reserven, Freund*innen oder eine zugewandte Familie wird es unter diesen Umständen auch schwierig, die Miete zu bezahlen. Das Gesetz ist dann gnadenlos: Bei Nichtbezahlung kann die Vermieterin eine Zahlungsfrist von dreissig Tagen ansetzen und die Kündigung androhen. Wird die Miete innerhalb dieser Zeit nicht beglichen, kann sie mit einer weiteren Frist von dreissig Tagen auf das Ende eines Monats kündigen. Bei den Caritas-Beratungsstellen klopfen immer mehr Menschen an, die zu wenig verdienen, um alle Rechnungen bezahlen zu können – aber zu viel, um Sozialhilfe zu erhalten. Hilfe suchen auch Leute, die Sozialhilfe erhalten, deren Miete aufgrund der Erhöhung nun aber plötzlich die Mietzinslimite sprengt. In vielen Gemeinden ist die Sozialhilfe streng beim Einhalten der sogenannten Mietzinslimite, Betroffene müssen die Differenz aus dem Geld, das ihnen fürs Essen bleibt, stemmen. Ferner suchen auch Menschen die Beratungsstellen auf, deren günstige Wohnung abgerissen wird und die seit Monaten eine andere bezahlbare suchen. Eine Studie der ETH Zürich ist vor kurzem zum Schluss gekommen, dass Neubauten – Stichwort verdichtetes Bauen – arme Menschen in Aussenquartiere und Agglomerationen verdrängen.
Für immer mehr Menschen ist bezahlbarer Wohnraum knapp – für andere bereits unrerreichbar wie die Wohntraumwelten in diesen KI-generierten Bildern.
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Verschulden, um die Miete zahlen zu können Caritas Zürich betreibt zur Unterstützung bei der Wohnungssuche das Mentoring-Projekt «Wohnfit» – aber wer einen Eintrag im Betreibungsregister hat, kann sich hier nicht anmelden. Die privat organisierte Anlaufstelle «Hilfe bei der Wohnungssuche» beriet bis vor kurzem auch diese Personen. Jeden Mittwoch haben Marie-Louise Fridez und weitere Freiwillige im Kafi Klick in Zürich Menschen empfangen, die es bei der Suche besonders schwer haben – sei es, weil ihr Deutsch nicht ausreicht, um einen überzeugenden Bewerbungsbrief zu schreiben, oder weil sie keinen Computer haben, mit dem sie einen solchen Brief schreiben könnten. Sie lernte immer wieder Menschen kennen, die sich verschuldeten, um die Miete oder die Krankenkasse bezahlen zu können. «Aber dann haben sie bei der Wohnungssuche noch mehr Probleme», sagt Fridez. Ende Januar empfingen sie verzweifelte Wohnungssuchende zum letzten Mal. Schon vorher hatte Fridez gemahnt: «Wir können nur noch ganz wenigen wirklich helfen, weil es schlicht kaum noch bezahlbare Wohnungen gibt. Die Politik muss sich darum kümmern.» Hilfsangebote wie dieses oder das weiter existierende «Wohnfit» von Caritas Zürich – bei Caritas Aargau gibt es ein ähnliches Projekt namens «Wohnstart» – sind beinahe einzigartig für die Deutschschweiz. Die Wohnkrise schreitet allerdings überall im Land voran. Betroffen sind auch 9
Erwachsene, die im Berufsleben stehen und Kinder haben. niederschwellige Wohnangebote verhindert oder bekämpft werden kann und dass ein Ausschluss aus der Es sind sogar gerade sie, denn «die im unteren Einkommensbereich sind immer noch meilenweit davon entfernt, Gesellschaft frühzeitig verhindert, aufgefangen oder geUnterstützung zu erhalten», sagt Andreas Lustenberger, mildert werden sollte. Auch Markus Kaufmann von der Geschäftsleitungsmitglied von Caritas Schweiz. LustenSKOS sagt: «Wir hoffen immer, dass die Leute zur Sozialhilfe kommen, bevor sie die Wohnung verlieren. Denn berger nennt ein typisches Beispiel: eine vierköpfige Familie, zwei Erwachsene und zwei Kinder. Die Eltern arjemanden zu unterstützen, der keine Wohnung mehr hat, beiten mit einem Pensum von 150 Prozent – er 80 Prozent ist noch schwieriger.» in der Gastronomie, sie 70 Prozent in der Pflege. Einen Bei Caritas ist man besorgt, dass die Zahl der auf Hilfe kleinen Teil der Kinderbetreuungsaufgaben deckt die Kita Angewiesenen dieses Jahr nochmals stark steigen wird ab. Mit ganz normalen Lebenshaltungskosten kommen – wegen der abermals steigenden Miet- und Nebenkossie in einem durchschnittlichen Kanton auf Ausgaben von ten: Um bis zu 15 Prozent, so rechnet das Bundesamt für rund 6000 Franken im Monat. SoWohnungswesen, wird sich das zialhilfeberechtigt wären sie nur, Wohnen bis ins Jahr 2026 wohl wenn sie zusammen weniger als durchschnittlich verteuern. «Viele 3900 Franken Einnahmen hätten. Leute, die bei uns in die Beratung Sie verdienen also quasi 2100 Frankommen, sind extrem nervös und ken «zu viel», um überhaupt Unhaben Angst», erzählt Aline Masé, terstützung zu erhalten. In dieser Leiterin Grundlagen und Fachstelle Spanne dazwischen gebe es viele Sozialpolitik bei Caritas Schweiz. mit Kindern, weil sie wegen der Be«Auch wir haben grosse Angst datreuung die Pensen reduziert havor, was die steigenden Mieten fürs ben. Genau das, sagt Lustenberger, 2024 bedeuten.» Sie hat Einblick seien «die Leute, die jetzt in eine in Budgets und sieht, wie viele «auf Krise kommen». Wenn schon 6000 MARKUS K AUFMANN, SKOS null austariert oder bereits im MiFranken für eine Familie kaum reinus» sind. Sie sagt: «Es verträgt chen – wie soll sie da mehrere hundert Franken mehr fixe eigentlich schon jetzt nichts mehr. Und eine günstigere Kosten stemmen können? «Wir sehen, dass Menschen bei Wohnung muss man erst einmal finden.» Der Budgetsteigenden Wohnkosten bei der Gesundheit, dem Essen posten Wohnen und Energie macht laut Masé im untersoder bei Kursen für die Kinder sparen», sagt Lustenberger. ten Einkommensfünftel ein Drittel des BruttoeinkomDass die Politik das Problem nicht sieht, wie Sozialmens aus. arbeiterin Jasmine Gnesa sagt (siehe Interview S. 13), dürfte sich in nächster Zeit ändern. Denn die ObdachloBald das grösste sozialpolitische Problem sigkeit nimmt zu. Gemäss einer Studie der Fachhochschule Auch Markus Kaufmann von der SKOS sagt: «Wenn die Nordwestschweiz (FHNW) waren zum Zeitpunkt der UnMieten derart steigen, gibt es mehr Working Poor.» Also tersuchung landesweit etwa 2200 Menschen obdachlos, mehr Menschen, die von dem, was sie verdienen, nicht weitere 8000 vom Verlust der Wohnung bedroht. Die Stuleben können. Das falle zuerst in der Sozialhilfe auf, die die wurde im Auftrag des Bundesamtes für Wohnungseine Seismografenfunktion für die sozialen Probleme wesen verfasst (siehe Surprise 525/22 und 526/22). habe. Die steigenden Wohnkosten, sagt auch Aline Masé Unterdessen hat die Stadt Bern bekannt gegeben, dass von Caritas Schweiz, würden bald schon zum grössten die Zahl obdachloser Menschen stark angestiegen sei. sozialpolitischen Problem werden: «Bis in den Mittelstand hinein. Es muss jetzt schnell etwas passieren.» Viele von ihnen litten an psychischen Erkrankungen, heisst es. Die Stadt baut die Obdachlosenhilfe nun aus. Für kurze Zeit schien es, als habe der Bundesrat den Und seit Anfang Februar gibt es eine neue Beratungsstelle. Ernst der Lage erkannt. Wirtschaftsminister Guy ParmeIm Auftrag der Stadt Bern unterstützt die Heilsarmee arlin (SVP) lud zum runden Tisch, um die Wohnkrise in den mutsbetroffene und -gefährdete Menschen bei der WohGriff zu bekommen. Doch die Enttäuschung der Mieter*innungssuche und bei Bewerbungen. Ähnlich wie in Zürich nen und derer, die sie dort vertraten, war nach dem zweidie Stiftung Domicil bietet sie zudem eine Mietkautionsten Treffen, an dem die immobilienbesitzende Seite erneut versicherung an. deutlich in der Überzahl war, gross. Parmelin schlägt Es gibt viele Gründe für Obdach- und Wohnungslosigpreisdämpfende Massnahmen vor, aber erstens lösen keit. Immer häufiger stecke der Druck des Wohnungsmarkdiese das systemische Problem nicht und zweitens bringt tes dahinter, sagt Markus Kaufmann, Geschäftsführer der er die Vorschläge erst im Sommer in die Vernehmlassung. Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS): «Er beWas schneller wirkt, ist die sogenannte Subjekthilfe: wirkt, dass Leute, die bisher noch Wohnraum gefunden Man unterstützt die Mieter*innen beim Bezahlen der haben, diesen jetzt verlieren. Auch Leute, die die Miete nicht Wohnkosten. In der Fachsprache heisst das Instrument mehr bezahlen können, sind von Obdachlosigkeit bedroht. «individuelle Wohnbeihilfen». Weil der Bund die Verantwortung aber an die Kantone delegiert hat, ist es GlücksDenn bei ihnen kommt es zur Zwangsvollstreckung.» Die Sozialwissenschaftler*innen der FHNW kamen sache, ob Armutsbetroffenen in ihrer teuerungsbedingten unter anderem zum Schluss, dass Obdachlosigkeit durch Wohnnot geholfen wird. Die SKOS zählt in einem Grund-
«Wenn die Mieten derart steigen, gibt es mehr Working Poor.»
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Es geht schneller, mit künstlicher Intelligenz eine absurde Zahl Traumwohnungen am Bildschirm zu entwerfen, als eine echte bezahlbare Wohnung für eine durchschnittliche Familie zu finden.
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lagenpapier, das sie im September angesichts der sich verschärfenden Wohn- und Sozialkrise veröffentlicht hat, auf: Im Kanton Basel-Stadt gibt es unter bestimmten Voraussetzungen Familienmietzinsbeiträge für Haushalte mit mindestens einem Kind. Im Kanton Basel-Landschaft existieren ebenfalls Mietzinsbeiträge für armutsbetroffene Familien und Alleinerziehende. Der Kanton Genf sowie verschiedene Gemeinden im Kanton Waadt kennen eine «allocation de logement». Die Mieterschaft kann dieses Wohngeld erhalten, wenn der Mietzins eine zu hohe Belastung für ihr Einkommen und Vermögen darstellt und sie bestimmte Kriterien erfüllt. In den Städten Zürich und Luzern wurden im Zuge der steigenden Energiepreise diesbezügliche Zuschüsse eingeführt. Die SKOS appelliert auch an die Eigentümer*innen von Mietliegenschaften: Sie sollen doch bitte davon absehen, die aufgrund der Hypothekarzinserhöhungen möglichen Mietzinsanpassungen voll auszuschöpfen. Der Bund, die Kantone und Gemeinden sollten ihre Massnahmen zur Förderung von bezahlbarem Wohnraum weiter ausbauen, mit der Betonung auf «bezahlbar», wie Markus Kaufmann sagt. In ländlichen Regionen gibt es beispielsweise noch kaum Wohnbaugenossenschaften, in den Städten können diese wegen der hohen Bodenpreise kaum noch wachsen. 12
Aline Masé von Caritas Schweiz erachtet auch Vorgaben bei baulichen Verdichtungsprojekten und weitere Massnahmen gegen die Verdrängung, wie sie der Mieterinnenund Mieterverband vertritt, als unumgänglich. Und sie plädiert für Ergänzungsleistungen für alle, die elementare Ausgaben nicht mehr stemmen können – eine Art Grundeinkommen, aber mit Bedingungen. Weil das alles Zeit braucht, kommt man jetzt um schnelle Massnahmen, die den Betroffenen direkt helfen, nicht herum. Bei den Limiten, die für die Mieten von Menschen in der Sozialhilfe gelten, appelliert die SKOS deshalb eindringlich an die Gemeinden, diese weniger streng zu handhaben. Ja, mit ihrem wohnpolitischen Appell habe die SKOS Alarm schlagen wollen, bestätigt Geschäftsführer Kaufmann: «Die Lage ist ernst.»
Dies ist die aktualisierte und leicht gekürzte Version des Artikels, der im Dezember 2023 in der Zeitschrift «Mieten + Wohnen», herausgegeben vom Mieterinnen- und Mieterverband, erschienen ist.
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Damit Wohnen nicht für viele zum unerreichbaren KI-Traumbild wird, müsste jetzt was passieren, warnen Expert*innen.
«Sie tun Wohnungs- und Obdachlosigkeit als Einzelfälle ab» Viele Menschen erhalten erst dann Hilfe, wenn sie ihre Wohnung bereits verloren haben. Und die Politik sieht das Problem nicht. Das sagt Sozialarbeiterin Jasmine Gnesa, die das Phänomen wissenschaftlich untersucht hat. INTERVIEW LEA STUBER
Was bräuchte es dazu? Zahlen beispielsweise, es gibt schlicht keine Statistiken. Dadurch fehlen Strategien und Mittel, um mit den Schwierigkeiten umzugehen. Die Politik sieht das Problem nicht, Wohnen gilt als Privatsache. Dass dieser Lebensbereich von der Politik so wenig Aufmerksamkeit bekommt, bedaure ich. Wohnen ist eine wichtige Voraussetzung, um sich beruflich, sozial und finanziell wieder zu integrieren. Zu welchen Ergebnissen sind Sie in Ihrer Arbeit gekommen? In meiner Untersuchung hat sich gezeigt: Die Gemeinden haben nur ihre eigene Gemeinde im Blick und tun Wohnungs- und Obdachlosigkeit als Einzelfälle ab. Gäbe es Zahlen und Daten, würde vielleicht festgestellt werden, dass es mit der präventiven Beratung allein nicht getan ist und dass man etwa das Angebot an Notunterkünften ausbauen müsste. Doch die Zuständigkeiten sind nicht klar. Muss der Kanton Mandate erteilen und den Leistungsvertrag anpassen? Müssen die Gemeinden handeln, beispielsSurprise 569/24
dringend notwendig, um zu verhindern, dass das sozialpolitische Problem noch grösser wird. Immer öfter hat nämlich, wer die Wohnung verliert, keine Anschlusslösung. Befragte in meiner Forschungsarbeit sagten: Früher musste einmal im Jahr jemand in einem Hotel untergebracht werden – inzwischen sind es ganz viele. Dabei belasten Notunterkünfte in Hotels die öffentliche Hand x-fach stärker als Zuschüsse, um Menschen ihre Wohnung zu erhalten.
weise mit Notunterkünften? Oder muss zuerst der Sozialdienst Beratungsprozesse anpassen? Niemand fühlt sich zuständig, und dadurch sieht sich niemand gezwungen zu handeln. Das verhindert eine Zusammenarbeit in der Region, die so wichtig wäre. Hat das Fehlen von Wohnhilfe-Angeboten auch mit rechtlichen Grundlagen zu tun? In der Schweiz gibt es keine staatliche Pflicht, das Recht auf Wohnen sicherzustellen. Dieses Recht ist viel zu wenig klar definiert. Unsere Gesetzesgrundlage ist höchst unpräzise, und damit fängt das ganze Problem an. Es gibt zwar in der Bundesverfassung den Artikel 12, das Recht auf Hilfe in Notlagen. Aber ein eigentliches «Recht auf Wohnen» oder auf Wohnhilfe ist dort nicht festgeschrieben. Das wird auf die Kantone abgeschoben. Mich hat das zu der Schlussfolgerung gebracht: Dass das Grundrecht auf Wohnen so unpräzise formuliert ist, führt dazu, dass die damit verbundenen sozialen Probleme nicht angegangen werden. Was geschieht, wenn mir meine Vermieterin kündigt, weil ich die Miete nicht zahlen kann, und ich keine neue Wohnung finde? Sie müssen im Prinzip zuerst in die Sozialhilfe fallen, um Anrecht auf finanzielle Unterstützung zu haben. Wenn Sie sich bei uns auf dem Sozialdienst melden und wir feststellen, dass Sie keinen Anspruch haben, können wir in seltenen Fällen und unter bestimmten Umständen höchstens einen Vorschuss von einer Monatsmiete sprechen, wenn dadurch eine Wohnungsund Obdachlosigkeit vermieden werden kann. Vielen würde dies bereits helfen, um die Wohnung behalten zu können. Und was, wenn es diesen Vorschuss nicht gibt und jemand die Wohnung verliert? Wenn jemand die Wohnung schon verloren hat, wird es viel schwieriger zu helfen – und dann beschäftigen wir uns rasch mit dem Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Mittel wie diese Vorschüsse wären also
Warum werden diese Zuschüsse nicht standardmässig gesprochen? Weil es ausserhalb der Sozialhilfe kaum finanzielle Mittel gibt, um Personen bei der Miete zu unterstützen, höchstens bei Stiftungen. Und der Beratungsauftrag des Sozialdienstes ist im Bereich Wohnen zu wenig klar definiert. Wir Sozialarbeiter*innen wissen gar nicht genau: Wie stark sollen, können, dürfen wir eingreifen? Unterstützen wir nur, wenn jemand akut bedroht ist von Wohnungs- und Obdachlosigkeit? Oder auch, wenn jemand in einer prekären Wohnsituation ist und beispielsweise eine günstigere Wohnung suchen muss, weil die Miete im Rahmen der Sozialhilfe zu hoch ist? Und ab wann reden wir mit der Vermieterschaft? Oder unterstützen jemanden dabei, ein Gesuch bei einer Stiftung einzureichen? Entsprechend ist die Unterstützung im Einzelfall abhängig von der jeweiligen Sozialarbeiter*in und ihren zeitlichen und persönlichen Ressourcen – was meiner Meinung nach nicht sein dürfte. Mitarbeit von ESTHER BANZ FOTO: ZVG
Jasmine Gnesa, immer mehr Mieter*innen haben Mühe, ihre Wohnung halten zu können. Wie sollten Gemeinden oder Kantone sie unterstützen? Jasmine Gnesa: Die SKOS empfiehlt, beim Sozialdienst eine spezifische Fachstelle fürs Wohnen zu integrieren, mit entsprechenden Ressourcen für eine professionelle Beratung. Wo die Menschen Unterstützung bei der Wohnungssuche oder bei Wohnungsbesichtigungen erhalten. Diese Fachstelle wäre nicht nur für diejenigen offen, die Anspruch auf Sozialhilfe haben, sondern für alle. Vergleichen wir mit der Arbeitsvermittlung. Da gibt es Fachstellen, Beratungen, Integrationsangebote – das Angebot ist riesig. Und beim Wohnen? Da gibt es nichts. Ich vermisse ein Wohnhilfesystem mit Fachstellen und Vermittlungen. Wichtig wäre dabei die Unterstützung, bevor die Menschen ihre Wohnung verlieren.
JASMINE GNESA, 27, ist Sozialarbeiterin beim Sozialmedizinischen Zentrum Oberwallis und hat sich für eine wissenschaftliche Arbeit mit der Wohnhilfe im Oberwallis und ihren Lücken befasst. Ihr Fokus lag dabei auf dem Thema Wohnungsund Obdachlosigkeit.
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«Niemand schämt sich dafür, eine höhere AHV-Rente zu beziehen» Alter In der Abstimmung über eine 13. AHV-Rente werden viele Bereiche und Funktionen des Sozialstaats vermischt, sagt Sozialwissenschaftler Carlo Knöpfel. Es lohnt sich, ganz genau hinzuschauen. INTERVIEW KLAUS PETRUS
Carlo Knöpfel, die Schweizer*innen stimmen am 3. März über die Einführung einer 13. AHV-Rente ab. Zunächst eine grundsätzliche Frage: Wie gut geht es der AHV? Carlo Knöpfel: Ich würde sogar noch grundsätzlicher ansetzen wollen, nämlich: Was ist eigentlich die AHV? Es lohnt sich in der derzeitigen Debatte daran zu erinnern, dass die AHV eine Sozialversicherung ist. Und wie bei jeder anderen Versicherung haben alle, die einzahlen, im Schadensfall Anspruch auf eine Leistung. Bei der AHV ist dieser Schadensfall, wenn man so will, der Eintritt ins Rentenalter. Dabei spielt es keine Rolle, ob jemand auf diese Leistung angewiesen ist. Das Soziale an diesem Versicherungsmodell besteht darin, dass Leute, die gut verdienen, mehr einzahlen als den Betrag, den sie einmal als Rente beziehen werden – und umgekehrt Leute mit niedrigem Einkommen unter Umständen eine höhere Rente erhalten als den Betrag, den sie einbezahlt haben. Um auf die Frage zurückzukommen: Natürlich kann sich die wirtschaftliche Situation in den kommenden Jahren ändern, doch im Moment geht es der AHV gut. Es gibt genügend Leute, die genügend einzahlen. Neben den Lohnabgaben kommen bekanntlich weitere Einnahmequellen hinzu, wie die Mehrwertsteuer, die zweckgebundene Tabak- und Alkoholsteuer, die Spielbankenabgabe sowie Einnahmen aus der Bundessteuer.
Wer einzahlt, hat ein Anrecht darauf, egal, ob sie oder er die betreffende Summe benötigt. Wer dieses Geld nicht braucht, soll es verschenken oder spenden. Und für gefährlich halte ich diesen Diskurs, weil damit die Gefahr droht, dass das Solidarprinzip der AHV untergraben wird: Wenn wir darüber zu diskutieren beginnen, wer eigentlich auf diese 13. AHV-Rente angewiesen ist, wird es nicht wenige Leute geben, die sich sagen: «Stimmt, ich brauche sie nicht, also muss ich auch nicht einzahlen!» Fürchten Sie eine Entsolidarisierung oder gar das Ende der AHV? So könnte man es sagen. Kommt ein weiterer, für mich wichtiger Punkt hinzu: Wenn wir anfangen, bei der AHV von Bedürftigkeit zu reden, rücken wir sie in die Nähe der Sozialhilfe, und das ist einfach nicht der Sinn der AHV, sondern Aufgabe der EL.
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Schliessen wir noch eine grundsätzliche Frage an: Wie geht es den Rentner*innen in der Schweiz? Jetzt wird es komplex. Was man sagen kann: Es gibt eine Ungleichheit, die grösser ist als in der Erwerbsbevölkerung. Die oberen 20 Prozent der Rentnerpaarhaushalte haben monatlich im Schnitt 16 000 Franken zur Verfügung, die unteren 20 Prozent im Schnitt 4000 Franken, inklusive Ergänzungsleistungen (EL). Wichtig sind dabei die Quellen des Einkommens: Bei den oberen 20 Prozent macht die AHV-Rente nicht mal 20 Prozent aus, der Rest speist sich aus der zweiten und dritten Säule, manche arbeiten weiter, zum Beispiel im Verwaltungsrat oder als Treuhänder*innen und haben namhafte Vermögenserträge. Bei den unteren 20 Prozent macht die AHV dagegen 85 Prozent des Einkommens aus, und da ist es offensichtlich, dass eine 13. AHVRente einen Unterschied macht. Dazwischen gibt es eine breite Mittelschicht mit angespartem Vermögen oder Wohneigentum. Das bedeutet, wir können uns eine 13. AHV-Rente leisten, jedoch werden auch viele davon profitieren, die diese gar nicht nötig haben. Korrekt? Ich halte diese Rede von «profitieren» im Zusammenhang mit der AHV nicht bloss für falsch, sondern auch für gefährlich. Für falsch deswegen, weil die AHV, wie gesagt, eine Versicherung ist: 14
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Bleiben wir einen Moment bei der Entsolidarisierung: In der Debatte um die AHV geht es auch um den Generationenvertrag, der angeblich auf dem Spiel steht – etwa dann, wenn die jüngere Generation die jetzigen Rentner*innen oder jene, die an der Schwelle zum Rentenalter stehen, nicht weiter finanzieren will, weil diese «Boomer» in ihrem Erwerbsleben schon genügend Vermögen anhäufen konnten. Abgesehen davon, dass genau diese Generation von «Boomern» schon viel vererbt hat oder noch vererben wird, ist das ein zu enges Verständnis vom Generationenvertrag. So konnte die Generation der heute 30- bis 40-Jährigen im Schnitt eine viel längere Ausbildungszeit geniessen als die ältere Generation, was ja auch finanziert werden musste – und zwar von deren Eltern. Auch ist es oft der Fall, dass Grosseltern die Enkel*innen hüten, damit ihre Kinder, darunter vor allem auch die Töchter, arbeiten können. Das sind bloss zwei Beispiele, die zeigen, dass der Generationenvertrag mehr umfasst als die Frage: Sollen die Jungen für die Alten bezahlen? Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass «jung» gerade im Zusammenhang mit der AHV ein ziemlich relativer Begriff ist: Alle, die noch nicht im Rentenalter sind, gelten hier als jung, auch ein 64-Jähriger wie ich. Alt bin ich erst ab 65.
eine 13. AHV-Rente und die Diskussion zu den EL strikt auseinanderhalten? Natürlich gibt es einen Zusammenhang, schliesslich besteht eine der Aufgaben der EL darin, eine zu tiefe AHV-Rente auszugleichen. Jedoch finde ich es unzulässig, die 13. AHV-Rente gegen eine Erhöhung der EL auszuspielen oder umgekehrt. Im Initiativtext heisst es dazu übrigens ausdrücklich, dass die 13. Rente bei der Berechnung der EL, in die heute auch die AHV-Bezüge fliessen, nicht miteinbezogen werden dürfe. Trotzdem: Wenn die EL auch die Funktion haben, eine zu tiefe AHV-Rente auszugleichen, wäre es dann nicht naheliegender und auch effizienter, die AHV-Minimalrente von heute 1250 Franken zu erhöhen? Durchaus. Auf der politischen Ebene wäre das ein sinnvoller Gegenvorschlag zur 13. AHV-Rente gewesen. Das scheint mir nun aber ein Widerspruch zu sein. Sagten Sie nicht, man dürfe die AHV nicht zu einer Bedarfsleistung umfunktionieren bzw. man solle ihr nicht Aufgaben zuweisen, welche die EL zu erfüllen haben? Ich sehe da keinen Widerspruch. Auch mit einer Erhöhung der Minimalrente bleibt die AHV, was sie in ihrem Kern ist, nämlich eine Sozialversicherung. Weil alle, die einzahlen, auch ein Anrecht auf diese Leistung haben, würden bei einer Erhöhung der Minimalrente eben auch alle, die tiefe Renten haben, mehr bekommen. Egal, ob sie das Geld brauchen oder nicht. Ich sehe das auch ein stückweit pragmatisch: Anders als die EL ist die AHV nicht mit einem Stigma belegt. Eine höhere AHV-Rente zu beziehen, hat hierzulande nichts Anrüchiges, niemand schämt sich dafür. Im Gegenteil, es ist das Normalste auf der Welt.
Im Fall etwa einer Verteuerung der AHV macht es aber doch einen Unterschied, ob man als 30-Jährige noch 35 Jahre einbezahlen muss oder, wie Sie, nur noch ein Jahr. Das stimmt, nur darf das kein Argument sein. Anderenfalls könnte man am System AHV nie etwas verändern. Zurück zur 13. AHV-Rente, wo immer wieder von der Bekämpfung der Altersarmut die Rede ist … Auch das scheint mir eine Verschiebung des Diskurses zu sein. Die Initiative heisst «Für ein besseres Leben im Alter» und nicht «Zur Bekämpfung der Altersarmut». Letzteres ist, jedenfalls gegenwärtig, Aufgabe der EL. Ob es sich hierbei um ein zielführendes Mittel handelt, ist eine andere Frage.
Dennoch wäre es wünschenswert, dass auch der EL-Bezug nicht weiter stigmatisiert wird. Wie kann man das erreichen? Damit sind wir wieder am Anfang des Gesprächs, nämlich an einem grundsätzlichen Punkt. Ich denke, es sollte sich etwas am Selbstverständnis des Sozialstaats ändern. Der Staat ist nämlich nicht bloss in der Pflicht, Geld in Form von Steuern zu verlangen oder, wie dies bei den EL teils in überzogener Art der Fall ist, Rechtfertigungen einzuholen, was man mit seinem Vermögen gemacht hat. Er hat auch die Pflicht, die Bürger*innen auf ihre Rechte hinzuweisen und sie aktiv darüber zu informieren, was ihnen zusteht, was buchstäblich ihr Anrecht ist und wofür sie sich also nicht zu schämen brauchen. Der Staat, mit anderen Worten, muss einsehen, dass er gegenüber uns Bürger*innen nicht bloss eine Holschuld geltend machen darf, sondern auch eine Bringschuld hat. Das wäre in meinen Augen ein wichtiger Schritt in Richtung Entstigmatisierung des Bezugs von Sozialleistungen. Doch davon sind wir im Moment noch weit entfernt.
Dabei sagte Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider jüngst in einem Interview, wer ein Anrecht auf EL habe, müsse sich dafür nicht schämen. Und das ist richtig so, nur: Die Tatsache, dass sie dies ausdrücklich sagen muss, zeigt, dass der Bezug von EL in unserer Gesellschaft nach wie vor stigmatisiert ist. Sie sagten, man dürfe die AHV nicht zur einer Bedarfsleistung umdeuten, das sei Sache der EL. Sollte man also die Debatte um Surprise 569/24
FOTO: ZVG
Es gibt Studien, denen zufolge allein im Kanton Basel-Stadt mehr als ein Viertel der Personen keine Ergänzungsleistungen beziehen, obschon sie Anrecht darauf hätten. So ist es, und die Gründe dafür sind vielfältig. Manche wissen schlicht nicht, dass ihnen EL zustehen, andere scheitern an den behördlichen Hürden oder sie fühlen sich bevormundet, was nachvollziehbar ist. Die EL haben etwas Paternalistisches, und manchmal tragen sie gar Züge einer Erziehungsmassnahme: Will eine Person EL beziehen, muss sie vor dem Staat zum Beispiel rechtfertigen, was sie seit dem fünfundfünfzigsten Lebensjahr mit ihrem Geld angestellt hat. Hinzu kommt bei vielen offenbar eine Scham, EL zu beziehen.
PROF. DR. CARLO KNÖPFEL, 64, ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz mit Schwerpunkt Altersarmut und Sozialleistungen. Er schreibt für Surprise die Kolumne «Die Sozialzahl».
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Europas vergessene Sklav*innen Rom*nja Mehr als fünfhundert Jahre lang hielten die Kirche und der Adel mitten in Europa Rom*nja als Sklav*innen. Bis heute ist wenig darüber bekannt. Zwei Forscherinnen wollen das ändern. TEXT EVEN SKYRUD
Anmerkung: In Text sowie der Bebilderung werden diskriminierende und rassistische Wörter und Bilder reproduziert, um den Schrecken und die Macht ebendieser zu dokumentieren. Dies kann für Betroffene verstörend sein und ist immer eine Abwägung zwischen Aufklärung und Rücksichtnahme.
Wenn es um die transatlantische Sklaverei geht, ist heute klar, dass es in erster Linie Europäer*innen waren, die diese ermöglicht und davon profitiert haben. Forschung, Kunst und Kultur haben uns Einblicke in die unmenschliche Brutalität des Handels und die extreme Härte des Lebens auf den Plantagen des US-amerikanischen Südens und auf den Feldern der Karibik ermöglicht. Ist jedoch von Sklaverei in unserem Teil der Welt die Rede, so tendiert man dazu, an weit zurückliegende Zeiten zu denken – an jene Männer und Frauen, die beispielsweise von Römern oder Wikingern in Besitz genommen wurden. Dabei ist uns Sklaverei auf europäischem Boden zeitlich ebenso nahe wie die Sklaverei Amerikas. Mitten in Europa wurden Menschen in die Sklaverei hineingeboren, Menschen, die als Vermögenswerte ver- und gekauft werden konnten. Und ähnlich wie auf der anderen Seite des Atlantiks hat das Erbe der Sklaverei das Leben der Betroffenen und ihrer Nachkommen in Europa über Generationen hinweg geprägt. Surprise 569/24
ILLIUSTRATION CAMILLE FRÖHLICH
Solvor Mjøberg Lauritzen arbeitet als Forscherin an der Södertörn Universität in Stockholm und der MF Scientific University in Oslo, wo auch Maria Dumitru forscht. Dumitru stammt aus Rumänien und engagiert sich seit Jahren für die Rechte von Rom*nja. Heute arbeiten die beiden Historikerinnen gemeinsam an einem Forschungsprojekt über die Versklavung von Rom*nja auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens. Lauritzen sagt: «Kaum jemand weiss, dass die Rom*nja hier früher als Sklav*innen gehalten wurden. Wenn wir aber ein Bewusstsein für diese Geschichte bekommen, werden wir auch ein neues Verständnis für ihre heutige Situation schaffen.» Arbeitskräfte dringend gebraucht In Rumänien wurden Rom*nja lange als «țigani» bezeichnet – eine Fremdbezeichnung. Es entspricht dem im Deutschen daraus abgeleiteten Z-Wort und leitet sich möglicherweise vom griechischen «athinganoi» her, einer Bezeichnung für eine christliche Splittergruppe in Kleinasien, welche mit «die Unberührbaren» übersetzt werden kann. Anderen Quellen zufolge ist die Herkunft des Wortes unklar. Die Imagination der Rom*nja als Feind*innen Gottes wurde in ganz Europa als Vorwand für deren Verfolgung benutzt. Wie und warum Rom*nja in das Gebiet des heutigen Rumänien gelangten, ist ebenfalls unklar.
Man geht davon aus, dass ihre Ahn*innen aus dem heutigen Nordwestindien auswanderten. Auf dem Gebiet des heutigen Rumänien kamen die Einwandernden den Machthabern lokaler Herzogtümer wie der Walachei und Moldawien gerade recht: Wo dringend neue Arbeitskräfte gebraucht wurden, landeten die Neuankömmlinge schnell in der Sklaverei. Auch auf die ethnische Mehrheit in Rumänien hatte die Sklaverei einen starken Einfluss, Nicht-Rom*nja wurde eine Sklavenhaltermentalität vermittelt, fügt Dumitru hinzu. «Der Rassismus, mit dem die Rom*nja heute konfrontiert sind, hat seine Wurzeln in dieser Zeit», erklärt sie. «Heute noch stellen wir Rom*nja als ‹Schmarotzer*innen› dar, während die ethnische Mehrheit der Rumän*innen als ‹die Guten› betrachtet wird. Damit einher geht eine ungerechte Verteilung von Ressourcen: Die meisten Rom*nja leben in Armut am Rand der Gesellschaft und haben keinen gleichberechtigten Zugang zu Ressourcen wie Gesundheitsversorgung und Bildung.» Der rumänische Politiker Mihail Kogălniceanu beschrieb im 19. Jahrhundert die Situation der Sklav*innen in dem Dorf, in dem er aufwuchs. «Ich sah Menschen, die Ketten an Händen oder Füssen trugen. Bei einigen waren sogar eiserne Hörner an der Stirn und um den Hals befestigt», schrieb er. «Neben Auspeitschungen gehörten das Aufhängen an den Beinen über einem 17
«Unsere Quellen berichten, dass die Kirche in Rumänien die Rom*nja weiterhin schlecht behandelt.» FOTO: ZVG
SOLVOR MJØBERG LAURITZEN arbeitet an der Södertörn Universität in Stockholm und der MF Scientific University in Oslo.
Feuer, das nackte Stehen im Schnee oder in einem eiskalten Fluss und der Hungertod zu den Strafen.» Kogălniceanu spielte eine wichtige Rolle bei der Abschaffung der Sklaverei im Land. Andere Augenzeugenberichte über die Not der Rom*nja stehen in Briefen von schockierten Reisenden, die sich über die speziellen Lebensbedingungen dieser Gruppe ausliessen. Offizielle Dokumente hingegen schweigen sich über die Härten aus, denen die Rom*nja ausgesetzt waren, sie geben jedoch Aufschluss über die Mentalität der orthodoxen Kirche sowie des Adels. Aus den Kaufverträgen der Sklavenmärkte beispielsweise geht hervor, dass ein kräftiger Rom im Jahr 1600 so viel wert war wie ein Pferd. Anderthalb Jahrhunderte später, 1760, kosteten drei Rom*nja so viel wie ein Haus. Noch rund fünfzig Jahre später, im Jahr 1814, wurde ein Rom von einem rumänischen Kloster für denselben Preis verkauft wie drei Büffel. Dunkle Vergangenheit der Kirche Die Versklavung der Rom*nja ist eng mit der Geschichte von Klöstern und Kirchen in Rumänien verwoben. Gleich der erste schriftliche Beleg für die Anwesenheit von 18
Rom*nja in der Region ist beispielsweise ein Dokument, das die Schenkung von vierzig Rom*nja-Familien durch den Prinzen der Walachei an ein örtliches Kloster bestätigt. Die Orthodoxe Kirche war eine der grössten Sklavenhalterinnen des Kontinents. Damit muss sich die Institution laut der Forscherin und Aktivistin Maria Dumitru jedoch erst noch auseinandersetzen. «Viele in der Kirche denken, dass es ihrem Ruf schadet, wenn sie über die dunkle Vergangenheit sprechen», sagt sie. «Sie weigern sich, das Thema Sklaverei zu
erforschen, und die Kirchenleitung verbietet den Priestern, das Thema anzusprechen. Wenn sie überhaupt darüber sprechen, dann sagen sie, dass die Rom*nja von der Sklaverei profitiert haben, und versuchen so, die Gräueltaten herunterzuspielen. Viele haben die Kirche um eine Entschuldigung gebeten, aber diese weigert sich, sich für ihre Geschichte als Sklavenhalterin zu entschuldigen.» Lauritzen verweist ergänzend darauf, dass sich die Haltung der Kirche nicht nur in mangelndem Wissen und fehlender An-
Unterschiedliche Formen der Diskriminierung Während Rom*nja wie auch Sinti*zze oder Jenische hierzulande und im Westen seit dem Spätmittelalter ausgegrenzt und immer wieder vertrieben wurden, waren sie in vielen Gegenden Osteuropas in nahezu allen Bevölkerungsschichten präsent – teils assimiliert, teils als freie Handwerksleute, viele aber auch als Leibeigene und billige Arbeitskräfte auf den Grossgrundbesitzungen. Die schlimmste Form der Ausbeutung erlitten sie bis zum «Gesetz über die Emanzipation aller Zigeuner» vom 20. Februar 1856 in den Donaufürstentümern als Sklav*innen. Der 20. Februar ist seit 2011 denn auch rumänischer Gedenktag für die Befreiung der Rom*nja. Wie auch in den US-Südstaaten ging die Sklavenbefreiung nicht mit der Zuteilung von Landbesitz einher und schuf so ebenso eine grosse, mittellose Landbevölkerung. WIN
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erkennung äussere. «Unsere Quellen berichten, dass die Kirche in Rumänien die Rom*nja weiterhin sehr schlecht behandelt», sagt sie. «In Transsilvanien wurde eine Rom*nja-Siedlung mit Bulldozern platt gemacht, um Platz für eine neue Kirche zu schaffen. Die Bewohner*innen wurden auf eine Giftmülldeponie am Rande der Stadt umgesiedelt. Wir fanden auch Beispiele dafür, dass Priester Rom*nja den Zutritt zur Kirche verweigerten oder ihnen bis heute nicht erlauben, ihre Muttersprache zu sprechen. Wir betrachten dies als Teil des Erbes der Sklaverei.» Blick auf transatlantische Sklaverei Die Folgen für die Rom*nja, die aus diesen Regionen stammen, sind aus Sicht der beiden Historikerinnen bis heute schwerwiegend und anhaltend. «Wir verwenden den Begriff posttraumatisches Sklavereisyndrom, um die Auswirkungen auf psychologischer Ebene zu beschreiben», sagt Lauritzen. «Wenn Familien fünf Jahrhunderte lang in Knechtschaft gehalten werden, wird eine bestimmte Mentalität von einer Ge-
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neration zur nächsten weitergegeben. Viele Rom*nja hier haben zum Beispiel das Gefühl, weniger wert zu sein als andere.» Zusätzlich zur Versklavung und Entmenschlichung war auch die alltägliche Behandlung von Rom*nja derart brutal, dass sich ein Blick auf die transatlantische Sklaverei und die Lage der dortigen Nachfahren aufdrängt. Lauritzen zumindest hält den Vergleich für aufschlussreich. «Als Martin Luther King nach der Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 1964 Stockholm besuchte, traf er sich mit der schwedischen Rom*nja-Aktivistin Katarina Taikon», erzählt Lauritzen. «Er erkannte an, dass sie beide den gleichen Kampf führten. Er wies auf die vielen Parallelen zwischen den Afroamerikaner*innen in den USA und den Rom*nja in Europa hin. Aber die starke US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die Martin Luther King vertrat, hat in Europa keine vergleichbare Kraft entwickelt.» Die Erfahrung des Bürgerkriegs, die US-Verfassung und die Entstehung der sozialen Protestbewegungen in den
1960er-Jahren gaben den US-Amerikaner*innen einen politischen Kontext, den man in Rumänien nicht hatte. «Rassismus und Diskriminierung sind in der rumänischen Gesellschaft nach wie vor allgegenwärtig», sagt Lauritzen. «Es ist eine verbreitete Meinung, dass Rumänien alles für seine Rom*nja-Bevölkerung getan, aber nichts funktioniert hat. Anstatt die Diskriminierung als Verletzung von Rechten zu sehen, sagen die Leute: ‹Sie wollen ja nicht arbeiten› oder ‹Sie wollen nicht zur Schule gehen›.» Auch Dumitru hält deshalb eine Aufarbeitung der Sklaverei für wichtig. «Wir erfahren nichts über die Sklaverei, die Verfolgung der Sklav*innen, die Vergewaltigung der Rom*nja oder den enormen Beitrag der Sklav*innen zum heutigen Rumänien», sagt sie. «Das Wissen darüber könnte aber ein erster Schritt im Kampf gegen Rassismus und zur Wiedergutmachung sein.» Abgeschafft wurde die Sklaverei in der Walachei und Moldawien im Jahr 1856. Die Klöster waren die Letzten, die diese Praxis aufgaben. Rund 250 000 Sklav*innen waren ab diesem Zeitpunkt zwar nicht mehr das Eigentum anderer Menschen, dennoch erhielten sie keine Entschädigung, kein Land oder andere Formen der Unterstützung, um ein neues Leben zu beginnen. Im Gegenteil, es waren die ehemaligen Sklavenhalter*innen, denen von der Regierung eine Entschädigung für die verlorenen Arbeitskräfte zugesprochen wurde. Wie im US-amerikanischen Süden lebte das rassistische Bild, das die Sklavenhalter*innen von den Menschen, die sie einst besassen, geschaffen hatten, noch lange weiter. Es wurde zur Volksweisheit, dass man den Rom*nja nicht trauen dürfe, sie notorische Kriminelle mit geringer Intelligenz seien und die Frauen eine animalische Sexualität hätten. Lauritzen sagt: «Viele glauben, dass Antiziganismus die akzeptierteste Form von Rassismus ist, auch bei uns im Westen. Man muss sich nur die Kommentare ansehen, wenn über Armutsmigration und Betteln geschrieben wird. Es wird mit zweierlei Mass gemessen. Einerseits wird behauptet, die Rom*nja würden lügen, wenn sie sagen, sie seien arm. Andererseits heisst es, dieselben Gruppen würden von finsteren Gestalten im Hintergrund ausgebeutet. Wenn die Menschen das tatsächlich glauben, dann ist es doch erstaunlich, dass sie keine Bereitschaft zeigen, den Opfern dessen zu helfen, was sie für moderne Sklaverei halten. Viele Men19
«Der Rassismus, mit dem die Rom*nja heute konfrontiert sind, hat seine Wurzeln in der Zeit der Sklaverei.» FOTO: ZVG
MARIA DUMITRU forscht an der MF Scientific University in Oslo und engagiert sich für die Rechte von Rom*nja.
schen sind wirklich einzig daran interessiert, Rom*nja aus ihrem Blickfeld zu entfernen.» (Siehe auch Surprise 568/24.) «Zigeunerklausel» 1956 aufgehoben Nicht nur in Rumänien, in ganz Europa haben unzählige Gesetze den Weg für die Deportation und Verfolgung der Rom*nja geebnet. In Schweden zum Beispiel wurde die Tötung von Roma 1637 legalisiert. Im norwegischen Ausländergesetz von 1927 heisst es: «Zigeunern und anderen Landstreichern, die nicht nachweisen können, dass sie die norwegische Staatsbürgerschaft besitzen, ist die Einreise in das Königreich zu verweigern.» Diese sogenannte
«Zigeunerklausel» wurde erst 1956 wieder aufgehoben. Als 1934 68 Rom*nja, die meisten von ihnen norwegische Staatsbürger*innen, die Einreise nach Norwegen verweigert wurde, sagte Ragnvald Konstad, Leiter des zentralen Passamtes: «Es macht mir wirklich Freude, ihnen die Einreise zu verweigern.» Paal Berg, Oberster Richter am Obersten Gerichtshof, sagte über die Rechtsgrundlage für die Einreiseverweigerung, dass «dieses Gesetz neu ist, aber keiner weiteren Begründung bedarf». 66 norwegische Rom*nja wurden nach Auschwitz-Birkenau deportiert, von denen nur vier überlebten. Die genaue Zahl der während des Zweiten Weltkrieges getöteten
Antiziganismus und Stereotypisierung Der Begriff «Antiziganismus» ist aufgrund des Wortstamms «zigan» nicht unumstritten. Die Fachstelle für Rassismusbekämpfung der Schweiz verwendet die Formulierung «Rassismus gegen Jenische, Sinti und Roma». Trotzdem spricht einiges für den Begriff «Antiziganismus» wie Björn Budig vom Berliner Bildungsforum gegen Antiziganismus erklärt: «Der Begriff verweist nicht auf die betroffene Gruppe, sondern auf die Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft zurück.» In diesem Sinne wird der Begriff auch hier im Artikel verwendet.
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Rom*nja ist unbekannt, man geht von schätzungsweise 500 000 Menschen aus (zur Rolle der Schweiz: siehe Zweittext S. 21). Aufarbeitung weit entfernt «Dass auch Rom*nja dem Holocaust zum Opfer fielen, ist wahrscheinlich besser bekannt als die Geschichte ihrer Versklavung», sagt Lauritzen. «Es hat lange gedauert, bis der Rom*nja-Holocaust als das anerkannt wurde, was er war: ein Völkermord. Erst 1963 konnten die Betroffenen eine Entschädigung durch die Bundesrepublik Deutschland beantragen. Es ist nun bald 170 Jahre her ist, dass die Rom*njaSklav*innen in Rumänien befreit wurden, doch wir sind von einer ähnlichen Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte noch weit entfernt.» Obwohl sie auch immer wieder auf Vorurteile und Ignoranz stosse, ist Solvor Mjøberg Lauritzen optimistisch. Sie ist sich sicher, dass eine neue Generation von Rom*nja daran ist, sich gegen das Schweigen in Rumänien zu erheben und eine Surprise 569/24
Veränderung zu erwirken. In den letzten Jahren haben auch andernorts immer mehr Rom*nja damit begonnen, Aufarbeitung zu fordern. Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen arbeiten daran, grössere Teile der Geschichte zugänglich zu machen und verschiedene Arten von Entschädigungen zu erhalten. In Norwegen beispielsweise erhielten die Rom*nja 2015 eine Entschuldigung von Ministerpräsidentin Erna Solberg sowie Mittel für ein lange erwartetes Kulturzentrum als Entschädigung für das Unrecht, das ihnen während des Zweiten Weltkriegs widerfahren ist. In Rumänien steht etwas Vergleichbares bisher aus. Maria Dumitru und andere Rom*nja-Forscher*innen und -Aktivist*innen haben jedoch eine klare Vorstellung davon, was geschehen sollte. «Die Orthodoxe Kirche und die Nachkommen des Adels müssen anerkennen, dass es die Sklaverei gab, und etwas tun», sagt Dumitru. «Als die Rom*nja damals freigelassen wurden, erhielten sie nichts. Jetzt sollten ihre Nachkommen entschädigt werden. Der Rassismus, der während der Sklaverei entstand, ist tief verwurzelt und weit verbreitet. Wir brauchen neue Instrumente, Richtlinien und Gesetze, um ihn zu bekämpfen.»
Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von ERLIK OSLO / =OSLO, INSP; übersetzt und leicht bearbeitet von SAR A WINTER SAYILIR.
Mehr zum Thema: Der Artikel «Weit verbreitet und tief verwurzelt» (Surprise 568/24) behandelt den Rassismus gegen Rom*nja, Sinti*zze und Jenische in der Schweiz. Online ist er hier zu finden: surprise.ngo/magazine. Die Reportage «Strassenverkäufer auf Heimaturlaub» (Surprise 549/23) begleitet Daniel, der in Norwegen das Strassenmagazin =Oslo verkauft, zu seiner Familie nach Rumänien. Online ist er hier zu finden: surprise.ngo/magazine/549-zukunft-aufdem-eis. Via info@surprise.ngo können die Ausgaben nachbestellt werden.
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Der Umgang der Schweiz Während des Zweiten Weltkriegs bot die Schweiz Rom*nja, Sinti*zze und Jenischen keinen Schutz vor der nationalsozialistischen Rassenverfolgung. Die Historiker*innen der Unabhängigen Expertenkommission zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg fanden in ihrem Bericht aus dem Jahr 2000 in den Akten der Bundesverwaltung kaum Hinweise, dass «Zigeuner» in der Schweiz als Opfer der nationalsozialistischen Rassenverfolgung und damit als Geflüchtete wahrgenommen wurden. Seit 1913 galt für «Zigeuner» eine Grenzsperre. Der Bericht fand zudem keine Hinweise, dass diese grundsätzlich je infrage gestellt worden wäre oder dass sie in Hinblick auf Romn*ja und Sinti*zze revidiert worden wäre. Die Autor*innen schreiben: «Um die Mitte der 1930erJahre jedenfalls wurden ‹Zigeuner› weiterhin als ‹unerwünschte› Ausländer bezeichnet, ‹die an der Grenze ohne weiteres wegzuweisen seien› und denen das Einreisevisum für die Schweiz zu verweigern sei.» Ausländische, staatenlose und selbst Schweizer Rom*nja, Sinti*zze und Jenische sollten möglichst vom Schweizer Territorium ferngehalten werden – unabhängig davon, welche Arten von Verfolgung den betreffenden Personen drohten, und auch unabhängig vom Wissen um die Lebensgefahr, in der Menschen schwebten, wenn sie nach NS-Deutschland zurückgewiesen wurden. An der Einreise gehindert 1951 hielt Oskar Schürch von der Polizeiabteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) fest, «dass in der Schweiz keine Zigeuner im eigentlichen Sinne mehr leben. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurden eingehende Fahndungen nach Zigeunern durchgeführt, ihre Identität abgeklärt und die als Zigeuner festgestellten Personen in ihre Heimatstaaten abgeschoben.» Demnach waren ausländische oder staatenlose Rom*nja und Sinti*zze entweder an der Einreise in die Schweiz gehindert oder ausgeschafft worden. WIN
Quelle: Thomas Huonker und Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Beiheft zum Bericht: Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Mitarbeit Bernhard Schär, Bern 2000.
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Im Niemandsland Kino An der Grenze zwischen Polen und Belarus wurden tausende Migrant*innen zum Spielball des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko. Agnieszka Hollands Spielfilm «Zielona Granica» zeichnet die Migrationskrise nach. Erschütternd und realitätsnah. TEXT FLORIAN BAYER
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Europa kommen will. Die Eltern gehen davon aus, dass die Flucht über die Grenze zwischen Polen und Belarus weniger lebensgefährlich sein wird als die Route über das Mittelmeer. Bald merken sie, dass sie vom belarussischen Regime gezielt getäuscht wurden, wie so viele andere auch. «Zielona Granica» wurde am Filmfestival von Venedig uraufgeführt und mit dem Spezialpreis der Jury prämiert. Zu Recht, denn hier bekommen jene eine Stimme, die sonst keine haben: die Betroffenen selbst. Der Film handelt aber auch von den Aktivist*innen, welche die Geflüchteten im nächtlichen Wald mit Kleidung, Medikamenten und Lebensmitteln versorgen und dabei selbst kriminalisiert werden. Und er handelt von teilnahmslosen Anwohner*innen sowie von Grenzschützern, die mit ihrer Arbeit hadern. Zahlreiche Gespräche mit Geflüchteten Die drei Kilometer breite Sperrzone, die die polnische Regierung über Monate ausrief, habe ihre Recherche erschwert, sagte Holland im Herbst zum Autor dieses Texts: «Es ist unmöglich zu sagen, was genau in dieser Zeit am Zaun passiert ist.» So sind Protagonist*innen und die ineinander verschränkten Handlungsstränge des dokumentarisch anmutenden Films zwar erfunden. Trotzdem dürfte die Handlung der Realität nahekommen. Holland führte zahlreiche Gespräche mit Geflüchteten, Grenzschützer*innen, Anwohner*innen und Lokaljournalist*innen. Auch mit Flüchtlingshelfer*innen der Hilfsorganisation «Grupa Granica», die bis heute im Grenzgebiet tätig ist – auf Abruf und 24 Stunden am Tag. Denn noch immer harren Geflüchtete in den Wäldern aus, wenn auch weniger als in der Hochphase der Krise. «Wir behandeln Menschen mit Verstauchungen, Brüchen und Hundebissen. Männer, Frauen und Kinder, die erschöpft und dehydriert sind oder schwere körperliche Verletzungen haben», meldete «Ärzte ohne Grenzen» im Dezember. Die Brutalität der Grenzschützer, das Ausgeliefertsein in der unerbittlichen Natur und die Hoffnungslosigkeit der Situation zeigt der Film in aller Deutlichkeit. Nicht selten geht das durch Mark und Bein. Am Ende des Films gibt es einen starken Kontrast durch Bilder von einer anderen Grenze: der ukrainischen. Die Szene zeigt, wie sich dasselbe Polen wenige Monate später hier verhalten hat. Zu sehen sind die überwältigende Hilfsbereitschaft hunderttausenden Kriegsgeflüchteten gegenüber. Ein plakativer, dennoch starker Kontrast. Surprise 569/24
FOTOS: TRIGON FILM
Wald, nichts als Wald. Wenn man nach Białowieża in Polen fährt, durch eine Strasse inmitten des gleichnamigen Urwalds, des ältesten und grössten in Europa, sieht man nichts als die jahrhundertealten Bäume, die bis zu 50 Meter hoch in den Himmel ragen. Höchstens zufällig verirrt sich eines der rund 800 Żubroń-Bisons auf die fast schnurgerade Strasse. Białowieża ist ein Paradies, seit vielen Jahrzehnten als Erholungs- und Naturschutzgebiet beliebt, weit über die Grenzen Polens hinaus. Seit einiger Zeit bleiben Tourist*innen aber zunehmend aus, stattdessen sieht man viel Militär. Durch den riesigen Wald verläuft nämlich die Grenze zu Belarus, eine EU-Aussengrenze. Die bis vor kurzem regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) liess sie zur Festung ausbauen. Mit einem 5,5 Meter hohen Zaun, mit Stacheldraht, Drohnen und Überwachungskameras. Und mit tausenden Soldaten. Der Grund? Ab Juli 2021 brachte das belarussische Regime gezielt Migrant*innen aus Nahost an die Grenze, um Polen und die EU unter Druck zu setzen. Polens damalige nationalkonservative Regierung spielte das zynische Spiel mit. Und so konnten die Menschen weder vor noch zurück. Immer wieder versuchten sie die Einreise nach Polen, wo sie in den meisten Fällen aber statt eines Asylverfahrens nur Pushbacks erwarteten (siehe dazu auch die Reportage «Tod auf dem Weg nach Europa», Surprise 558/23). In der Hochphase der Krise, von September 2021 bis Juli 2022, liess die polnische Regierung gar den Ausnahmezustand verhängen. Journalist*innen und Hilfsorganisationen wurden mehrere Kilometer vorher gestoppt und von der Grenze verbannt, sodass die Grenzschützer unbeobachtet und mit aller Härte vorgehen konnten. Heimlich gemachte Videos aus dieser Zeit zeigen Geflüchtete als blosse Verschubmasse, eingepfercht in einem schmalen Streifen Niemandsland an den Rändern der beiden Länder. Pushbacks in beide Richtungen waren an der Tagesordnung. Vor allem aus dieser Zeit stammen die mindestens fünfzig Toten und mehr als dreihundert Vermissten, die die NGOs im Grenzgebiet dokumentierten. Der Spielfilm «Zielona Granica» (deutsch für «grüne Grenze», internationaler Titel: «Green Border») zeichnet ein eindringliches Bild der Situation. Das neue Werk der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland («Hitlerjunge Salomon», «In Darkness») erzählt die fiktive Fluchtgeschichte einer syrischen Familie, die voller Hoffnung nach
«Zielona Granica» kam in einer aufgeheizten Zeit in die polnischen Kinos, wenige Wochen vor der Parlamentswahl im Oktober 2023. Schnell wurde er zum erfolgreichsten polnischen Film des Jahres, wenngleich die Regisseurin dafür massiv angefeindet wurde. Regierungspolitiker und staatliche Medien attackierten Holland, beschimpften sie als «Verräterin» und «Staatsfeindin». Zbigniew Ziobro, bis vor kurzem Justizminister, sagte etwa: «Im Dritten Reich produzierten die Deutschen Propagandafilme, die die Polen als Banditen und Mörder darstellten. Heute haben sie dafür Agnieszka Holland.» Eine Anspielung darauf, dass ZDF und Arte den Film mitfinanzierten. Das Ausmass des Gegenwinds erstaunte sogar Agnieszka Holland selbst, die diesbezüglich schon einiges gewohnt ist. «Wir haben mit ihrem Zorn gerechnet. Sie haben Angst, weil sie wissen, dass wir die Wahrheit sagen.» Tatsächlich kam es der PiS gelegen, das Thema Migration im Wahlkampf möglichst gross zu spielen. Für rund vierzig Prozent der Wähler*innen war laut einer repräsentativen Umfrage der Grenzzaun eines der wichtigsten Wahlkampfthemen – bei den Wähler*innen der PiS für gar sechzig Prozent. Die skandalisierende Berichterstattung im Staatsfernsehen TVP trug dazu massgeblich bei, ebenso eine populistische und suggestiv formulierte Volksbefragung. Die Angstmache nutzte der PiS am Ende nichts, jedenfalls nicht genug. Die Partei blieb zwar die stimmenstärkste, verlor aber acht Prozent und fand keinen Regierungspartner mehr. Nun regiert eine neue Koalition, angeführt von Donald Tusks liberal-konservativer Bürgerplattform (PO). Das strenge Grenzregime solle künftig humaner agieren, kündigte die neue Regierung an. Konkreteres ist noch nicht bekannt. Die Helfer*innen von Grupa Granica rechnen nicht mit Verbesserungen. Sie kritisierten, dass auch unter der neuen Regierung die Pushbacks weitergehen – 34 dokumentierte die Organisation allein im Dezember. Auch gebe es keine personellen Änderungen unter den Grenzschützer*innen, so die Kritik: «Wer vorher unnötigerweise zu Schlagstock und Pfefferspray gegriffen hat, wird dies auch weiter tun.» Auch Regisseurin Holland ist nicht optimistisch, dass sich nach dem Regierungswechsel etwas ändert. Die EU würde weiterhin wegsehen, wenn Menschenrechte verletzt werden. Nach wie vor hätten die meisten Bürger*innen keine Ahnung, was sich dort im Urwald abspiele, sagte Holland kürzlich: «Auch deswegen haben wir den Film gemacht.»
«Green Border» /«Zielona Granica», Regie: Agnieszka Holland, PL 2023, 147 Min., mit Tomasz Włosok, Dalia Naous, Mohamad Al Rashi u. a. Läuft ab 22. Februar im Kino.
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Kunst Die Ausstellung «weg» im Helmhaus Zürich thematisiert das Wegsein ebenso
wie den Weg dorthin. Persönlich und gesellschaftlich, sinnlich und städtebaulich. TEXT DIANA FREI
Es geht um Veränderung und um Verdrängung in der Ausstellung «weg» im Zürcher Helmhaus. Es geht darum, sich selbst zu verlieren, und darum, sich wiederzufinden. Weg zu sein oder auf dem Weg zu sein. Auf ganz abstrakte Weise etwa in den schattenhaften Selbstporträts von Akosua Viktoria Adu-Sanyah, die genauso mit der Flüchtigkeit des Bildmediums wie mit der eigenen Erscheinung spielen. Oder dann recht konkret, wenn es um Migration geht, wie in der Installation «When I grow up I want to be a migrant» der jungen rumänisch-schweizerischen Künstlerin Oana Popa. Da ist ein Teenagerzimmer mit den üblichen Pop-Poster an der Wand, die in der Regel ganz nebenher auch etwas über die Hoffnungen und Träume ihrer Bewohner*innen erzählen. Bei Popa ist der Popstar-Traum aber gepaart mit einem Migrant*innen-Traum, sehr plakativ und so formuliert, dass er dem Tagebuch eines Teenies entstammen könnte: «I wish my mother tongue was German so I could be my full potential», steht in Leuchtlettern an der Wand. Hier klingen bereits alle Ahnungen und Ängste an, die mit dem Ankommen in einem anderen Land einhergehen können. Es steckt darin auch die Frage, was ein Ort mit der Identität eines Men24
schen macht. Im zugehörigen Video werden Fragen wie diese in beiläufig wirkenden Interviewsituationen aufgeworfen, wenn die Mutter und die Grossmutter der Künstlerin über Biografisches reden, über die Beweggründe der Migration und über die Hoffnungen, die sie damit verbanden. «Im Westen würde man sich entfalten können, man habe unendlich viele Möglichkeiten. Aber was für Möglichkeiten, das war nicht klar», sagt die Mutter. Worte, die wiederum wie ein Echo auf die Hoffnungen und Sorgen eines Teenagers wirken. Später sehen wir einen deutschen Weihnachtsmarkt in einer verwackelten Handyaufnahme, mit der die Mutter der kleinen Tochter in Rumänien Westeuropa näherbringen will. Sie ist auf der Suche nach denjenigen Bildausschnitten, die am meisten Schönes vermitteln. Die Bilder bleiben hängen, frieren ein. Der Traum einer Realität, der irgendwann zerbricht. Das Licht, das auslöscht Um diejenigen, die eine Stadt «weg»-haben will aus dem öffentlichen Raum, geht es bei Gianluca Trifilò. Mit der Installation «Blaues Vergessen» nimmt der Künstler Bezug auf das Zürich der 1990er-Jahre, als sich die DrogenSurprise 569/24
FOTOS: GIANLUCA TRIFILÒ, BLAUES VERGESSEN, 2024; ZOE TEMPEST, OANA POPA, WHEN I GROW UP I WANT TO BE A MIGRANT, 2024
Bis der Weihnachtsmarkt einfriert
szene nach der Räumung des Platzspitz unter anderem in die Schlupfwinkel der angrenzenden Wohnquartiere verlagerte – und in der Folge in WCs und Durchgängen die weissen Neonröhren durch blaues Licht ersetzt wurden, das die Venen der Arme unsichtbar werden liess. Das blaue Licht, das auslöschen kann: die blauen Adern und letzten Endes auch die Süchtigen selber. 2014 begann Trifilò das Thema Abhängigkeit aus seiner eigenen Prägung heraus zu bearbeiten – seine beiden Brüder waren in die Sucht abgerutscht. Seither lotet er Formen der Abhängigkeit aus. Zum Beispiel anhand von Mindmaps, die aus Beipackzetteln bestehen und verdeutlichen, wie Medikamente und ihre Wirkstoffe mit dem gesellschaftlichen Rahmen verwoben sind. Trifilò untersucht, wo die erwünschte Medikamentierung aufhört und die sozial unerwünschte Abhängigkeit anfängt. Von Heroin zu Ritalin: Ihn interessieren die Unterschiede, aber auch die Gemeinsamkeiten. Was auf der Strasse und was in der Apotheke erhältlich ist. Die Kurator*innen der Ausstellung «weg» waren mit der Anfrage an ihn herangetreten, eine Arbeit zum Thema Verdrängung zu realisieren. Da sei ihm das blaue Licht in den Sinn gekommen, das er schon länger als Bild mit sich herumgetragen hatte, sagt Trifilò. Es ist nun beinahe zu einer historischen Arbeit geworden, denn das blaue Licht ist auch fast wieder aus dem öffentlichen Raum verschwunden. Unter anderem aus profanen Kostengründen. Die Umrüstung auf blaue LED sei zu teuer, liess man Trifilò auf Anfrage bei der Stadt Dietikon wissen. Der Künstler Nic Hoesli wiederum geht in seiner Videoarbeit ein ganz persönliches Thema an: Es ist eine Reise, die einer, der sich selbst abhandengekommen ist, unternimmt, um sich wiederzufinden. «The Day I realized I could not hear Your Heartbeat anymore» ist ein Langgedicht und Trip durch die Natur in verfremdeten Farben, eine Bootsfahrt irgendwohin weit weg, so scheint es. (Thailand ist es.) Das gemächliche Tempo des Bootes, die grosse Reise: Hier wird eine Situation geschaffen, in der Raum und Zeit sind, um sich selber wiederzufinden. Beides ist im realen Leben oft knapp vorhanden. Zu knapp vielleicht, denkt man sich, um Phasen der Verletzlichkeit zuzulassen. So gehen in dieser Ausstellung persönliche und gesellschaftliche Zustände irgendwann eine leise Verbindung ein.
«weg», Ausstellung, bis Mo, 1. April, Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Eintritt frei, Helmhaus, Limmatquai 31, Zürich. helmhaus.org
5-Uhr-These, Mi, 28. Feb., 17 Uhr: Nicolas Gabriel, Surprise-Verkäufer und angehender Stadtführer, spricht mit Kurator Daniel Morgenthaler über die These «Menschen mit psychischen Problemen sind eine Bereicherung für die Gesellschaft». Gabriel startet seinen Sozialen Stadtrundgang zum Thema psychische Erkrankung und Obdachlosigkeit diesen Frühling. FUX surprise.ngo /stadtrundgaenge
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Im Möglichkeitsraum Tanz An den Swiss Dance Days wird greifbar, wie viel wir uns von der Bühne für die Realität abschauen könnten. Ja, Identität, Diversität, Rassismus, Inklusion, Teilhabe und so weiter sind grosse Schlagworte auch an den Swiss Dance Days, dem bedeutendsten Festival für professionelles Tanzschaffen in der Schweiz. Aber das wollen wir an dieser Stelle ein bisschen ausführen, denn bloss schlagwortartig kommt das alles im Tanz eben nicht daher. Die Bühne wird zurzeit immer stärker zum Raum der diversen Körper. Wo man gerade beim Tanz vor ein paar Jahrzehnten noch als Erstes ans klassische Ballett und an schlanke, sehnige, dehnbare Körper dachte, ist da heute mit grosser Selbstverständlichkeit auch der individuelle Körper. Der unperfekte vielleicht oder ungewohnte, der da draussen in der Welt oft auch «stigmatisiert» heisst. Der nicht nur Schwarz oder nackt oder nonbinär ist, sondern auch verletzt oder unvollständig, falls man denn die Norm als Vergleichsgrösse nimmt. Während die Inklusion behinderter Menschen, Gender- und Rassismusthematiken gesamtgesellschaftlich zum Teil eher zäh verhandelt werden, entwickeln sie sich in der Abstraktion des Tanzes erstaunlich selbstverständlich weiter. Auch das «Disabled Theater» ist quasi zur eigenen Kategorie geworden, nachdem der französische Choreograph Jérôme Bel mit dem Zürcher Theater Hora 2012 ein Stück gleichen Namens erarbeitet hatte. (Die professionellen Performer*innen, die alle mit einer kognitiven Beeinträchtigung leben, sind mit dem Tanzstück «SACRE!» auch an den Swiss Dance Days vertreten.) Ein Handicap wird als Potenzial genutzt, die Einzigartigkeit als theatrales Mittel. Und was anderswo bloss als Hilfsmittel gilt, wird immer öfter auch Teil der erzählten Welt. So heisst es im Dossier zu Alessandro Schiattarellas Produktion «Zer-Brech-Lich»: «Die Audiodeskriptionen dienen nicht nur als Anhaltspunkte für blinde Personen (…), sondern führen auch ein interessantes Element ein, einen unsichtbaren vierten Darsteller, der zunehmend in die Choreografie integriert wird.» Die Bühne war schon immer ein Möglichkeitsraum, in dem auch Utopien ausprobiert werden. Spannend ist daher, wenn es bei Schiattarella weiter heisst: «Langes Stillsitzen während einer Show kann eine Hürde sein, z. B. für neurodivergente Menschen / Autist*innen / Menschen mit Tourette-Syndrom. (…) Geräusche und Bewegung im Publikum sind ausdrücklich erwünscht. Man kann den Raum jederzeit verlassen.» Das Tanzschaffen lässt sich zurzeit gerade wunderbar als Laboratorium begreifen, um sich einiges für das Leben abzuschauen. DIF
«Swiss Dance Days», Tanz, Mi, 28. Februar, bis So, 3. März, Zürich, diverse Spielorte. swissdancedays.ch
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BILD(1): PRO LITTERIS, ZÜRICH, BILD(2): EMMANUEL LITTOT / ARTIST ESTATE, BILD(3): DAVID AEBI
Veranstaltungen
Zürich «Tarek Lakhrissi – BLISS», Ausstellung, bis Mo, 20. Mai, Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Eintritt frei, Migros Museum für Gegenwartskunst, Limmatstrasse 270. migrosmuseum.ch
In seiner Einzelausstellung BLISS nimmt Tarek Lakhrissi das Publikum mit auf eine Reise. Die Besucher*innen werden in einem bühnenartigen Setting zu den Protagonist*innen der Szenerie: Im Verlauf von drei Akten treffen sie auf Installationen, filmische Arbeiten und Skulpturen. Der französische Künstler Lakhrissi interessiert sich für Diskurse rund um Race, soziale Klasse und Gender und versucht, traditionelle Narrative zu verändern. Er verschmilzt dabei biografisches Erzählen – also eigene Erfahrungen – mit (sehr) fiktionalen Elementen. Lakhrissis queere und BIPoC-Perspektive lässt sich ganz grundsätzlich auf Alltagserfahrungen von marginalisierten Personen übertragen, in der Frage nämlich: Was, wenn man nicht zur Mehrheit der Gesellschaft gehört? Vielleicht findet man sich dann in ebenso abgefahrenen Situationen wieder wie hier in Lakhrissis Werk: Im ersten Akt der Ausstellung hypnotisiert einem ein Glaspendel das Gefühl für Chronologie und Konvention eines «normalen» Lebenslaufs weg. Im zweiten Akt dreht man sich in einer runden Arena buchstäblich im Kreis und folgt in einem Film Jahid, der aus einer ausweglosen Situation flüchtet und in einem stillen Museum viel von fabelhaften Wesen lernt. Und im letzten Akt gibt es monströse Skulpturen in einer immersiven Landschaft und Melancholie sowie Glückseligkeit. DIF
Bern «Nichts», Ausstellung, bis So, 21. Juli, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 16. mfk.ch Der Kurator des Museums für Kommunikation ist nicht der Erste, der Nichts ausstellt. So hat sich ja schon Dieter Meier als Président de l’Association des Maîtres de Rien der Verherrlichung des Leerlaufs des Seins hingegeben, quasi der Anbetung des Nichts. Und auch der Künstler Andreas Heusser hat vor Jahren in Zürich mal ein Museum des Nichts aufgezogen, er berief sich dabei wiederum auf Konzepte von alten Bekannten wie Yves Klein oder Marcel Duchamps. Die Ausstellung im Museum für Kommunikation ist da aber handfester, auch wenn es um Nichts geht. Denn
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Kurator Stadelmann interessieren die alltäglichen Nichtigkeiten. Leerschlag. Luftschloss. Placebo-Effekt. Oder Dinge, die nur fast nichts sind, wie Staub etwa (uns käme da zwar zuerst noch der Hauch von Nichts in den Sinn, den man am Körper tragen kann). Natürlich kann es aber auch existenziell bedrohlich werden: nichts zu haben. Oder wenn Menschen auf der Flucht oder mit einer Depression vor dem Nichts stehen. Gemeinsam mit Studierenden des Bachelor Spatial Design am Departement Design & Kunst der Hochschule Luzern hat das Museum ergänzend zur klassischen Ausstellung die spielerische Anwendung «The Void» geschaffen. Spielen alle Teilnehmenden gemeinsam erfolgreich mit, können sie einen Rave im Museum freischalten. Wir wissen allerdings nichts darüber, wie man sich das genau vorstellen muss. DIF
Bern «FOKUS: Hamed Abdalla (1917–1985)», Ausstellung, bis So, 26. Mai, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Zentrum Paul Klee, Monument im Fruchtland 3. zpk.org Hamed Abdalla gilt als Pionier der ägyptischen Moderne. Er wurde 1917 in Oberägypten in eine Bauernfamilie hineingeboren und eignete sich die Kunst autodidaktisch an. Vertraute Orte seiner Herkunft, insbesondere die Dörfer und Landschaften der nubischen Region, aber auch die verrauchten Cafés in Kairo dienten ihm in seinen Anfängen als Motive. Ab den 1950er-Jahren lebte er in Kopenhagen und Paris und nahm weiterhin Bezug auf die unsichere politische Situation in Ägypten. In seiner Kunst suchte er nach einem Ausdruck, der den Verzweifelten und Unterdrückten eine Stimme geben würde. Der Krieg zeigt sich
sprache von Yves Netzhammer: reduzierte Linien und stilisierte Formen, die in einer Art von Metamorphose in andere übergehen und sich in einer oft surrealen Weise verknüpfen. In der Solothurner Einzelausstellung entspinnt sich daraus nun mittels unterschiedlicher Medien ein fortlaufendes Narrativ.
Die Zeichnung wird weitergedacht und -entwickelt zur Projektionsund Reflexionsfläche. Der weisse Zeichenblock kommt damit in einer ebenso technischen wie sozialkritischen Gegenwart an. Hier entspringt ein iPhone einer Brotscheibe oder der menschliche wird zum tierischen Körper, die zärtliche Umarmung zur schmerzhaften Verwicklung. DIF
Zürich «Kafka – Türen, Tod & Texte», Ausstellung, bis So, 12. Mai, Di bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Do bis 22 Uhr, Sa/So 11 bis 17 Uhr, Strauhof, Augustinergasse 9. strauhof.ch
in seinem Werk oft in einer universellen Bildsprache: Mütter, die ihre Kinder halten, und fragmentierte Körper. Zudem entwickelte Abdalla eigene «kreative Worte» – als Teil der Hurufiyya-Bewegung, die neue künstlerische Möglichkeiten aus dem arabischen Alphabet heraus erforschte. DIF
Solothurn «Yves Netzhammer – Die Welt ist schön und so verschieden», Ausstellung, bis So, 12. Mai, Di bis Fr, 11 bis 17 Uhr, Sa/So 10 bis 17 Uhr, Eintritt frei, Kunstmuseum Solothurn, Werkhofstrasse 30. kunstmuseum-so.ch Das Kunstmuseum Solothurn wird zum weissen Zeichenblock. Viele kennen die ganz spezifische Bild-
Literatur im Raum auszustellen, ist ja oft nicht die einfachste Aufgabe. Wie dankbar ist man da, wenn es Türen gibt. Im Strauhof werden also Textpassagen vorgetragen, die von Tür-Szenen handeln. Denn Franz Kafka setzt die Tür als Fluchtpunkt ein, der Raum und Handlung gliedert. Auch die richtig kafkaesken Themen wie Angst, Macht und Scham stehen oft in Bezug zu Türen. Sei es in der Abschottung von der Aussenwelt, sei es bei der Sorge, was dahinter wartet, oder bei der Unmöglichkeit, sie zu durchschreiten. Und selbst wenn die Türen offen stehen, garantiert das bei Kafka noch lange kein glückliches Leben. Die Tür als Motiv einer Schwelle, das innere Konflikte mit der undurchschaubaren Logik von Machtapparaten verbindet. Die Tür links neben Kafkas Todesanzeige führt im Strauhof zu seinem Lebenslauf: Tagsüber arbeitete er im Büro, die Nächte widmete er seinem Schreiben. Das ging wahrscheinlich, weil er wusste, er «bestehe aus Litteratur», wie er 1913 seiner damaligen Verlobten schrieb. DIF
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gend an der Präsentation, in der vorhergehenden Studie und an den Schreibtischen, an denen das Konzept ausgeheckt wurde. Daran halten tut sich allerdings niemand, die Menschen latschen über die Strasse, wie Menschen halt über Strassen latschen: querdrauflos, gern auch aufs Handy statt auf den Verkehr schauend. Funktioniert auch. Die Velodichte ist trotz Hanglage hoch. An einem vor dem Grossverteiler parkierten hängt noch die Forderung von 2021 nach Mehr Velo und Mehr Grün für Zürich. Ob die Kampagne erfolgreich war, ist schwer zu sagen. Kinderwagen und Yogamatten werden spazieren geführt. Dazwischen sind viele Kinder und Jugendliche unterwegs, irgendwo war wohl vor kurzem Schulschluss. Auch der nahegelegene Park ist trotz grauen kalten Wetters gut besucht, Kleinkinder spielen, Mütter plaudern, Männer trinken auf Bänken, es wirkt geradezu idyllisch.
Tour de Suisse
Pörtner in Zürich Wipkingen Surprise-Standort: Coop Einwohner*innen (Quartier): 16 605 Sozialhilfequote in Prozent: 4,1 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 31,9 Eingemeindung in Stadt Zürich: 1893
Wipkingen ist ein Quartier im Umbruch. Das zeigt sich am gleichnamigen Bahnhof, der schon wieder oder immer noch umgebaut wird. Aus dem Vorortbahnhof wird ein Verkehrsknotenpunkt. Das Café an der Nordbrücke, einst Vorbote der Dinge, die da kommen, gehört längst zu den alteingesessenen Institutionen. Ganz anders die Gelateria gegenüber, die wie keine zweite das nicht allseits beliebte Hipstertum repräsentiert, dem in dieser Stadt niemand so richtig angehören will, das aber einen Haufen Geschäfte am Leben hält. Wohl auch hier in der Gegend, wie etwa ein Barista-Café, einen Pie Shop, eine Handlung für Preziosen oder das Restaurant mit der Terrasse voller Hochbeete – prägende Symbole des urbanen Hipstertums, das trotz gutbezahlter Jobs in modernen Branchen irgendwie noch den grossen Zeh in der Scholle stecken hat. Surprise 569/24
Daneben finden sich auch traditionelle Geschäfte, wie ein Schuhmacher, ein Kiosk mit breitem Alkoholangebot, vor dem sich auf Plastikstühlen die Raucher*innen und Hundehalter*innen treffen, oder ein schönes Bistro mit einer Auswahl Büchern, von dem aus sich der Platz beobachten lässt, auf dem noch der Weihnachtsbaum steht. Vielleicht ist es auch einfach eine Tanne, die hier wohnt. Die öffentliche Toilette auf dem Platz ist ein Kompost-WC, das Lavabo davor in Holz gefasst. Die Hauptstrasse ist mit verblichenen Farbmustern bemalt, deren Sinn sich nicht wirklich erschliesst. Eine etwas versteckte Infotafel klärt darüber auf, dass hier eine neue Art des Über-dieStrasse-Gehens erprobt wird: der Mehrzweckstreifen, der das Miteinander fördern soll. Klang bestimmt überzeu-
Wipkingen ist noch immer ein Wohnquartier mit einem relativ hohen Genossenschaftsanteil, der die Gentrifizierung abfedert. Trotzdem ist an einem Balkon die Forderung nach bezahlbaren Wohnungen zu lesen. Nicht weit entfernt, in einem Stockwerk der alten Wipkinger Post, die ganz aus Beton gebaut ist und darum gar nicht so alt wirkt, gibt es, wie den Transparenten zu entnehmen ist, eine Besetzung. So weht noch ein rebellischer Geist durchs Quartier und hofft, nicht für eine Marketingkampagne eingefangen zu werden.
STEPHAN PÖRTNER
Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.
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Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich
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#565: Auf ein Neues!
#564 / 565: Festtagsausgaben
«So sehr gefreut»
«Zu schön»
Ein riesiges Merci vielmals an Urs Habegger! Ich habe mich selten über einen Artikel so sehr gefreut wie über «Andere sind immer anders». «Denn wir wissen; diese vier, der Respekt, die Empathie, die Toleranz und die Wertschätzung, sind die Grundlage für eine bessere Welt», schreibt er. Ja, umgesetzt von allen, machen diese vier die Welt zu einer wunderbaren. Beginnen wir doch jeder Einzelne für sich, dies in den eigenen Alltag zu integrieren und danach zu leben und zu handeln.
Nachdem ich die wunderbaren, eindrücklichen Geschichten gelesen hatte, konnte ich das Magazin nicht einfach zum Altpapier legen: zu schön! Inspiriert vom bunten Papier kam diese Papierkunst hervor. Sogar einen Sockel fand ich im Keller! SAR A SENN, Aarau Rohr
ANGELIK A CHRISTOFORI, Dornach
#568: «Weit verbreitet und tief verwurzelt»
«Es gab Gerüchte und Ablehnung» Besten Dank für diesen Artikel! Seit vielen Jahren lese ich das Surprise mit grossem Interesse. Das Magazin ist für mich wichtiger als die Tageszeitung. Ich bin Jahrgang 1960 und im Ägerital, Kanton Zug, aufgewachsen. Man wusste damals, wann und wo sogenannte Fahrende im Tal waren, und hat Arbeit an sie vergeben. Es gab Gerüchte und Ablehnung wie im Artikel beschrieben. Aber auch Standplätze, die für sie freigehalten wurden. Auch in Cham, Kanton Zug, gab es vor 30 Jahren noch solche Standplätze und ich habe regelmässig meine Messer bei einem jungen Herrn Waser schleifen lassen. Die aktuelle Situation ist schlecht in Bezug auf Standplätze. Es gibt einen wunderbaren Film mit, von und über Stephan Eicher, der Musik und Tradition der Jenischen beleuchtet: «Unerhört Jenisch» (2017). Vielleicht können Sie darauf hinweisen. MARIANNE ITEN THÜRIG, ohne Ort
Ich möchte Surprise abonnieren Das Abonnement ist für jene Personen gedacht, die keinen Zugang zum Heftverkauf auf der Strasse haben. Alle Preise inklusive Versandkosten.
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Halbjahres-Abo CHF 120.–, 12 Ausgaben Reduziert CHF 84.– Der reduzierte Tarif gilt für Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben. Es zählt die Selbsteinschätzung.
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FOTO: BODARA
Surprise-Porträt
«Diese Arbeit tut mir gut» «In Eritrea gab es viele Probleme, das Leben dort ist hart, und ich hatte Angst, dass mir meine Kinder weggenommen werden für den Militärdienst. In Eritrea gilt nämlich eine Dienstpflicht für Frauen und Männer, und man weiss nie, wie lange man im Militär bleiben muss. Dazu kamen viele Sorgen, der Krieg und die Lebensgefahr. Daher bin ich mit meinen Kindern aus Eritrea geflüchtet. Von dort sind wir zuerst in den Sudan und dann mit dem Flugzeug weiter nach Zürich. Wir haben uns die Schweiz nicht ausgesucht, eigentlich wollten wir nach England. Ich habe dort nämlich Geschwister. Wir sind dann aber in der Schweiz geblieben, und inzwischen gefällt es uns hier. Mein Mann musste leider in Eritrea bleiben. Es war schon zu spät, um den Familiennachzug zu beantragen. Er würde gerne in die Schweiz kommen, immerhin haben wir regelmässig Kontakt. Das Leben in der Schweiz war am Anfang schwierig. Wir kamen in ein Asylheim ausserhalb von Winterthur und mussten dort fünf Monate bleiben. Wir wurden eher unfreundlich empfangen, die Bettwäsche war feucht und es war sehr kalt. Kam hinzu, dass das Asylheim weit weg auf dem Land war, ohne ÖV-Verbindungen. Wollten wir ins nächste Dorf oder in die Stadt, mussten wir also einen langen Weg zurücklegen. Doch es gab nette Schweizer*innen, die uns mit dem Auto chauffierten. Ein anderes Problem war, dass wir lange Zeit nicht darüber informiert wurden, dass wir unsere beantragten B-Ausweise erhalten würden. Wir hatten uns beim Migrationsamt Zürich erkundigt, dort hiess es, der betreffende Brief sei ins Asylheim geschickt worden, dieses aber hat ihn uns nicht weitergeleitet. So lebten wir in Unsicherheit. Doch dann hatten wir Glück und fanden mithilfe meiner beiden Töchter eine Wohnung in Winterthur. Dafür bin ich bis heute sehr dankbar. Die Wohnung war toll, wir fühlten uns wohl dort und meine Kinder konnten dann auch endlich die Schule besuchen. Inzwischen sind sie erwachsen, sie studieren und arbeiten nebenher Teilzeit. Meine Kinder haben den Schweizer Pass beantragt. Ich selber habe noch immer den B-Ausweis, jedoch keine Niederlassungsbewilligung. Um diese sowie den Schweizer Pass zu beantragen, muss ich erst mein Deutsch verbessern. Eine Kollegin hat mir irgendwann von der Strassenzeitung «Surprise» erzählt und der Möglichkeit, dort als Verkäuferin zu arbeiten. Und so habe ich mich beim Verein gemeldet. Ich liebe es, das Heft zu verkaufen. Diese Arbeit tut mir gut – ich habe eine Beschäftigung, bin an der frischen Luft und muss nicht allein 30
Freweini Tsegay, 58, verkauft Surprise in Winterthur Seen und Wil. Sie wollte ursprünglich gar nicht in die Schweiz, jetzt aber fühlt sie sich wohl hier.
zuhause sein. Ich verkaufe an verschiedenen Standorten. Am Morgen bin oft vor dem Coop in Winterthur Seen, am Nachmittag nehme ich den Zug nach Wil und verkaufe dort entweder beim Bahnhof oder vor der Migros. Surprise ist derzeit mein einziges Einkommen, allerdings helfen mir meine Kinder beim Bezahlen der Miete und der Krankenkasse. Am meisten freut mich an meiner Arbeit, dass die Menschen so freundlich sind. Mein Deutsch ist zwar nicht so gut, aber ich verstehe inzwischen doch recht viel. Nur das Sprechen fällt mir noch schwer. Immerhin kann ich mich mit den Leuten in sehr einfachem Deutsch ein wenig unterhalten. Diese Kontakte motivieren mich, Deutsch zu lernen, und so traue ich mich auch immer mehr, mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Viele, die regelmässig bei mir ein Heft kaufen, sind inzwischen wie eine Familie geworden. Sie erkundigen sich, wie es mir geht, fragen nach meinen Kindern oder schenken mir etwas zu trinken oder zu essen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie eine Frau einmal zu mir sagte, ich sollte doch nicht den ganzen Tag stehen müssen. Sie hat mir dann einen Stuhl gebracht, damit ich mich ab und zu setzen konnte. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Erinnerungen wie diese machen meine Arbeit schön.» Aufgezeichnet von DENISE BRECHBÜHL DIA Z
Surprise 569/24
Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.
Ein Strassenmagazin kostet Franken. Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.
Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft.
info@surprise.ngo
Alle Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.
Bild: Marc Bachmann
SURPRISE WIRKT GEGEN ARMUT UND AUSGRENZUNG
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