Surprise 578/24

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Strassenmagazin Nr. 578

davon gehen CHF 4.–an die Verkäufer*innen

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass

Obdachlose sind der Sommerhitze besonders ausgesetzt. In Basel macht man sich auf die Suche nach kühlen Räumen. Seite 8

S OZIALE STADTRUNDGÄNGE

Menschen, die Armut , Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah.

Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Zürich, Basel oder Bern. Infos und Terminreser vation: www.surprise.ngo/stadtrundgang

Cool down

Es ist wie bei allen grossen Dingen des Lebens: Man liebt oder hasst sie, man gibt sich ihnen hin oder stirbt vor Langeweile, man sehnt sie herbei oder ergreift die Flucht: die Sommerzeit, die helle Sonne, die Hitze.

Wer der Hitze kaum entfliehen kann, sind Menschen, die notgedrungen auf der Strasse leben, die obdach- oder wohnungslos sind Sie halten sich meist an den heissesten Orten überhaupt auf, in den Städten und Agglos, wo die meisten Flächen mit Beton und Asphalt überzogen sind. Dort gibt es kaum Schattenplätze und der Zugang zu kühlen Räumen bleibt ihnen oft verwehrt. Dann kann es gefährlich werden. Wir haben uns die Hitzenotfallkonzepte von Schweizer Städten angeschaut, mit Betroffenen geredet und uns mit der Gassenarbeit Schwarzer Peter unterhalten, die sich in der Stadt Basel auf die Suche nach «cooling places» für Menschen auf der Gasse macht, ab Seite 8.

40 Grad und noch mehr, das ist im Sommer in Dubai ganz normal. Aber nicht bloss die Hitze macht den Menschen aus Indien und Pakistan

4 Aufgelesen

5 Stichwort Obdachlosigkeit

5 Vor Gericht Notwehr oder Terror?

6 Verkäufer*innenkolumne Bist du jetzt Halima?!

7 Die Sozialzahl Gini und die Lebenshaltungskosten

8 Obdachlosigkeit Heisse Städte

11 Obdachlose erzählen

12 Neues Projekt in Basel

14 Orte der Begegnung Freibad in Zürich

zu schaffen, die hier leben und arbeiten –insgesamt kommen vierzig Prozent der fast zehn Millionen Einwohner*innen der Vereinigten Arabischen Emirate aus diesen zwei Ländern. Sondern vor allem die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen, die luschen Verträge, die schäbigen Unterkünfte und – die grosse Sehnsucht nach ihren Familien, denen sie ihren Lohn heimschicken. Die Reportage ab Seite 16.

Und weil es so schön zum Thema passt, spielt der zweite Teil unserer Serie «Orte der Begegnung» in einem Freibad in Zürich, wo wir nicht bloss der Architektur von Max Frisch begegnen, sondern auch Strandkörben, hängenden Pobacken und einem unerwarteten, ur-demokratischen Prinzip: die Hitze trifft hier alle gleich, ab Seite 14.

KLAUS PETRUS Redaktor

16 Arbeitsmigration Von Mumbai nach Dubai

22 Verein Surprise Internationale Zusammenarbeit

24 Kino Aufstehen, aber nicht alleine

26 Veranstaltungen

27 Tour de Suisse Pörtner in Kleindöttingen

28 SurPlus Positive Firmen

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

30 Surprise-Porträt «Ich bin glücklich, Arbeit zu haben»

Auf g elesen News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Zu viele Stunden

1,3 Milliarden Stunden arbeiteten die Menschen in Deutschland 2023 zu viel, mehr als die Hälfte davon unbezahlt. Das entspricht 835 000 Vollzeitjobs. Diese Zahlen stammen vom Bundesarbeitsministerium, danach gefragt hatte die Abgeordnete Susanne Ferschl (Die Linke).

Jugendliche in der Wohnungskrise

Für Menschen zwischen 21 und 24 Jahren ist es in Australien besonders schwierig, eine Wohnung zu bekommen. Immer mehr Junge wohnen deshalb noch bei ihren Eltern, nämlich 69 Prozent der 15­ bis 24­Jährigen.

Diejenigen, die nicht zuhause bleiben können, müssen jahrelang auf eine der staatlichen Wohnungen warten. Und wenn sie Jugendbeihilfe erhalten (für Menschen in Ausbildung bis 24 Jahre und für Arbeitssuchende bis 21 Jahre) und sich um eine Sozialwohnung bewerben, sind sie im Vergleich zu Menschen mit einer Alters­ oder Erwerbsunfähigkeitsrente benachteiligt. Und so sind in Australien 28 200 Jugendliche zwischen 12 und 24 Jahren obdachlos, das ist ein Viertel aller obdachlosen Menschen.

Nun haben über 100 Institutionen die Kampagne «Home Time» lanciert. Von der Regierung fordern sie drei Massnahmen: 15 000 Jugendwohnungen, angemessene längerfristige Unterstützungsmassnahmen sowie die Behebung der Mietlücke, damit junge Menschen auf dem Mietmarkt eine Chance haben.

Lange Wartelisten

Für jene, die genügend finanzielle Mittel haben, ist es in Italien kein Problem, sich medizinisch behandeln zu lassen. Wenn diese aber fehlen, verzichten die Menschen oft auf eine Behandlung. Zu diesem Schluss kommt der Bericht «Ospedali & Salute» (Spitäler und Gesundheit). Und so wird der Zugang zur Gesundheitsversorgung immer stärker vom Vermögen bestimmt. 42 Prozent derjenigen mit wenig Geld müssen auf eine Behandlung verzichten, weil es immer länger dauert, im öffentlichen System überhaupt einen Termin zu bekommen.

Klassenjustiz

Welchen Unterschied macht es, ob sich eine privat bezahlte Anwältin oder ein vom Staat bezahlter Pflichtverteidiger eines Falles annimmt? Die Statistik eines Frankfurter Anwalts zeigt nun: Private Anwält*innen beantragten in 30,8 Prozent der Fälle einen Freispruch für ihre Mandant*innen – Pflichtverteidiger*innen nur in 11,6 Prozent der Fälle. Scheint eine Haftstrafe unumgänglich zu sein, plädieren private Anwält*innen in 73,9 Prozent auf Bewährung. Pflichtverteidiger*innen in nur 64 Prozent der Fälle.

Stichwort

Obdachlosigkeit

Obdachlosigkeit ist die extremste Form von Armut. Weltweit sind 150 Millionen Menschen obdachlos, in Europa sind es 700 000. Für sie bedeutet das, keinen Rückzugsraum oder Privatsphäre mehr zu haben und der Willkür und Gewalt anderer schutzlos ausgeliefert zu sein. Obdachlosigkeit verstösst gegen die Menschenrechte: gegen das Recht auf Wahrung der Menschenwürde, das Recht auf Leben und das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard. Auch wenn immer wieder das Gegenteil behauptet wird: Niemand sucht es sich freiwillig aus, auf der Strasse oder in einer Notschlafstelle zu übernachten, oder in einer Notwohnung, einer Asylunterkunft oder einem Frauenhaus unterzukommen. Während das Europaparlament erklärt hat, es wolle die Obdachlosigkeit bis 2030 abschaffen, gibt es in der Schweiz bisher keinen nationalen Ansatz.

Mehr dazu erfahren Sie im Kornhausforum Bern. KP

STRASSEN ZEITUNGEN

Vor Gericht

Notwehr oder

Terror?

Vier Jahre ist es her, dass der heute 26­jährige Schweizer Student durch ein Einkaufszentrum in Zürich schlendert und ein Küchenmesser kauft. Minuten später sticht er damit einen Mann nieder, der ihn wegen des Slogans auf seinem Shirt angesprochen hatte: «White Lives Matter». Der Student wird verhaftet und sitzt seither im Gefängnis. Die Attacke war der Endpunkt seiner Radikalisierung – die Ermittlungen fördern Tausende von menschenverachtenden und terrorverherrlichenden Posts auf der Plattform X zutage.

Zwei Jahre ist es her, dass er vom Bezirksgericht Zürich zu fünfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Doch das Verdikt wurde vom Obergericht wegen Verfahrensmängel kassiert, weshalb sich die Bezirksrichter*innen in anderer Besetzung im April erneut mit der Sache befassen.

Sein Mandant sei von einer Gruppe FCZFans verfolgt worden, und zwar aus dem Einkaufszentrum hinaus auf die Strasse. Dort hätten ihn die vier «Kleiderpolizisten» mit Füssen und Fäusten traktiert, bis er zu Boden ging. Zum Messer habe er gegriffen, um sich zu verteidigen. Fünfmal stach er auf den Oberkörper seines Gegners ein. Unglaubhaft! Reine Schutzbehauptung! Das meinen die Staatsanwältin und die Rechtsvertreter der FCZ­Fans dazu. Diese sagen übereinstimmend, sie hätten den Angreifer nicht verprügelt. Sie hätten erkannt, dass Diskutieren nichts bringe, und sich bereits entfernt, als der andere unvermittelt auf jenen Kollegen losging, der ihn zuvor geschubst habe. Sie hätten nur Zivilcourage gezeigt, es sei krass, dass einer mit einer solchen Botschaft in einem Einkaufszentrum herumspaziere! Und auch kein Zufall, ist die Staatsanwältin überzeugt, die den Fall nach der missglückten ersten Prozessrunde übernommen hat. Der Student habe gewusst, dass an dem Ort Ausländer*innen anzutreffen sind. Sie fordert einen Schuldspruch wegen versuchter vorsätzlicher Tötung und zwölf Jahre Gefängnis.

Besuchen Sie die Ausstellung «Wie Strassenzeitungen Leben verändern» im Kornhausforum Bern und erfahren Sie mehr. Läuft bis am 3. August.

Der Täter verweigert jede Aussage. Und das Opfer will ihm nicht direkt begegnen. Der heute 21­jährige Schweizer verfolgt den Prozess per Videoübertragung. Auch er steht heute im Zusammenhang mit der Messerattacke vor Gericht, mit drei Kollegen wegen Raufhandels, an der mindestens drei Personen aktiv teilnehmen. Bevor er befragt wird, führt die Polizei den Hauptbeschuldigten aus dem Saal. Dann nimmt der jüngere Mann vor den Schranken Platz und gibt zu, den Messerstecher nicht nur verbal angegangen zu haben. Er habe ihn auch gestossen und gepackt, das Shirt zerrissen.

Der Verteidiger des Messerstechers schildert ein weit drastischeres Geschehen:

Ganz so hart fällt das Urteil nicht aus –aber härter als im ersten Anlauf: Das Gericht verhängt wegen versuchter vorsätzlicher Tötung eine Freiheitsstrafe von neun Jahren. Von Notwehr könne keine Rede sein, so der Gerichtsvorsitzende. Der Angreifer sei auf einen unbewaffneten, sich entfernenden Kontrahenten losgegangen. Auch das Gericht geht von einem bewussten Vorgehen aus; dem Hass­Tweeter sei klar gewesen, dass er mit seinem T­Shirt provoziere. Und die vier FCZ­Fans, die ihn deshalb angesprochen und angepöbelt haben, werden freigesprochen.

YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

Verkäufer*innenkolumne

Bist du jetzt Halima?!

Ich bin vor vielen Jahren aus Somalia geflüchtet. Ich war vorher Journalistin und berichtete für eine grosse Tageszeitung, die ungefähr der Schweizer Zeitung Blick entspricht. Auf Recherche erlebte ich den Tag, der als «Schlacht von Mogadischu» in die Geschichte einging, und bekam Bombensplitter ab. Auf der Flucht steckte ich dann lange in Libyen fest.

Eigentlich ist meine Geschichte traurig. Ich mag witzige Erzählungen trotzdem lieber. Ebenso meine Schwester.

In Somalia lebten wir in Wohlstand. Wir wohnten in einem Haus, ich fuhr mein eigenes Auto und wir hatten eine Putzkraft; sie hiess Halima. Ich konnte mir nicht vorstellen, je für andere arbeiten zu müssen.

Dann kam ich nach Libyen. Dort machte ich den Haushalt für eine Familie, um über die Runden zu kommen. Sie waren Bekannte von Muammar al-Gaddafi, eine reiche arabische Familie. Ihr Haus hatte fünf Stockwerke. Ich musste mit meinen Kindern im Keller wohnen.

Die Frau hatte Zwillinge, und ich wurde regelmässig aus dem Schlaf geholt. Egal, wann ihre Kinder aufwachten, rief sie mich und sagte: Komm rauf und nimm die Kinder! Als sie wieder schwanger wurde, dachte ich: Oh bitte nicht! Sie bekommt bestimmt nochmals zwei aufs Mal!

Heute ruft mich meine Schwester, die unterdessen in den USA lebt, manchmal sehr früh am Morgen an. Dann sage ich

ihr: Sorry, lass mich noch ein wenig schlafen, ich muss heute an drei verschiedenen Orten putzen gehen. Und meine Schwester scherzt: «Was? Bist du jetzt Halima geworden …?!»

Das ist die Realität, die Verhältnisse haben sich gedreht. Nun bin ich Halima. Und meistens müssen wir darüber lachen.

SEYNAB ALI ISSE, 52, verkauft Surprise am Bahnhof Winterthur. Wenn sie ihre eigene Wohnung putzt, gibt sie einen Tropfen Haarem-Al-Sultan-Parfum in den Filter des Staubsaugers.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autor Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

Gini und die Lebenshaltungskosten

Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass die Schweiz mit ihrer Einkommensverteilung gar nicht so schlecht dasteht. Seit Jahren liegt sie im Mittelfeld vergleichbarer Staaten. Besonders hervorgehoben wird, dass die Einkommensverteilung im Gegensatz zu anderen Ländern kaum ungleicher geworden ist. Zur Messung wird dabei der Gini-Koeffizient verwendet. Dieser nimmt den Wert von 100 an, wenn eine absolute Ungleichverteilung vorliegt («jemand hat alles») und einen Wert von 0 bei völliger Gleichverteilung («alle haben gleich viel»).

Eine neue Studie der Berner Fachhochschule geht nun der Frage nach, wie sich die Einkommensverteilung verändert, wenn die Lebenshaltungskosten berücksichtigt werden, also alle regelmässigen Ausgaben für den täglichen Bedarf wie Miete, Nahrung oder Kleidung. Schliesslich ist für die Haushalte nicht das Einkommen entscheidend, sondern was übrigbleibt, wenn diese Ausgaben getätigt sind. Betrachtet wird also die Verteilung des frei verfügbaren Einkommens.

Basis der Berechnungen sind Steuerdaten von Personen im Erwerbsalter und deren Kindern aus sechs Kantonen. Damit wird die finanzielle Situation von über drei Millionen Menschen abgebildet, was rund 45 Prozent der Bevölkerung der Schweiz unter 65 Jahren entspricht. Um aus dem Einkommen das frei verfügbare Einkommen zu erhalten, werden die minimalen Alltagsausgaben (für Essen und Trinken, Kleidung, Mobilität, Kommunikation), die Wohnkosten, die Prämien der Krankenversicherung (und die Prämienverbilligung) sowie die direkten Steuern auf Einkommen und Vermögen berücksichtigt.

Die Ergebnisse sind frappant. Die ärmsten 10 Prozent aller untersuchten Haushalte brauchen 82 Prozent ihres Haushaltseinkommens zur Finanzierung der minimalen Lebenshaltungskosten. Gerade mal 18 Prozent der Einkommen stehen zur freien Verwendung bereit. Die 10 Prozent einkommensstärksten Haushalte benötigen hingegen nur 31 Prozent ihrer Haushaltseinkommen für die Lebenshaltungskosten. 69 Prozent ihrer Einkommen können sie ausgeben, wie sie wollen. Damit verändert sich auch der Gini-Koeffizient. Beträgt dieser Wert bei der Einkommensverteilung noch 31,3, so steigt er unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten auf den Wert von 42,2. Die Ungleichheit der frei verfügbaren Einkommen ist damit deutlich grösser als die Ungleichheit der Einkommen.

Bemerkenswert ist auch, wie diese Zunahme zustande kommt. So tragen die Alltagsausgaben mit +5,7, die Wohnkosten mit +6,0 und die Krankenkassenprämien mit +3,7 zur wachsenden Ungleichheit bei, während die Prämienverbilligung mit -0,8 und die Steuern mit -3,7 die Ungleichheit etwas relativieren.

Die Daten stammen aus dem Jahr 2015. Es ist nicht anzunehmen, dass sich seither viel an diesem Bild geändert hat. Die Belastung durch die Alltagsausgaben wird zwar kaum zugenommen haben, dafür muss heute deutlich mehr für die Miete und die Krankenversicherung aufgewendet werden. Es spricht darum viel dafür, dass die Ungleichheit der frei verfügbaren Einkommen gleichgeblieben, wenn nicht sogar weiter zugenommen hat.

Veränderung der Einkommensungleichheit durch Einbezug der Lebenshaltungskosten

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Gini-Koe izient vor Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten

Wohnkosten

Alltagsausgaben

Ungleichheit

Zunahme Verringerung

Gini-Koe izient nach Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten

Obdachlosigkeit Die Sommer werden immer wärmer, die Hitze macht uns allen zu schaffen. Doch besonders prekär wird es für Menschen, die auf der Strasse leben müssen.

Gefährliche Hitze

Städte speichern am meisten Wärme. Jetzt wird gegengesteuert: Statt Asphalt und Beton sollen mehr Bäume ge p flanzt und Brunnen gebaut werden. Aber reicht das?

Geht’s noch heisser? Letzten Sommer überschlugen sich die Nachrichten: von Hitzewellen in Südeuropa, den USA und China und von Waldbränden auf allen Kontinenten. Offenbar war der August 2023 global gesehen der mit Abstand heisseste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen 1940, wie der europäische Copernicus-Klimawandeldienst mitteilte. Woraufhin UN-Generalsekretär António Guterres prompt vom beginnenden «Klima-Kollaps» sprach.

Auch in der Schweiz war es vorigen Sommer oft überdurchschnittlich heiss mit nur wenigen kühlen Perioden –wie schon im Jahr davor, als es in Genf an 41 Tagen über 30 Grad warm war und in Sion gar an 49 Tagen. So wurden 2022 in der Schweiz 474 Hitzetote registriert; im wärmsten Sommer überhaupt, 2003, waren es gar 1402 hitzebedingte Todesfälle. Besonders gefährdet sind ältere Personen, Kranke, Schwangere, Kleinkinder – und Menschen, die auf der Strasse leben müssen, also obdach- oder wohnungslos sind.

«Die kalten Monate sind für Obdachlose nicht ohne, nur: die heissen sind es genauso wenig», sagt Michel Steiner von der Gassenarbeit Schwarzer Peter in Basel (siehe Interview, S. 12). Die hitzebedingten gesundheitlichen Risiken reichen von Schwindel über Erschöpfung bis zu Hitzschlag. Naheliegende Massnahmen wie etwa die, sich an besonders heissen Tagen in gekühlten Räumen aufzuhalten, sind für Menschen ohne feste Bleibe oft keine Option. Kommt hinzu, dass die meisten Obdachlosen in Städten oder Agglomerationen leben – und damit an den heissesten Orten überhaupt.

Besonders die hohen Temperaturen in der Nacht stellen für Menschen, die in der Stadt leben – es sind inzwischen fast 85 Prozent der Schweizer Bevölkerung –, ein Problem dar. Der Grund ist einfach: Sind die Nächte nicht kühl genug, kann sich der Körper kaum erholen und somit auch die Hitze am Tag schlechter verkraften. In Städten wie Genf oder Zürich, den am dichtesten besiedelten Zentren der Schweiz, kann der Unterschied zum Umland in einer Sommernacht bis zu 7 Grad Celsius betragen. Meterolog*innen reden von «städtischen Wärmeinseln». Vor allem Asphalt und Beton speichern die Hitze. Untersuchungen zufolge sind in der Schweiz in Ortschaften mit über 10 000 Einwohner*innen inzwischen durchschnittlich 64 Prozent der Siedlungsfläche versiegelt, also überbaut, asphaltiert oder zubetoniert; in Genf sind es 71 Prozent, in der Gemeinde Carouge gar 79 Prozent. Seit Mitte der 1980erJahre hat die versiegelte Fläche hierzulande um fast 40 Prozent zugenommen.

Was tun? Auch Guirec Gicquel, Leiter des Projekts «Anpassung an den Klimawandel» vom Bundesamt für Umwelt, betrachtet die Hitze in den Städten als zentrales umwelt- und gesellschaftspolitisches Problem. «Wir müssen die Städte an die neuen Klimabedingungen anpassen, indem genügend Freiräume mit Grünflächen und Schattenplätzen geplant und gesichert werden», sagt Gicquel. Die entsprechenden Massnahmen liegen auf der Hand: mehr Bäume pflanzen, mehr Brunnen und offene Gewässer installieren sowie die Hausfassaden, Dächer und Strassen aufhellen, damit sie weniger Sonnenwärme aufneh-

men. Und vor allem: dem Asphalt und Beton an den Kragen. Das haben die «Asphaltknackerinnen» in Zürich im Sinn mit der gezielten Entsiegelung von Parkplätzen, Hinterhöfen oder Firmenarealen zugunsten von einheimischen Pflanzen und Sträuchern.

Beim Projekt «Klimaangepasstes Bauen», das unter anderem von MeteoSchweiz durchgeführt wird, werden städtebauliche Massnahmen gegen die Hitze entwickelt. Eine gewisse Vorreiterrolle spielt Sion, Hauptstadt des Wallis und einer der wärmsten Orte der Schweiz; in zwei Jahrzehnten ist dort die Durchschnittstemperatur um 1 Grad Celsius gestiegen. Bereits vor zehn Jahren begann Sion darauf zu reagieren, es wurden Grünflächen geschaffen, Brunnen angelegt und dort, wo früher Autos parkten, Bäume gepflanzt – ganz nach dem Motto: Statt grau sollen Städte nun blau und grün werden. Genf hat beschlossen, mehr klimaresistente Bäume und Sträucher anzupflanzen; man will den Anteil der bepflanzten Fläche bis 2050 von jetzt 21 auf 30 Prozent erhöhen. Darüber hinaus sollen die bestehenden Bäume weniger stark geschnitten werden, damit sie mehr Schatten spenden. Dadurch erhofft sich die Stadt zum einen zusätzliche Abkühlung, zum anderen absorbieren mehr Blätter auch mehr CO2.

«Man muss die Orte kühlen – oder die Menschen» Im Zuge dieser «hitzeangepassten Massnahmen» nehmen Städte wie Aarau sogenannte «Vulnerabilitätsanalysen» vor, die etwas darüber aussagen sollen, in welchen Gebieten besonders viele Gruppen leben, für welche die Hitze ein erhöhtes Risiko darstellt. Dazu gehören, wie gesagt, auch Obdach- und Wohnungslose. Schon länger versuchen Organisationen wie das Sozialwerk Pfarrer Sieber in Zürich oder die Kirchliche Gassenarbeit in Bern ganz konkret Hilfe zu bieten, indem sie die betreffenden Personen mit Wasserflaschen, Sonnencreme, Feuchtigkeitstüchern oder Powerriegeln versorgen. Ähnliches passiert beispielsweise auch in Lausanne und Genf.

«Das alleine wird aber nicht reichen», sagt Henny Annette Grewe, Professorin für Medizinische Grundlagen an der Hochschule Fulda, zum Hamburger Strassenmagazin Hinz&Kunzt. «Ab einer gewissen Temperatur sind Trinken und Schwitzen nicht genug, dann gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Man muss die Orte kühlen –oder die Menschen.» Tatsächlich wurde unlängst in Berlin eine Hitzenotunterkunft eröffnet; ein Haus, welches für obdachlose Menschen tagsüber offen hat, Essen und Betten zur Verfügung stellt und die Räume mit Ventilatoren kühlt. Solche «Cooling Houses» gibt es bereits seit Jahren in den USA. 2017 wurde der Ansatz in Wien vom Roten Kreuz umgesetzt: Ein leerstehendes klimatisiertes Geschäft in einem Einkaufszentrum öffnet an besonders heissen Tagen seine Türen speziell für obdach- und wohnungslose Menschen. Andere Städte wie Mannheim oder Bochum statten ihre Beratungsstellen mit Sonnensegeln aus und verteilen an Obdachlose Freikarten für öffentliche Waschsalons und Freibäder. Oder sie bieten ihnen Garagen an, in denen diese tagsüber ihren Besitz einschliessen können, den sie sonst in der brütenden Hitze mittragen müssten.

In der Stadt Basel wird demnächst ein Pilotprojekt lanciert, das den Bedarf an kühlen Räumen für obdach- und wohnungslose Menschen abklärt. Initiiert haben es die Basler Gassenarbeit Schwarzer Peter und die Ostschweizer Fachhochschule, die Kosten liegen bei 55 000 Franken. Wie andere Schweizer Grossstädte ist auch Basel eine ausgeprägte «Wärmeinsel». Kühle Rückzugsorte sowie schattige Plätze sind rar, weswegen der Kanton BaselStadt dieses Jahr 9,4 Millionen Franken unter anderem in grosse Blumentöpfe, Sonnenschirme und Sprühnebelverdunster investieren will. Das Pilotprojekt dagegen konzentriert sich auf vulnerable Personen, dazu zählen eben auch die Obdach- und Wohnungslosen. Welche kühlen Orte in der Stadt dafür geeignet sind, gilt es noch zu prüfen. Fest steht für Sozialarbeiter und Mitinitiant des Projekts Michel Steiner aber schon jetzt: «An heissen Tagen wird man draussen kaum Orte finden, an denen, wie das BAG fordert, maximal 24 Grad Celsius herrschen.»

Hintergründe im Podcast: Radiojournalist

Simon Berginz spricht mit Redaktorin

Lea Stuber über Obdachlosigkeit und Hitze. surprise.ngo/talk

Dem Schatten und Wasser entlang

Wie gehen Obdachlose mit der Hitze im Sommer um? Drei Betroffene aus Bern erzählen.

«Statt Brot besser einen Apfel.»

Gabriel (Name geändert), 43, ist seit Januar in Bern, vorher lebte er in Deutschland und Spanien.

«Ich bin gerne in Bibliotheken, dort ist es schön kühl – und ich kann in Büchern stöbern. Im April war ich zum ersten Mal in der Aare schwimmen. Dass die Badis in Bern keinen Eintritt kosten, finde ich gut. Hier kann man auch die Toiletten und Duschen benutzen. Allerdings nur die mit kaltem Wasser, für die Warmwasser-Duschen müsste man einen Jeton kaufen. Darum nutze ich die Duschen vom Sleeper (Notschlafstelle, Anm. d. Red.) und von Pinto (aufsuchende Sozialarbeit der Stadt Bern, Anm. d. Red.) und wechsle das warme und kalte Wasser ab, das regt die Durchblutung an. Ich lebte lange in Sevilla und Chipiona, ich kenne Hitze also gut. Als ich einmal – da lebte ich noch nicht auf der Strasse – einen Sonnenstich hatte mit Kopfschmerzen und Schwindel, wurde mir bewusst: In der Hitze auf der Strasse sein, kann gefährlich werden. Was hilft: Das Hemd unter den Wasserhahn halten und nass wieder anziehen. Auch den Kopf und die Haare unters Wasser halten, danach am besten noch einen nassen Hut aufsetzen. So bleibt die Feuchtigkeit und Kühle lange. Was auch wichtig ist: die Ernährung. Statt Brot isst man besser einen Apfel oder einen Salat. Sowieso viel Früchte und Gemüse, am besten roh. Weil die Nieren das Blut filtern, ist es wichtig, jede Stunde Wasser zu trinken. Bei den Brunnen fülle ich meine Thermosflasche, die hält das frische Wasser kühl. Ich versuche immer eine Zitrone bei mir zu haben. Weil ich Probleme mit meiner Leber habe, gebe ich meinem Wasser Zitronensaft bei, plus Meersalz, Rohrzucker, Essig und Öl.»

«Abwechslung ist wichtig.»

Hendrik (Name geändert), 49, ist seit insgesamt mehr als 20 Jahren obdachlos.

«An heissen Tagen dauert es länger, um sich zu erholen. Ich suche Orte, wo ich den ganzen Tag sein kann, ohne zu viel Energie zu brauchen. Ich gehe ins Marzili, in die Badi an der Aare, das ist ein grosser Luxus. Oder auf einen Friedhof, in den Botanischen Garten oder in den Rosengarten. Abwechslung ist wichtig. Manchmal bin ich auch auf der Münsterplattform, aber hier wird es doch ziemlich heiss, da es nicht viel Schatten gibt. Oder ich gehe in die Heiliggeistkirche beim Bahnhof, dort drinnen ist es kühl. Und es gibt ein Klavier, auf dem ich spielen kann. Im Sommer ist das Leben teurer. Das Büro der Gassenarbeit, wo es jeden Donnerstag Zvieri und Suppe gibt, ist im Sommer vier Wochen zu. Wahrscheinlich werde ich in dieser Zeit abnehmen. Was Hunger ist, weiss ich. Wenn es heiss ist, schlafe ich auf keinen Fall in der Nähe der Aare – all die Mücken! Ich gehe höher rauf, versuche

aber immer in der Nähe einer öffentlichen Toilette zu sein, wo es Wasser gibt. In Bern braucht es mehr Duschen, vor allem solche mit Warmwasser. Heisses Wasser ist teuer. Auch schwierig ist das Waschen der Kleider. Bei Pinto gibt es zwei Waschmaschinen –und zwar für alle obdachlosen Menschen in Bern! Das Büro ist begrenzt offen, und dann laufen die Maschinen oft schon. Dann lasse ich die Kleider da, komme am nächsten Tag wieder – so bin ich mehrere Tage mit Waschen beschäftigt. Das Münz für andere Waschsalons habe ich selten, im Jahr lebe ich von 400 Franken. Der Winter ist mir lieber, doch ich brauche auch viel Sonne. Wärme tut mir gut, ich bin gerne barfuss. Aber schau, meine Schulter, ich habe mir einen Sonnenbrand eingefangen. Die Sonnencreme, meistens vergesse ich sie.»

«Immer

Auschau halten nach Brunnen.»

Alessia (Name geändert), 23, war von 16 bis knapp 20 obdachlos.

«Seit ich eine Wohnung habe, bleibe ich an heissen Tagen oft bis am späten Nachmittag drinnen. Ich ertrage Hitze nicht besonders gut und liebe es, wenn es bewölkt ist. Mit meinem damaligen Schlafplatz unter der Brücke der Autobahn hatte ich Glück, unter ihm floss die Aare, so wehte immer kühle Luft hinauf. Den Schlafsack und den Rucksack mit all meinen Kleidern konnte ich meist bei Kolleg*innen deponieren, damit ich das ganze Zeug nicht durch die Hitze schleppen musste. Ich hielt immer nach Brunnen Ausschau, um meine Haare nass zu machen und meinen Hund baden zu lassen. Und natürlich nach Schattenplätzen. Meistens fand ich solche in den schmalen Gassen der Innenstadt. Hitze macht schlapp, und das machte das Mischeln anstrengender als wenn es kühl war und man genug Energie hatte, um Menschen nach Geld zu fragen. Immer wieder gaben mir Leute auch etwas zu trinken. An heissen Tagen versuchte ich auch, keinen Alkohol zu trinken, sondern lieber einen Eistee oder ein anderes Erfrischungsgetränk. Wenn ich doch mal aktiv gemischelt habe, dann in der Unterführung des Bahnhofs, dort blieb es lange kühl. Und wenn es extrem heiss war, ging ich in den gekühlten Warteraum. Von dort wurde ich aber oft wieder verjagt. Wenn es abends lange hell war und viele Leute von der Gasse bei der Heiliggeistkirche beim Bahnhof gemütlich ihr Bierli tranken, war die Stimmung entspannt. Ich habe diese Abende genossen. Tagsüber bräuchte es bei der Heiliggeistkirche vielleicht eine Sonnenstore oder ein Sonnensegel. Und statt das Geld für Lautsprecher auszugeben, die beim Bahnhofseingang klassische Musik spielen, würde die SBB besser Spender mit Sprühnebel installieren.»

Aufgezeichnet von LEA STUBER

«Ausser man setzt sich in einen Brunnen»

Wer auf der Strasse leben muss, hat kaum Zugang zu kühlen Räumen, sagt Michel Steiner von der Gassenarbeit Schwarzer Peter. Ein Pilotprojekt in Basel soll das nun ändern.

Michel Steiner, immer zur Winterszeit sorgen sich Medien und Teile der Öffentlichkeit um obdach- und wohnungslose Menschen, die sich in der Kälte durchschlagen müssen. Ist dann endlich der Sommer da und eitel Sonnenschein, scheint alles gut zu sein. Ein Irrtum?

Michel Steiner: Ja. Denn die Hitze ist für Menschen, die auf der Strasse sind, nicht minder ein Problem. Sicher, der Winter birgt Herausforderungen gerade für jene, welche die Nächte draussen verbringen müssen. In meiner Erfahrung haben diese «rough sleepers», wie man sie auch nennt, aber meist durchaus Kompetenzen und Strategien, wie sie damit umgehen. Zum Beispiel hörte ich mal von jemandem, dass er in kalten Nächten alle zwei Stunden den Wecker stellt, um nicht in den Tiefschlaf zu fallen und zu erfrieren. Die kalten Monate sind für Obdachlose ganz klar nicht ohne, nur: die heissen sind es genauso wenig. Und daran denkt man zu wenig.

Welches sind die Gefahren der Hitze? Offensichtlich sind die gesundheitlichen Risiken, denen vulnerable Gruppen wie ältere Menschen oder eben auch Obdachund Wohnungslose besonders ausgesetzt sind, wie starke Kopfschmerzen, Schwindel oder Hitzschlag. Im schlimmsten Fall sterben sie. Es gibt aber noch andere Probleme, die für Menschen auf der Gasse mit der Hitze einhergehen. Ich denke an Hygiene; wer obdachlos ist, braucht die Möglichkeit zu duschen. Auch hat sie oder er keinen Kleiderschrank, die Person muss ihr Hab und Gut ständig bei sich haben. Und das ist im Sommer besonders anstrengend.

Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) empfiehlt bei Hitzeperioden zweierlei: Genug trinken und sich möglichst oft in kühlen Räumen aufhalten.

Beides ist wichtig. Wie andere Hilfsorganisationen verteilen wir von der Gassenar-

INTERVIEW KLAUS PETRUS

beit Schwarzer Peter an heissen Tagen Trinkwasser, Sonnencreme und Hüte an Obdach- und Wohnungslose. Anders aber als etwa ältere Menschen haben diese nur beschränkt Zugang zu kühlen Räumen. An heissen Tagen wird man draussen kaum Orte finden, an denen, wie das BAG fordert, maximal 24 Grad Celsius herrschen – ausser man setzt sich in einen Brunnen.

Hier setzt Ihr Pilotprojekt an, das sie zusammen mit der Ostschweizer Fachhochschule umsetzen werden. Sie machen sich in der Stadt Basel auf die Suche nach kühlen Orten für Obdach- und Wohnungslose und fragen sich: Welche Räumlichkeiten gibt es bereits, die dafür geeignet sind, welche müssten umgebaut werden, was für zusätzliche Orte braucht es?

Genau, es geht um eine Art Bestandesaufnahme der kühlen Orte in der Stadt Basel, die immerhin zu den heissesten der Schweiz zählt – mit dem Ziel, einen Leitfaden für andere Schweizer Städte zu erstellen. Die meisten Grossstädte haben inzwischen so etwas wie ein Hitzenotfallkonzept: weniger Beton und Asphalt, dafür mehr Grün und Wasser. Auch die Stadt Basel investiert Millionen in solche Projekte. Das ist natürlich alles wichtig, nur suchen wir nach ganz konkreten Massnahmen, und die haben, wie gesagt, viel mit Zugang zu Räumlichkeiten zu tun.

Haben Sie ganz bestimmte Orte vor Augen? Es gibt bereits jetzt eine ganze Reihe von Räumlichkeiten, die obdach- und wohnungslose Menschen nutzen, wenn es draussen zu heiss wird. Ich denke zum Beispiel an Quartiertreffs, Bibliotheken oder das Foyer Public des Theater Basel, wo es ein Café gibt, Arbeitsplätze und eine Spielecke für Kinder. Solche Orte sind für alle zugänglich, sie sind tagsüber offen, es gibt keinen Konsumzwang und Obdachund Wohnungslose können sich dort auf-

halten, ohne dass sie gross auffallen. In anderen Fällen wird man darüber nachdenken müssen, ob bereits vorhandene Räumlichkeiten der Situation angepasst werden sollten. Zum Beispiel haben die meisten Notschlafstellen tagsüber geschlossen. Da wäre zu überlegen, ob man sie nicht 24 Stunden zugänglich macht –was natürlich mit zusätzlichem Personal verbunden ist und damit mit mehr Kosten. Oder denken wir an Projekte wie Housing First, wo ehemaligen Obdachlosen in einem Gebäude Wohnungen zu einigermassen erschwinglichen Mieten angeboten werden; hier könnte allenfalls ein Aufenthaltsraum für alle geschaffen werden.

Sie haben gerade gesagt, es sei wichtig, dass sich Menschen ohne feste Bleibe möglichst «unauffällig» in derlei öffentlichen Räumen bewegen können. Gibt es Fälle, wo dies nicht gewährleistet ist? In unserer Gesellschaft ist immer noch von «Randständigen» die Rede, und gerade Menschen, die einem gewissen Bild von Obdachlosen entsprechen, das viele noch haben – süchtig, ungepflegt und lärmig –, werden nach wie vor diskriminiert. Sie fallen entsprechend eher auf als andere Menschen, die prekär leben oder wohnen. Auch das wird ein Ziel unseres Pilotprojekts sein: Herausfinden, ob es je nach Klientel unterschiedliche Angebote geben sollte.

In manchen Städten im Ausland werden «Cooling Houses» eingerichtet, wo sich Obdachlose zurückziehen und unter sich sein können. Haben Sie so etwas im Blick? Das könnte ein solches Angebot sein, ja. Wobei sich natürlich – wie so oft bei diesen Themen – sofort die Frage stellt: Wollen wir Integration oder Segregation? Nehmen wir zum Beispiel die Gassenküche. Auf der einen Seite könnte man sagen, es sei integrativer, wenn man an die Betroffenen Essensgutscheine verteilt, mit denen sie dann

in ein – und das sage ich jetzt bewusst in Anführungszeichen – «normales» Restaurant gehen könnten; davon abgesehen, dass dies vermutlich günstiger wäre als die ganze Infrastruktur, die eine Gassenküche benötigt. Auf der anderen Seite kann man eben auch argumentieren, dass es Räume braucht, in denen sich die betreffenden Menschen nicht derart ausgestellt fühlen wie vielleicht in einer gewöhnlichen Beiz. Und dass diese Räume also Orte sind, an denen sie sich sicher fühlen, wo sie ein wenig zur Ruhe kommen und unter sich sind, eben Safe Spaces. Grundsätzlich fände ich es wichtig, dass sich alle Menschen möglichst überall aufhalten können.

Sind da nicht Konflikte vorprogrammiert?

Das mag sein, nur: Viele der Institutionen, die kühle Räume zur Verfügung stellen, welche Obdachlose schon jetzt nutzen, haben in diesen Fragen bereits Erfahrung. Es würden ja nicht von einem auf den anderen Tag beispielsweise städtische Bibliotheken von Obdachlosen heimgesucht. Mit dem Foyer Public des Theater Basel etwa sind wir schon länger in Kontakt, und wir sind auch deren Ansprechpartner, falls es Reibereien geben sollte. Mit unserem Pilotprojekt wollen wir diese Erfahrungen abfragen und sammeln, um so herauszufinden, wie viel Raum Institutionen während ihres normalen Betriebs zur Verfügung stellen kön-

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nen und welche Unterstützung sie etwa von unserer Seite benötigen.

Wohnungsnot und hohe Mieten, das sind Themen, die immer mehr Menschen betreffen. Würden Sie damit einig gehen, dass wir als Gesellschaft infolgedessen näher zusammenrücken?

Ich denke schon, dass viele Menschen sensibler werden in Bezug auf die zunehmend prekäre Wohnungssituation gerade in Städten. Sie wissen: Es könnte auch mich treffen. Viele können sich ihre Wohnung nicht mehr leisten – wenn sie denn überhaupt noch eine kriegen. Das ist bestimmt auch einer der Gründe, weshalb vor Jahren die Basler Stimmbevölkerung die Verfassungsinitiative «Recht auf Wohnen» angenommen hat.

Und was ist mit der Klimaerwärmung?

Auch das ist ein gesamtgesellschaftliches, ja globales Problem.

Da bin ich skeptischer. Wir klagen bisweilen über die Hitze, und vielleicht gelingt es uns – auch mit unserem Pilotprojekt – dafür zu sensibilisieren, auf welche Weise Menschen wie Obdachlose, die in Hitzeperioden besonders gefährdet sind, geschützt werden können. Insgesamt aber beschleicht mich immer wieder das Gefühl, dass wir als Gesellschaft gar nicht wahrhaben wollen, was da auf uns zukommt.

MICHEL STEINER, 54, ist Gassenarbeiter und Co-Geschäftsleiter des Vereins Schwarzer Peter in Basel, der voriges Jahr sein 40-Jahr-Jubiläum gefeiert hat. Er ist Mitinitiator des Pilotprojekts «Kühle Räume in der Stadt – Sofortmassnahmen Hitze und Gesundheit», das Schwarzer Peter gemeinsam mit der Ostschweizer Fachhochschule unter Leitung von Tanja Herdt durchführen wird.

KLAUS PETRUS

Glace kleckern für alle

TEXT DIANA FREI ILLUSTRATIONEN PIRMIN BEELER

FREIBAD LETZIGRABEN Der Ort: das Zürcher Freibad Letzigraben an einem Frühsommernachmittag, Aussentemperatur ca. 24 Grad Celsius. In Freibädern habe ich ganze Semesterarbeiten für die Uni geschrieben. Man ist hier ungestört und doch nicht einsam. Die Personen: Babys, Kleinkinder, Teenager, Mütter, Väter, Senior*innen. Die Handlung: das unspektakuläre Dasein im Zwischenbereich von Alltag und Freizeit.

Max Frisch war als Schriftsteller nicht dringend Spezialist für unbelastete Begegnungen, wie wir sie in dieser Serie beschreiben wollen (wir erinnern uns, nur als ein Beispiel: seine Romanfigur Faber verliebt sich, ohne es zu wissen, in die eigene Tochter). Eher eignet sich sein Werk vielleicht, um in die Seele des alternden mittelständischen weissen Mannes hineinoder hinabzusteigen. Aber: Frisch war auch Architekt und hat als solcher das Freibad Letzigraben gebaut (auch Max-Frisch-Bad genannt). Und: Es gibt ihn auch genau hier, den alternden Mann.

Er steht in engen Badehosen und gegerbter, faltiger Haut am Beckenrand und macht Dehnübungen, er schüttelt sich das Wasser aus den Ohren und lässt sich stehend in der Sonne trocknen. Drüben beim Babyteich stolpern derweil bewindelte Kleinkinder durch das Wasser, anderen haben die Erziehungsberechtigten UV-schützende Ganzkörperanzüge übergestülpt, Mütze mit Nackenschutz.

Strandkörbe, die aussehen wie Bienenkörbe. Rote Sonnenschirme, soweit das Auge reicht. Weiss-blaue Schaumgummiflossen im Wasser. Alles gleich, weil städtisch mietbar. Kaum jemand hat etwas anderes oder Besseres mitgebracht. Auch die Hitze trifft alle gleich. Und alle kriegen den gleichen Sonnenbrand, lesen sich den gleichen Fusspilz auf. Die Badi ist ein Gleichmacher, und der Mensch ist hier – fast – nackt.

Babyeltern unterhalten sich mit anderen Babyeltern mit Schwangerschaftsstreifen und Ansätzen zum Bierbäuchlein, weil auch sie Babyeltern sind. Die Kleinkinder stellen sich vor andere Menschen hin, weil auch sie Menschen sind, und beobachten sie. Distanzlos, genau, interessiert. Die jungen Väter spritzen sich derweil gegenseitig mit den Sandeimerchen und Plastikschaufeln ihrer Kleinkinder an.

Warteschlangen vor dem Eingang, an der Restaurant-Theke, an der Rutschbahn. Haut an Haut, ein sehr körperliches Nebeneinander. Man cremt sich gegenseitig ein, schubst und zieht sich ins Wasser, man ist verbunden in diesem Element und in den grundlegendsten Bedürfnissen und Zuständen. Schwitzen, Frieren, Trinken, Planschen. Von der Sonne in den Schatten, vom Schatten in die Sonne, Glace, Pommes, Cola, Bier. Eine Gruppe von Jugendlichen teilt sich ein Strandtuch, ein Mädchen hockt platzsparend auf einem der Jungen und beugt sich herunter, um ihn zu küssen. Auf einem der städtischen Badeflosse trei-

ben zwei Teenie-Mädchen durch das Bassin und führen ein angeregtes Gespräch.

Von den Schwimmwindeln über Akne und Muskeln hin zu faltigen Beinen und hängenden Pobacken, der Lauf des Lebens in Schwimmbahnen und Düsenkanälen, mit dem leichten Duft des Chlors, das gegen den Zerfall ankämpft.

Das alles sind Beobachtungen aus der Distanz. Mit vom Chlor gereizten Augen und mit Wasser in den Ohren registriert, vielleicht mit eigenen Gedanken und Projektionen vermischt. Denn Freibäder haben auch mit Erinnerung zu tun. Nicht an konkrete Geschehnisse, sondern an Zustände, Gerüche und Geschmäcker.

Das Freibad lässt einen irgendwie nicht los. Als Baby wird man mitgenommen, weil man hier nicht stört, als Teenie sucht man flirrende Hitze, kühlende Nässe oder auch einfach ein Gefühl der Zugehörigkeit. Als Eltern sucht man selber den Ort, an dem die Regeln ausserhalb des Wassers nicht so streng sind wie anderswo. Und im Alter, stelle ich mir vor, werde ich wieder in die Badi gehen, weil ich hier die Hitze unter den Füssen und die Strömung der Düsen noch immer spüren werde.

In der Serie «Orte der Begegnung» begeben sich die Redaktionsmitglieder dorthin, wo in unserer funktionalen Welt ein leiser, selbstverständlicher, informeller Austausch stattfindet.

Viel Raum bleibt nicht für das Leben neben der Arbeit. Und vom Lohn schicken viele einen Grossteil nach Indien oder Pakistan zur Familie.

Kohle machen in Dubai

Arbeitsmigration In Dubai kommt jeder vierte Mensch aus Indien oder Pakistan. Doch Arbeit zu finden wird für sie zunehmend schwierig.

Hupende Autos und grell zündende Motorräder schlängeln sich durch die Gassen. Geschäft reiht sich an Geschäft, davor buhlen Händler lautstark um Kundschaft. Auf farbigen Stühlen vor der Cafeteria «Talashery», benannt nach einer Stadt in Kerala, sitzen Inder und Pakistaner beim Essen und unterhalten sich angeregt. Die Luft riecht nach gebratenem Fleisch und Gewürzen. Auf einem leeren Parkplatz nebenan spielen Männer in der Nachmittagssonne Cricket.

Nur hin und wieder wird die Illusion, sich in Indien zu befinden, gebrochen: Ein Scheich in Sandalen und Kandura, dem weissen Gewand, geht über die Strasse. Und bei genauerem Hinsehen entdeckt man arabische Schriftzeichen, etwa neben dem Schild des «Royal Mumbai Spa». Im indischen Supermarkt weht die Flagge der Vereinigten Arabischen Emirate im Luftzug der Klimaanlage. Bur Dubai, bekannt als Little India, ist einer der am stärksten von der indischen Diaspora bewohnten Stadtteile. In Dubai machen Inder*innen und Pakistaner*innen einen Viertel der Bewohner*innen aus; insgesamt stammen in den Vereinigten Arabischen Emirate etwa 40 Prozent der 9,6 Millionen Einwohner*innen aus diesen zwei Ländern. Nur wenige Stunden mit dem Flugzeug entfernt, bietet Dubai eine der wenigen Möglichkeiten, der Armut zu entkommen.

Zwei Männer, die dem Traum von einem besseren Leben folgten, sind Dolford und Adhihetty. «In Indien könnten wir uns zwar Brot leisten, aber in Dubai verdienen wir so viel, dass sich unsere Familien in Mumbai Butter obendrauf streichen können», sagt der 44-jährige Dolford und nimmt einen Schluck türkischen Kaffee. Auf seinem Shirt steht der Name eines Basketball-Teams aus New Jersey. Er und Adhihetty sind erst vor Kurzem angekommen und teilen sich einen Container in einer Wohnung. Sie wäre für drei Personen gedacht, beherbergt aber zwanzig. Dolford zeigt Bilder davon auf seinem Handy. Der Container besteht nur aus zwei Betten und bietet kaum Platz zum Sitzen oder Verstauen von Sachen. Trotz Verbots teilen viele Vermieter ihre Wohnungen auf diese Weise auf, um den Profit zu maximieren.

Und dann kam die Pandemie Indien empfing 2023 laut der Weltbank weltweit die meisten Geldüberweisungen (sog. Rimessen) aus dem Ausland: 125 Milliarden Dollar. Mehr als 22 Milliarden Dollar davon stammen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Lediglich die indische Diaspora in den USA überweist noch höhere Summen in die Heimat. Adhihetty begann seine Karriere in den Golfstaaten bereits 1994. Damals stand er hinter dem Tresen einer Bäckerei im Oman und ver-

kaufte französische Baguettes. «Ich arbeitete mich hoch, bis ich Vertriebsleiter von etwa vierzig Bäckereien im ganzen Land war», erzählt er. Doch 2009 brachte ein unerwartetes Ereignis alles durcheinander: Seine Mutter erlitt einen Schlaganfall, und Adhihetty musste nach Indien zurückkehren. So verlor er nicht nur seinen Job, sondern auch sein Visum und damit sein Aufenthaltsrecht. Dies entspricht den Regeln des sogenannten Kafala-Systems, das in vielen Golfstaaten die Arbeitsvisa der Migrant*innen streng an ihre Arbeitgeber koppelt. Zuhause in Mumbai pflegte er seine Mutter gesund und eröffnete mit seinen Ersparnissen ein Restaurant, das Platz für sechzig Gäste bot. Doch dann kamen 2020 die Pandemie, der Lockdown und der Bankrott. Adhihetty verlor alles. «Ich betete zu Gott, dass niemand jemals dieselbe Verzweiflung fühlen muss wie ich damals», erzählt er. Vor ein paar Monaten erhielt er ein verlockendes Jobangebot von einem indischen Freund, der in Dubai arbeitet: eine Führungsposition in einem Restaurant. Doch als er in Dubai ankam, gab es diesen Job gar nicht. Sein Freund hatte ihn betrogen, um Geld für das Visum von ihm zu stehlen.

Während Dolford einen Job bei einer iranischen Import-Export-Firma gefunden hat, sucht Adhihetty noch nach Arbeit. Beide haben wiederholt unseriöse Joban-

gebote erhalten. Scheinbare Arbeitgeber kontaktierten sie und boten ihnen attraktive Positionen an. Doch kurz vor Vertragsabschluss forderten sie eine teure Zusatzqualifikation. «Wir durchschauen diese Tricks sofort», sagt Dolford. «Allerdings fallen viele junge Inder*innen, die mit teuren Touristenvisa anreisen, auf solche Maschen herein.» Trotz der grossen indischen Gemeinschaft in Dubai ist das Leben für Gastarbeiter*innen hart und von Sehnsucht nach der Familie geprägt. «Wir telefonieren täglich per Video», sagt Dolford. «Aber wir verschweigen unsere Probleme, um unsere Familien nicht zu beunruhigen. Sie sollen glauben, dass wir erfolgreich sind und als starke Männer unser Geld nach Hause bringen», ergänzt Adhihetty.

Vierzig Vorstellungsgespräche

Trotz Demonstrationsverbots wehren sich Gastarbeiter*innen immer wieder. Der grösste Streik war 2006, als tausende Bauarbeiter, darunter auch am Burj Khalifa, dem heute höchsten Gebäude der Welt, gegen niedrige Löhne, verspätete Gehaltszahlungen und schlechte Arbeitsbedingungen protestierten. Die Regierung reagierte mit Festnahmen und Abschiebungen. Der internationale Druck jedoch führte dazu, dass die Regierung im Jahr 2022 ein Reformpaket in Kraft setzte. Es verbietet beispielsweise Diskriminierung, limitiert Arbeitsverträge auf drei Jahre und führt eine 60-tägige Elternzeit für Mütter ein. Trotzdem bleibt die Situation für Arbeitsmigrant*innen problematisch. Das KafalaSystem bindet Arbeiter*innen noch immer eng an ihre Arbeitgeber und macht Jobwechsel nahezu unmöglich, was oft zu Missbrauch und Ausbeutung führt.

Zwei Monate später sucht Adhihetty immer noch nach einem Job. Rund vierzig Vorstellungsgespräche hatte er inzwischen. Die Konkurrenz ist gross, fehlende Referenzen in den Emiraten stellen sich als Nachteil heraus. Das Zimmer mit seinem Freund Dolford musste er aufgeben, er wohnt jetzt in einem Raum mit zehn anderen Männern. Ob er überlegt, nach Indien zurückzukehren? «Nein, ich habe noch Hoffnung, dass es funktioniert.»

Mitten in Bur Dubai trägt ein Bagger Bauschutt von einem abgerissenen Gebäude ab. Im gleissenden Licht der Mittagssonne laden einige Männer die verbleibenden Wertstoffe auf die Ladefläche eines Pickups. In Helm und Warnweste steht der 15-jährige Arslan daneben und telefoniert

mit seinem älteren Bruder, der zuhause in Pakistan geblieben ist. Sein Schnurrbart lässt ihn älter aussehen als er ist. Schon mit dreizehn und damit zwei Jahre vor dem offiziellen Mindestalter für Arbeitskräfte in Dubai hat er auf dem Bau begonnen, getrieben von den finanziellen Nöten seiner Familie in Pakistan.

«In Pakistan gibt es kaum Arbeit. Und ständig Probleme – mal fehlt der Strom, dann das Benzin oder das Gas. In Dubai funktioniert wenigstens alles und es ist sicher», sagt er. Seine Eltern, sein 27-jähriger Bruder und seine 30-jährige Schwester wohnen in einem Dorf rund eine Stunde von Lahore entfernt und leben vom Verkauf der Milch ihrer drei Kühe. Von seinem Monatslohn von umgerechnet 500 Euro bleibt kaum etwas für Arslan übrig. 150 Euro gehen für sein Zimmer drauf, das er sich mit zwölf anderen teilt, 300 Euro schickt er seiner Familie. Er hat nie frei, und bei Krankheit wird sein Gehalt gekürzt. «Ich vermisse meine Familie sehr», sagt Arslan. Er plant, noch drei Jahre hier zu arbeiten und dann nach Pakistan zurückzukehren – in der Hoffnung, dass sich bis dahin die wirtschaftliche Situation verbessert hat.

Zum Spielen ganz lustig

Einen Steinwurf von Bur Dubai und Dubai entfernt sitzt Spruha mit ihrem Vater und ihrer Grossmutter in der Wohnung im 18. Stock eines Hochhauses in Sharjah, einer Millionenstadt am Persischen Golf. Die Mutter der 12-Jährigen ist noch auf der Arbeit. Einige hier seltene Regentropfen prasseln gegen das Fenster. «Indien? Ein unhygienischer Ort», sagt Spruha mit einer Selbstverständlichkeit, die ihren Vater Manas zu einem verlegenen Lächeln veranlasst. Sharjah ist ebenfalls geprägt von einer grossen indischen Gemeinschaft. Spruha, die in Dubai geboren und aufgewachsen ist, kennt Indien nur von den jährlichen Familienbesuchen. «Zum Spielen ist es dort ganz lustig, aber im Vergleich zu hier ist Indien gefährlich für Kinder», sagt sie. In Dubai besucht sie eine indische Privatschule und hat kaum Berührungspunkte mit der arabischen Kultur. «Die einzige nicht-indische Person in meinem Leben ist meine Arabischlehrerin aus dem Sudan», fügt sie hinzu. Spruha träumt davon, Schauspielerin zu werden, und besucht bereits jetzt Schauspielkurse. Wo sie später studieren wird, steht noch nicht fest. «Vielleicht in Deutschland. Mein Bruder studiert in Nürnberg Computerwissenschaften.»

Adhihetty und Dolford aus Mumbai (links) und Arslan aus der Nähe von Lahore (oben) teilen die Sehnsucht nach ihren Familien daheim. Von ihren Problemen erzählen sie aber nicht, «um sie nicht zu beunruhigen», sagt Adhihetty.

Indien kennt Spruha nur von Familienbesuchen. Während Dubai für viele Inder*innen «zum Käfig» wird, wie ihr Vater Manas sagt, haben seine Frau und er sich über die Jahre eine erfolgreiche Existenz aufgebaut.

Für indische Jugendliche ist es einfach, ein Studenten-Visum zu bekommen. Doch auch Deutschland bereitet ihr Sorgen: «Ich denke, Deutschland ist sogar noch gefährlicher als Indien. Mein Bruder erzählte mir kürzlich eine Geschichte, in der nachts jemand versuchte, eine Person umzubringen. Obwohl sie laut schrie, kam ihr niemand zu Hilfe. In Indien kommen die Menschen wenigstens, wenn jemand nach Hilfe schreit.»

Deutlich mehr Männer

Spruha gehört der jüngsten Generation einer langjährigen Diaspora an. Bereits im 19. Jahrhundert erreichten die ersten Inder*innen aus den Bundesstaaten Gujarat und Kerala per Schiff die Vereinigten Arabischen Emirate, motiviert von florierenden Handelsbeziehungen. Parallel dazu begann auch die Migration von Pakistaner*innen, zusätzlich getrieben von dem gemeinsamen muslimischen Glauben. Die Hochphase des Ölbooms in den 1970erJahren kurbelte den Bedarf an Arbeitskräften an, was zu einem Anstieg indischer Migrant*innen von 4600 im Jahr 1975 auf 125 000 ein Jahrzehnt später führte. Waren es erst vor allem Bauarbeiter, Taxifahrer und Hotelfachkräfte, erhöhte sich später die Anzahl höher qualifizierter Arbeitskräfte wie Ärzte, Ingenieure oder IT-Fachkräfte. Die pakistanische Gemeinschaft in den Vereinigten Arabischen Emiraten entwickelte sich parallel, mit einer starken Präsenz in Handel und Dienstleistungssektor. Weil deutlich mehr Männer als Frauen auf der Suche nach Arbeit in die Vereinigten Arabischen Emirate kommen, ist die männliche Bevölkerung im Golfstaat mehr als doppelt so gross wie jene der Frauen. Die Zukunft der indischen Diaspora ist ungewiss, denn seit Jahren verschärft die Regierung die Einwanderungsgesetze. Gebührenerhöhungen, neue Anforderungen an Mindestqualifikationen und strengere Kontrollen erschweren die Einreise und das Leben für Inder*innen. Der zunehmende Wettbewerb durch günstigere Arbeitskräfte aus den Philippinen und China sowie politische Spannungen, besonders durch die Unterstützung der Emirate für Pakistan im Kaschmir-Konflikt und die verstärkte Kooperation mit China, belasten die bilateralen Beziehungen zusätzlich.

Manas, der Vater von Spruha, hat das Glück, einer frühen Generation indischer Einwanderer*innen anzugehören. Vor zwanzig Jahren zog es den 46-Jährigen

hierher. «Wo wir jetzt sitzen, gab es nur Wüste», erinnert er sich. Er lächelt oft und spricht mit melodischer Stimme. Seinen Lebensunterhalt verdient er hauptsächlich als Business Development Manager, doch seine Leidenschaft gilt der Schauspielerei, wo er als Nebendarsteller in einigen Bollywood-Produktionen in Indien mitgewirkt hat. Wie viele Inder*innen hatte auch er ein idealisiertes Bild vom Leben im Wüstenstaat. «Ich träumte von den Millionen.» Mit umgerechnet 30 Euro und ein paar Kleidungsstücken betrat er im Alter von 26 das erste Mal in seinem Leben ein Flugzeug und flog nach Dubai. Die Realität holte ihn rasch ein: Die Gehälter waren niedriger als erwartet. Während er sich in Mumbai eine Drei-Zimmer-Wohnung leisten konnte, reichte es hier nur für ein Studio. Seine Frau kam nach und suchte auch einen Job. Nach der Arbeit sassen sie stundenlang im Auto und hörten Radio, weil es keinerlei andere Freizeitmöglichkeiten gab. Das Paar schaffte es, sich durch Fleiss und die richtigen Kontakte eine erfolgreiche Existenz aufzubauen. Manas sagt: «Viele Inder*innen schaffen das nicht. Für sie wird Dubai zum Käfig.»

Auf ihrem Stockwerk wohnen weitere indische Familien. «Die Türen hier stehen immer offen. Wir besuchen uns regelmässig und unterstützen uns gegenseitig.»

Seine Bewunderung für die Vereinigten Arabischen Emirate und den Herrscher Muhammad bin Zayid Al Nahyan ist gross. «Wenn ich darüber nachdenke, wie er dieses Land aufgebaut hat, bekomme ich Gänsehaut.» Die Tatsache, dass Ausländer*innen in den Emiraten keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung erhalten, geschweige denn die Staatsbürgerschaft, sieht Manas gelassen. «Jedes Land hat seine Regeln. Es ist besser zu sagen: ‹Das ist mein Zuhause. Du bist willkommen, aber das sind die Bedingungen. Entweder du akzeptierst sie, oder du gehst.›»

Keine arabischen Freund*innen

Anand sieht das ganz anders. Der 30-Jährige wurde in Dubai geboren, nachdem seine Eltern in den 1980er-Jahren von Indien hierher eingewandert waren. Sein Vater arbeitete sich vom Bauarbeiter zum Manager eines Bauunternehmens hoch. Für sie verkörpert Dubai das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Anand spürt den Druck, in die Fussstapfen seiner Eltern zu treten. «Meine Eltern wären enttäuscht, wenn ich Dubai dauerhaft verlassen

würde», sagt er und kritisiert damit die traditionelle Familienstruktur. «Selbst mein Grossvater betrachtet meine Mutter noch als das kleine Mädchen, das er beraten muss.»

Als Kind besuchte Anand eine indische Privatschule in Dubai. Er kann Arabisch lesen und schreiben, versteht es aber kaum. Auch arabische Freund*innen hatte er nie. «Ich wüsste nicht einmal, wo ich so jemanden kennenlernen könnte.» Mit 18 Jahren zog er nach Mumbai, um seinen Bachelor in Maschinenbau und später einen Master in Betriebswirtschaft zu erlangen. Anand erklärt, dass es für in Dubai geborene indische Männer üblich ist, für ihre weiterführende Ausbildung nach Indien zu gehen. Mit 18 Jahren verlieren sie das Recht, auf dem Visum ihrer Väter eingetragen zu sein. Zudem, sagt Anand, sind die Gebühren für lokale indische Universitäten in Dubai hoch und die Qualität der Ausbildung ist im Vergleich zu jener in Indien oft viel niedriger.

Nach seinem Studium arbeitete Anand in Mumbai zunächst für eine IT-Firma und dann für eine Versicherungsgesellschaft. «Der Arbeitsmarkt in Indien ist übersättigt, und es ist extrem schwierig, einen guten Job zu finden», sagt er. Trotz seiner tiefen Verbundenheit zu Indien fühlte er sich in Mumbai nie wirklich heimisch. Das mag auch daran liegen, dass seine Familie ursprünglich aus dem südlicher gelegenen Kerala stammt und seine Muttersprache Malayalam ist; in Mumbai wird aber hauptsächlich Marathi und Hindi gesprochen. «Die Leute hörten meinen Akzent und sagten: Dieser Typ ist kein richtiger Inder, er ist von woanders.» Anand fühlte sich zudem vom Chaos der Stadt überfordert. «Irgendwann wurde es mir zu viel. Als ich wieder in den Emiraten war, merkte ich aber schnell, dass ich auch hier nicht richtig hinpasse.»

Seit einigen Monaten lebt Anand nun in Sharjah und seit kurzem hat er auch einen Job. Er möchte es noch einmal versuchen. Bald geht sein Vater in den Ruhestand, sein Visum wird dann auslaufen. Natürlich sei er enttäuscht darüber, dass er die emiratische Staatsbürgerschaft nicht erlangen könne, sagt Anand. «Mein Vater hat über dreissig Jahre in Dubai gelebt. Wenn er jetzt nach Indien zurückkehrt, ist dort nicht einmal sein Führerschein gültig.»

INTERNATIONALE ZUSAMMENARBEIT

Am jährlichen Treffen der deutschsprachigen Strassenzeitungen in Hamburg nahm auch Surprise teil.

Ende Mai trafen sich Vertreter*innen von über 20 Strassenzeitungsprojekten aus Deutschland, Österreich, Norditalien und der Schweiz. Gastgeberin war – wie auch schon 2023 – die Hamburger Strassenzeitung Hinz&Kunzt. Mit dem Ziel, sich auszutauschen und weiter zu vernetzen, wurden u.a. Methoden besprochen für das digitale Bezahlen von Strassenmagazinen sowie einen niederschwelligen Austausch von Ideen und Artikeln, aber auch das gemeinsame Recherchieren von Themen, die unsere Verkaufenden vielerorts betreffen. Dazu gehören beispielsweise die Bedrohung durch Kälte und Hitze, Obdachlosigkeit, die wieder zunehmende Verdrängung aus dem öffentlichen Raum oder Aspekte der Migration. Die deutschsprachige Gruppe des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen INSP stellt etwa ein Drittel der Mitglieder und trifft sich einmal im Jahr zusätzlich zu den weltweiten Kongressen.

3

1 – Bedarf nach Austausch hoch

Über 60 Vertreter*innen von rund 20 Strassenmagazinen nahmen teil.

2, 3 – Was treibt uns um?

Erst sammeln, dann gewichten: Die Teilnehmer*innen stimmten ab, welche Themen sie miteinander diskutieren wollten.

4, 5 – Sich gegenseitig inspirieren

Andere Strassenmagazine durchzublättern, gehört zu den Lieblingsbeschäftigungen an den Tagungen.

Aufstehen, aber nicht alleine

Kino In Brasilien stirbt j eden zweiten Ta g eine Frau an den Fol gen einer illegalen Abtreibung. Die Regisseurin Lillah Halla zeigt die gesellschaftliche Dimension davon in ihrem Spielfilmdebüt «Levante».

Lillah Halla, in Ihrem Film fällt mir das gemeinschaftliche Gefühl zwischen Sofia und ihren Freund*innen auf, das schon in den ersten Szenen spürbar wird. Wir sehen nach einem Volleyballspiel in der Umkleidekabine, wie liebevoll und vertraut der Umgang ist, wie normalisiert sie über Menstruation sprechen, wie selbstverständlich Testogel als Hormontherapie verwendet wird. Diese Selbstverständlichkeit, über den eigenen Körper frei zu entscheiden, steht in scharfem Kontrast zu dem, was Sofia erlebt. Sie ist ungewollt schwanger und möchte abtreiben. Das ist in Brasilien, wo der Film spielt, verboten.

Lillah Halla: Es ging mir darum, in eine Erzählung, die sich vermeintlich um das Schicksal einer einzelnen Person dreht, ein Gefühl von Gemeinschaftlichkeit zu bringen. Ich wollte deutlich machen, dass das Anliegen von Sofia nicht ein individuelles ist, sondern ein kollektives und gesamtgesellschaftliches. In Brasilien sind illegalisierte Abtreibungen die vierthäufigste Todesursache von Frauen und Menschen mit Uterus. Das kann kein individuelles Problem sein.

Welches politische Klima liegt dem Film zugrunde?

Der Film entstand in den Jahren, als noch Jair Bolsonaro an der Macht war. Die Misogynie, die Angst und die Bedrohung, die daraus resultierten, waren in dieser Zeit real. Es war mir wichtig, dieser Angst etwas entgegenzuhalten. Deswegen zeige ich gleich

am Anfang des Films den Safe Space und die starke Beziehung, welche die Protagonist*innen zueinander haben. Ich wollte, dass der Film einen gewaltvollen politischen Moment in Brasilien bezeugt, ihn erinnert und dokumentiert, ohne in stereotype Erzählmuster zu verfallen. «Levante» soll einen Zukunftsentwurf zeigen, der von der Energie einer lebensbejahenden Gruppe junger Menschen bestimmt wird und nicht von der Gewalt, die sie erfahren.

Welche Erzählmuster wollten Sie mit Sofias Geschichte aufbrechen?

Der Film sollte nicht die Geschichte einer Protagonistin erzählen, die Angst hat, die sich nicht wehrt. Oder Szenen enthalten, die ihr Leiden ästhetisieren, ihre Machtlosigkeit bekräftigen. Aus diesem Grund wurde in der Szene, in der Sofia körperlich angegriffen wird, nicht ihr Körper gefilmt, sondern die Menschen, von denen die Gewalt ausgeht. Allerdings sind es nicht nur Erzählmuster, die patriarchal sein können, sondern auch die Strukturen, in denen diese entstehen.

Was meinen Sie damit? «Levante» ist mein erster Film. Ich wurde mit so vielen Fragen konfrontiert, die neu für mich waren: mit zeitlichen Fragen, finanziellen und logistischen. Es kann herausfordernd sein, sich in einer solchen Situation trotzdem die Zeit zu nehmen, die

Die 17-jährige Volleyballspielerin Sofia (Ayomi Domenica) wird ungewollt schwanger. Auf dem Weg zur Abtreibung erfährt sie viel Unterstützung und Bestärkung.

eigenen Prozesse zu reflektieren, um Räume zu schaffen, in denen man sich verletzlich zeigen kann, ohne aber verletzt zu werden. Dennoch ist genau das mein Ziel. Um diese Prozesse in Gang zu setzen, ist die Auswahl der richtigen Leute zentral. Das müssen nicht unbedingt die renommiertesten sein, sondern jene, die für eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe bereit sind. Entsprechend war die gesamte Arbeit am Film kollaborativ organisiert.

Können Sie mir ein Beispiel geben?

Statt den Schauspieler*innen einfach das Drehbuch vorzulegen, das ich gemeinsam mit María Elena Morán geschrieben habe, haben wir versucht, einander erstmal kennenzulernen. Zu verstehen, wer was mitbringt. Ausgehend davon haben wir entschieden, wer welche Rolle übernimmt.

Die Arbeit am Film begann vor rund acht Jahren, die politische Situation hat sich seither immer wieder gewandelt. Welche Veränderungen haben den Film besonders beeinflusst?

Im Film fährt Sofia mit ihrem Vater nach Uruguay, um dort abzutreiben. Als 2020 die reproduktiven Rechte in Uruguay infrage gestellt wurden, stand auch diese Szene auf der Kippe. Die Szene, in der Sofia von einer hasserfüllten Gruppe angegriffen wird, entstand im Januar 2019, als Bolsonaro an die Macht kam. Darin wird die Auge ­um­Auge, Zahn­um­Zahn­Politik spürbar, die durch Bolsonaro legitimiert wurde. Auch die Gewalt gegen queere Menschen nahm in dieser Zeit zu. Die Misogynie unter Bolsonaro, die Pandemie, die damit einhergehende Angst und Isolation, all das brachte vieles zum Stillstand. Nicht nur das kulturelle Schaffen, sondern auch den politischen Widerstand.

Das Gefühl von Angst ist in Ihrem Film zwar punktuell spürbar, aber nicht allgegenwärtig.

Gerade aufgrund dieser Umstände musste der Film energiegeladen sein, ein Gegennarrativ bieten, Freude und Gemeinschaftlichkeit spürbar machen. Wir wollten die Angst und die lähmende

Einsamkeit, die uns aufgezwungen wurde, nicht einfach reproduzieren. Es war Zeit zurückzuschlagen. Denn auch Freude kann ein politisches Tool sein. Die Ästhetik des Films ist eine Antwort auf diesen politischen Moment.

Im Oktober wurde «Levante» in Rio de Janeiro gezeigt. Wie haben Sie die Premiere empfunden? Wir hatten zunächst Angst vor der öffentlichen Reaktion, vor einem möglichen Backlash, wie wir ihn auch im Film zeigen. Was hier thematisiert wird, ist keine Fiktion. Diese Sorge hat uns auch während den Dreharbeiten begleitet: Wir waren vorsichtig, wen wir involvieren, wo wir filmen. Trotz dieser Angst war die Premiere kathartisch. Der Film besteht aus so vielen versteckten Geschichten, aus Interviews und Recherchen, die wir in den letzten acht Jahren geführt haben, die nun sichtbar werden. Die Notwendigkeit, über solche Erfahrungen zu sprechen, die Notwendigkeit eines «Levante», eines gesellschaftlichen Widerstands, war förmlich spürbar. Ich sehe meinen Auftrag als erfüllt, genau dafür haben wir den Film gemacht.

«Levante (Power Alley)», Regie: Lillah Halla, Drama, BR/FR/UY 2023, 92 Min., mit Ayomi Domenica, Grace Passô, Loro Bardot u.a. Läuft ab 4. Juli im Kino.

LILLAH HALLA, 44, wurde in Vargem Grande do Sul in Brasilien geboren. Sie studierte Regie und Drehbuch an der Escuela Internacional de Cine y Televisión in San Antonio de los Baños in Kuba. Ihr Langfilmdebüt «Levante» feierte 2023 Premiere in Cannes und wurde in der Semaine de la Critique mit dem Preis der Filmkritik ausgezeichnet. Halla lebt in Berlin.

Veranstaltungen

Winterthur «Paare / Couples», Ausstellung, bis So, 6. Okt., Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Mi bis 20 Uhr (ab 17 Uhr mit freiem Eintritt), Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45 fotostiftung.ch

Paare sind in der Fotografie allgegenwärtig, in historischen Fotoalben ebenso wie auf Instagram. Faszinierender als die unzähligen idealisierenden Selbstdarstellungen sind allerdings jene Aufnahmen, in denen Paare nicht posieren, sondern ganz bei sich und auf eigenartige Weise entrückt scheinen: spielend und werbend, verliebt und berauscht oder einsam und verloren. 2015 begann der Filmemacher Iwan Schumacher Fotografien von Paaren zu sammeln, die nicht in die Kamera schauen. Peter Pfrunder, Direktor der Fotostiftung Schweiz, plante seit langem eine Ausstellung mit Paar-Bildern aus den Archiven und Sammlungen der Fotostiftung. Gemeinsam entwickelten sie das Projekt «Paare / Couples». Jedes einzelne Bild der Ausstellung ist ein Ausschnitt aus einer Geschichte, die immer rätselhaft bleibt und zu Projektionen verführt. DIF

Lichtenstei g «Kultur verussen», Kulturfestival, Fr, 5. bis So, 7. Juli, Festivalzentrum: Rathaus für Kultur, Hauptgasse 12 rathausfuerkultur.ch

Im lauschigen St. Galler Städtchen Lichtensteig und Umgebung haben sich viele verschiedene Kulturinitiativen niedergelassen, die gerne auch zusammenspannen. So zeigt «Kultur verussen» innovatives Kunstschaffen, Konzerte und Comedy. Auch Patty Basler reist an und textet und slammt am Freitagabend auf dem Rathausplatz. Künstler*innen werden eingeladen, den Kunstspaziergang zu erweitern: Gisa Frank, Urban Mäder und Marlies Pekarek haben das mit Werken getan, die mythologisch,

in der die Künstlerin ihre Gesichtsoperation live übertrug, um westliche Schönheitsideale zu hinterfragen. Filip Ćustićs interaktive skulpturale Arbeit «Pi(x)el» (2022) wiederum zeigt einen weiblichen Torso, der an bestimmten identitätsstiftenden Punkten mit Touchscreens ausgestattet ist, damit die Besucher*innen über das Aussehen des Körpers entscheiden können. Die Künstler Michael Wallinger, Daniel Sannwald und Ben Cullen Williams zeigen Werke, in denen maschinelles Lernen und generative Software eingesetzt werden, um verzerrte Porträts zu erstellen – was Fragen zur Wahrnehmung von Schönheit durch künstliche Intelligenz aufwirft. DIF

Zürich

sagen- und märchenhaft daherkommen. Der Kunstspaziergang ist jederzeit auf eigene Faust und mittels eines Online-Guides begehbar. Am Sonntag entsteht ein Gemeinschaftsteppich im Tufting-Workshop. Auf den kann man sich dann am Stadtufer setzen, um der Poesie zu lauschen: Um 18 Uhr macht ein Überraschungsgast den Abschluss. DIF

Münchenstein/ Basel «Virtual Beauty», Ausstellung, bis So, 18. Aug., Mi bis So, 12 bis 18 Uhr (Mi bis Fr, 12 bis 13 Uhr freier Eintritt), HEK, Freilager-Platz 9 hek.ch

Die internationale Gruppenausstellung «Virtual Beauty» fragt danach, wie neue Technologien den Schönheitsbegriff des Menschen verändern. Sie geht von virtueller Schönheit aus und thematisiert dann, was diese mit uns ausserhalb der Bildschirme im echten Leben so macht. Wir haben etwa ORLANs Performance «Omniprésence» von 1993 – also aus der Zeit vor den sozialen Medien,

liche Rollenbilder, Berufswahl, Beziehungen, patriarchale Strukturen und Coming-out. Die Autorin will von einem lebendigen, urbanen und modernen Afrika erzählen. Das Familienleben zwischen Tradition und Moderne ist also ebenso Thema wie die Frage: auswandern oder dableiben? Nun, es geht in der Ausstellung «Abidjan & Accra» nicht nur um Aya. Die Ausstellung setzt den Fokus auf die Literaturszenen der beiden Metropolen in Westafrika, und Ausgangspunkte davon sind die feministische Bibliothek «1949books» in Abidjan (Côte d’Ivoire) und das Archiv «Library Of Africa and The African Diaspora» in Accra (Ghana). Es geht um Feminismus, Aktivismus und politische Grenzen. Und wir sehen: Literatur ist auch Slam, Tanz, Comic, Storytelling. DIF

Aarau

«Pauline Julier – A Single Universe», Ausstellung, bis So, 27. Okt., Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz aargauerkunsthaus.ch

«Abidjan und Accra –Zwei Städte und ihre Literaturszenen», Ausstellung, bis So, 8. Sept., Di bis Fr 12 bis 18 Uhr, Do bis 22 Uhr, Sa/So 11 bis 17 Uhr, Strauhof, Augustinergasse 9 strauhof.ch

Vielleicht kennen Sie den feministischen Comic «Aya aus Yopougon» von Marguerite Abouet und Clément Oubrerie, er spielt in Abidjan im Stadtviertel Yopougon. Die Serie ist ein Riesenerfolg sowohl in Frankreich als auch in Côte d’Ivoire, und es kann gut sein, dass Sie auch in einem hiesigen Comicladen schon darauf gestossen sind. Sie zeigt die postkoloniale Entwicklung des Landes und das Leben in Abidjan Ende der 1970erJahre jenseits von westlichen Klischees; zur Sprache kommen weib-

Die Ausstellung der Künstlerin und Filmemacherin Pauline Julier (geb. 1981 in Genf) ist eine intergalaktische Tour, die uns durch die geologischen Zeitalter der Erde bis ins Weltall führt. Hier gibt’s einen 300 Millionen Jahre alten Wald in China oder dann ein Gebirge auf dem Mars. So lösen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf, bis wir die Orientierung verlieren. In immersiven Videoinstallationen

verknüpft Julier wissenschaftliche Erkenntnisse mit Ritualen und Mythen. Hier wird ein kleiner roter Ball immer grösser und endet in einem bläulichen Lichtblitz von hypnotisierender Schönheit. Die Explosion eines Sterns, die zeigt: Wissenschaft und Poesie können sich leicht verbinden. Juliers Arbeiten sind oft eigentliche Recherchen, «Naturalis Historia» etwa untersucht unsere Wahrnehmung von Landschaft und «Occupy Mars» betrachtet den roten Planeten als Spiegel der Erde. DIF

Pörtner in Kleindöttingen

Surprise-Standort: Coop

Einwohner*innen (Gemeinde Böttstein): 4331

Sozialhilfequote in Prozent: 2,0

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 41,8

Anzahl Vereine: 40

Auf der Grenze zwischen Döttingen und Kleindöttingen, die mitten durch die Aare verläuft, wacht Sankt Niklaus von Myra, der Schutzheilige der Flösser. Brücke und Heiligenstatue stehen schon seit fünfzig Jahren hier, Flösser sind allerdings keine zu sehen, dieses Gewerbe ist schon lange obsolet geworden. Schade eigentlich, es wäre ein wahres Spektakel, Hunderte von Holzstämmen hier vorbeitreiben zu sehen. Weiter vorne würden sie das Kernkraftwerk Beznau passieren. Das Zeitalter der Flösser und jenes der Atomkraft sind knapp aneinander vorbeigeschrammt, als das eine anbrach, war das andere schon vorüber.

Dem wilden Ufer entlang führen Wanderwege, der Fluss ist hier schon eindrücklich breit. Trotzdem gibt es nicht weit davon entfernt die Dürrestrasse, die daran erinnert, dass Wasser ein wertvolles

Gut ist. Von der Verbundenheit mit dem Wasser zeugen auch die angekündigten Veranstaltungen, der Erstlauf des neuen Wasserrades sowie der Schweizerische Mühlentag, die beide in der Gemeinde Böttstein stattfinden, zu denen Kleindöttingen gehört – und nicht etwa zu Döttingen, wohin aber alle drei Busse fahren. Eine der Busstationen heisst Schwächelen.

Was beim Rundgang durch das Dorf auffällt, sind die Doppelgaragen. Es gibt sie in unzähligen Variationen. Nicht immer zeugen sie von einer allenfalls vermuteten Übermotorisierung, sondern stehen zwischen zwei Einfamilienhäusern. Es gibt sie aber auch freistehend mit Flachdach, ans Haus gebaut mit Giebeldach, ins Haus integriert, mit einem breiten Tor oder zwei Einzeltoren. Sogar eine Doppel-Doppelgarage gibt es.

Vor einer modernen Siedlung steht eine Abwandlung davon, der Doppel-Carport. Und unten in den Hochhäusern mit den bunten Fensterläden und den vielen Parkplätzen rundherum: Doppelgaragen.

Aber natürlich gibt es noch andere Attraktionen, vor einem Garten mit einem Kaninchengehege wacht ein Krokodil aus Beton, zudem wird der Garten von einem hohen Zaun umgeben, wegen der Füchse vermutlich. Zu sehen sind Holzchalets und bunte Altbauten, in einem Haus hängen immer noch Schneemänner und Nikoläuse im Fenster, und vor dem Hauswartungsunternehmen steht der Schneepflug bereit, der diese Saison hoffentlich nicht mehr zum Einsatz kommt.

Eindrücklich ist der Kirchenbau, der über ein eigenes Wegweisersystem verfügt. Der moderne Klinkergebäudekomplex mit den Holzelementen umfasst das Pfarramt und die St. Antonius Kirche, in der Gottesdienste auch in italienischer und kroatischer Sprache abgehalten werden. Plakate werben für einen Nachhaltigkeitsmarkt oder die Reihe «Blue Moon: Musik und wenig Worte, ein Ritual», die in einer benachbarten Kirche stattfindet. An der Hinterseite des Gebäudes findet sich: eine Doppelgarage.

Gegenüber ist das grosse moderne Schulhaus, auf dessen Pausenplatz sich die Jugend die freie Zeit mit Fussball vertreibt, sofern sie sich nicht beim Grossverteiler mit Energy Drinks stärkt.

In der Autogarage stehen ein Ferrari und ein Motorboot für jene bereit, mit denen es der Schutzheilige gut gemeint und sie mit materiellem Wohlstand gesegnet hat.

Der Zürcher

Schriftsteller Stephan Pörtner besucht

Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

Tour de Suisse

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Beat Hübscher - Schreiner, Zürich

KMS AG, Kriens

Brother (Schweiz) AG, Dättwil Coop Genossenschaft www.wuillemin-beratung.ch

Stoll Immobilientreuhand AG movaplan GmbH, Baden

Maya Recordings, Oberstammheim

Madlen Blösch, Geld & so, Basel onlineKarma.ch / Marketing mit Wirkung

Scherrer + Partner GmbH www.dp-immobilienberatung.ch

Kaiser Software GmbH, Bern

Buchhaltungsbüro Balz Christen, Dübendorf Heller IT + Treuhand GmbH, Tenniken

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden Bodyalarm GmbH – time for a massage

Anyweb AG, Zürich

Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

Hypnose Punkt, Jegenstorf

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

Spendenkonto:

IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel

Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag (max. 40 Zeichen inkl. Leerzeichen). Sie erhalten von uns eine Bestätigung.

SURPLUS – DAS

NOTWENDIGE EXTRA

Das Programm

Wie wichtig ist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?

Eine von vielen Geschichten

Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende

Derzeit unterstützt Surprise 30 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

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Unterstützungsmöglichkeiten:

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· ½ Jahr: 3000 Franken

· ¼ Jahr: 1500 Franken

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#Stadtrund g än g e Basel

«Bemerkenswerter Optimismus»

Tito Ries war durch seine offene und erfrischende Art sehr überzeugend. Es war keine leichte Kost, seinem Leben auf der Gasse zuzuhören. Umso bemerkenswerter ist sein Optimismus und seine Steh-auf-Männchen-Einstellung. Er hat nichts schön geredet, aber auch nichts dramatisiert.

SIBYLLE PROBST, Münchenstein

#Stadtrund g än g e Bern

«Inspiriert»

Deine Geschichte, Ändu Hebeisen, hat mich inspiriert, auch nach über 230 Tagen keinen Alkohol zu trinken.

SARINA STREIT, Schwarzhäusern

Imp ressum

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Redaktion

Verantwortlich für diese Ausgabe:

Klaus Petrus (kp)

Diana Frei (dif), Lea Stuber (lea), Sara Winter Sayilir (win)

T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

#575: Verluste

«Nicht nur wegen dem Surprise-Verkäufer»

Gratulation: Ein ganz tolles Heft ist Ausgabe 575, inkl. dem Editorial. Dies sollte bitte Standard werden. Kaufe beinahe jede Ausgabe bei ‹meinem› Verkäufer, er freut sich auch immer über das Trinkgeld. Gerne würde ich das Heft aber auch aus ‹leserischer Überzeugung› kaufen und nicht nur wegen dem Surprise­Verkäufer. Es gibt doch so viele spannende Themen, es darf auch mal Sport sein.

RENÉ BÜHLER, St. Gallen

Ständige Mitarbeit

«Einsamkeit gehört zum Menschsein»

In einem Ihrer letzten Hefte haben Sie ein hervorragendes Interview zu Einsamkeit veröffentlicht: kluge Fragen, interessante und überraschende Antworten. Einsamkeit, heisst es darin, sei nicht nur ein persönliches Gefühl, sondern eines, das mit den wichtigen sozialen und politischen Themen unserer Zeit zu tun hat: Armut, Klima, Migration, Orientierungslosigkeit. Wie wahr! Dieser Gedanke spricht mir voll aus dem Herzen. Danke für diese Einsichten.

J. KÖLLIKER, Bern

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Seynab Ali Isse, Pirmin Beeler, Giulia Bernardi, Denise Díaz, Mario Heller, Nali Rompietti

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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«Ich bin glücklich, Arbeit zu haben»

«Ich heisse Ghebriela Semere und komme aus Asmara in Eritrea. Ich habe fünf Kinder. Da ich vor meinem achtzehnten Lebensjahr heiratete, musste ich keinen Militärdienst machen. 2009 ist mein Mann in die Schweiz geflüchtet. 2014 bin auch ich mit meinen beiden Kindern geflohen; damals war meine Tochter zehn und mein Sohn fünfzehn. Unser Plan war es, zuerst in den Sudan zu reisen. Besonders für meinen Sohn was das sehr gefährlich. Weil er eigentlich ins Militär eingezogen werden sollte, konnte er Eritrea nur illegal verlassen. Seine Reise in den Sudan dauerte zwei Wochen. Er war mit anderen Flüchtenden unterwegs; um nicht entdeckt zu werden, durften sie sich nur nachts bewegen. Meine Tochter und ich konnten legal in den Sudan ausreisen. Dort haben wir dann meinen Sohn getroffen und sind mit dem Flugzeug weiter nach Zürich.

Meine drei anderen Kinder sind in Eritrea geblieben, sie waren damals bereits erwachsen. Einer meiner Söhne ging später nach Äthiopien und lebte einige Zeit in einer Flüchtlingsunterkunft in der Hauptstadt Addis Abeba. Inzwischen hat er zusammen mit einem Freund eine Wohnung gemietet. Die beiden anderen Kinder, eine Tochter und ein Sohn, sind nach wie vor im Militär in Eritrea. Weil dort immer wieder Krieg herrscht, müssen sie weiterhin Dienst leisten. Nur wenn meine Tochter Kinder bekommt, kann sie aus dem Militär entlassen werden. Und weil meine Kinder beide erwachsen sind, ist es für sie schwierig, in die Schweiz zu kommen. Sie könnten nur illegal aus Eritrea ausreisen und dann versuchen, via Mittelmeer mit einem Boot nach Italien zu gelangen. Doch das habe ich ihnen verboten – zu viele Menschen sterben auf der Flucht über das Mittelmeer. Daher bleiben sie vorerst noch in Eritrea. Ich vermisse meine Kinder sehr, aber immerhin habe ich regelmässig über das Telefon mit ihnen Kontakt.

Als wir in der Schweiz ankamen, waren wir zuerst zwei Wochen in einer Asylunterkunft in Kreuzlingen. Dann konnten wir ins Asylzentrum Zürich wechseln, wo wir endlich meinen Mann getroffen haben. Fünf Monate später haben wir alle die Aufenthaltsbewilligung B bekommen. Heute haben wir eine Wohnung in Zürich. Mein Sohn hat eine Lehre als Gärtner abgeschlossen und meine Tochter macht gerade die Lehre als Kauffrau bei der Migros.

Als ich in die Schweiz kam, besuchte ich zuerst einen Deutschkurs A1–A2. Danach konnte ich einige Jahre in einem Restaurant als Hilfsköchin arbeiten. Ich habe auch eine Ausbildung absolviert und ein Zertifikat im

Ghebriela Semere, 59, verkauft Surprise beim Migros Wengihof und Bahnhof Altstetten in Zürich und sucht eine zusätzliche Arbeitsstelle als Reinigungsmitarbeiterin oder als Hilfsköchin.

Gastro-Bereich erhalten. Jetzt arbeite ich zweimal in der Woche als Reinigungsmitarbeiterin.

Eine gute Freundin hat mir dann von Surprise erzählt. Ich habe mich informiert und seit einem halben Jahr verkaufe ich Surprise-Magazine. Es gibt viele nette Menschen, denen ich bei der Arbeit begegne. Dadurch habe ich viele Freund*innen gefunden. Ich bin glücklich, dass ich überhaupt Arbeit habe, ansonsten würde ich einfach zuhause sitzen. Mein Mann kann nicht arbeiten, weil er Rückenschmerzen hat. Daher erhält er eine IV-Rente. Mit dieser Rente und meinem Gehalt ist das Geld dennoch immer knapp. Deshalb suche ich jetzt noch eine zusätzliche Arbeitsstelle als Reinigungsmitarbeiterin oder Hilfsköchin.

Die Schweiz gefällt mir sehr, es ist hier ruhiger und sicherer als in meinem Heimatland. Ich muss noch besser Deutsch lernen, aber ich bin fleissig dran. Neben der Arbeit gehe ich regelmässig in eine Sprachschule. Dort bekomme ich auch umsonst einen Kaffee. Das mag ich sehr: Kaffee trinken und dazu Deutsch lernen. Meine nette Nachbarin hilft mir beim Schreiben und Lesen. Wenn ich erst mal die Sprache besser kann, wird es bestimmt einfacher, eine fixe Arbeitsstelle zu finden.»

Aufgezeichnet von DENISE D Í AZ

GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2024!

Surprise nimmt im Herbst 2024 mit zwei StrassenfussballNationalteams am Homeless World Cup in Seoul, Südkorea teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler*innen zum Handshake handgemachte Fanschals an die gegnerischen Teams. Machen Sie mit!

Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht!

ACHTUNG, FERTIG, STRICKEN!

Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens Montag, 2. September 2024 an: Surprise Strassenfussball, Münzgasse 16, CH-4051 Basel

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