Stadtbewohner Wildtiere im Asphaltdschungel Wie geht Frieden? Konfliktforscher Johan Galtung im Gespräch
Kronen, Schmuck und Uhren – In der Schatzkammer des Pfandleihauses
Nr. 211 | 23. Oktober bis 5. November 2009 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.
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BILD: ANDREA GANZ
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Inhalt Editorial Inkonsequent In eigener Sache Surprise-Apéro Basteln für eine bessere Welt Tänzchen mit dem Knochenmann Aufgelesen Mafia des Nordens Zugerichtet Hass im Kopf Mit scharf Alibiübung Beschäftigungsprogramme Erwin … und der Sozialstaat Porträt Der Bestatter von Uri Urbanes Leben Wildtiere ziehen in die Stadt Kurzgeschichte Der Engel von Ostheim Le mot noir Nackt in Rom Bildung für alle «Arme Menschen sind keine Idioten» Kulturtipps Königin der Nacht Ausgehtipps Bühnenreifes Stottern Verkäuferporträt «Auf dem Meer lernte ich, mich selber zu sein» Projekt Surplus Chance für alle! Starverkäufer In eigener Sache Impressum INSP
12 Schnelles Geld I Familienschmuck ade Auf der Pfandleihkasse Zürich werden Tag für Tag Schmuck, Uhren und Edelsteine gegen Geld hinterlegt. Für die Kunden ist diese schnelle Finanzspritze ein Segen. Für die Betreiberin der Pfandleihkasse, die Zürcher Kantonalbank, ist die ungewöhnliche Filiale ein Defizitposten – und das soziale Gewissen des Finanzinstituts.
15 Friedensforschung Der Konfliktlöser BILD: CHRISTIAN FLIERL
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«Frieden ist die Fähigkeit, gewaltfrei mit einem Konflikt umzugehen», sagt der norwegische Friedensforscher Johan Galtung. Der Träger des alternativen Nobelpreises weilt diesen Herbst an der neu eröffneten «World Peace Academy» in Basel. Dort hat ihn Surprise zum Gespräch getroffen.
BILD: ISTOCKPHOTO
18 Schnelles Geld II Die Hobby-Börsianer Die ganze Welt empört sich über die gewissenlosen Banker, die mit ihren Geschäften die Weltwirtschaft ruinieren. Doch zu Hause im stillen Kämmerlein macht so mancher seine eigenen Geschäfte: Das Spiel an der Online-Börse ist Spass, Ernst – und manchmal auch Sucht.
Titelbild: Fotolia SURPRISE 211/09
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BILD: DOMINIK PLÜSS
In eigener Sache Herbstliches Stelldichein
FRED LAUENER, GESCHÄFTSFÜHRER
Editorial Inkonsequent Der Mensch ist ein inkonsequentes Wesen. Geben Sie es zu, Sie auch. Wir alle sind es. Wir predigen Wasser und trinken Wein. Wir schimpfen über Politiker und wählen sie wieder. Wir zeigen mit dem Finger auf gierige Banker und zocken selber kräftig mit. Abertausende von Schweizerinnen und Schweizer loggen sich täglich online in die Börsenmärkte ein und kaufen und verkaufen Aktien, Optionen und andere Wertpapiere; immer in der Hoffnung auf einen schnellen Batzen Geld. Dabei setzen Herr und Frau Schweizer teilweise erkleckliche Beträge, als wären die Titel Pferde oder Hunde: Die Börse ist die Rennbahn, das Kribbeln im Bauch ist garantiert und den Kater Wert, den eine Fehlspekulation verursachen kann. Der Bericht auf Seite 18. Ebenfalls auf schnelles Geld aus sind jene Mitbürgerinnen und Mitbürger, die den Erbschmuck und andere Preziosen zur Bank tragen und dort gegen Bares eintauschen. Bei ihrem Besuch auf der Pfandleihkasse der Zürcher Kantonalbank hat Redaktorin Julia Konstantinidis erfahren, dass nicht nur blanke finanzielle Not die Menschen dazu treibt, sich einen Kredit gegen Pfand auszahlen zu lassen. Lesen Sie ab Seite 12. Neben diesen beiden Beiträgen rund um das schnelle Geld möchte ich Ihnen das exklusive Interview mit dem norwegischen Friedensund Konfliktforscher Johan Galtung ans Herz legen. Galtung gehört zu den weltweit einflussreichsten Experten seiner Sparte. Im Gespräch (ab Seite 15) mit Anna Wegelin äussert sich der 79-jährige Gelehrte auch zu aktuellen friedenspolitischen Fragen der Schweiz. Schliesslich haben auch jene Mitbewohner Ihre Beachtung verdient, über die Redaktorin Mena Kost ab Seite 10 berichtet: Wildtiere, die immer art- und zahlreicher unsere Städte bevölkern. Wo sich Fuchs und Hase heutzutage gute Nacht sagen, ist die Wildbahn asphaltiert, hört man Stimmen und Musik und schimmert Licht aus warmen Wohnungen.
Die selbstgemachten Häppchen waren köstlich, die Gäste zahlreich und der Abend lang – Impressionen vom Surprise-Herbst-Apéro für Geschäftspartner, Gönner und Freunde des Strassenmagazins.
Ernste Gespräche in entspannter Atmosphäre: Walter Brack von der Christoph Merian Stiftung (l.) und Geschäftsführer Fred Lauener.
Ein Glässchen in Ehren: Redaktor Reto Aschwanden, IT-Supporter Jean-Luc Aeby, die Anzeigenverkäufer Therese Kramarz und Kilian Gasser von Ökopool (v.l.)
Lass dich herzen: Strassensport-Leiterin Lavinia Biert mit Surprise-Sympathisant Roman Straub.
Treffpunkt Raucherterasse: Lucas Moesch (l.) und Tom Wiederkehr von der Werbeagentur WOMM.
Besuch von nebenan: Redaktionskoordinatorin Agnes Weidkuhn (l.) mit der Grafikerin Ute Drewes aus dem Nachbarhaus.
«Okay: Noch einmal lächeln, aber dann gehen wir ans Buffet.» Die Redaktorinnen Julia Konstantinidis (l.) und Mena Kost.
Ich wünsche Ihnen gute Lektüre.
Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3
Herzlich,
Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.
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ILLUSTRATION: WOMM
Brustkasten | Becken | Wirbelsäule
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Malen Sie die Knochenteile auf dickes Papier oder Karton. Die Hände, Arme, Füsse, und Beine je paarweise.
Oberarme | Unterarme | Hände | Schädel
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Schneiden Sie die Skelettteile aus und fügen Sie sie mithilfe von Musterklammern zusammen.*
Oberschenkel | Unterschenkel | Füsse
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*Musterklammer
Bemalen Sie Ihr komplettes Skelett nach Wunsch, schmücken Sie es mit einer Federboa, einem Hut, Schmuck oder einer Perücke.
Basteln für eine bessere Welt Allerheiligen ist bei uns eine traurige Sache. Nicht so in anderen Kulturen. In Mexiko etwa gedenkt man seiner Toten auf bunte Weise mit verkleideten Skeletten und Marzipan-Totenköpfen. Der Tod gehört zum Leben und deshalb machen wirs den Mexikanern nach. Wagen sie zu Ehren des «Dìa de los Muertos» ein Tänzchen mit dem selbst gebastelten Knochenmann. SURPRISE 211/09
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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Armut, historisch Schleswig-Holstein. Der Kieler Historiker Thomas Riis über Armut: «Früher gab es physische und wirtschaftliche Definitionen von Armut. Nach dem Zweiten Weltkrieg etwa wurden in Kiel vier Quadratmeter Wohnraum pro Person als Minimum definiert. Eine wirtschaftliche Definition aus Südfrankreich ist um einiges älter. Dort galt um 1500 als arm, wer mehr als die Hälfte seiner Einkünfte für Brot und Hülsenfrüchte ausgeben musste. Heute ist arm, wem weniger als 60 Prozent eines nationalen Durchschnittseinkommens zur Verfügung stehen.»
Mafia des Nordens Hannover. Die norddeutschen Bundesländer wollen im Kampf gegen kriminelle Motorradgangs enger zusammenarbeiten. Der Grund ist die Zunahme blutiger Auseinandersetzungen zwischen den Rockerclubs: Seit die «Bandidos» angekündigt haben, die Vormachtstellung der «Hells Angels» zu brechen, nehmen Strassenschlachten und andere Gewalttaten rapide zu. Beide Banden sollen im Rotlichtmilieu, im Waffen- und Drogenhandel sowie im Schutzgeldgeschäft sehr aktiv sein.
Krank und nicht versichert München. In Deutschland gibt es immer mehr Menschen, die keine Krankenversicherung haben: Leute, die aus neuen EU-Ländern stammen, solche, die als Sans Papiers in Deutschland leben oder Freiberufler, die sich keine Versicherung leisten können. Seit 2006 bietet deshalb die Ärzte-Initiative open.med kostenlose Krankenbehandlungen für Kinder und Erwachsene an, 830-mal wurde die Münchener Einrichtung 2008 aufgesucht. Alle Ärztinnen und Ärzte bei open.med arbeiten ehrenamtlich.
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Zugerichtet Hass im Kopf, Liebe im Bauch Für die Gerichtsverhandlung haben sich die jungen Männer einer technischen Berufsschule herausgeputzt. Sie tragen mit viel Gel befestigte Leguanfrisuren und T-Shirts, die den Bizeps zur Geltung bringen. Nicht wenige haben einen Migrationshintergrund, wie es korrekt heisst. Sie sind etwa 18 Jahre alt, angehende Automechaniker, hier sollen sie lernen, wie es nicht laufen soll im Leben. Der Mann auf der Anklagebank ist nicht viel älter, seine Lehre als Metalltechniker hat er kürzlich mit der Note 5,0 abgeschlossen – im Ausbildungsbetrieb eines Erziehungsheims, wohin er wegen früherer Straftaten eingewiesen wurde. Im März 2008 hat Florian F.* erneut zugeschlagen. Im oberen Stock der S-Bahn S6 fiel der bullige Wüterich über einen 15-jährigen Ukrainer her. Er stiess sein Opfer von hinten die Treppe runter, und als dieses am Boden lag, schlug er ihm die Faust ins Gesicht. Schon kam sein Komplize dazu und haute ebenfalls drein. Als der Zug im Bahnhof Tiefenbrunnen einfuhr, entrissen sie ihrem Opfer das Natel und das Portemonnaie. Und weg waren sie. Acht Monate später überführten DNA-Spuren den jungen Schweizer aus gutem Goldküsten-Haus des Raubes. Fast jeder hat in der Zeitung schon über solche Gewalttaten gelesen. Parolen von der harten Hand machen die Runde unter Politikern, «Schluss mit Kuscheljustiz» heisst es in den Leserbriefspalten. Das Echo der Empörung ist im Gerichtssaal wahrnehmbar. «Eine Woche nach der Schlägerei von München ist diese Verhandlung kein einfacher Job für
Sie», bescheinigt der Verteidiger dem Richter. Freilich gilt dies auch für ihn. Weder sein Plädoyer noch die im Saal anwesende Presse scheinen den Richter zu beeindrucken. Er beschränkt sich ganz auf den Sachverhalt und lässt das gesellschaftliche Problem, das sich an dem Fall beschreiben liesse, aussen vor. «Es war aus lauter Dummheit passiert», murmelt Florian. Er wirkt nach innen gekehrt und kann sein Innenleben doch nicht in Worte fassen. Seine Zukunft malt er hingegen in leuchtenden Farben aus: Er habe eine Stelle gefunden und werde demnächst mit seiner Freundin, einer Medizinstudentin, zusammenziehen. «Wollen Sie mal heiraten?», will der Richter wissen. «Sicher!», sagt Florian und blickt zu den Zuschauerbänken. Seine Eltern, ein elegant gekleidetes Ehepaar, lächeln ihn an, hoffend, dass doch noch alles gut kommt mit ihrem Sohn. Die erzieherischen Massnahmen hätten mittlerweile Früchte getragen, versucht der Verteidiger das Gericht zu überzeugen und setzt sich für eine Geldstrafe ein. Chancen auf Erfolg hat sein Antrag kaum. «Das geht unter keinem Titel, jemandem, der am Boden liegt, in den Kopf zu treten», sagt der Richter und verurteilt Florian zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten bedingt, bei einer Probezeit von drei Jahren. «Das Leben birgt viele Frustrationen. Aber man kann doch nicht jedes Mal jemanden zusammenschlagen.» Stattdessen müsse man sich ein dichtes soziales Netz spannen, das einen auffängt, wenn man in Not gerät. Da haben die Schüler etwas fürs Leben gelernt. * persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 211/09
Arbeitslosigkeit Alibiübung Beschäftigungsprogramme Jetzt ist es amtlich: Beschäftigungsprogramme für Stellensuchende verbessern die Chancen auf einen neuen Job nicht. Als Instrument für die Arbeitsmarktintegration könnten sie also getrost abgeschafft werden. VON FRED LAUENER
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) hat Anfang dieses Monats eine interessante Studie zur Wiedereingliederung von Sozialhilfebezügern in den Arbeitsmarkt veröffentlicht, die zwei wesentliche Erkenntnisse enthält. Erstens: Die erfolgreiche Integration hängt ab vom Alter (möglichst jung!), der Ausbildung (möglichst gut!), der bisher erreichten beruflichen Stellung (möglichst hoch!) sowie von den Kenntnissen der Umgangssprache am Wohnort (möglichst perfekt!). Personen über 50 sowie Stellensuchende ohne Ausbildungsabschluss ab Sekundarstufe II haben deutlich schlechtere Chancen. Nun ja, so oder so ähnlich haben wir es uns ja schon vor der Studie gedacht. Wirklich bemerkenswert ist aber die zweite Erkenntnis: Beschäftigungsprogramme, die Stellensuchenden von den Arbeitsämtern aufgebrummt werden, haben keinerlei Einfluss auf die Chancen bei der Wiedereingliederung in den regulären Arbeitsmarkt. Voilà. Angeordnete Beschäftigungsprogramme sind also untauglich als Konzept für die Reintegration. Es sind reine Zwangsmassnahmen, die allenfalls als Kontrollinstrument eine gewisse Funktion erfüllen. Wer seine Arbeitsstelle verloren hat und in ein Programm gesteckt wird, das ihn nicht weiterbringt, muss sich doppelt bestraft und schikaniert vorkommen, anstatt motiviert und gefördert. Nicht nur nutzlos, sondern oft regelrecht kontraproduktiv sind die Rahmenbedingungen, denen Beschäftigungsprogramme unterworfen sind. So dürfen sie wegen der Gefahr der Wettbewerbsverzerrung die Wirtschaft nicht konkurrenzieren. Dies führt dazu, dass die viel gerühmte und geforderte Eigeninitiative von Stellensuchenden immer wieder verunmöglicht wird. Ob Baustellencafeteria oder Reparaturwerkstatt – marktfremde Beschäftigungspro-
ERWIN
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gramme besetzen heute fast flächendeckend Marktnischen, die dann genau jenen initiativen Arbeitssuchenden nicht mehr zur Verfügung stehen, die sich mit einer eigenen Geschäftsidee aus ihrer schwierigen Situation befreien wollen. Fazit: Viele Beschäftigungsprogramme sind nutzlos oder sogar kontraproduktiv. Und was nutzlos ist, gehört abgeschafft. Mit dem eingesparten Geld könnte sinnvolle und würdige Beschäftigung für Menschen gefördert werden, deren Chancen auf einen regulären Job gleich Null sind. Dafür müssten aber alle Beteiligten, von der Politik über die Behörden bis zu den Anbietern aus dem Sozialbereich, über den eigenen Schatten springen. Es müsste endlich offen anerkannt werden, dass es die absolut Chancenlosen gibt. Es müsste mit der Mär ein Ende haben, dass jeder, der zu Leistung bereit ist, auch Erfolg haben kann. Bei Surprise wissen wir, wovon wir reden. Ein grosser Teil unserer beileibe leistungsbereiten Strassenverkäuferinnen und -verkäufer gehört zu dieser Gruppe, für die es in der kompetitiven Arbeitswelt keinen Platz gibt. Heute nicht, und morgen auch nicht. Diesen Menschen die Integration in den regulären Arbeitsmarkt zu versprechen oder auch nur als Ziel zu formulieren, heisst, vorsätzlich falsche Hoffnungen zu schüren, die am Ende nur enttäuscht werden können. ■
und der Sozialstaat
VON THEISS
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Porträt Zum Bestatter berufen Zu Allerheiligen besuchen viele Menschen die Gräber ihrer Angehörigen. Marco Gisler ist Bestatter. Für ihn ist der Umgang mit Verstorbenen Alltag. VON RETO ASCHWANDEN (TEXT) UND ANGEL SANCHEZ (BILD)
Marco Gisler entspricht nicht der landläufigen Vorstellung eines Bestatters. Er ist kein älterer Mann mit ernster Aura, sondern ein 32-Jähriger mit einem pfiffigen Bubengesicht. Für ihn selber ist sein Alter kein Thema – oder zumindest nicht mehr. «Als ich vor zehn Jahren angefangen habe, war ich schweizweit der Jüngste in diesem Beruf.» Das fanden die Medien spannend. Röbi Koller lud ihn in die Sendung «Quer» ein und es folgten weitere Auftritte im Fernsehen und in Zeitschriften. Den Artikel in der Glückspost hat Gisler bis heute aufgehoben. Aufgewachsen ist Marco Gisler in Schattdorf, in ganz gewöhnlichen Verhältnissen. Niemand in der Familie hatte beruflich mit dem Tod zu tun, trotzdem war für ihn schon als Knirps klar: Ich werde Bestatter. «Wenn ich einen Leichenwagen gesehen habe oder eine Totenkappelle, dann wollte ich reinschauen. Gleichzeitig war da auch ein grosser Respekt, ich traute mich nicht so recht.» Die Eltern fanden das eigenartig, Schulkollegen belächelten ihn, doch das focht Gisler nicht an: «Mich hat das einfach immer fasziniert.» Eine Lehre als Bestatter existiert in der Schweiz nicht. Deshalb lernt Gisler das Handwerk ab 1999 bei einem Bestattungsunternehmer im luzernischen Beromünster. Parallel dazu baut er sein eigenes Geschäft in Altdorf auf. Mit gerade 22 Jahren hat er sich seinen Berufswunsch erfüllt, doch als er das erste Mal vor einer Leiche steht, wird ihm mulmig: «Bei den ersten fünf oder sechs Toten blieb ich sehr auf Distanz, war sehr vorsichtig bei jedem Handgriff.» Respekt hat Gisler auch heute noch, aber er geht entspannter mit den Toten um und es kommt vor, dass er während des Herrichtens die eigene Arbeit kommentiert: «Das schafft einen persönlichen Bezug. Wenn die Angehörigen dabei sind, kann ich ihnen dadurch die Hemmungen nehmen, den Verstorbenen noch einmal anzufassen und zum Beispiel die Krawatte zu richten. Ich finde das wichtig, denn ein Leichnam ist ja kein Gegenstand.» Im Umgang mit Leichen kann man eine Routine entwickeln, eine stete Herausforderung bleiben aber Begegnungen mit den Hinterbliebenen. Lernen könne man das nicht, findet Gisler: «Das muss einem angeboren sein. Jede Familie geht mit der Trauer anders um, deshalb kann man nicht nach einem festen Schema vorgehen. Klar: Das ist mein Geschäft, aber man muss auch mitfühlen können. Wenn man zu abgebrüht wird, dann sollte man aufhören.» Neben Trauer und Tränen erlebt Gisler auch immer wieder schöne Szenen: «Ich merke immer wieder, wie Familien nach einem Todesfall zusammenrücken und untereinander eine Vertrautheit erfahren, die sie so vielleicht schon lange nicht mehr erlebt haben.» In einem kleinen Kanton wie Uri kennt man sich. Da kann es vorkommen, dass ein Bekannter auf einmal als Toter vor dem Bestatter liegt. Doch solange jemand eines natürlichen Todes stirbt, kann Gisler gut damit umgehen. Nachdenklich stimmen ihn eher Unfälle oder wenn es junge Leute trifft: «Vor einiger Zeit verstarb ganz unerwartet ein jun-
ger Bekannter, den ich zwei Tage zuvor noch beim Einkaufen getroffen hatte. Das war hart für mich.» Wer den ganzen Tag vom Tod umgeben ist, muss irgendwie abschalten können, braucht ein soziales Netz, das ihn trägt. Das ist nicht ganz einfach, wenn man 24 Stunden auf Abruf bereitsteht. Droht da nicht die Gefahr, dass man «än Eignä» wird, wie die Urner einen Sonderling nennen. Gisler winkt lachend ab. Über sein Privatleben möchte er eigentlich nicht sprechen, Diskretion ist in seinem Beruf wichtig und das gilt auch für die eigene Person. Dann erzählt er aber doch, dass er sich im Familien- und Kollegenkreis gut aufgehoben fühle. Auch wenn er alleine unterwegs ist, findet er schnell Anschluss: «Durch meinen Beruf kennen mich viele Leute, deshalb ergibt sich schnell ein Gespräch.» Auch über mangelnde Freizeit mag sich Gisler nicht beklagen. Selbst wenn das Handy immer auf Empfang bleibt, gibt es immer wieder freie Stunden. Die weiss er zu nutzen. «Ich habe stets die Golfschläger im Auto», erzählt Gisler und auf einmal verändern sich Stimme und Mimik. Gerade noch formulierte er mit Bedacht, jetzt aber sprudelt es aus ihm heraus: «Golf ist meine grosse Leidenschaft. Das Besondere ist nicht, dass ich dabei abschalten kann – ich muss abschalten. Wenn ich an einem Todesfall rumstudiere beim Abschlag, dann geht nichts, dann fliegt kein Ball. Konzentration ist sehr wichtig. Eine Runde von zwei, drei Stunden – das tut wahnsinnig gut. Danach fühle ich mich wieder voller Kraft.» Mehr brauche er nicht für seinen Seelenfrieden, versichert Gisler und strahlt. In der Tat wirkt er ausgesprochen ausgeglichen, was ihm hilft, ob seiner Arbeit nicht ins Grübeln zu kommen. Was nach dem Tod
«Wenn ich beim Golfen an einem Todesfall rumstudiere, dann fliegt kein Ball.»
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kommt, das weiss er nicht, und mit dieser Ungewissheit kann er gut leben. «Eine Zeit lang hat mich das beschäftigt, und ich hatte auch Angst vor dem Tod. Heute nicht mehr. Irgendwie wird es danach weitergehen, aber wie …?» Eine Vorstellung, was mit seinem eigenen Leichnam dereinst geschehen soll, hat der Bestatter allerdings: «Ich kenne zwei, drei schöne Orte in der Natur, wo ich gerne meine Asche verstreuen lassen würde. Das gefiele mir besser als ein Grab auf dem Friedhof, bei dem sich die Angehörigen zur Pflege verpflichtet fühlen.» Heuer feiert Gisler ein kleines Jubiläum. Zehn Jahre ist er nun als Bestattungsunternehmer tätig und er hat nicht vor, in nächster Zeit den Beruf zu wechseln. Und selbst wenn das einmal ein Thema werden sollte: «In ein Angestelltenverhältnis zurückzugehen, das kann ich mir nicht vorstellen. Aber vielleicht eine lässige Bar führen an einem schönen Strand – das würde mir gefallen. Irgendwo am Meer, wo es einen Golfplatz in der Nähe hat.» Pressant hat er es damit aber nicht: «Ich bin gesund, zufrieden, was will man mehr. Vielleicht hat diese Lebenseinstellung mit meinem Beruf zu tun: Ich weiss, wie schnell es gehen kann, deshalb geniesse ich jeden Tag, als wärs der letzte.» ■
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BILD: KEYSTONE
Stadtleben Wo sich Fuchs und Mensch gute Nacht sagen In Zürich ist die Fuchspopulation dreimal grösser als auf dem Land, in Basel soll es Hermeline geben und in Bern dringen die Dachse in den Siedlungsraum vor. Während Wildtierforscher mehr Toleranz fordern, stört sich so mancher Zweibeiner an den tierischen Mitbewohnern. VON MENA KOST
Beim hohlen Baum im Westen des Basler Kannenfeldparks wetzt eine Steinmarder-Dame durch die Büsche. Sie trägt Material für ihr Nest zusammen. Blätter, ein Stück Zeitungspapier, ein Stoffnastuch. Eigentlich arbeitet sie lieber in der Nacht – keine Kinder, die auf ihrem Velo mit Karacho über die Wege kurven, kein Geschrei beim Glacestand. Doch die Zeit wird knapp; sie ist hochschwanger und muss ihre Niederkunft organisieren. Bald schon werden ihre daumengrossen Jungen im Nest liegen. Dann muss es im Baumloch weich und sicher sein.
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Hinter der alten Steinmauer, die den Park umschliesst, reisst das Tram quietschend einen Vollstopp. Eine Dame mit Dackel stöckelt über die Strasse, Autos stehen vor der Ampel Schlange. Betriebsamkeit herrscht auf beiden Seiten der Mauer – das Stadtleben ist eben recht hektisch. «Für die Tiere ist es kein Honigschlecken», weiss Sandro Gröflin von der Wildtierforschung Region Basel. «In der Stadt werden Wildtiere meist nicht alt. Vorher werden sie überfahren.» Gröflin hat Erfahrung mit tierischen Verkehrsopfern: Er wird gerufen, wenn ein Wildtier angefahren wird und mit einer Spritze von seinen Todesqualen erlöst werSURPRISE 211/09
den soll. Häufig angefahren werden Steinmarder. Dieser Kleinsäuger hat – wie auch Tauben, Ratten und Mäuse – schon immer die Nähe zum Siedlungsraum gesucht. Allerdings: Der Automarkt-Boom in den 70erJahren hat seine Vorliebe für das Stadtleben nochmals intensiviert. «Marder haben bei der Bevölkerung einen schlechten Ruf wegen der Autosache. Dabei haben die Autohersteller längst mit technischen Innovationen auf die Marderproblematik reagiert. Diese Tiere sterben viel öfter auf der Strasse, als dass sie ein Auto beschädigen», stellt der Biologe klar. Er hat wenig Verständnis für Leute, die etwas gegen die kleinen Raubtiere haben: «Diese Tiere haben beeindruckende Fähigkeiten. Sie können eine grobe Fassade fast senkrecht hinaufklettern und ihr Entdeckungstrieb ist enorm. Ihre Neugier ist auch der Grund, wieso sie Autokabel anknabbern.» Man solle sich doch darüber freuen, diese Tiere quasi vor der eigenen Haustür beobachten zu können. Die Stadt ist das bessere Land Dem Verkehr zum Trotz lassen sich erstaunlich viele wilde Tiere in Schweizer Städten nieder: Unterdessen gibt es in Zürich mit zehn Alttieren pro Quadratkilometer mehr Füchse als in der ländlichen Umgebung. Die Igelpopulation ist ebenfalls grösser als auf dem Land. Vereinzelt werden Dachse in Zürich, Basel und Bern gesichtet, auf Kirchtürmen hat der bedrohte Turmfalke ein Heim gefunden. In Basel soll es Hermeline geben und in den Aussenquartieren von Zürich und Basel wird hin und wieder ein Reh gemeldet. Diesen Sommer zog sogar ein Adler über dem Triemli seine Kreise. Gründe dafür, dass der Siedlungsraum zunehmend eine valable Alternative zum Leben auf dem Land wird, gibt es viele: Fast alle Kleinsäuger bevorzugen abwechslungsreiche Landschaften – Hecken, Wiesen, Wäldchen, am besten nahe beieinander. Seit Monokulturen einen Grossteil der Schweizer Landschaft ausmachen, haben die städtischen Friedhöfe, Gärten und Parkanlagen an Attraktivität gewonnen. Ebenfalls für die Stadt spricht das vielfältige kulinarische Angebot: Abfallsäcke mit Essensresten auf der Strasse, Komposthaufen in den Gärten, Menschen, die füttern. Ausserdem ist es in dicht bebauten Gebieten immer einige Grad wärmer, und es gibt massenhaft Unterschlupfsmöglichkeiten für eine sichere Aufzucht der Jungen: Dachgeschosse, Gartenhäuschen, Schrebergartenund Bahnhofsareale, Bäume und Büsche in Parks. Vor allem aber gibt es in der Stadt keine Jäger. «Tiere sagen sich nicht: ‹Hier gefällts mir nicht mehr, überall nur Maisfelder und gedüngt wird auch. Ich suche mir besser ein neues Zuhause.›» Daniel Hegglin von SWILD, einer unabhängigen Forschungsund Beratungsgemeinschaft von Biologinnen und Biologen in Zürich, erklärt, wie die Entscheidung für einen Lebensraum abläuft: «Es ist genau umgekehrt: Tiere sagen sich ‹Hier ist es gut, hier bleibe ich.›» Wenn also etwa ein junger Fuchs erwachsen wird und sich ein eigenes Revier suchen muss, dann wandert er einfach los. Dort, wo er gute Bedingungen vorfindet, bleibt er. In der heutigen Zeit kann es durchaus sein, dass nicht das Land, sondern etwa der Zürcher Friedhof Sihlfeld das Rennen macht. Die Zürcher Fuchszene hat sich in den letzten 15 Jahren gebildet. Zwar wurden schon in den Achtzigern vereinzelt Altfüchse gesichtet, die durch die Limmatstadt streunten. Richtig eingerichtet, mit Bau und Jungtieraufzucht, hat sich das rote Raubtier erst kürzlich – mit Erfolg: «Heute leben in Zürich dreimal so viele Füchse wie in der ländlichen Umgebung», so Hegglin. Den Grund dafür sieht er nicht nur in den veränderten Bedingungen auf dem Land, sondern auch in der erfolgreichen Bekämpfung der Tollwut. Durch die Massnahmen Mitte der Achtziger – einige erinnern sich vielleicht an die Hühnerköpfe mit Impfstoffkapsel, die beim Sonntagsspaziergang auf dem Waldweg begutachtet werden konnten – ist der Fuchsbestand wieder enorm gestiegen. «Mehr Füchse brauchen mehr Reviere. So sind die Jungfüchse auf ihren Wanderungen
eben auch in der Stadt vorbeigekommen.» Hat sich ein Tier einmal niedergelassen, dann bleibt es. Untersuchungen von SWILD haben gezeigt: Die Fuchsgemeinde der Zürcher Innenstadt pflanzt sich recht isoliert fort und bildet einen genetischen Stamm. «Bereits die Eltern und Grosseltern der heutigen Stadtfuchspopulation haben in Zürich gelebt. Jungfüchse lernen das Stadtleben also von klein auf kennen und können sich entsprechend anpassen.» Bei den Anpassungsleistungen, die Wildtiere für ein Leben in der Stadt erbringen müssen, steht das Ablegen der Scheu vor dem Menschen ganz zuoberst. Füchse etwa wurden über Jahrhunderte regelmässig gejagt. Deshalb halten sie eigentlich eine grosse Fluchtdistanz zum Menschen. Nach einer Weile in der Stadt aber lernen sie, dass die meisten Zweibeiner nicht gefährlich sind – und nähern sich bis auf wenige Meter. Das verunsichert nun wiederum so manch menschlichen Stadtbewohner. Für viele gilt noch immer das Credo: Ein zutraulicher Fuchs ist ein tollwütiger Fuchs. «Für Stadttiere gilt das nicht mehr», weiss Hegglin. Trotzdem sollte man Wildtiere nicht füttern und dadurch zähmen. «Sonst werden sie noch zutraulicher und am Schluss ruft irgendwer den Wildhüter.» Fuchsforscher Hegglin findet es wie sein Basler Kollege Gröflin schade, dass viele Leute Angst vor Wildtieren haben: «Wer die Natur lässig findet, der soll ihr auch Platz geben.» Deutlichere Worte findet Gröflin, der in Basel die Nistkästen an Kirchtürmen für
«Wer die Natur lässig findet, der soll ihr auch Platz geben.»
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Wander- und Turmfalken betreut: «Heute muss alles sauber und gepflegt sein: Einige Spritzer Vogelkot auf dem Autodach – und die Leute ärgern sich bereits enorm. Ich stelle eine Entfremdung der Stadtbevölkerung vom Natürlichen fest.» Und: «Auto- und Fluglärm wird ohne Murren toleriert. Wenn aber eine Krähe jeden Morgen vor dem Fenster Radau macht, wird der Kammerjäger gerufen.» «Die Städter sind ambivalent» In Basel ist das zum Beispiel Marcel Lehmann von der Firma Gebrüder Lehmann, Bau- und Dienstleistungen. Häufig wird er wegen Insekten oder Tauben gerufen. Aber auch Marder und Füchse gehören zu seiner Klientel. «Marder nisten sich oft in Dachstöcken ein, Füchse bevorzugen Schrebergartenhäuschen», erklärt der Kammerjäger. Wird er gerufen, versucht er den Tieren die Zugangswege zu ihrem Bau zu nehmen, dichtet etwa das Dach oder den Keller des Schrebergartenhäuschens ab. «Dann müssen sie sich einen anderen Unterschlupf suchen.» Diesen Sommer musste Lehmann einen Fuchs vertreiben, der es sich unter einem Schulhaus gemütlich gemacht hatte: «Das Tier hatte Essensreste und tote Ratten in seinen Bau geschleppt. Mit der Zeit begann das gottserbärmlich zu stinken.» Obwohl er verstehen kann, dass Schüler- und Lehrerschaft unter dem Gestank litten – Lehmann findet nicht, dass man dem Fuchs einen Vorwurf machen kann. «Die Stadt bietet den Tieren eben gute Lebensbedingungen.» Es hätten übrigens nicht alle seine Kunden etwas gegen Wildtiere. Einigen tue es sogar sehr leid, das Tier vertreiben zu müssen. «Die Leute auf dem Land sind allerdings einiges toleranter, was Tiere angeht», berichtet Lehmann von seinen Erfahrungen. Die Städter hingegen seien ambivalent: «Die möchten alle in möglichst grüner Umgebung leben. Aber Tiere wollen sie nicht.» ■ Weitere Informationen: www.swild.ch, www.wildtierforschung.ch
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Schnelles Geld I Die Bankfiliale mit Herz Geld gegen Gold – auf der Zürcher Pfandleihkasse gibts schnell und unbürokratisch Bares in die Hand. VON JULIA KONSTANTINIDIS (TEXT) UND ANDREA GANZ (BILDER)
Unter den Bankern sind sie diejenigen mit dem Helfertick, und wenn am Abend nichts mehr in der Kasse ist, war es ein guter Tag. Sie fahren regelmässig ein Defizit ein, doch das schadet dem Geschäft nicht. «Bei uns ist alles umgekehrt», erklärt Urs Lusti. Er ist der Geschäftsführer der Pfandleihkasse der Zürcher Kantonalbank und erzählt mit sichtlichem Genuss von seiner Insel im profitgeilen Bankenwesen. Wer zu ihm oder einem seiner drei Mitarbeiter kommt, will zwar auch investieren, der Zürcher Kantonalbank bringt dies aber rein gar nichts. 2008 betrug das Defizit der Pfandleihkasse 39 000 Franken. Die Kantonalbank betreibt ihre spezielle Filiale seit 1872, weil sie vom Kanton aus dazu verpflichtet ist: Um privaten Pfandhäusern mit Wucherzinsen vorzubeugen. Diese Gefahr besteht bei der Pfandleihkasse nicht. Sie gewährt Darlehen zu einem Zins von einem Prozent im Monat, der durchschnittliche Darlehensbetrag beträgt zehn Prozent des Gegenstandswerts. Was kommt, muss wieder weg «Wer mit seinem geerbten Schmuck Geschäfte machen will, ist bei uns am falschen Ort», hält Lusti fest. Denn wer am Schalter der Pfandleihkasse steht, braucht einfach Geld. In bar. Und zwar schnell. Der Einsatz kann ein Brillantring, eine Goldkette oder eine Schweizer Markenuhr sein. Kunde und Abnehmer gehen davon aus, dass das Pfand wieder ausgelöst wird. Entweder innerhalb der Darlehenslaufzeit von sechs Monaten oder aber später, nachdem das Darlehen verlängert wurde. «Wer seinen Besitz von Beginn weg nicht mehr zurückhaben will, dem empfehlen wir, das Gold einschmelzen zu lassen oder Schmuck an einen Händler zu verkaufen», erklärt Urs Lusti. Überall sonst bekomme man mehr für das, was ihnen am Schalter präsentiert werde: «Das hat den Vorteil, das keine Hehlerware zu uns kommt.» Und was kommt, muss auch wieder weg. Denn alles, was nicht wieder abgeholt wird, bedeutet für die Angestellten der Pfandleihkasse zusätzlichen Arbeitsaufwand – und damit Mehrkosten. Alle Kunden, welche die Darlehenslaufzeit nicht einhalten und auch nicht verlängern, müssen mit einem eingeschriebenen Brief gemahnt werden – ungefähr 3000 im Jahr. Urs Lusti ist kein Unmensch und deshalb verschickt er freiwillig eine zweite Mahnung, wenn auf die erste keine Reaktion erfolgte. «Manchmal gibt es Sprachbarrieren und manchmal machen unsere Kunden eingeschriebene Briefe aus Angst vor Zahlungsaufforderungen prinzipiell nicht auf.» Bei den meisten nützt die Geduld – lediglich vier bis fünf Prozent der Pfandstücke werden nie mehr abgeholt. Viermal im Jahr versteigert Lusti diese Gegenstände. Die Uhren, Colliers und der Goldschmuck werden zu einem etwas teureren Preis angepriesen als der festgelegte Darlehenswert. Bieten die Gantbesucher noch mehr und wirft das Stück einen Mehrerlös ab, hat der ursprüngliche Besitzer und
Kunde der Pfandleihkasse während fünf Jahren das Anrecht auf diesen Betrag. «Wenn er nicht abgeholt wird, müssen wir das Geld an die Zürcher Sozialhilfe abliefern.» 25 000 Franken sind das pro Jahr. Urs Lusti weiss, dass das ein Tropfen auf den heissen Stein ist, dennoch freut es ihn, Gutes zu tun. Überhaupt scheint der Mann beschlossen zu haben, im Rahmen seiner Möglichkeiten Herz zu zeigen: So sind seine Mitarbeiter in Ausnahmefällen berechtigt, Notdarlehen in der Höhe von 50 Franken auszuzahlen – gegen einen normalerweise als Pfand inakzeptablen Gegenstand wie einen alten Wecker oder ein klappriges Radio. «Wir haben auch schon jemandem einen Sack Hundefutter gekauft», erzählt Lusti. Der Endfünfziger, der früher als Leiter anderer Bankfilialen Restrukturierungen mit allen ihren Konsequenzen mittragen musste, kam zur Pfandleihkasse «wie die Jungfrau zum Kinde»: An einem internen Apéro lernte Lusti den damaligen Leiter der Pfandleihkasse kennen. Bald nach dem darauf folgenden Besuch auf der exotischen Bankfiliale war die Nachfolge geregelt. Sein «Kind» hütet er seither wie seinen Augapfel. Der Lohn dafür: Nächte, die er wieder durchschlafen kann und einen Feierabend, der seinen Namen verdient. Urs Lusti kennt nach bald acht Jahren auf der Pfandleihkasse seine Klientel. «Die meisten Kunden sind nicht arm, aber unvorhergesehene Kosten wie eine Zahnsanierung, Erbstreitigkeiten oder Anwaltskosten können zu einem Liquiditätsengpass führen», erklärt er diplomatisch. Viele Leute könnten aber auch schlicht nicht mit dem Geld umgehen, fügt er etwas undiplomatischer an: «Kommt die fällige Steuerrate, die Jahresprämie für die Versicherung und die Leasingrate fürs Auto und den neuen Fernseher zusammen, reichts dann plötzlich nicht mehr.» Entsprechend verschämt wird dann Grossmutters Brosche am Schalter gegen Bares eingetauscht. Nebst den Verzweifelten gibt es aber auch Kunden, welche die Pfandleihkasse nicht mit persönlichem Versagen in Verbindung bringen, sondern sie ganz pragmatisch in ihr Haushaltsbudget einplanen. So empfehlen Menschen aus Sri Lanka ihren Landsleuten die Pfandleihkasse als idealen Ort für Kleinkredite weiter. Die Idee, etwas Wertvolles gegen Geld zu hinterlegen, sei in diesem Kulturkreis offenbar nicht so verpönt wie hierzulande, vermutet Lusti. Der üppige Goldschmuck, den die Frauen in Sri Lanka traditionsgemäss tragen, dient als
«Wer Geschäfte machen will, ist bei uns am falschen Ort.»
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Einlage. «So finanzieren sie sich etwa die Renovation ihres Eckladens oder den Krankenhausaufenthalt von Verwandten in der Heimat». Stehe ein Fest an, auf dem die Frauen gewisse Schmuckstücke tragen wollten, würden die Teile auch einzeln wieder ausgelöst. Gut die Hälfte der Kunden stammt aus dem Ausland – den Wohnsitz müssen jedoch alle in der Schweiz haben, das ist eine Bedingung, um auf der Pfandleihkasse erfolgreich handeln zu können. Wie wertvoll die Dinge sind, welche auf der Pfandleihkasse gegen Geld eingetauscht wer-
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den, wird sofort geprüft. In einer Ecke des Büros ist ein Mini-Labor eingerichtet, wo die Mitarbeiter die Anzahl Karat bei Goldschmuck mithilfe einer Säure bestimmen oder die Diamanten an Fingerringen genau unter die Lupe nehmen. Aus den Bankern sind Schmucksachverständige geworden, die innerhalb von Minuten über die Echtheit eines Edelsteins oder einer Rolex und also über die Höhe des Darlehens entscheiden müssen. Beim Gold zählt allerdings nur der effektive Wert, die Verarbeitung spielt beim Festlegen des Preises keine Rolle. Für ein Gramm Gold aus 18 Karat berechnen Lusti und seine Leute momentan sechs Franken. Durchschnittlich 650 Franken erhält, wer bei der Pfandleihkasse etwas hinterlegt. Und das sind nicht wenige: 10 000 Darlehensverträge sind derzeit am Laufen, pro Jahr kommt Urs Lusti auf rund 27 000 ausgestellte Vereinbarungen. Zwar hat sich der Darlehensbestand in den letzten fünf bis sechs Jahren auf 6,7 Millionen Franken verdoppelt, doch das ist laut Lusti nicht auf die wirtschaftliche Situation zurückzuführen, sondern vielmehr auf die verbesserte Öffentlichkeitsarbeit. Denn wirtschaftliche Entwicklungen kämen bei ihnen erst sehr verzögert an. Sprich: Wer seinen Brillantring zur Pfandleihkasse trägt, hat vorher schon alles versucht, um das Vermögen zu halten.
kam aber dahinter und holte die Uhr wieder ab – dies dürfte vermutlich zu grösseren Diskussionen geführt haben», macht Lusti einen Erklärungsversuch. Doch normalerweise malt er sich die Umstände, unter denen die Menschen zu ihm kommen, nicht aus – da ist er ganz der ver-
Goldgürtel und Kronen – in den Stahlregalen lagern märchenhafte Schätze.
Unbekannte Dramen Die Pfandstücke in den dicht stehenden Regalen des Safes erzählen alle ihre eigene Geschichte: «Da gibt es tragische Dinge», meint Lusti. Tragisch nicht im Sinne grosser Tragödien, sondern alltäglicher Dramen. Da ist zum Beispiel die diamantbesetzte Edel-Damenuhr, deren Wert bei 67 000 Franken liegt. «Die Frau, die sie an der Pfandleihkasse einlöste, hatte Ausgaben, von denen ihr Mann nichts erfahren sollte. Der Mann
schwiegene Banker. «Manche Kunden erzählen uns alles und noch mehr, andere sagen überhaupt nichts.» Wie auch immer, absolute Diskretion ist hinter den Türen der Pfandleihkasse gewährt. Der Phantasie sind beim Anblick der in meterlangen Stahlregalen verstauten Pfandstücke allerdings keine Grenzen gesetzt. Der massive, goldene Gürtel einer Bauchtänzerin aus dem Nahen Osten oder eine reich verzierte Prinzessinnenkrone muten märchenhaft an. Aber auch Kurioses wie Schachteln voller Modelleisenbahnen im Wert von sechsstelligen Zahlen oder die Musikinstrumente und Velos bieten Stoff zum Fabulieren. Urs Lustis Aufgabe ist weniger poetisch: Er muss Tausende von Kartonschachteln mit ihrem Inhalt sicher verwalten. «Alles muss am richtigen Ort, im richtigen Fach aufbewahrt, und mit der richtigen Auftragsnummer versehen sein», erklärt er, zwischen den orangefarbenen Stahlregalen des Safes stehend. Ein moderner Schatzmeister, der Preziosen im Wert von mehreren Dutzend Millionen Franken in seiner Obhut hat. Das grösste Unglück, das er sich für seinen Safe vorstellen kann, wäre ein Erdbeben: Bis danach alle Pfandgegenstände wieder in der richtigen Kartonbox versorgt wären – nicht auszudenken. ■
Was am Schalter gegen Geld eingelöst wird, verwaltet Urs Lusti als moderner Schatzmeister im Safe der Pfandleihkasse.
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Friedensforschung «Der Schlüssel zum Frieden ist die Kreativität» Johan Galtung gilt als Pionier der modernen Friedens- und Konfliktforschung. Seit Jahrzehnten berät der 79-jährige Norweger Friedensmissionen der Uno und verwandter Institutionen. Surprise traf Johan Galtung an der kürzlich eröffneten «World Peace Academy» in Basel. VON ANNA WEGELIN (INTERVIEW) UND CHRISTIAN FLIERL (BILDER)
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Johan Galtung, wie definieren Sie Frieden? Frieden ist die Fähigkeit, gewaltfrei mit einem Konflikt umzugehen. Sag mir, wie du mit einem Konflikt umgehst, und ich sage dir, wie viel Frieden du hast. Es ist im Grunde ganz einfach. Es gibt eine Friedensagenda mit zwei Punkten: Der erste Punkt ist, lass uns versuchen, Gewalt zu verhindern. Der zweite Punkt ist, lass uns zusammenarbeiten. Sie waren 20, als Sie begannen, sich für den Frieden einzusetzen. Wollten Sie die Welt verändern? Nein, ich war zwar ehrgeizig genug, aber nicht derart wahnsinnig. Ich merkte einfach, es fehlt eine Wissenschaft in der Welt, die Friedenswissenschaft. Nun bin ich 60 Jahre im Business und es lässt mich nicht los. Was motiviert Sie für Ihre Arbeit? Meine formelle Antwort lautet: Es wird zur Gewohnheit. Die andere Antwort ist: Mir gehts wie dem kleinen Kind, das seinen Eltern Löcher in den Bauch fragt. Haben Sie Ihren Eltern Löcher in den Bauch gefragt? Ich konnte meinen Vater alles fragen und er wurde nie müde, mir zu antworten. Mein Vater war ein praktizierender Arzt und Politiker in Oslo. Er ist für mich ein enorm wichtiges Vorbild. In Norwegen lebt es sich laut einem Bericht des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) weltweit am besten. Das logische Resultat des skandinavischen Wohlfahrtsstaats? Norwegen hat sieben Mal den ersten Platz belegt. Es muss gesagt werden, dass es sich dabei um eine sehr materialistische Perspektive handelt, die vor allem das durchschnittliche Lebensalter, die Kindersterblichkeit und die Bildung misst. Die Schwierigkeit ist, dass die 4,5 Millionen Norwegerinnen und Norweger nicht glücklich sind, obwohl sie sich grundsätzlich zufrieden fühlen. Vielleicht hat Norwegen eine zu homogene Bevölkerung und bräuchte mehr Vielfalt. Gleichzeitig wehrt sich unser Land aber gegen eine Öffnung. Der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg hat kürzlich das Einwanderergesetz verschärft. Er möchte wahrscheinlich steuern, wie viele Migranten Norwegen tragen kann, nicht so sehr aus wirtschaftlichen, sondern vielmehr aus psychologischen Gründen. Er überlegt sich wahrscheinlich: Wenn wir jetzt nicht handeln, wird es zu Gewalttaten gegen Ausländer kommen, die ausser Kontrolle geraten. Eine andere Möglichkeit wäre, die Norweger auf das Licht der Vielfalt vorzubereiten. Doch Stoltenberg sagt nicht, wie faszinierend es sein könnte für einen Christen, mit einem Muslim zu reden.
den? Wissen Sie, so viel von dem hat seinen Grund im Griff des Nordens über den Süden, ökonomisch, militärisch, politisch und kulturell. Wir müssen diese dramatische Situation völlig umkrempeln. Vorbilder sind vorhanden. Zurzeit kann man beobachten, wie die lateinamerikanischen Länder einerseits immer mehr zusammenrücken und andererseits Allianzen suchen, wie zum Beispiel Ende September der zweite Lateinamerika-Afrika-Gipfel in Venezuela. Wenn der Norden lernen könnte, sich einer solchen Bewegung nicht zu widersetzen, würde dies sein Problem der Dominanz über den Süden lösen. Vor wenigen Tagen prophezeite der Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn, eine «historische» Wende in der IWF-Politik. Davon sollen insbesondere auch die Schwellen- und Entwicklungsländer profitieren. Das ist völlig jenseits der realen Welt. Wenige Institutionen haben derart Schlimmes angerichtet wie der IWF. Die Projekte, welche die G20Länder an Projekten via Währungsfonds und Weltbank unterstützen, betreffen hauptsächlich den Export von Rohmaterialien und natürlichen Ressourcen. Das ist der reinste Kolonialismus: Man nimmt Ländern im Süden Ressourcen weg und verhökert industrielle Billig-Produkte bei ihnen. Jetzt sollen die Schwellenländer die Führung bekommen, sodass teurere Waren bei ihnen abgeladen werden können. Der IWF will diesen Handel nicht stoppen. Im Gegensatz dazu diskutieren Afrika und Lateinamerika gegenwärtig, wie sie avancierte Dienstleistungen und Güter des Südens im Süden selber produzieren und umsetzen können. Ich sehe keine Gerechtigkeit beim IWF, auch wenn er dies noch so sehr beteuert. Worte statt Taten: Ist dies auch Ihre Einschätzung des Protokolls zwischen Armenien und der Türkei, das unter Schweizer Vermittlung in Zürich unterzeichnet wurde? Im Gegenteil, das ist fantastisch. Ich bin auch in diesem Prozess involviert. Ich bin von beiden Ländern angefragt worden, welche Möglichkeiten es aus der Sackgasse gibt. Es gibt viele Möglichkeiten, die Angelegenheit ist äusserst komplex. Die Sache ist doch klar: Die Türkei weigert sich, den Völkermord an Armeniern 1915 als solchen zu bezeichnen und sich dafür zu entschuldigen.
«Die Libyen-Affäre mit Gaddafis Sohn wird völlig überschätzt.»
Könnte es in Norwegen auch zu einer Anti-Minarett-Initiative kommen? Das Recht der Volksinitiative gibt es bei uns nicht, Norwegen ist eine parlamentarische Demokratie. Die Schweiz ist die ausgeprägteste demokratische Einrichtung, es gibt nichts Vergleichbares in der Welt. Ein Promille der Weltbevölkerung hat mehr als 60 Prozent der nationalen Referenden weltweit. Kein anderes Land fragt die Bevölkerung auch nur annähernd so viel um ihre Meinung. Die Schweiz ist nicht nur stolz auf ihre direkte Demokratie, sondern auch auf ihre humanitäre Tradition. Doch die Debatte um die SVPInitiative zeigt, dass viele Angst vor «dem Islam» haben. Was sagen Sie den Befürwortern der Initiative? Da ich die Situation von Asylsuchenden kenne, wäre ich bereit, mehr von ihnen aufzunehmen. Die wichtige Frage ist jedoch: Was tun wir, damit die Länder, aus denen diese Menschen kommen, anständiger wer-
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Den Genozid verantwortet das Osmanische Reich. Die heutige Türkei ist keine Nachfolgeregierung des damaligen Regimes. Man kann die Sicht haben, dass die heutige Republik verantwortlich ist für die Verbrechen des Osmanischen Reichs. Oder man kann den Diskurs ändern und den Genozid als eine historische Tatsache akzeptieren. Wichtig scheint mir, dass die Türkei Armenien als einen ebenbürtigen Gesprächspartner betrachtet. Entscheidend für das Gespräch ist, welcher Diskurs gewählt wird. Was ist Ihre Einschätzung der «Libyen-Affäre», in die Bundesrat Merz nach der vorübergehenden Festnahme von Gaddafis Sohn Hannibal in Genf verwickelt wurde? Die Schweiz hätte den Konflikt aussitzen müssen, anstatt ihn zu schüren. Der Vorfall wird völlig überschätzt, die Schweiz macht sich zu viel daraus. Begrabt den Fall, er wird sich von selbst lösen. Hannibal ist letztlich eine Person, die ein Problem hat. Das ist ein weiterer Aspekt der Friedenserziehung: Nicht alle Konflikte sind gleich wichtig. Viel wichtiger sind die Schweizer Banken und die UBS oder schweizerische Investitionen in Konfliktgebieten. SURPRISE 211/09
Sie unterstützen also die Volksinitiative gegen den Export von Kriegsmaterial? Klar. Haben Sie ein Bankkonto in der Schweiz? Nicht mehr, ich habe es gekündigt und habe jetzt ein «besseres» Konto. (Lacht.) Die Welt brennt. Unfrieden, Gewalt und Ungerechtigkeit gegen Menschen sind allgegenwärtig, vor der eigenen Haustür wie im fernen Ausland. Und nun noch der Klimawandel und die Wirtschaftskrise. Haben Sie nicht manchmal den Eindruck, Ihre Arbeit sei für die Katz? Zugegeben, es ist ein schwieriger Job. Doch wir sind voller Hoffnungen. Wir versuchen aufzuzeigen, was getan werden kann. Manchmal klappt es, manchmal nicht. Du hast ja auch nicht die Illusion als Arzt, dass du Krankheiten aus der Welt schaffen kannst oder dass du ewiges Leben schaffst. Und du bildest dir auch nicht ein, dass nicht neue Krankheiten auftauchen könnten, wenn du eine Krankheit in den Griff bekommst. Ich bilde mir nicht ein, dass es nicht neue Arten von Konflikten geben kann. Ein Arzt braucht Erfolgserlebnisse, die ihn für die Ausübung seines Berufs motivieren. Welche Erfolge spornen Sie an? Peru und Ecuador sind ein gutes Beispiel. Die beiden Länder waren 54 Jahre lang im Krieg miteinander wegen einer Zone in den andischen Bergen. 1995 wurde ich gefragt, was zu tun sei. Beide Länder sagten, die Zone gehöre ihnen. Ich schlug vor, man könnte das Gebiet gemeinsam besitzen und in dieser Zwei-Staaten-Zone einen Naturpark aufbauen und gemeinsam Bäume pflanzen. Die Leute machten etwas viel Besseres. Sie gründeten eine gemeinsame wirtschaftliche Zone und tauschten Waren. Seit der Vertragsunterzeichnung vor elf Jahren ist es zu keiner einzigen Gewalttat gekommen, das ist negativer Frieden. Doch darüber hinaus haben die beiden Länder begonnen, zusammenzuarbeiten. Das ist positiver Frieden. Allianzen stiften ist mein Ansatz. Allianzen schaffen noch lange keinen Frieden. Meine Erfahrung zeigt mir, dass es nur einen Schlüssel zum Frieden gibt, die Kreativität. Es geht darum, Lösungen zu finden, welche die Leute vorher nicht gesehen haben. ■
Zur Person Johan Galtung wurde am 24. Oktober 1930 in Oslo geboren. Der studierte Mathematiker und Soziologe lebt unter anderem in Versonnex (F) und in der Nähe von Genf. Er gilt als Begründer der internationalen Friedens- und Konfliktforschung und hat als Vordenker, Buchautor und Berater grossen Einfluss auf die Friedenspolitik. 1987 erhielt Galtung den Alternativen Friedensnobelpreis (Right Livelihood Award). Als Gründer und Direktor des Entwicklungs- und Friedensnetzwerks «Transcend» hat er die gleichnamige Methode für praktisches Friedenstraining entwickelt. Im Laufe seiner akademischen Karriere lehrte Galtung an über 30 Universitäten auf allen fünf Kontinenten. Neu unterrichtet er an der «World Peace Academy» in Basel.
Die Basler Friedensakademie Anfang September öffnete die «World Peace Academy» ihre Tore in Basel. Das Kernstück der Friedensakademie ist ein neunmonatiges Nachdiplomstudium, das zusammen mit der Universität Basel angeboten wird. Der Lehrgang beginnt am 1. März 2010, findet in englischer Sprache statt und richtet sich insbesondere an ein internationales Publikum. Bereits diesen Herbst bietet die Akademie Workshops mit Johan Galtung an, die allen Interessenten offenstehen. Der nächste Workshop mit Galtung findet am 24. Oktober zum Thema «Am Frieden verdienen» statt. Weitere Informationen unter: www.world-peace-academy.ch SURPRISE 211/09
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Schnelles Geld II Breitensport Börsenhandel Seit dem Kollaps der Finanzmächte schimpft die halbe Welt über die Gier der Banker, den masslosen Kasinokapitalismus und über die Börse. Ihre Empörung hält viele Kritiker aber nicht davon ab, selber kräftig an den Aktienmärkten mitzuzocken. VON AMIR ALI
Gleich zu Beginn ihrer Händlerkarriere landete Johanna Bauer hart auf dem Boden der Realität. Als sie vor acht Jahren anfing, über das Internet an der Börse zu handeln, platzte schon bald die Dotcom-Blase. Bis dahin vielversprechende Internet-Unternehmen machten zu Hunderten Konkurs und rissen die Aktienkurse weltweit mit sich in die Tiefe. Gegen 4000 Franken hatte Bauer pro Titel investiert. «Ich habe damals viel Geld verloren», sagt die Medienfachfrau aus dem Kanton Aargau, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Während sie ihre abgesackten Aktien ruhen liess, wandte sie sich einige Zeit später, ermutigt von ihrem damaligen Lebenspartner, einer noch riskanteren Börsen-Disziplin zu: den Optionen, mit denen Anleger mit wenig Einsatz viel Gewinn machen können. Wenn sie auf die richtigen Pferde setzen. Der Handel von Privaten an der Börse boomt: «Über das Internet handeln viele Leute, die eigentlich keine Ahnung haben, was sie da genau
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machen», sagt Marcel Sulzberger. Dem ehemaligen Mitarbeiter von Swissquote, der grössten Schweizer Online-Bank, geht nichts über Diskretion. Sein Name ist deshalb ein Pseudonym. Als lizenzierter Broker handelte er im Kundenauftrag Aktien und strukturierte Produkte an vielen Börsen auf der ganzen Welt. Seine Einschätzung: Die Vorteile des Online-Tradings sind unbestritten. Man habe jederzeit und überall Zugriff auf das Konto, sei flexibel und könne schnell reagieren, wenn sich der Markt positiv oder negativ verändere. Aber der niederschwellige Zugang berge auch die Gefahr, dass die Freizeit-Spieler im Aktien-Kasino zu hoch pokerten. Zu oft hat Sulzberger zusehen müssen, wie sich Unerfahrene von den hohen Gewinnchancen virtueller Produkte blenden liessen und die unabschätzbaren Risiken nicht mehr sahen: «Vordergründig empören sich alle über die gewinngeilen Banker. Aber daheim im stillen Kämmerlein machen sie es genauso.» Für Johanna Bauer lief es eine Zeit lang gut, dann crashte ihr Portfolio wieder. Seit sie angefangen habe, schätzt die Mutter von fünf Kindern, sei ihre Rechnung unter dem Strich trotzdem etwa ausgeglichen. Eine SURPRISE 211/09
schwarze Null, würde man bei einem Unternehmen sagen. Jetzt sei sie vorsichtiger geworden, sagt Bauer. Ans Aufhören denkt sie jedoch nicht. Immer wieder von Neuem fasst sie einen Titel ins Auge und beobachtet dessen Kursbewegungen, lauert auf den richtigen Moment. Auf den Markt warten, nennt sie es. Wenn der Markt dann kommt: «Zack, geh ich rein.» Dabei gehe es nicht ums Geld. Jedenfalls nicht zur Hauptsache. Sie erfahre ein belebendes Gefühl, wenn sie die Entwicklung gut eingeschätzt habe. Im richtigen Moment rein, im richtigen Moment raus: «Ein erfolgreicher Trade gibt mir Bestätigung und Selbstbewusstsein.» Auch Christina Glanzmann geht es nicht um das grosse Geld. Die Luzernerin hat seit Anfang Jahr zwar schon etwa 7000 Franken vorwärts gemacht. Das seien zwar auch für sie keine Peanuts, sagt die Geschäftsleiterin eines KMU im Kanton Luzern, doch darum gehe es ihr nicht: «Ich habe einfach Spass am Handeln.» Wenn die Börsen-Gurus ihre Empfehlungen abgeben, macht Glanzmann meist das Gegenteil. Sie gehe dabei ohne rationale Strategie vor: «Frauen handeln eher aus dem Bauch heraus.» Als die UBS-Aktie damals auf unter zehn Franken gesunken war, galt die Bank bei den meisten Tradern längst als abgeschrieben. Glanzmann kaufte. Ihr war klar: Was so stark in den Keller sackt, muss irgendwann wieder steigen. Als der Kurs vor Kurzem den Stand von 18 Franken erreichte, stieg Glanzmann aus. «Die UBS», sagt sie, nach alter Manier mit dem französischen Ü, «war für mich ein gutes Geschäft.» Die Abwärtsspirale der Börsenkurse im Zuge der Finanzkrise scheint viele auf den Plan gerufen zu haben. Ein UBS-Sprecher lässt auf Anfrage vage verlauten: Zur Zeit wachse die Zahl der Kunden wieder, die das Online-Banking nicht nur zum Einzahlen benutzten – wie immer, wenn sich die Märkte von einem Tief zu erholen beginnen würden. Auch die Zahlen der grössten Schweizer Online-Bank Swissquote sprechen für sich. Das Finanzinstitut mit Sitz am Genfersee und einer Filiale in Zürich ist mit knapp 130 000 Handelskunden die meist genutzte Plattform für Börsentransaktionen über das Internet. Als der UBS vor einem Jahr Milliarden Franken aus Steuergeldern zugesprochen wurden, verzeichnete Swissquote Kunden zuwachsraten um die 30 Prozent. Die Krise habe auch Chancen geschaffen, sagte Marc Bürki, Gründer und Chef der grössten Schweizer Onlinebank vor einem Jahr in einem Interview mit der NZZ. In einigen Monaten, wenn die Krise vorbei sei, so Bürki damals weiter, werde man sagen: «Da hätte man eigentlich einsteigen sollen.»
Der Schweizer spricht nicht über Geld. Und schon gar nicht über das Spiel damit. Dieses Klischee scheint sich im Gespräch mit den HobbyBörsianern zu bestätigen. «Ich hänge das nicht an die grosse Glocke», bekommt man ausnahmslos zu hören. Hinzu kommt wohl, dass dem Spekulieren an der Börse etwas Anrüchiges anhängt, gerade in diesen Zeiten, in denen die Gesellschaft wieder lauter als auch schon über Sinn und Unsinn des grossen globalen Kasinos nachdenkt. Die Bankencrashs der letzten Monate, so sagt man, gehen zurück auf zu grosse Risiken, die Verantwortliche mit zu undurchsichtigen Produkten eingegangen sind. Was da an den Börsen der Welt gehandelt wird, existiert oft nur genau dort. Während der Wert einer Aktie noch einen Bezug zur realen Welt hat, sind Optionen bereits «hochgradig virtuell», wie sich Ex-Broker Marcel Sulzberger ausdrückt. Hier wird nicht mehr auf reale Wertsteigerung, sondern nur noch auf Kursbewegungen gewettet. Setzt man auf einen sinkenden Kurs, kann man ein Vermögen machen, während die betreffende Firma in Konkurs geht. «Mit Optionen hätte ich ein Vielfaches
Moral interessiert die Hobbyhändler nicht: «Verwerflich ist nur, was illegal ist.»
Gegen den Strom Die Krise als Chance: Im Fall von Daniel Walder trifft das DurchhalteMantra zu. «Sie haben auch noch Mut», sagte die Bankangestellte am Telefon, als er die Kaufanweisung für die UBS-Aktien durchgab. «Ich habe keine grosse Ahnung von der Börse, und eigentlich interessiert sie mich auch nicht», sagt der erst 25-jährige Zürcher Immobilienkaufmann. Auch er schätzt die Diskretion im Geldgeschäft und möchte seinen richtigen Namen nicht preisgeben. Als in den Medien von der immer billiger werdenden Aktien die Rede war, wollte Walder nicht länger tatenlos zusehen. «Wenn es an der Börse gut läuft, wollen alle mitmachen», meint er. «Diese Logik geht nicht auf. Man muss gegen den Strom schwimmen und kaufen, wenn die Kurse unten sind.» Walder kaufte, verkaufte kurze Zeit später wieder und machte Gewinn. Bald stieg er auch bei der Credit Suisse ein. «Ich handle kurzfristig, aber vorsichtig», erklärt er. Mit vorsichtig meint er Einsätze von rund 5000 Franken pro Posten. Seit er vor einem Jahr zum ersten Mal kaufte, hat er über 10 000 Franken verdient. Das ist ihm genug. «Der Reiz ist vorbei», sagt er. Um sich wirklich auf die Börse einzulassen, müsste er nicht nur Geld, sondern auch Zeit investieren, auf dem Laufenden bleiben, die Berichterstattung verfolgen. «Jedes Quartalsergebnis, jede Äusserung eines Verwaltungsratspräsidenten kann entscheidend sein», weiss Walder. Für ihn war die Börse ein Krisensport. «Man muss auch aufhören können», sagt er nachdenklich. SURPRISE 211/09
von dem verdienen können, was ich jetzt mit den Aktien gemacht habe», ist sich Daniel Walder nach seinem einjährigen Börsenintermezzo bewusst. Er weiss auch, dass einige grosse Investoren in der Krise damit «richtig viel Geld» gemacht haben. Dass er es nicht getan hat, hat einen einfachen Grund: «Es hat mich nicht interessiert.» Ein moralisches Problem sieht Walder nicht: «Verwerflich ist nur, was illegal ist.» «Wir haben alle ja gesagt» Im richtigen Moment auszusteigen, ist eine Qualifikation, die für Börsenhändler genau so wichtig ist wie für Glücksspieler. Auch Johanna Bauer kennt die Grenze zur Unvernunft. Ständig nachschauen zu müssen, was gegangen ist, obwohl sie genau spürt, dass eine Pause jetzt eigentlich das richtige wäre. Sie bezeichnet sich selbst als risikofreudig: «Ich bin eher der Typ Pokerspielerin. Für mich gibt es nichts langweiligeres als zu viel Sicherheit.» Trotzdem – oder gerade deswegen – setzt sie sich bewusst eine Geldlimite. Nervenkitzel, Selbstwertgefühl, Bestätigung. Das Spiel mit hohen Einsätzen scheint der menschlichen Natur zu entsprechen. Die einen gehen zum Pokern in die illegale Kellerbar, die anderen zocken online mit Finanzprodukten, während sich die Kinder bereitmachen für die Gutenachtgeschichte. «Niemand zwingt uns, Geld anzulegen. Wir alle haben Ja gesagt zu diesem System», sagt Unternehmerin Glanzmann und meint damit nicht nur jene, die an der Börse handeln. Die Regulierungen, von denen momentan die ganze Welt spricht, berühren nicht bloss ein Geschäftsfeld: Hier geht es um die Begrenzung eines Triebes, der nur allzu menschlich ist. Was die Profis in den grossen Finanzinstituten im Geldrausch ignoriert haben, scheint für die HobbyTrader ganz oben auf der Gebotsliste zu stehen. «Gier und Panik sind absolute Tabus», bringt es die Unternehmerin Christina Glanzmann auf den Punkt. Und weiter: «Banker sind dumm.» Es klingt wie etwas, das sie ernst meint. «Wenn ich anlege, dann weiss ich, welche Risiken ich eingehe.» Deshalb spiele sie lieber selbst mit ihrem eigenen Geld im grossen Finanzkasino. «Die Verantwortung trage schliesslich so oder so ich allein.» ■
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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER
Kurzgeschichte
Der Engel von Ostheim Das Polizeigeorgel war verklungen. Ein Hubschrauber schrapte noch über die Dächer von Stuttgart Ost, ein paar blauweisse Wagen düsten schweigend durch die Strassen. Ich hatte bei Polizeihauptmeister Christoph Weininger angerufen. «Schwabenreporterin Lisa Nerz hier. Was ist denn los bei euch?» «Das darf ich dir nicht sagen. Ruf die Pressestelle an.» Dann sagte er es doch: «Überfall auf einen Geldkurier in der Hackstrasse, Täter bewaffnet, vermummt, auf der Flucht, vermutlich zu Fuss.» Ich liess mich von Cipión drängeln, auf die Gasse zu gehen. Der Dackel folgte den Urinspuren an den Hausecken der Neckarstrasse, ich musterte die Leute, die auf dem Hochbahnsteig der Stadtbahn standen, eine Kopftuchtürkin, Jugendliche aus dem Zeppelin-Gymnasium bei der ersten Zigarette nach dem Nachmittagsunterricht, und zog weiter, die Stöckachstrasse entlang zum Park der Villa Berg. Auf einer Bank am Weg sass eine alte Frau, viel zu warm angezogen für den Sommer, der seit Tagen im Stadtkessel kochte. Strümpfe an den Beinen, schiefe Schuhe, Armut in den Haaren. Mit mageren Unterarmen presste sie eine Plastiktüte in ihren Schoss und stöhnte in viel zu hohen Tönen. «Alles okay?», fragte ich. Blaue Augen starrten mich erschrocken an. «Kann ich Ihnen helfen?» Cipión wedelte sie an. Ein Lächeln flüchtete über ihr Gesicht. «Ein hübscher Kerl. Wir haben früher auch Rauhaardackel gehabt.» Ich setzte mich neben sie auf die Bank und fächelte mir Luft zu. «Haben Sie was mitgekriegt? Ganz hier in der Nähe haben sie einen Geldkurier überfallen.» Die Alte schaute mich an. «Wie viel ist es denn?» «Sicher einiges, wenn einer einen Kurier beauftragt.» «Dem Geld sieht man ja nicht an, wo es herkommt», bemerkte sie und zog die Plastiktüte unter ihren Busen hoch.
«Wie sieht es denn aus?», fragte ich. Sie pickte oben in die Tüte. «Ich kann mich an die Euros nicht gewöhnen. Viele gelbe und violette Scheine.» «Zweihunderter und Fünfhunderter. Die sind selten.» Sie nickte versonnen. «Ich hab noch nie einen gesehen.» Dann schaute sie mich an. «Er hat es in den Mülleimer an der Kirche gestopft. Ein junger Kerl. Ich denke noch, was müssen die jungen Leut alles wegschmeissen? Vielleicht kann ich es noch brauchen. Ich kann viel brauchen. Ich kriege ja kaum Rente. Und wenn ich es nicht brauchen kann, dann kann es ebber anders brauchen.» «Und, können Sie es brauchen?», fragte ich. Die Alte seufzte. Es war fast ein Klagen wie bei unerträglichen Schicksalsschlägen. «Ojeojeoje! Was könnt man alles damit machen. Meine Tochter, die könnt ein neues Fahrrad brauchen, und der Enkel wünscht sich schon so lange einen Computer, und die Enkelin möchte gern Reitstunden haben.» «Und Sie?» «Ach, ich bin eine alte Frau, ich brauch nicht mehr viel. Ein paar neue Schuhe, das wäre gut, vom Orthopäden, damit mir die Zehen nicht immer so weh tun. Und na ja, eine Waschmaschine … die alte schlägt so, dass ich denke, sie springt mir durch die Küche.» Die blauen Äuglein begannen zu glitzern. «Und ich würde gern mal an den Bodensee fahren und in ein Hotel gehen. Dann würd ich mir das Essen aufs Zimmer bringen lassen, wie die Filmstars. Und mit der Weissen Flotte ein Fährtle hinüber in die Schweiz machen. Als ich ein junges Mädle war, da waren wir mal in Nonnenhorn. Jesusmässig verliebt habe ich mich da, in den Sohn vom Fischer, wo wir unsere geräucherten Felchen geholt haben.» Ich versuchte zu ermessen, wie viele Jahrzehnte ihre Jugend her war. Da war ich noch gar nicht auf der Welt gewesen. In die Fünfziger musste ich mich da schon zurückdenken. Urlaubsfahrten mit dem Käfer. Und Jeans hat man damals auch noch nicht getragen. BILD: ZVG
VON CHRISTINE LEHMANN
Christine Lehmann Christine Lehmann, geboren 1958 in Genf, lebt heute in Stuttgart und schreibt unter anderem Krimis mit der Serienheldin Lisa Nerz. Zuletzt erschienen: «Allmachtsdackel», «Nachtkrater» und «Mit Teufelsg’walt». www.christine-lehmann.de
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«Und wenn ich mir jetzt einfach ein oder zwei … oder drei nehmen würde? Merkt das ebber? Oder ist das abgezählt und jemand verliert den Job, wenn ebbes fehlt? Eine Filialleiterin, ein Buchhalter. Die haben auch Familie?» «Im Moment fehlt alles», sagte ich. «Und dafür wird keiner entlassen.» Sie kicherte. «Ist das nicht komisch? So viel Geld und niemand ist verantwortlich. Der Kurierdienst, der hat eine Versicherung, wo zahlt. Oder verliert jetzt der Kurier seinen Job?» «Sicher nicht. Und wenn, so würde man ihn in jedem Fall entlassen. Egal, ob das Geld wieder auftaucht oder nicht.» Sie nickte. «Wollen Sie auch was? Ich hab gerade genug.» Sie kicherte vergnügt. «Ich geb Ihnen gern ebbes ab.» «Was soll ich damit? Noch mehr Klamotten kaufen?» Sie musterte mich mit dem Blick einer Frau, die meinen Jeans, meinem Shirt und dem Brilli in meinem Ohr ansah, was ich dafür bezahlt hatte. «Denken Sie nur an Klamotten? Haben Sie keinen grossen Wunsch. Jeder hat einen ganz grossen Wunsch. Ich meine, nicht so einen wie Hauptsache gesund. Als ich ein junges Mädle war, da war mein allergrösster Wunsch, einmal nach Amerika fliegen und in einem Cadillac fahren.» «Mein grösster Wunsch war ein eigenes Pferd», sagte ich. «Das hat sich dann erfüllt. Mein Mann war Sohn eines Gestütsbesitzers an der Schwäbischen Alb. Aber Pferde machen saumässig Arbeit. Und mein Mann ist dann gestorben. Ein Unfall mit dem Porsche.» «Oh, das tut mir leid.» «Mir nicht mehr. Ich habe ordentlich geerbt.» «Und was machen Sie mit dem Geld?» «Ich lasse es arbeiten.» «Also, mein Mann ist ja auf und davon, und ich sass da, mit den beiden Kindern. Ich hab als Verkäuferin gearbeitet, in einem Kaufhaus. Nicht schlecht! Nur dass ich den ganzen Tag kein Tageslicht gesehen hab. Aber die Ausschussware haben wir bekommen. Wir konnten einmal im Jahr nach Italien fahren.» «Und Ihr grösster Wunsch heute, was wäre der?», fragte ich. «Ein richtig grosser, nicht das Wochenende am Bodensee.» Sie legte den Kopf schief und sinnierte über den Park. Eine Amsel zog Regenwürmer aus der Wiese. «Wenn ich richtig viel Geld hätte … richtig viel … dann würde ich … dann würd ich erst mal meine Kinder versorgen. Ich tät ihnen ein Häusle kaufen, jedem. Und dann tät ich eine Stiftung gründen, wo nur für uns da ist, für die kleinen Leut, die wo grad so um die Runden kommen. Sie tät Kredite geben, wenn ebber was auf die Beine stellen will. Meine Nachbarin, die braucht Wolle, dann tät sie Pullover stricken, wo sie dann verkauft. Solche Sachen.» «Klingt gut. Aber Sie haben nicht an sich gedacht.» Die Alte lachte. «Was muss ich an mich denken, wenn ich andern helfen kann. Das ist das Schönste auf der Welt. Glückliche Gesichter sehen. Das tut man ja auch für sich. Nicht wahr? Auf einmal wär ich der Engel von Ostheim.» Sie kicherte. «Ich auf meine alten Tage wär wichtig und bedeutend, und die Leut würden kommen. Ich müsst ein Büro einrichten, ich hätt wieder was zu tun. Die Zeitung käme und tät mich interviewen. Das tät mir gefallen.» «Dann los!», sagte ich. «Aber wenn ich das Geld jetzt auf die Bank trage, dann fragen sie doch, woher ich es habe.» «Sie müssen das Geld irgendwo waschen.» «Und wie macht man das?» «Ein Lädle aufmachen, wo Sie irgendwas reintun – Kruscht, Trödel, Omas Töpfe, alte Bücher – und dann behaupten, Sie würden mordsmässig was verkaufen; und alle paar Monate tragen Sie eine schöne Summe auf die Bank.» Sie lachte. Dann fiel ein Schatten über das vom Leben ausgemalte Gesicht. «Aber das Geld, das hat doch ebber gehört.» Ich überlegte. «Wenn es sich hauptsächlich um grosse Scheine handelt, dann sind es keine Tageseinnahmen. Vielleicht hat jemand Geld von der SURPRISE 211/09
Bank am Stöckach geholt, um irgendwas bar zu bezahlen. Vielleicht am Finanzamt vorbei. Oder es ist Bestechungsgeld.» «Und wenn es ein Familienvater vom Konto geholt hat, weil er damit ein Haus kaufen will? Und jetzt hat er alles verloren.» «Die Versicherung zahlt. Deshalb hat er doch den Kurierdienst beauftragt.» «Haben Sie denn kein Gefühl für das, was andern gehört, junge Frau? Die Versicherung holt sichs doch auch wieder von denen, wo die Versicherung zahlen.» «Vielleicht stammt es gar nicht von dem Überfall», lächelte ich. «Sonst hätte es eigentlich in einem Koffer stecken müssen. Und den kriegt man auch nicht so leicht auf, um es in eine Tüte umzuschichten. Vielleicht hat einer das Geld einfach nicht mehr brauchen können und weggeworfen.» «Geld wirft man doch nicht weg!» Die Alte war richtig entrüstet. «Wo gibts denn das?» «Was machen die Leut täglich anderes, als Geld zum Fenster rauswerfen? Für irgendein Glump. Und jetzt hat sich einer gedacht, eh er eine Jacht in einem Hafen liegen hat – das macht auch nur Geschäft und kostet Geld – da wirft er es lieber gleich weg. Man sagt doch immer: Geld macht nicht glücklich.» Die Alte seufzte. «Ojeoje! Und ich habs jetzt am Hals!» Ich weiss nicht, wie sie sich entschieden hat, denn Cipión zog fort, und ich musste weiter. Als ich nach meiner Runde durch den Park zurückkam, war die Bank leer. ■
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BILD: ANDREA GANZ
Le mot noir Ein Abend in Rom Kürzlich im Café. «Du bist nicht in Rom?», steige ich mit der Tasse über den Hund und verpasse meinen Stuhl um Haaresbreite. Aber Barbara vergräbt sich in der Zeitung. «Deine Anwaltskonferenz in diesem wahnsinnig schicken Hotel?», hake ich nach und wische den Kaffee von meinem Pulli. «Die ist doch heute, oder?» Barbara lässt die Zeitung fallen. «Ich konnte da nicht bleiben», haucht sie, den Tränen nahe. «Wieso denn nicht? Und zieh bitte die Sonnenbrille aus. Es regnet.» «Die haben mich alle nackt gesehen.» «Die haben – NACKT? Okay …» «Ich hab gestern Abend ein Bad genommen, zum Ausspannen, okay? Die Referate waren verdammt anstrengend.» «Okay …» »Dann hab ich das Tablett mit den Essensresten vor die Tür gestellt. Damit es nachts nicht im Zimmer riecht!» «Auch okay …» »Nein! Weil die Tür
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hinter mir zugefallen ist und ich nackt auf der Etage stand!» «Okay … ähm, nicht okay», verkneife ich ein Grinsen. «In diesem endlos langen Flur mit diesen scheiss Perserteppichen oder was das ist und keine einzige Pflanze. Sonst sind diese Hotels doch voll mit diesem Gummizeug! Nein! Nicht mal beim Lift!» «Du sahst sicher toll aus», grinse ich. «Ich hab gewartet und gewartet! Und gebetet, dass kein Gast aus seinem Zimmer kommt, während ich auf diesen verdammten Lift warte!» «Aber natürlich kamen die und im Lift waren überall diese Spiegel, die sie aus ganz Rom angeschleppt haben und ich hab da gestanden neben diesen parfümierten Armanitypen, die sich noch einen Absacker gönnen wollten und wir haben alle geradeaus gestarrt!» «Okay …», wische ich diskret eine Lachträne weg. «Dabei hatte ich für den Abend in der Bar ein so hübsches Kleid dabei!» «Ah, das mit den pinkfarbenen Blumen, das wir auf dem Flohmarkt gekauft haben?» «Mit der kleinen Tasche, die Severin mir letzten Geburtstag geschenkt hat.» «Ja, da haben die allerdings was verpasst», muss ich zugeben. «Und dann habe ich hinter der Säule gewartet, dass sich die Lobby endlich leert. Da gab es dann wenigstens einen Blumenkasten, aber zum Rollen war der auch nicht. Nur so ein Monster, das schon ewig dort steht. Und die Leute wurden auch nicht weniger! Also bin ich halt irgendwann zur Rezeption gerannt, weil
die auf mein Pfeifen nicht reagierten, damit die mir eine Ersatzkarte für die Tür geben. Aber die wollten, dass ich das Zimmer zuerst bezahle. Meine Kreditkarte hatte ich aber nicht dabei!» «Von so einem Wahnsinnshotel könnte man aber mehr erwarten», murre ich. «Haben sie dich wenigstens an die Bar gelassen, bis die Rechnung fertig war?» Aber Barbara lässt sich nicht beruhigen. «Überall diese Gummihälse, die dich stumm angaffen und dabei hatte ich mich so gefreut auf dieses tolle Hotel!» «Das, ähm, mit der Bar hat nicht geklappt?» «Dort sassen schon zwei aus unserer Kanzlei und haben mir zugeprostet!», bricht Barbara in Tränen aus. «Also für mich klingt das nach einer Gehaltserhöhung», sage ich lieb. «Ich meine, du sagst doch immer, dass die zu viel von dir verlangen.» «Ich hab den Wecker auf vier gestellt und bin ausgecheckt. Die am Flughafen haben mich auf den ersten Flug gequetscht.» «Okay …», überlege ich. «Ich kann da nie wieder hin! Nie wieder verstehst du? NIE WIEDER!» «Kein Problem», winke ich ab. «Du bist nicht in Rom, also musst du da auch nicht mehr hin.»
DELIA LENOIR (LENOIR@HAPPYSHRIMP.CH) ILLUSTRATION: IRENE MEIER (IRENEMEI@GMX.CH) SURPRISE 211/09
Bildung «Arme Menschen sind keine Idioten» BILD: DENISE ANANIA
Wer von Armut betroffen ist, hat oft keine Möglichkeit zur Weiterbildung. Für Kursbesuche und Lehrmittel fehlt das Geld. Die «Uni von unten» will das ändern. VON DENISE ANANIA
«Bienen sind für mich heilige Geschöpfe», erklärt Hobby-Imker Ahmed Tosun in seinem Imkerhäuschen in Riehen/BS. Er weiht an einem verregneten Donnerstagnachmittag die Teilnehmer des Kurses «Bienen und Bienenzüchter» der «Uni von unten» in die Geheimnisse des Imkerns ein. Und das mit grosser Leidenschaft. Naturkunde für alle, vermittelt von einem Laien. Das ist eines der Grundprinzipen der «Uni von unten», die wiederum ein Weiterbildungsangebot des Internetcafés «Planet13» in Basel ist. Das Selbsthilfeprojekt «Planet13» entstand in seiner heutigen Form im Jahr 2007 und stellt Sozialhilfeempfängern und Armutsbetroffenen EDV- und Internetzugang gratis zur Verfügung. «Hier erhalten sie praktische Unterstützung, etwa beim Erstellen von Bewerbungsdossiers», sagt Projektleiter Christoph Ditzler. Die Besucher des Internetcafés an der Klybeckstrasse sollen sich gegenseitig helfen und motivieren. Dieses Geben und Nehmen ist auch ein Grundgedanke der «Uni von unten». Jeder Mensch kann etwas und das soll er so auch einbringen. Die «Uni von unten» ist eine Plattform, wo promovierte und privatgelehrte Dozenten ihr Fachwissen anbieten. Einziges Kriterium ist, dass der Inhalt des Vortrags nachvollziehbar und belegbar ist. «Bildung ist ein Menschenrecht», sagt Avji Sirmoglu, bei «Planet13» für die Kulturund Öffentlichkeitsarbeit zuständig. «Bildung sollte allen Menschen zugänglich sein, auch jenen, die kein Geld haben. Oft herrscht das Vorurteil, dass arme Menschen gleichzeitig auch dumme Menschen seien. Dem ist aber nicht so: Innerer Reichtum hat nichts mit einem leeren Portemonnaie zu tun. Arme Menschen sind keine Idioten», hält Avji Sirmoglu fest. Mit dem Projekt «Uni von unten» sind alle angesprochen, die sich weiterbilden möchten. Natürlich bieten die kostenlosen und ehrenamtlich betriebenen Kurse der «Uni von unten» nicht das Programm einer Volkshochschule oder gar einer Universität. «Uns geht es mit dem Wort Universität oder dem Begriff universal mehr um den Gedanken, dass niemand ausgeschlossen wird und alle mitmachen können», sagt Sirmoglu. Es könne nicht sein, dass eine Elite-Gesellschaft ihren Bildungshorizont erweitern könne und alle anderen davon ausgeschlossen würden. «Die Bildungspolitik in der Schweiz muss sich ändern. Es reicht nicht, dass der Staat nur den Besuch der obligatorischen Schulen gewährleistet. Es sollten mehr Fördergelder gesprochen werden, die Universitäten sollten gratis besucht werden können.» Die «Uni von unten» will die Besucher am Ende eines Kurses oder eines Vortrags nicht mit einem Diplom ausstatten. Vielmehr soll durch das Projekt die Diskussion über die Schweizer Bildungspolitik nicht verSURPRISE 211/09
Naturkunde für alle: Imker Ahmed Tosun erzählt fleissig von seinen Bienen.
siegen respektive immer wieder neu angeregt werden. Die Botschaft «Bildung für alle» und die Förderung des Einzelnen sollen stetig vorangetrieben werden. Das sei das erklärte Ziel für die Zukunft. Ahmet Tosun präsentiert unterdessen stolz die Arbeit seiner fleissigen Bienchen: Diverse Honigsorten und Kerzen aus Bienenwachs. Und irgendwo bereitet sich sicher schon jemand auf den nächsten Kurs, den nächsten Vortrag oder den nächsten Workshop vor. ■ www.planet13.ch
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Kulturtipps
Ellen Allien macht keine Kompromisse und deshalb ihr eigenes Ding.
Musik Die Königin der Nacht Selbst ist die Frau: Die Berliner Produzentin Ellen Allien hat sich mit ihrem Label «Bpitch Control» in der Männerwelt des Techno durchgesetzt und feiert ihr Zehn-Jahre-Jubiläum mit einer Tour. VON TARA HILL
«Berlin/Du gibst mir die Kraft/Bin ein Teil von dir», singt Ellen Allien auf «Stadtkind». Und tatsächlich verkörpert die Techno-Produzentin den «Do it Yourself»-Geist der deutschen Hauptstadt perfekt. Dabei beginnt ihre Karriere nicht in Berlin, sondern in London: Mit zarten 19 Jahren taucht Ellen Fraatz, so ihr bürgerlicher Name, dort erstmals in die Acidhouse-Szene ein – und ist begeistert. «Trotzdem stellte ich fest, dass ich nur an einem Ort zu Hause sein will und kann – und das ist Berlin», bilanziert die Musikerin. Nach der Rückkehr in ihre Heimat wird Fraatz Zeugin, wie die TechnoWelle auf Deutschland überschwappt. Im kreativen Chaos nach der Wende schiessen in Ostberlin neue Clubs aus dem Boden. Fraatz arbeitet im «Fischlabor», einem der ersten House-Schuppen der Hauptstadt. Sie erliegt dem Reiz der neuen Musik und beginnt, selber Platten aufzulegen: Aus der Barkeeperin Ellen wird Ellen Allien, die DJane. Zunächst Exotin in der Männerdomäne Techno, steigt Ellen Allien rasch zur First Lady des Berliner Nachtlebens auf, erhält mit «Braincandy» gar ihre eigene Radioshow. Als die Szene Ende der 90er-Jahre implodiert, lässt Allien sich nicht entmutigen, sondern gründet ihr eigenes Label Bpitch Control. «Ich hatte keine Lust mehr auf Kompromisse», meint Allien rückblickend. Im Techno-Vakuum der Milleniumswende lösen die ersten Bpitch Control-Platten einen neuen Boom aus: Plötzlich ist Electroclash – eine glamourösrockige Variante des Techno, wo die Tracks plötzlich Popsongformat annehmen – in aller Munde. Allien befindet sich an der Speerspitze des Trends, veröffentlicht mit «Stadtkind» (2001) und «Berlinette» (2003) zwei gefeierte Hommagen an ihre Heimat – Alben, die sie nicht nur produziert, sondern denen sie auch ihre unterkühlte Stimme leiht. Als der Hype um Electro wieder verebbt, macht die Künstlerin mit Kollaborationen auf sich aufmerksam: Etwa 2007 mit dem experimentellen «Orchestra of Bubbles», wofür sie sich mit dem Künstler Apparat wochenlang im Studio verbarrikadiert. Heute, zum zehnten Geburtstag von Bpitch Control, muss Ellen Allien niemandem mehr etwas beweisen: Mit eigener Modekollektion und weltweiten DJ-Gigs sitzt die 40-jährige Labelchefin so fest im Sattel wie nie zuvor. 24. Oktober, 23 Uhr, Cabaret, Geroldstrasse 15, Zürich.
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Die politische Botschaft des «Ufmüpferli» Vitaparcoeurs gibts am Kurzfilmfestival.
Film Kurz ist nicht schnurz Fanatiker bekämpft man am besten mit Fanatikern. So die Erkenntniss aus Werner Herzogs 12-Minuten-Film «Massnahmen gegen Fanatiker». Zu sehen ist das fröhliche Werk zusammen mit Kurzfilmen von Künstlern wie Christoph Schlingensief und Pipilotti Rist am internationalen Kurzfilmfestival in Winterthur. VON PRIMO MAZZONI
Ein grosser Auftritt für kleine Formate: Die 13. Ausgabe der Winterthurer Kurzfilmtage richten den Fokus auf den politischen Kurzfilm: Eine Entscheidung, welche die Programmgruppe mit der vermehrten Einreichung von Wettbewerbsfilmen erklärt, die sich mit politischen Themen befassen. Gleichzeitig stellt die Behauptung eines «politischen Films» die grundsätzliche Frage nach der Gattung. Julia Zutavern, Mitarbeiterin der Kurzfilmtage, gibt denn auch zu, dass man durchaus jeden Film politisch verstehen könne oder eben keinen. «Vielleicht lässt sich grob sagen, dass ein politischer Film ein Film ist, der einen aus der Trägheit des Denkens reisst. Er bringt einen dazu, über etwas nachzudenken, über das man noch nie nachgedacht hat, oder über etwas einmal anders nachzudenken.» Die wissenschaftliche Assistentin und Lehrbeauftragte am Seminar für Filmwissenschaft der Uni Zürich schreibt zurzeit an einer Dissertation über den politischen Film, weshalb der Programm-Hauptverantwortliche Reto Bühler sie bat, bei diesem Schwerpunkt mitzuarbeiten. So zeichnet Julia Zutavern für Herzogs «Fanatiker» verantwortlich und für die «Ufmüpferli». Für letztere hat sie Schweizer Kurzfilme mit politischen Botschaften aus den Jahren 1949 bis 2008 ausgegraben. Unter den Autoren finden sich auch illustre Namen, die sich für eine Sache einsetzen. So reicht die Auswahl von Kurt Früh, über Rolf Lyssy bis zu Elodie Pong. 70er-Jahre-Utopien, Zaffaraya-Jugendträume und Flüchtlingsproblematik sind nur einige Themen, die eine spannende Zeitgeist-Revue versprechen. Internationale Beiträge stammen von Künstlern wie Ulrich Seidli, Christoph Schlingensief und Alexander Kluge. Da sonst der Kurzfilm im Kino leider kaum auf die Leinwand kommt: Ein Vor-Winterwochenende in Winterthur verbringen und sich von der grossen Kurzfilmvielfalt überraschen und hoffentlich aus der Denkträgheit reissen lassen. 13. Internationale Kurzfilmtage Winterthur. 4. bis 8. November 2009. www.kurzfilmtage.ch
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Halb Mensch, halb Krustentier: Wie erklären Sie das, Herr Darwin?
Theater Forscher mit Lampenfieber «Darwins Beichte» zeigt den Begründer der Evolutionstheorie in einer tiefen Krise. Soeben ist seine zehnjährige Tochter gestorben, und die Zweifel, ob er seine seit Jahren geheim gehaltenen Entdeckungen veröffentlichen soll, werden zur Lebensfrage. VON MICHÈLE FALLER
Zwei junge Frauen richten konzentriert die Spielfläche ein. Tischchen werden geschoben, Pflanzen platziert, Behälter in verschiedensten Grössen und Formen zurechtgerückt. «Es ist ein Stück über Darwin», sagt eine nun beiläufig zur anderen. «Darüber, dass er sein Buch nicht schreiben kann.» Charles Darwin hat lange gezögert, doch mittlerweile liegt die Veröffentlichung seiner «Entstehung der Arten» 150 Jahre zurück – und hat wenig von seiner Brisanz eingebüsst. Heute wird in der Imprimerie Basel «Darwins Beichte» geprobt, ein Auftragswerk der Akademie der Naturwissenschaften anlässlich des Darwin-Jahrs. Entstanden ist ein surreales «Stück im Stück» von Dominique Caillat. «Ich habe einen besonders tragischen Augenblick gewählt. Es ist der 23. April 1851. Es ist tragisch, weil Annie, Darwins Lieblingstochter, gerade eben gestorben ist», fährt die junge Frau auf der Bühne fort. In dieser Szene schlüpft sie in die Rolle der Stückautorin. Auch die restlichen Figuren des Schauspiels werden von den beiden Frauen verkörpert. Die wirkliche Autorin Dominique Caillat erklärt, sie habe mit ihrem Stück Darwins menschliche Seite zeigen wollen. Den liebevollen, trauernden Familienvater und den angesehenen Forscher, der panische Angst vor den Reaktionen auf seine skandalträchtigen Entdeckungen hat, die den göttlichen Schöpfungsakt durch die rein zufällige Entstehung und Veränderung der Arten ersetzt. Im Zwiegespräch mit Annie sehe sich Darwin auch mit der etwas verwirrten – fiktiven – Autorin des Stücks, einer spirituellen Biologin, und der Chimäre konfrontiert, die ihn mit ihren widersprüchlichen Fragen herausfordern. Die Imprimerie Basel bringt «Darwins Beichte» mittels Tanz, Theater und Musik auf die Bühne. Die vielen Instrumentalisierungen Darwins durch Nationalsozialisten, Kreationisten, Genforscher sind für Regisseur Martin Burr Anlass, Darwin nicht real auftreten zu lassen. Dennoch komme der Begründer der modernen Biologie ausführlich zu Wort. «Die Figuren entstehen und verwischen, entsprechend den von Darwin beschriebenen Arten und Verwandtschaften», erklärt Burr. Und wie mühelos die Metamorphose von Autorin zu Krustentier oder von Biologin zu alterndem Darwin vor sich geht, demonstrieren die beiden Frauen inmitten ihres eigenhändig eingerichteten Mikrokosmos spielend.
Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.
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Statistik Georg Ferber GmbH, Riehen
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Locher Schwittay Gebäudetechnik GmbH, Basel
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Schützen Rheinfelden AG, Rheinfelden
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Responsability Social Investments AG, Zürich
05
SV Group AG, Dübendorf
06
Baumberger Hochfrequenzelektronik, Aarau
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
08
VXL AG, Binningen
09
Thommen ASIC-Design, Zürich
10
Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten
11
Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Nottwil
12
Ernst Schweizer AG, Hedingen
13
JL AEBY Informatik, Basel
14
iuliano-gartenbau & allroundservice, Binningen
15
Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf
16
KIBAG Kies und Beton
17
Inova Management AG, Wollerau
18
SVGW, Zürich
19
Brother (Schweiz) AG, Baden
20
Segantini Catering, Zürich
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Axpo Holding AG, Zürich
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AnyWeb AG, Zürich
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Kaiser Software GmbH, Bern
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fast4meter, Storytelling, Bern
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IBZ Industrie AG, Adliswil
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag! Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.
«Darwins Beichte», 6. November bis 11. Dezember, 19.30 Uhr, Basel, Bern, Winterthur, Fribourg, Zürich, Davos. www.imprimerie-basel.ch SURPRISE 211/09
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BILD: WEEK END (IDF SERIE) ©THOMAS GALLER
BILD: ZVG
Ausgehtipps
New Wave, Bossa Nova – Nouvelle Vague.
Bern/Zürich Schwungvolle Schwermut
Israelische Soldatinnen ganz privat im Dienst.
Winterthur Parallele Welten
Coverbands sind eigentlich eine Plage. Denn normalerweise wird dabei fremdes Liedgut entweder treudoof nachgeäfft oder aber dummdreist verhunzt. Eine Ausnahme bilden Nouvelle Vague, die ihr Programm im Namen führen. Auf englisch nämlich heisst Nouvelle Vague New Wave und auf portugiesisch Bossa Nova. Und so liessen die beiden Franzosen Marc Collin und Olivier Libaux auf den ersten beiden Alben rehäugige Sängerinnen melancholische 80er-Hits über beschwingte Brasil-Rhythmen hauchen. Mit dem dritten Album öffnete sich die Band: Die Songs entstammen zwar demselben Fundus, neu umfasst das Stilspektrum aber auch Country, Ska und Dub. So oder so: Nouvelle Vague polarisieren. Die einen sehen die Schwermutshymnen ihrer Jugend entweiht, andere aber schwingen verschmitzt grinsend das Tanzbein. (ash) 28. Oktober, 20 Uhr, Bierhübeli, Bern; 30. Oktober, 21.30 Uhr,
Bilder, wohin man schaut: An den Plakatwänden, in der Zeitung, im Fernsehen, im Internet – und schliesslich im Kopf. Alle von einer Vielzahl unterschwelliger Codes durchdrungen. Und wir mitten drin – zwischen subtilen Werbebotschaften und harten Fakten, behördlichen Warnungen und privaten Mitteilungen. Was dabei leicht aus dem Blick gerät, ist, dass wir alle von einer medialen Realität durchdrungen sind, die wir nicht mehr als direkt Beteiligte erfahren. Die Ausstellung «Karaoke – Bildformen des Zitats» im Fotomuseum Winterthur untersucht dieses enge Geflecht von Erlebten und Nacherlebtem und zeigt in leise gesetzten Bezügen auf, wie wir uns ganz selbstverständlich in parallelen Welten bewegen. (mek)
Theaterhaus Gessnerallee, Zürich.
«Karaoke – Bildformen des Zitats», Fotomuseum, Winterthur. Unter anderem mit Werken von Thomas Galler, Thomas Julier, Tayio Onorato und Nico Krebs. 24. Oktober 2009 bis 7. Februar 2010. Sonntag, 25. Oktober, 11.30 Uhr:
BILD: XENIA HÄBERLI
Gespräche mit den Künstlern auf Deutsch und Englisch. www.fotomuseum.ch
Bern Bühnenreifes Stottern Eine Ode an die gesprochene Sprache, in der gestammelt und gestottert wird – wie geht das? Der Schriftsteller Guy Krneta und der Musiker Christian Zehnder haben im Rahmen der Matterhorn Produktionen ein Stück für Percussion, Bass und Schauspiel geschaffen, in dem genau das passiert. Das Sprechkonzert zwischen Musik und Theater bringt in den Stotterpausen all das zur Sprache, was normalerweise im Redefluss untergeht. Mit von der Partie im aussergewöhnlichen Theaterspektakel ist als Bassist der Surprise-Chorleiter Michael Pfeuti. (juk) «Stottern und Poltern» – Sprechkonzert, 5. bis 7. November, 20.30 Uhr und
Stottern im Quartett macht sich besser als alleine.
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8. November, 19 Uhr, Schlachthaus Theater Bern. www.schlachthaus.ch. SURPRISE 211/09
BILD: ISTOCKPHOTO
Basel/Luzern Wohltemperierte Uraufführung Es gibt nicht nur Bach und Mozart, auch in der Gegenwart schreiben Menschen klassische Musik. Zum Beispiel der Basler Komponist Alfred Knüsel. Bei Aufnahmen in Armenien lernte er das lokale Serenade Chamber Orchestra Yerevan kennen. Er lud die Musiker in die Schweiz ein, wo sie in zwei Konzerten «Wohltemperierte Gegenwelten» spielen: Vertrautes begegnet Neuem, nebst Mozart werden ein Stück des armenischen Komponisten David Haladjian gespielt und drei Violinkonzerte von Alfred Knüsel uraufgeführt. (juk) «Wohltemperierte Gegenwelten», 6. November, 20 Uhr, Grosser Saal, MusikUraufführung: Drei Violinkonzerte werden zum ersten Mal gespielt.
BILD: ZVG
akademie Basel, 7. November, 19.30 Uhr, Hofkirche, Luzern.
Auf Tournee Singender Schellenursli Die Spielplatzsaison ist endgültig vorbei. Wohin also mit der Jungmannschaft? Zum Beispiel ins Kindermusical. Weil die Kleinen nicht genug bekommen können, wird das Schellenursli-Musical nämlich wieder aufgenommen. Unter der Leitung von Brigitt Maag und Paul Weilenmann (Karl’s Kühne Gassenschau) mutiert der Kinderbuch-Klassiker zum rasanten Singspiel. Und so können gross und klein noch einmal mitfiebern, wenn sich Ursli und sein Mäuschen im Schneetreiben auf die gefährliche Reise machen, um die grosse Glocke vom Maiensäss zu holen. (ash) 31. Oktober, 14 Uhr, Casinotheater, Winterthur; 7. November, 14 Uhr, Stadttheater, Olten; 8. November, 14 Uhr, Hotel Engel Liestal. Weitere Termine: www.balzer-produktionen.ch/schellenursli
BILD: ZVG
Tapfere kleine Helden im Schnee – Schellenursli.
Auf Tournee Die Bestie in Rappergestalt Ein Leisetreter war der Ostschweizer Rapper Göldin noch nie. In seinen Tracks verwandelt er sich in hinterfotzige Spiesser, biedere Amokläufer und anarchistsche Raser. Das pressfrische Album «C.S.I: Appenzell» klingt noch mal eine Ecke radikaler als seine Vorgänger. Beatbastler Bit-Tuner (auch als Bassist mit Stahlberger unterwegs) und Gast-Gitarrero Jari Antti von den Basler Neo-Grungern Navel veranstalten einen Mordsradau aus polternden Rhythmen, brummenden Synthies und krachenden Gitarren. Und Göldin röchelt und lästert als Brachialsatiriker gegen den freundlichen Faschismus in der Provinz. Resultat: Eine Bestie von Platte, die gleichermassen verstört wie begeistert. (ash) 24. Oktober, 22 Uhr, Hirscheneck, Basel; 30. Oktober, 21 Uhr, Farm, Hugelshofen/TG.
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Gleich springen sie Ihnen ins Gesicht: Bit-Tuner (links) und Radikalrapper Göldin.
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Verkäuferporträt «Auf dem Meer lernte ich, mich selber zu sein» Hans Bleiker war in seinem Leben schon Piratenvertreiber, Kübelleerer und Birchermüesli-Polizist. Heute ist der Zürcher mit 69 Jahren der älteste Surprise-Verkäufer des Landes.
«Familie habe ich keine mehr. Als letzte starb die Schwester vor zwei Jahren: Krebs. Der Bruder hat zu viel geschuftet: Herzinfarkt. Die Mutter war Militärschneiderin, der Vater Fabrikarbeiter. Eine typische Büezer-Familie halt, aus Abtwil bei St. Gallen. Das Volk dort war anno dazumal eine konservative Saubrut; in der Schule durften die Katholiken und die Reformierten nicht zusammen spielen. Ich musste weg. Nach der Dreherlehre und der Rekrutenschule heuerte ich bei der Schweizer Reederei in Basel an. Vier Jahre lang machte ich Rhein-MainDonau, bis ich den grossen Schiffen in Rotterdam nicht mehr widerstehen konnte und 1964 zur See fuhr. Zuerst als Hilfsmatrose, dann – nach der Nautischen Schule in Hamburg – stieg ich in den Rang eines 2. Offiziers auf, war Maschinen-Chef. Wir kreuzten mit unseren Frachtern durch die Weltmeere, transportierten Autos, Korn, Maschinen. Heimweh hatte ich nie, im Gegenteil: Meine Mutter liess mich drei Mal per Interpol suchen. In Osaka kamen sie gar an Bord und richteten mir aus, es wäre mal wieder Zeit, der Mutter zu telexen. Schon damals trieben Piraten im Golf von Malaka ihr Unwesen. Nur konnten wir ihnen noch eins über die Rübe ziehen. Aber auch mit Reden hat man einiges zustande gebracht und notfalls hatten wir eine Stalinorgel, ein sowjetisches Schnellschussgewehr. Die Idee, gegen die heutigen Piraten die Schweizer Armee aufzubieten, ist Blödsinn, die würden sich beim ersten Sturm in die Hose machen. Mir konnten selbst 20-Meter-Wellen nichts anhaben. Die beste Medizin gegen die Seekrankheit ist Rum, weil man besoffen mit den Bewegungen des Schiffes mitgeht. Der beste Rum kommt aus Jamaika. Es gibt eigentlich nur drei Dinge, die ich bis heute immer dabei habe: Der Seesack, das Logbuch und ein Steuerrad mit sieben kleinen Rumgläsern. Sonst habe ich nie viel besessen. Kleider wasche ich nie, ich kaufe neue und werfe die alten weg, wenn das Wetter wechselt. Nein, ich hatte nicht in jedem Hafen ein Mädchen. Frauen kommen mir aus Prinzip nicht ins Haus. Jetzt hätte ich gar keinen Platz. Obwohl: Ich putze ungern und wenn ich koche, vergeht mir der Appetit … Als ich nach 20 Jahren vom Seemannsleben genug hatte, blieb ich in Zürich hängen. Hier hat es wenigstens einen See – ohne Wasser kann ich nicht leben. Wie viele Jobs ich seither hatte, weiss ich nicht. Erst arbeitete ich in der Kantine des Schweizer Fernsehens. Der Küchenchef sagte immer: Hier hat es 600 Büros, 300 für Halbschlaue und 300 für Vollidioten. Zum Beispiel fehlten am Monatsende immer etwa 400 Löffeli und wir fanden heraus, dass die Leute Ketten daraus machten; die liessen sich eben leicht biegen. Einmal habe ich eine Auslandredaktorin eine Sau geschimpft, nachdem ich in ihrem Büro Berge von Coupegläsern mit verschimmeltem Birchermüesli entdeckt hatte. Darauf kam der Fernsehdirektor zu mir. Nach dem Gespräch liess er eine Bürorazzia machen, danach herrschte Ordnung. Zuletzt war ich bei der Stadtreini-
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AUFGEZEICHNET VON YVONNE KUNZ
gung, als Abfalleimerleerer. Jetzt bin ich allergisch auf den Geruch von Red Bull und Dosenbier. Das stinkt grausam, da hast einen Siech ohne etwas zu trinken. Mein Leben lang war ich nie krank. Nur ein paar Unfälle hatte ich. Einmal stellte mir einer eine beladene Palette auf den Finger – der ist heute noch flach. Surprise verkaufe ich nicht aus finanziellen Gründen, sondern wegen dem Gaudi. Wenn ich zu Hause rumhocke, wird mir langweilig und man kann nicht ständig im Spunten sitzen. Hier vor der Migros ist einiges los. Manchmal prügeln sich die alten Weiber fast wegen einem Einkaufswagen! Und so ein Knacker ranzte mich mal an: ‹Noch so ein blödes Heftli!› Ich sagte: ‹Gut, ich geb dir gratis eins mit, damit Dus lesen kannst. Danach kannst Dus mir entweder zurückgeben oder zahlen.› Jetzt ist er Stammkunde. Das habe ich auf dem Meer gelernt: Sich selber sein. Und das kann ich in diesem Job.» ■ SURPRISE 211/09
Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte ber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise-Sozialarbeiterinnen betreut, individuell begleitet und gezielt gefördert. Dazu gehört auch, dass sie von Surprise nach bestandener Probezeit einen ordentlichen Arbeitsvertrag erhalten. Mit der festen Anstellung übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.
Starverkäufer BILD: ZVG
Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich sel-
Als Götti oder Gotte ermöglichen Sie einer Strassenverkäuferin oder einem -verkäufer eine betreute Anstellung bei Surprise und damit die Chance zur Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben.
René Senn Zürich
Jela Veraguth Zürich
Bob Ekoevi Koulekpato Basel
Jovanka Rogger Zürich
Muriel Niederberger aus Aesch BL nominiert Marlise Haas als Starverkäuferin: «Wenn ich in der Basler Innenstadt einkaufen gehe, gehören die Begegnungen mit Marlise Haas zu den Höhepunkten. Beim Heftverkauf wirkt sie immer gepflegt und angenehm zurückhaltend. Sie zeigt grosses Interesse an ihrer Kundschaft, und weil sie bei aktuellen Themen stets gut informiert ist, kann man wunderbar mit ihr diskutieren. Ich wünsche Marlise alles Gute.»
Ausserdem im Förderprogramm SurPlus: Peter Gamma, Basel Peter Hässig, Basel Kurt Brügger, Baselland Marika Jonuzi, Basel Andreas Ammann, Bern
Wolfgang Kreibich, Basel Anja Uehlinger, Baden Fatima Keranovic, Baselland Kumar Shantirakumar, Bern Marlise Haas, Basel
Ihre Nominierung schicken Sie bitte an: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41+61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch
Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 8000 Franken
1/2 Jahr: 4000 Franken
1/4 Jahr: 2000 Franken
Vorname, Name
Telefon
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PLZ, Ort
Datum, Unterschrift
1 Monat: 700 Franken
211/09 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 211/09
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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise fördert seit 1997 die Selbsthilfe von Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit begleiteten Angeboten in den Bereichen Arbeit, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit und berufliche Eingliederung, das Verantwortungsbewusstsein, die Gesundheit und eine positive Lebenseinstellung. Surprise gibt es in der deutschsprachigen Schweiz. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit.
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Strassensport Der zweite Schwerpunkt von Surprise ist die Integration von sozial benachteiligten Menschen in der Schweiz über den Sport. Mit einer eigenen Strassenfussball-Liga, regelmässigem Trainings- und Turnierbetrieb, der Schweizermeisterschaft sowie der Teilnahme des offiziellen Schweizer Nationalteams am jährlichen «Homeless Worldcup» vernetzt Surprise soziale Institutionen mit Sportangeboten in der ganzen Schweiz.
24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)
Organisation und Internationale Vernetzung Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die von dem gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband gegen 100 Strassenzeitungen in über 40 Ländern an.
Gönner-Abo für CHF 260.–
Geschenkabonnement für: Vorname, Name
Impressum
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Rechnungsadresse: Vorname, Name
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Datum, Unterschrift 211/09 Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch
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Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende unabhängige Strassenmagazin Surprise heraus. Neben einer professionellen Redaktion verfügt das Strassenmagazin über ein breites Netz von freien Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen. Der überwiegende Teil der Auflage wird von Menschen ohne oder mit beschränktem Zugang zum regulären Arbeitsmarkt auf Strassen, Plätzen und in Bahnhöfen angeboten. Die regelmässige Arbeit gibt ihnen eine Tagesstruktur, neues Selbstvertrauen und einen bescheidenden aber eigenständig erwirtschafteten Verdienst. Für viele Surprise-Verkaufende ist das Strassenmagazin der erste Schritt zurück in ein eigenständiges Leben.
Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel www.strassenmagazin.ch Geschäftsführung Fred Lauener Öffnungszeiten Sekretariat Mo–Do 9–12/14–16.30 Uhr, Fr 9–12 Uhr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Redaktion Fred Lauener (Leitung), Reto Aschwanden, Julia Konstantinidis, Mena Kost, Agnes Weidkuhn (Koordination), T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch Freie Mitarbeit Amir Ali, Denise Anania, Michèle Faller, Christian Flierl, Andrea Ganz, Tara Hill, Yvonne Kunz, Delia Lenoir, Primo Mazzoni, Irene Meier, Angel Sanchez, Isabella Seemann, Udo Theiss, Anna Wegelin, Priska Wenger Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Anzeigenverkauf Therese Kramarz, T +41 61 564 90 90 anzeigen@strassenmagazin.ch
Marketing Theres Burgdorfer Vertrieb Smadah Lévy Basel Matteo Serpi Zürich Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11 Bern Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern T +41 31 332 53 93 Betreuung und Förderung Rita Erni, T +41 61 564 90 51 Chor/Kultur Paloma Selma, T +41 61 564 90 40 Strassensport Lavinia Biert, T +41 61 564 90 10 www.strassensport.ch Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Carlo Knöpfel
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. SURPRISE 211/09
Schöne Shirts! Und erst noch limitiert! Olivier Mossets (64) letzte Ausstellung nannte sich «Ten Monochromes» und zeigte – wie der Name verspricht – zehn unifarbene Werke des Schweizer Künstlers. Auf 3 à 3 Meter. Die hat Mosset zum Anlass genommen, um für Surprise zehn T-Shirts in denselben Farben zu entwerfen. Mit Surprise-Aufschrift. Und vom Künstler signiert.
Der in Berlin lebende Schweizer Künstler Erik Steinbrecher (45) hat für Surprise eine Fotosammlung von Werbetexten durchforstet. Daraus sind drei T-Shirts mit «flüchtigen Hinweisen» entstanden. In Steinbrechers Worten: «Dadurch, dass der Text auf Schulterhöhe steht, ist er nicht dekorativ.» Dafür mutiere jeder T-Shirt-Träger zum Werbeträger.
Surprise-T-Shirt Preis CHF 40.–
Hinweis-T-Shirt Preis CHF 20.–
a Preis
ag l h c s b
Fuchsia
Zur Kantine
Mint Orange Raspberry
kau r e v s Au S
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Zu bestellen auf: www.strassenmagazin.ch/website/streetshop/produkte.html
Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.
Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50 neon-orange schwarz
Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.– rot blau schwarz
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Strasse
PLZ, Ort
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Surprise Rucksäcke (32 x 40 cm); CHF 89.– schwarz rot
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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch SURPRISE 211/09
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