Surprise Strassenmagazin 212/09

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Mensch, Mann! Was ist los mit dem starken Geschlecht? Deftige Delikatessen: Ein Loblied auf die Metzgete

Im Namen der Menschenrechte – Freidenker in der Schweiz

Nr. 212 | 6. bis 19. November 2009 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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BILD: ESTHER MICHEL

10 Männer Ein Erklärungsversuch Die Männer – das Thema bewegt mittlerweile nicht nur die Frauen, sondern auch die Medien und die Wissenschaft: Während die einen eine neue wunderbare Männerwelt heraufbeschwören, zeichnen die anderen ein schwarzes Zukunftsbild für das starke Geschlecht. Ja was denn nun? Ein Erklärungsversuch mit Peter Schneider.

14 Kirche und Staat Kinder der Aufklärung «Es gibt wahrscheinlich keinen Gott» – die Kampagne der Freidenker sorgt für Aufregung. Statt Gott stellen sie Wissenschaft und Menschenrechte ins Zentrum ihrer Ethik. Vor hundert Jahren wurden sie als Gotteslästerer verfolgt. Heute kämpfen sie im Namen der Ratio für die Trennung von Kirche und Staat.

BILD: FLA

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Inhalt Editorial Starker Tubak Leserbriefe Sparen am falschen Ort Basteln für eine bessere Welt Leichtgewichtige Luftwaffe Aufgelesen Besuch am Wochenbett Zugerichtet Abgöttische Liebe Mit scharf Zankapfel Zensur Erwin … im Konsumzwang Porträt Frühreifer Dichter Kurzgeschichten Schülergeschichten für Surprise Wörter von Pörtner Geliebte Papierstapel Literatur China und das Lied der Regierung Kulturtipps Arm und krank Ausgehtipps Darwin im Affenhaus Verkäuferporträt «Ich will abstinent leben» Projekt Surplus Chance für alle! Starverkäufer In eigener Sache Impressum INSP

BILD: ZVG

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16 Metzgete Ein Traum aus Blut und Leber Die Tage werden kürzer, das Essen deftiger – nun ist die Zeit für Schlachtplatten. Einst war die Metzgete ein fixer Termin im bäuerlichen Jahreslauf, heute ist sie ein Lifestyle-Event für Städter mit gesundem Appetit. Ein Lobgesang auf die Fleischwirtschaft in ihrer ehrlichsten Form.

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Titelbild: Esther Michel SURPRISE 212/09

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BILD: DOMINIK PLÜSS

FRED LAUENER,

Leserbriefe «Weder Betreuung noch Unterricht – da verwundert es nicht, wenn Jugendliche über die Stränge hauen.»

GESCHÄFTSFÜHRER

Editorial Wir Männer Bei Surprise sind die Frauen in der Mehrheit. Auch in der Redaktion des Strassenmagazins. Drei Frauen, zwei Männer. Das funktioniert meistens prima, kein Problem. Wir Männer fühlen uns wohl, wir werden als Minderheit von der Mehrheit akzeptiert, so wie wir sind. So dachten wir jedenfalls, bis die beiden Redaktorinnen Julia Konstantinidis und Mena Kost einen Beitrag für das Heft anmeldeten, der sich mit dem Thema «Mann» befassen sollte. Und zwar ganz grundsätzlich. «Mit den Männern von heutzutage ist nichts mehr los», lautete die Ausgangsthese der beiden Kolleginnen. Das war starker Tubak für mich und Kollege Reto Aschwanden, den zweiten einzigen Mann am Sitzungstisch. Erst später in der Diskussion bemerkten wir die Ironie, mit der sich die beiden Kolleginnen dem Thema annehmen wollten. Ein Gespräch mit dem Psychoanalytiker und Satiriker Peter Schneider wollten sie führen, mit einem Mann also über Männer reden. Peter Schneiders Versuch, unseren Redaktorinnen das unbekannte Wesen Mann zu erklären, beginnt auf Seite 10. Es ist Herbst geworden, eine zwiespältige Jahreszeit. Zum einen macht sie die Vergänglichkeit von allem und jedem deutlich. Zum andern ist sie reich an Lebens- und Sinnesfreuden wie keine andere Saison. Zu den Wonneseiten gehört in der Schweiz die Tradition der Metzgete. Der Text ab Seite 16 ist eine Hommage an einen schönen Brauch. Mit dieser Ausgabe schliessen wir unsere Serie mit Kurzgeschichten ab. Die gemeinsame Aktion mit deutschen und österreichischen Strassenzeitungen wurde von Ihnen als Leserinnen und Leser sehr geschätzt, wie viele Zuschriften dokumentieren. Und sie hat auch nachhaltig gewirkt. Im Basler Gymnasium Leonhard beispielsweise hat eine ganze Schulklasse die Surprise-Serie zum Anlass genommen, sich vertieft mit der Kunst von Kurzgeschichten auseinanderzusetzen. Drei von Schülerinnen und Schülern verfasste Short-Stories finden Sie ab Seite 19. Ich wünsche Ihnen gute Lektüre. Herzlich,

Vielseitige Lektüre Ich habe heute eher zufällig Surprise im Bahnhof Zürich gekauft. Dies war ein guter Entscheid, war es doch für mich eine angenehme, aber vor allem eine interessante und vielseitige Reiselektüre. Gratuliere zu den interessanten Artikeln. Thomas Marfurt, St. Gallen Nr. 209: «Basteln für eine bessere Welt» Schief aber cool Ich kaufe ab und zu Surprise vor dem Coop Hirzbrunnen in Basel bei einem sehr sympathischen Verkäufer. Die Sambarassel-zum-selbermachen-Anleitung fand ich super, die hübsche Rassel steht jetzt bei mir im Regal (ist ein bisschen schief rausgekommen, aber trotzdem cool). Ich würde mich freuen, wenn öfters solche Bastelideen für alte Glühbirnen, aber auch für andere Dinge, in Surprise stehen würden. Anna Streckeisen, Basel Nr. 210: «Geflohen, geprüft, geduldet» Am falschen Ort gespart Anhand zweier Beispiele aus dem Kanton Zürich macht Surprise auf die schwierige Situation unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber (UMA) aufmerksam. Die Jugendlichen aus dem Bericht befinden sich in einer vergleichsweise «günstigen» Lage, sind sie doch in einem Jugendzentrum untergebracht. In vielen anderen Kantonen leben etliche UMA in Erwachsenenzentren, wo Betreuung fehlt, kein Unterricht besucht werden kann und sie sich selber überlassen sind. Da braucht es nicht zu wundern, wenn sie – wie andere sich selber überlassene Jugendliche – über die Stränge hauen und gelegentlich mit dem Gesetz in Konflikt

geraten. Die Schweiz hat die Kinderrechtskonvention vor zwölf Jahren ratifiziert. Sie gilt auch für UMA und fordert deren «Unterbringung in einer geeigneten Kinderbetreuungseinrichtung». In der Schweiz wird die Betreuung den Kantonen überlassen, die ihrer Aufgabe vielfach nicht nachkommen. Dies ist sparen am falschen Ort. Es liegt an den Politikern und an den Medien, Druck aufzusetzen, damit geeignete Betreuungsmöglichkeiten entstehen. Einfacher ist es, über «kriminelle ausländische Jugendliche» zu schimpfen … Edith Thüring, Basel Recht auf Perspektive Mit grossem Interesse habe ich den Artikel über unbegleitete minderjährige Asylbewerber (UMA) gelesen und möchte für die Qualität Ihrer Zeitung herzlich danken. Beim Internationalen Sozialdienst in Genf haben wir seit mehreren Jahren einen Fonds aufgebaut, wo wir UMA in der Schweiz, aber auch bei ihrer Rückkehr unterstützen können. Der Fonds wird von vielen Kantonen rege benützt. Ich finde, dass alle diese jungen Menschen das Recht auf Perspektiven haben und sich die Menschen, welche in diesem Gebiet arbeiten, dafür einsetzen sollten. Rolf Widmer, Direktor Schweizerische Stiftung Internationaler Sozialdienst, Genève

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.

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ILLUSTRATION: WOMM

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2 Material: Plastiktüte oder Abfallsack, Drachenschnur, Schere, Klebstreifen, Trinkhalme (Röhrli), Transparentpapier

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Schneiden Sie eine beliebig große Plastiktüte oder einen Abfallsack so zu, wie es die Grafik zeigt. Kleben Sie dort, wo die roten Balken sind, je ein Röhrli für mehr Stabilität mit Klebstreifen auf. Die Röhrli können verlängert werden, indem sie zusammensteckt und mit Leim fixiert werden. Bekleben und schmücken Sie den Drachen mit Transparentpapierstreifen oder bunten Punkten. Sie können ihn auch mit Filzstift bemalen. Kleben Sie den Schwanz aus Transparentpapier an den Drachen. Befestigen Sie an den beiden Seitenlappen der Tüte je eine Schnur (dort, wo in der Grafik die kleinen Kreise sind). Verknoten Sie die Schnüre in der Mitte. Befestigen Sie am Mittelknoten die lange Drachenschnur.

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Basteln für eine bessere Welt Die Schweiz hat nicht genug Geld, um sich neue Düsenjäger zu kaufen. Surprise kümmert das wenig, denn wir haben unsere eigene Himmelsflotte. Die Plastiktüten-Drachen machen jedem grauen Novembertag den Garaus. SURPRISE 212/09

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

«Arbeitslosenmafia» Salzburg. Arbeitslosen wird oft mit Ablehnung begegnet. Sogar in Zeiten von Wirtschaftskrise und Massenentlassungen hält sich hartnäckig das Vorurteil, Arbeitslose seien faul. Um das Image von Stellensuchenden zu verbessern, sucht die Initiative «Arbeitslosenmafia» nun in verschiedenen Städten Österreichs den Kontakt zur werktätigen Bevölkerung: Bei Strassenaktionen sprechen die Mafiosi Passanten an und erzählen Interessierten, wie sie ihre Stelle verloren haben und was sie tun, um eine neue zu finden.

Rechte für Prostituierte Graz. Da Prostitution in Österreich als sittenwidrig gilt, stellt sie keine anerkannte Tätigkeit dar. So dürfen Sexarbeiterinnen mit den Bordellen, in denen sie arbeiten, keinen Arbeitsvertrag abschliessen – andernfalls würden sich die Betreiber strafbar machen. Das hat fatale Folgen für die rund 300 aktiven Grazer Prostituierten: Versucht ein Freier, sie um den Lohn zu prellen, haben die Frauen keine Möglichkeit, ihn einzuklagen. Sexarbeiterin Frau O.: «Prostitution ist für mich besser, als arbeitslos zu sein. Es ist eine Arbeit wie jede andere.»

Gebor(g)en in der Fremde Wien. Wer sich entschliesst, sein Kind in einem Krankenhaus auf die Welt zu bringen, sieht sich mit einer Vielzahl medizinischer Interventionen konfrontiert. Besonders häufig davon betroffen sind Frauen in prekären Lebenslagen und Migrantinnen. Die Mitglieder des Wiener Vereins Maia begleiten deshalb ehrenamtlich schwangere Frauen: Vor der Geburt finden mindestens zwei Hausbesuche statt, während der Geburt ist jemand vom Maia-Team dabei, und es werden Wochenbettbesuche abgestattet.

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Zugerichtet Das Ende einer Liebe Zeitweise haben sie bestimmt geglaubt, sie könnten dieses Hin und Her bis in alle Ewigkeit fortsetzen. Sie hätten wie Elizabeth Taylor und Richard Burton sein können: Ich liebe dich – Ich hasse dich – Hau ab! – Nein, bitte bleib. Ich kann nicht leben ohne dich. Vielleicht hält die übrige Welt solche Paare für verrückt, doch wer sind diese Leute, die über sie urteilen? Es sind Leute, die an ihrer Beziehung arbeiten, die immer im Tageslicht leben, bei denen immer alles klar ist. «Aber unsere Harmonievorstellungen lassen sich nicht auf Christian* und Deyse* übertragen», erklärt der Verteidiger dem Richterkollegium: «Es war eine abgöttische Liebe zwischen zwei gescheiterten Existenzen.» Welchen Grund Christian zu haben glaubte, Deyse gegen die Wand zu knallen und ihr beide Fäuste ins Gesicht zu rammen, bleibt das Geheimnis jener Nacht im November 2007. Vor dem Bezirksgericht bestreitet Christian die ihm zur Last gelegten Taten. Haschisch und Psychopharmaka hätten Deyses Gedächtnis getrübt. «Sie steigert sich in Dinge hinein, die sie dann für die Wahrheit hält.» Der Psychiater könne besser Auskunft geben, was in einer Frau vorgehe, die an Schizophrenie leide, ein Borderline-Syndrom habe und Drogen nehme. «Wenn sie ihre Medikamente nicht genommen hat, ist sie so bösartig geworden, dass ich selber schauen musste, keins auf die Schnurre zu bekommen.» Vor sechs Jahren haben sich die Drogenprostituierte und der arbeitslose Verkäufer beim Kokain-Rauchen in der Wohnung eines gemeinsamen Kollegen kennen gelernt und seither reiten sie sich gegenseitig und zusam-

men ins Elend. Woher denn ihre Kopfverletzungen herrühren, fragt der Richter. Wie kommt das Blut an die Wände, das der Polizeiphotograf auf Bildern festgehalten hat? Warum waren die Gefässnervenbündel an ihrer Hand durchtrennt? «Die Verletzungen hat sie sich selbst beigefügt», antwortet der 55-Jährige. Dem Staatsanwalt gefällt das nicht. «Herr Christian konnte nicht ertragen, dass Frau Deyse per SMS die Verlobung auflöste und suchte Streit mit ihr», erklärt er das Motiv. Zudem habe er Frau Deyse mehrfach genötigt, sexuelle Handlungen zu dulden. Der Vorwurf der sexuellen Nötigung ist zu massiv, als dass das Gericht sich mit unklaren Beschreibungen zufrieden geben kann. Die Fakten, und seien sie noch so intim, müssen auf den Verhandlungstisch, sachlich brutal. «Als er sie umgestossen hatte und sie schräg auf dem Bett lag, steckte er gewaltsam zwei Finger in die Scheide der Geschädigten», formuliert die Anklage. Der Verteidiger stellt den Fall recht versöhnlich dar. Man habe sich «prima vista» ein falsches Bild gemacht aufgrund der Verletzungen und dem vielen Blut. «Die beiden sind keine zartbesaiteten Blumenkinder und sie hatten keinen Blümchensex», sagt der Anwalt ohne mit der Wimper zu zucken. Und plädiert auf einen Freispruch. «Keinen Zweifel» an der Aussage des Opfers hegt hingegen der Richter und verurteilt Christian wegen sexueller Nötigung und Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten. «Was Sie getan haben, hat mit Liebe nichts zu tun.» * persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 212/09


Plakatverbote Zensur gibt es nicht, aber sie hilft Zug verbietet Freidenkerplakate, Basel jene der Antiminarettkampagne. Zensur sei das nicht, behaupten die Zensoren. Aber was denn sonst? Und was ist daran schlecht? VON FRED LAUENER

Die Schweiz ist ein Plakatland. Der Outdoor-Plakatanteil beträgt über fünfzehn Prozent des Gesamtwerbevolumens. Die Konkurrenz an der Affichenfront ist gross. Wer auffallen will, muss sich etwas einfallen lassen. Ausserdem sind Plakataushänge sehr teuer und rechnen sich oft kaum. Es sei denn, das Plakat erzielt nicht nur unmittelbare Wirkung beim Betrachter, sondern sorgt für Diskussionsstoff. Das vieldiskutierte Antiminarettplakat, jenes der Freidenker-Vereinigung (siehe Beitrag auf Seite 14 dieser Ausgabe) und auch das Plakat mit Doris Leuthard, mit dem die JUSO die Waffenausfuhr-Vorlage bewirbt, sind solche Beispiele. So unterschiedlich das Weltbild ist, das die Gruppierungen hinter den drei Plakaten repräsentieren, so einheitlich sind ihre Absichten: Maximales Publikum, Erfolg um jeden (moralischen) Preis. Zu Kampagnengewinnern sind die Plakate geworden, weil sie nicht primär für den traditionellen Aushang konzipiert wurden, sondern für die Multiplikation; für die Medien, die gesellschaftlichen Lobbys und nicht zuletzt für das gegnerische Lager. Auf dass dieses sich dergestalt provozieren lässt, dass er gar nicht anders kann, als mit seiner Reaktion selbst das armseligste Plakat berühmt und dessen hässliche Botschaft salonfähig zu machen. Das gilt auch für jene Kantons- und Stadtregierungen, die in den letzten Wochen den Aushang der provokativen Plakate verboten haben. Zug (Freidenkerplakat) sowie Basel, Lausanne, Yverdon und Freiburg (Antiminarettplakat) haben mit ihrer Zensur zum Erfolg der ungeliebten Kampagnen beigetragen. Sie haben dafür gesorgt, dass die Empörung im Volk nicht (mehr) den hässlichen Kampagnen, sondern nun den Be-

ERWIN

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hörden selber galt. Denn Zensur gehört sich nicht in einer Demokratie. In der Schweiz ist das Zensurverbot sogar in der Verfassung festgeschrieben. Und darum bleibt den für die Plakatverbote verantwortlichen Stadt- und Kantonsregierungen gar nichts anderes übrig, als den Vorwurf der Zensur zu bestreiten. Was aber ist an den Plakatverboten denn so schlimm? Wie zeitgemäss ist der lapidare Satz «Zensur ist verboten» in Artikel 17/2 überhaupt noch? Müsste die verfassungsmässig gewährleistete Meinungsäusserungsfreiheit in der heutigen hochmedialisierten, deregulierten Welt nicht differenzierter betrachtet werden? Immer häufiger sind religiöse Minderheiten, Einwanderer, sozial Schwache, Behinderte und andere Gruppen diffamierenden Propagandaangriffen und xenophober Hetze ausgesetzt, gegen die sie sich alleine nicht wehren können. Sie sind angewiesen auf Schutz, auch jenen durch die Behörden. Das Verbot von feindseliger Propagada kann dabei – nach sorgfältiger Abwägung – ein notwendiges Mittel sein. Ein legitimes, auch wenn es vielleicht nicht immer ganz legal ist. Denn unter dem Strich bleibt Zensur halt Zensur. ■

konsumiert gegen die Krise

VON THEISS

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Porträt Beckett, Bukowski, Buser Da soll noch einmal jemand behaupten, die Jugend von heute tauge nichts. Laurin Buser aus Arlesheim BL ist erfolgreicher Slampoet, Schauspieler und Veranstalter – und das mit gerade mal 18 Jahren. VON ETRIT HASLER (TEXT) UND DOMINIK PLÜSS (BILD)

Dieser junge Mann ist für die Bühne geboren. Laurin Buser, gerade 18 geworden, zieht seit seinem ersten Auftritt auf Schweizer Poetry Slam-Bühnen vor zwei Jahren von Sieg zu Sieg. Zweimal hintereinander ist er Schweizer Meister der U20 Poetry Slam Liga geworden und inzwischen veranstaltet er selber jeden Monat in Basel Slam-Abende. Poetry Slams, für diejenigen, die das nicht kennen, sind Wettbewerbe zwischen Bühnendichtern, bei denen es am Ende um Ruhm, Ehre und meist um eine Flasche Whisky geht. Und genau dieser Siegpreis brachte schon manchen sonst bühnensicheren Moderator in eine arge Zwickmühle: Was macht man mit einem, der eine Flasche Whisky gewonnen hat, aber noch gar nicht alt genug ist, diese austrinken zu dürfen? «Ich bewahre die Flaschen alle zu Hause auf», schmunzelt Buser beim Gespräch in der Kleinbasler Parterre-Bar, «und so viele waren es auch wieder nicht. Vielleicht sechs oder sieben.» Getextet und auf Bühnen gestanden hat der Teenager aus Arlesheim BL von klein auf. Das liegt vielleicht auch an seiner Herkunft: Beide Eltern sind Schauspieler, Mutter Dalit Bloch arbeitet inzwischen mehr als Regisseurin und sein Vater Daniel Buser ist Teil der bekannten Basler Kabarett-Formation touche ma bouche. Unter vielem anderen. Mutter und Vater seien «Projektmenschen, wenn man das so sagen darf», so der Sprössling. Er selber schrieb als Elfjähriger seine ersten Raps und Geschichten. Sein erstes überliefertes Gedicht ist noch älter – er improvisierte es an seinem fünften Geburtstag, «die beste Ich-Erklärung, die ich je formuliert habe». Überliefert ist der Text, weil sein Vater bis heute alles, was der Sohnemann macht, auf Tonband aufnimmt. Zum Slam brachten ihn allerdings nicht die Eltern: Der Götti seiner Schwester hatte einen Poetry Slam gesehen und erzählte Laurin davon, meinte, «das sei etwas für mich». Also meldete er sich kurzerhand für die nächste Veranstaltung an, die er finden konnte, einen U20-Slam in Kreuzlingen. Und schied in der Vorrunde aus. «Immerhin wurde ich nicht Letzter», erinnert er sich. Danach folgte ein rasanter Aufstieg. Ein halbes Jahr nach dem Debüt trat er an der Schweizer Meisterschaft an – und gewann. Mit einem unter die Haut gehenden Text über Krieg und die Bilder vom Krieg («äs Bild vo där Not, äs Bild vom Tod»), performt in Schattierungen zwischen Flüstern und Schreien. «Danach ging alles huere schnell.» Als Meister reiste Buser mit der Schweizer Delegation nach Berlin an die deutschsprachigen Slammeisterschaften, ein mehrtägiges Festival mit mehreren Hundert Teilnehmern. Im ausverkauften Admiralspalast erreichte Buser vor knapp 5000

Zuschauern den sechsten Platz. Ein Jahr später wurde er bei der nächsten Austragung in Zürich gar Dritter. «Ich traf all die grossen Slammer, die ich bis dahin nur aus dem Netz kannte: Gabriel Vetter, Lars Ruppel, Sebastian 23. Und das war ganz normal, sich unter ihnen zu bewegen, einige kannten mich sogar von der Meisterschaft.» Mehr noch als die einzelnen Begegnungen begeisterte ihn das Festival als Erfahrung: «Wenn du das einmal erlebt hast, mit all diesen Leuten, die alle so individuell sind und trotzdem das gleiche Interesse am Wort haben, das ist unvergleichlich.» Das Interesse am Wort ist es auch, was ihn selber zum Schreiben treibt. Nach seinen literarischen Vorbildern gefragt, sagt er, das könne er nur für den Moment beantworten, nicht für die Ewigkeit, nennt dann aber bestimmt: Beckett, Bukowski, Stefan Zweig. Ein buntes Feld. Ähnlich bunt präsentiert sich das erste Solostück des jungen Slam Poeten, «Wunder. Welt. Wort.», welches im September in Basel Premiere feierte. Gemeinsam mit der Regisseurin Sandra Löwe, «ein grosser Wortmensch», hat er eine eineinhalbstündige Revue seines Schaffens zusammengestellt. Das fängt mit Slam/Rap-Texten an, streift über die Gedichte, die er als Kind geschrieben hat, und erreicht seinen Höhepunkt in einem 15-minütigen Powermonolog aus der Sicht eines betrunkenen Jugendlichen, der am Basler Bahnhof kollabiert. Da geht seine Intensität richtig unter die Haut, viel mehr noch als in den auf fünf Minuten begrenzten Slamperformances. Das Stück war ein Erfolg, die vier Aufführungen restlos ausverkauft; weitere Auftritte sind für nächstes Jahr geplant. Und in der Zwischenzeit veranstaltet er weiter den «Grenzgänger»-Poetry Slam im Kulturpavillon Basel und tourt mit dem Stück «Das Herz eines Boxers» von Lutz Hübner, ein Zweipersonenstück, das er mit dem 85-jährigen Hubert Kronlachner bestreitet. Über die Zukunft macht er sich nicht allzu viele

Ein halbes Jahr nach seinem Debüt als Slam Poet gewann Buser die Schweizer Meisterschaft.

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Gedanken. Erst will er nächsten Sommer die Steiner Schule abschliessen, danach sei eine Schauspielschule sicher eine Option, aber festlegen will er sich darauf nicht. Aber der Bühne werde er sicher erhalten bleiben, sei das Poetry Slam, sei das Theater. Das spreche dann wieder gegen die Schauspielschule, wo er «vier Jahre weg vom Fenster» wäre. Dann doch lieber «von Auftritt zu Auftritt durchhangeln» und sehen, wohin das führt: «Vielleicht bin ich eben doch auch ein Projektmensch. Wie meine Eltern.» ■

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Gesellschaft «Es geht auch ohne die Männer» Im Dilemma zwischen Arbeitstier und Hausmann sind die Männer in eine Identitätskrise gerutscht. Boomende Männermedien diktieren, wie das moderne Mannsbild auszusehen hat, und harte Fakten zeigen: Das starke Geschlecht gerät gegenüber den Frauen ins Hintertreffen. Surprise wollte wissen, wie es um die Männer steht und fragte bei Psychoanalytiker und Satiriker Peter Schneider nach. JULIA KONSTANTINIDIS UND MENA KOST (INTERVIEW) ESTHER MICHEL (FOTOS)

Herr Schneider, wann haben Sie zuletzt etwas richtig Männliches gemacht? Gerne würde ich sagen, ich hätte mich heute Morgen rasiert. Aber das klappt jetzt leider nicht. (Streicht sich über den Dreitagebart.) Und wenn Sie sich rasiert hätten – würde Sie das zum Mann machen? Es wäre immerhin eine typisch «männliche» Handlung. Allerdings merkt man an diesem banalen Beispiel, wie schwierig solche Zuordnungen sind. Nehmen wir den Uni-Sex-Trend hinsichtlich der Behaarung: Die Intimrasur hat sich bei Männern wie Frauen gleichermassen zu einer gängigen Praxis entwickelt. Frauen rasieren sich ebenso eifrig wie Männer – wenn auch nicht immer an den gleichen Körperstellen – und Männer werden so haarlos wie Frauen. Langer Rede kurzer Sinn: Jedem ist klar, dass männlich-weiblich ein fundamentaler Unterschied ist. Aber sobald man diesen inhaltlich füllen möchte, fallen einem lauter Gegenbeispiele ein.

vom Geschlechtsverkehr ohne Gummi aber Aids. Deshalb muss man all die falschen Auffassungen immer wieder reziklieren, um sie widerlegen zu können. Entbehren Männerkonzepte also jeglicher Realität? Sie sind mehr Propaganda und Gegenpropaganda als soziologische Analyse. Sie dienen vor allem dazu, zu benennen, wie die gesellschaftliche Wirklichkeit aussehen soll – etwa in diesem Stil: «Man glaubt leider immer noch, dass Männer so und so sein sollen, aber es wäre doch wünschenswert, wenn sie so und so wären.» Nicht alle Männer-Attribute sind Wunschdenken. Die Vormachtstellung des Mannes in der Gesellschaft war über Jahrhunderte

«Mit den Geschlechterklischees geht es uns wie mit dem Nikolaus.»

Trotzdem orientiert sich unsere Gesellschaft an Geschlechterstereotypen. Wie das Heimchen am Herd? Oder der Mann als starker Beschützer von Frau und Kind? Das bleiben Klischees. Sie sind das, was der Wiener Kulturwissenschaftler Robert Pfaller «Die Illusionen der anderen» nennt. Solche funktionieren nach dem Schema: «Ich weiss natürlich, dass es Blödsinn ist, aber die anderen glauben halt daran». Dadurch können Klischees gesellschaftlich überdauern, von denen zugleich jeder einzelne behaupten kann, dass er längst nicht mehr an sie glaubt. Dann wäre es doch ein Kinderspiel, mit dem Märchen vom starken Mann aufzuräumen. Eben nicht. Die Geschlechterklischees gleichen der Geschichte vom Weihnachtsmann. Dass man nicht mehr an ihn glaubt, kann ihm nichts anhaben, denn die Kinder – die andern – glauben ja noch an ihn. Und darum kann man sich von ihm nicht verabschieden. Das ist auch der Haken an all den gut gemeinten Aufklärungs- und Präventionskampagnen: Sie richten sich immer gegen die falschen Ansichten der «anderen». Diese wissen noch nicht, dass man vom Küssen keine Kinder kriegt,

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real. Wann begann die Machtposition des Mannes ins Wanken zu geraten? Wenn man der Analyse des inzwischen verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu folgt, ist die Herrschaft der Männer über die Frauen sogar die geradezu zeitlose Bedingung jeder Herrschaft überhaupt. Die Idee ist bestechend, letztlich aber etwas gar abstrakt. In jüngerer Vergangenheit hat sich die traditionelle Machtverteilung zwischen den Geschlechtern gewiss durch die beiden Weltkriege verändert. Während die Männer im Krieg waren, hielten die Frauen die Gesellschaft ökonomisch am Laufen. Der empirische Beweis war einmal mehr erbracht: Es geht auch ohne die Männer. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag das Männerbild in Scherben … … und musste wieder gekittet werden. Der 50er-Jahre-Patriarch war ein Mannsbild mit Sprüngen. Eine Figur, die in den 70er-Jahren von der Frauenbewegung zerdeppert wurde. Jedenfalls was die Ideologie des männlichen Machtanspruchs anging. Wie reagierten die Männer auf diesen Machtverlust? Irritiert, aber auch erleichtert. Denn – etwas versimpelt zusammengefasst – die Männer der 68er-Generation hatten ja dasselbe Problem mit den Vätern wie die Frauen mit den Männern. Allzuviel an deren Machtanmassung war hohl geworden. Der Patriarch passt nicht in eine moSURPRISE 212/09


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derne Industriegesellschaft – weder an dessen Spitze noch in den unteren Klassen. Wer beispielsweise am Fliessband steht und den Vorarbeiter um eine Pinkelpause bitten muss, kann schlecht auf Dauer den grossen Macker markieren.

schauen, dass man sich nicht allzu fixe inhaltliche Vorstellungen davon macht, wie eine Befreiung für die Befreiten auszusehen hat. Befreiung bedeutet nämlich vor allem Wahlfreiheit für möglichst viele Menschen und nicht das Einfügen in neue Rollen-Korsetts.

Die heutige Zeit verlangt nach neuen Lebenskonzepten: Immer Die Zerdepperung des Männerbilds in den 70ern geschah im mehr Frauen arbeiten trotz Kindern. Männer sollen bei der ErzieZuge der Debatte um die Rolle der Frau. Aus dieser Diskussion hat sich mit den Jahren eine Genderdebatte entwickelt; heute werden Geschlechterfra«Der 50er-Jahre-Patriarch war ein Mannsbild mit Sprüngen, gen verhandelt. Trotzdem tun viele Männer das in den 70ern dann zerdeppert wurde.» so, als ob sie das nichts anginge. Wieso? Vielleicht weil sie keine Anbiederer sein wolhung und im Haushalt mitmachen – und Geld verdienen, am belen? Der andere Grund könnte sein, dass man von niemandem verlansten alles fifty-fifty. Allerdings gibt es kaum Teilzeitstellen für gen kann, an seiner eigenen Demontage mitzuwirken. Männer. Wo ist die Männerbewegung, die sich mit vereinten Kräften für ihre Rechte punkto Kindererziehung einsetzt? Hätten sich die Männer von Anfang an an dieser Rollendebatte beDie Frage ist, ob «die Männer» tatsächlich so starke gemeinsame Beteiligt, wäre das Ausmass Ihrer Demontage wohl geringer. dürfnisse haben. Die einen möchten weniger arbeiten und dafür mehr Ob ein Mitdiskutieren der Männer wünschenswert gewesen wäre? Der Zeit mit den Kindern verbringen. Die anderen sind zufrieden, wenn am Zeitgeist in den Siebzigerjahren war ja auch für die Männer nicht geraZürcher Paradeplatz eine Kinderkrippe für Banker aufmacht, in der die de darauf gerichtet, möglichst viel vom Alten zu bewahren. Kinder nicht schon um fünf Uhr abgeholt werden müssen. So können sich diese Männer weiterhin auch nach 18 Uhr wichtig fühlen. Die Frauenbewegung räumte mit vielen antiquierten Rollenbildern auf, neue Lebensentwürfe wurden möglich. Würde eine von MänIn letzter Zeit hört man allerdings vermehrt von organisierten nern geführte Auseinandersetzung darüber, was es bedeutet, als Männergruppen, in denen Rollen, Aufgaben und das SelbstverMann in dieser Gesellschaft zu leben, nicht ebenfalls eine Befreiständnis des Mannes diskutiert werden. Der Anfang einer grösseung bedeuten? ren Entwicklung? Das ist zu hoffen. Denn wie kommt man dazu, einen Mann als Softie zu Wer sich mit diesen Fragen beschäftigt, setzt sich wohl auch professioverschreien, der sagt, er würde gerne mehr Zeit mit seinen Kindern vernell mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander. Mit anderen bringen? Wie kann dieser Wunsch als «weiblich» gewertet werden, Worten: Sie finden in solchen Männergruppen wahrscheinlich überprowenn er doch aus dem Mund eines Mannes kommt? Aber man muss Anzeige:

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portional viele Männer aus sozialen Berufen. Und dann muss man auch sehen, dass es sehr enge ökonomische Grenzen für eine persönliche Umgestaltung des Lebens gibt. Es ist toll, sich zu sagen, ich möchte Vaterschaftsurlaub nehmen, weniger arbeiten und mehr mit meinen Kindern zusammen sein. Aber möchten meine Kinder und meine Frau auch mehr mit mir sein, finden sie Waldspaziergänge und selbstgebasteltes Holzspielzeug wirklich toller als den Städtetrip nach New York und teure Playmobil-Burgen? Man gerät leicht in eine seltsam nostalgische Schwärmerei von doch eher vormodernen Familienidyllen. Einige Fakten jenseits von Glaubensfragen scheinen jedoch bedenklich: Schon in Kindergarten und Primarschule sind Buben verhaltensauffälliger als Mädchen. Männer begehen häufiger Selbstmord, sind öfter krank und sterben früher. Ist es Zeit für explizite Männerförderung? Ich finde es sinnvoller, allen Menschen möglichst oft und so lange wie möglich freie Wahl zu lassen – frei von irgendeiner Ideologie. Denn angebliche Rollenbilder bringt man am besten dadurch ins Wanken, indem reale Wahlmöglichkeiten geschaffen werden. Was muss getan werden? Zum Beispiel sollte die Krippen-Diskussion entideologisiert werden. Die berühmte Vereinbarkeit von Arbeit und Kindern fördert man nicht, indem man die damit verbundenen Probleme radikal privatisiert. Und man müsste von der Vorstellung Abschied nehmen, dass Aufklärung und Fortschritt die Effekte einer gut gemeinten Gehirnwäsche sein können, bei der man den Buben schon im Kindergarten in einer eigens geschaffenen Unterrichtseinheit beibringt, dass auch sie weinen dürfen. Ausserdem könnte man sich endlich damit abfinden, dass sich Männer und Frauen einfach unterschiedlich verhalten. Dass man sich diesbezüglich immer zu entscheiden hat, ob diese Unterschiede biologisch begründet sind oder ob es «die» Gesellschaft ist, trägt der Wandelbarkeit und der Vielfalt des Verhaltens übrigens nur schlecht Rechnung.

Männer? Da gerät auch Peter Schneider ins Grübeln.

Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es in 50 Jahren um die Männer steht? Meine Wunschvorstellung von der Gesellschaft ist, dass sie experimentell sein soll. Deshalb kann ich mir nicht nur kein Bild davon machen, sondern mag es auch gar nicht tun. Ich glaube auch nicht an die Horrorszenarien vom schon im Kindesalter verhaltensgestörten «Risikopatienten Mann», der aufgrund seiner krankhaften Entwicklung irgendwann ausstirbt. Wenn jemand verhaltensgestört war, dann die Jungmänner, die 1914 begeistert in den Ersten Weltkrieg zogen. Dagegen empfinde ich die heutigen Computerkrieg spielenden Buben als erfrischend normal. ■

Zur Person Peter Schneider, geboren 1957, ist Psychoanalytiker mit Lehraufträgen an verschiedenen Universitäten und eigener Praxis in Zürich. Als Satiriker und Kolumnist kommentiert er regelmässig in Printmedien und im Radio das tägliche Leben von Herr und Frau Schweizer. Peter Schneider ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn.

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BILD: KEYSTONE

Die Freidenker-Kampagne: Was in Schweizer Städten verboten ist, war Anfang Jahr auf 800 britischen Bussen zu sehen.

Kirche und Staat Die Gottlosen Gott ist ihnen egal, nicht aber Bibelsprüche auf Werbeplakaten. Woran glauben die Freidenker und was haben sie gegen Religionen? VON STEFAN MICHEL

Dagegen war die Sommer-Kampagne mit Ali dem Kebab-Verkäufer ein Rohrkrepierer: Bevor ein einziges Plakat der Freidenker-Vereinigung aufgehängt werden konnte, kannte die ganze Schweiz den Spruch: «Da ist wahrscheinlich kein Gott/Also sorg dich nicht/Geniess das Leben.» Das Gesicht des Vereins, Reta Caspar, freut sich schelmisch: «Eine solche Präsenz hätten wir uns nie leisten können.» Bedanken kann sie sich bei den Stadtregierungen, die den Slogan als anstössig und ihrer Bevölkerung nicht zumutbar klassierten. Heute kommt offener Widerstand der Freidenker-Vereinigung der Schweiz (FVS) zugute und findet vornehmlich in den Medien und auf

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dem Korrespondenzweg statt. Im Jahr ihrer Gründung, 1908, war das noch anders. Als Ernst August Richter, Präsident des Deutschschweizer Freidenkerbundes, zur Konstituierung der Luzerner Sektion in die katholische Stadt reiste, wurde er verhaftet und wegen Gotteslästerung zu zwei Jahren Gefängnis und acht Jahren Kantonsverweis verurteilt. Erst das Bundesgericht hob das Urteil auf, das die Verfassungsrechte der Religions- und der Meinungsäusserungsfreiheit verletzte. Das Freidenkertum ist ein Kind der Aufklärung. Sie bündelte die Interessen von Rationalisten, Atheisten und Gegnern der herrschenden Kirchen. Einigen ging es lediglich darum, die Wissenschaft von religiösen Denkverboten zu befreien, andere setzten sich für die Trennung von Staat und Kirche ein. Und wieder andere propagierten ganz offen, dass SURPRISE 212/09


sich Menschen begegnen.» Protestant Weber bringt es auf eine einfache es Gott nicht gebe. Die säkulare Bundesverfassung von 1848 sowie deFormel: «Die christlich-jüdische Tradition liefert die Werte, die der Staat ren erste Revision 1874 – welche beispielsweise Konfessionslosen das nicht erfinden kann. Seine Aufgabe ist die Organisation der GesellRecht auf ein anständiges Begräbnis zugestand – sind auch Resultate schaft.» Ein stichhaltiges Argument, denn nicht umsonst lauten die des Kampfs zwischen religiös und weltlich ausgerichteten Kräften. ersten Worte der Bundesverfassung auch nach der Revision vor zehn Später hatten die faschistischen Strömungen auch Auswirkungen auf Jahren: «Im Namen Gottes des Allmächtigen!» die Freidenker: 1933 waren sie in allen europäischen Ländern ausser der Geht es nach den Freidenkern, zieht sich der Staat völlig aus der Schweiz verboten. Gleiches wollte Nationalrat Hans Müller (BGB, die Finanzierung der Kirchen zurück und lässt diese ihre Abgaben selber Vorläuferpartei der SVP) erreichen – ohne Erfolg. Hintergrund war, dass einziehen. «Dann würden sie auf die Grösse schrumpfen, die ihren Mitdie «Internationalen proletarischen Freidenker» ihren Sitz von Berlin gliedern entspricht», glaubt Caspar. «So wird die in der Bundesverfasnach Basel verlegt hatten. Gläubige reagierten darauf mit monatlichen sung vorgeschriebene Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften «Gebetskreuzzügen» ins Solothurner Kloster Mariastein, um die «Gotterreicht, die mit der Privilegierung der christlichen Kirchen verletzt losen» zu vertreiben. wird.» Gar nichts wissen will sie vom gegenläufigen Vorhaben gewisser Aus der Kirche auszutreten, ist heute kein Skandal mehr. HundertKreise, auch eine muslimische Landeskirche zu schaffen. «Wir wollen tausende taten das in den letzten Jahrzehnten. Die völlige Trennung von das System der Landeskirchen abschaffen», sagt sie und freut sich über Kirche und Staat freilich war in der gleichen Zeit bei Weitem nicht mehrdie Initiative der Jungsozialisten, welche die völlige Trennung von Kirheitsfähig. Entsprechende Initiativen scheiterten auf Bundesebene (1980) und im Kanton Zürich (1994). Nur ein Bruchteil der Kirchenaussteiger tritt der FVS «Als Konfessionsfreie stört es mich, dass mir die Religiösen bei. «Bis vor Kurzem waren unsere Neumitdauernd ihre Glaubenssätze an den Kopf werfen.» glieder durchschnittlich Mitte 50. Viele standen vor der Frage, wie sie ihre Eltern beerdigen che und Staat erneut vors Volk bringen wollen. «In der SP werden sie sollen.» Reta Caspar selber amtet regelmässig als Trauerrednerin. Die aber auf einigen Widerstand treffen», prophezeit Caspar. Abdankungsfeiern finden in Andachtsräumen auf Friedhöfen oder nur am Grab statt. Vor Kurzem konnte sie eine Trauerveranstaltung in einer Wenn Gott egal ist Kirche organisieren. Die Verstorbene war Freidenkerin, ohne aus der Die zweite Front im Kampf der Freidenker sind die Plakate der AgenKirche ausgetreten zu sein und hatte deshalb Anrecht auf eine Feier im tur C, welche schweizweit Bibelsprüche anschlagen lässt. «Als KonfesGotteshaus. «Die Kirchenverantwortlichen waren positiv überrascht, sionsfreie stört es mich, dass mir die Religiösen ihre Glaubenssätze wie wir das machten», erzählt sie und fügt an, «wir erfinden das Rad dauernd an den Kopf werfen.» Der Gipfel der Geschmacklosigkeit war nicht neu, genauso wenig wie die Kirchen das Begräbnisritual erfunden für Caspar erreicht, als 2006 an der Einfahrt zum Berner Inselspital ein haben.» Äusserlich unterscheide sich eine nichtreligiöse Abdankung Plakat verkündete: «Der Gottlose hat viele Plagen; wer dem Herrn vernicht wesentlich von einer kirchlichen. «Inhaltlich aber sehr, denn ich traut, wird seine Güte erfahren.» Man könnte über die Bibelsprüche spreche nicht im Namen einer höheren Macht. Im Mittelpunkt steht das hinwegsehen wie über die omnipräsenten Werbebotschaften. Für die Leben der verstorbenen Person und nicht das Versprechen einer FortFreidenker geht es aber um mehr: «Seit 9/11 rüsten die Kirchen auf. Sie setzung im Jenseits.» wollen mehr Einfluss in der Politik. Letztlich streben sie einen Verfassungsartikel an, in dem sich der Bund zu den Kirchen bekennt. Aber Ein frommer Wunsch: Trennung von Kirche und Staat auch die Politik überlässt bei ethischen Fragen und in Krisen den KirWährend der aktuellen Debatte um die Gott in Frage stellenden Plachen gerne das Feld.» Das ist für die Repräsentantin der Konfessionslokate sank das durchschnittliche Beitrittsalter schnell auf unter 40 Jahre sen ein Affront. «Da schwingt die Ansicht mit, Menschen, die keiner und das Kernanliegen der FVS rückte in den Mittelpunkt: die EntflechKonfession angehören, hätten keine Ethik und keinen Trost». tung von Kirche und Staat. Laut Verfassung regeln die Kantone ihre BeWoran glauben denn die Menschen, die nicht glauben? Humanismus ziehungen zu den Religionsgemeinschaften. Sie ziehen für die Landesund Menschenrechte sind zwei Wertegebäude, zu denen sich Freidenkirchen die Steuern ein (mit Ausnahme von Genf und Neuenburg), eiker weltweit bekennen. Was die Philosophie seit 200 Jahren als «goldenige bezahlen Pfarrer und Rabbiner direkt aus der Staatskasse. Sie fine Regel» bezeichnet, ist die Handlungsanweisung schlechthin der nanzieren die Ausbildung von Priestern mit und geben den Kirchen mit Freidenker. In ihrer populären Abwandlung kennen sie manche aus dem dem Religionsunterricht direkten Zugang zu den Schulen. In einigen Poesiealbum: «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem Kantonen müssen Firmen und Organisationen Kirchensteuern bezahandern zu!» Passend zum rationalen Weltbild der Freidenker heisst es len – ohne austreten zu können. Für Reta Caspar lauter alte Zöpfe, die dazu, die Nützlichkeit dieser Regel werde inzwischen durch die Evoluabgeschnitten gehören: «Der Staat soll Religiosität nicht fördern.» Das tionsbiologie untermauert. Was nicht wissenschaftlich bewiesen wertue er auch nicht, findet Simon Weber, Kommunikationsleiter der evanden kann, ist Privatsache und soll in der öffentlichen Meinungsbildung gelischen Landeskirchen: «Die Bundesverfassung schützt lediglich das keine Rolle spielen. Reta Caspar bezeichnet sich als apathische AgnostiRecht, religiöse Auffassungen öffentlich zu äussern und zu verbreiten.» kerin, was so viel bedeutet wie: «Ich weiss nicht, ob Gott existiert, und Warum stört das die Freidenker? «Religionen schaffen mehr Problees ist mir egal.» me, als sie lösen. Sie vereinen Gruppen und grenzen sich gegeneinan■ der ab. Sie betonen Unterschiede statt Gemeinsamkeiten. Dies den Kindern in der Schule beizubringen, indem man ihnen eine möglichst ausgewogene Auswahl an Religionen vorlegt, finden wir Freidenker völlig falsch.» Reta Caspar, deren zwei Söhne sich konfirmieren liessen, betont aber auch: «Ich will niemanden davon abbringen, an Gott zu glauben. Aber im öffentlichen Leben dürfen Religionen und die Kirchen keine Rolle spielen.» Für Walter Müller, Sprecher der Schweizerischen Bischofskonferenz, ist die Kirche viel zu bedeutend, um aus der Öffentlichkeit verbannt zu werden: «Die Religion beantwortet die grundsätzlichen Fragen des Lebens und ist entscheidend für den Respekt, mit dem SURPRISE 212/09

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Volksbrauch Metzgete Dem Schwein zur Ehre 16

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Es wird wieder geschlachtet. Landauf, landab locken in diesen Wochen die Gasthäuser mit Schlachtplatten, Sauerkraut, Blut- und Leberwürsten. Einst ein Akt bäuerlicher Vernunft, ist die herbstliche Metzgete heute ein Volksbrauch mit mehr als nur kulinarischem Wert. VON FRED LAUENER

Es ist Herbst, ungefähr 1929. Wieder ist ein schöner Sommer zu Ende gegangen. Die Tage werden kürzer und kälter. In der Höhe liegt schon Schnee. In den Städten rauchen die Kamine, es riecht nach Holz und Kohle. Auf dem Land ist die Ernte eingebracht. Die Landwirte rüsten sich für den Winter. Die Bäuerin sitzt am Küchentisch und untersucht die Wintersachen, die sie heute vom Dachboden geholt hat. Hier und da näht sie einen neuen Knopf an eine Jacke, stopft eine Socke oder flickt ein Loch in einer wollenen Hose. Was gar nicht mehr getragen werden kann, schneidet sie in Stücke, die dann zu Taschen und Kissen verarbeitet werden oder als Putzlappen Verwendung finden. Weggeworfen wird nichts. Von draussen dringen Hundegebell und Stimmen in die Küche. Die Kinder sind von der Schule zurück. Jetzt werden sie sich umziehen und dem Bauern im Schopf zur Hand gehen. Heute ist ein besonderer Tag. Heute wird geschlachtet. Sauen und Rinder müssen dran glauben. Es sind zu viele Esser auf dem Hof, um einen harten Winter überstehen zu können. Die Tiere hatten ein gutes Leben. Jetzt bringen sie gutes Geld. In der Stadt zahlen sie anständige Preise für zartes Fleisch. Ein junger Eber ist unverkäuflich. Sein Fleisch bleibt auf dem Hof, so ist es Brauch. Der Bauer wird sich später um ihn kümmern. Einige Teile werden im Salz konserviert. Andere Stücke im Kamin geräuchert. Die Bäuerin sinniert über ihr Glück und dankt dem Herrgott, dass er es so gut mit ihnen gemeint hat. Die meisten Bauern in der Umgebung haben keinen Rauchfang, in dem sich die Schinken räuchern liessen. Von der Methode, Fleisch einzufrieren, um es haltbar zu machen, haben sie noch nicht gehört. Wie denn auch? Der Tiefkühler wird erst 1939 erfunden werden. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die erste Melkmaschine schon 1860 an die geplagten Euter einer armen Kuh gehängt wurde. Die verderblichen Teile des geschlachteten Ebers, Hautlappen, die Innereien, das Blut, verarbeitet der Bauer mit Milch, Gewürzen und Kräutern zu Wurst, die sofort auf den Tisch kommt. Blutwurst, Leberwurst, Bratwurst. Dazu gibt es saures Kraut, geröstete Kartoffeln und süsse Apfelstückli; das wird eine schöne Metzgete.

immerhin kann die Familie davon leben. Rolf Vögele ist Wirt und gelernter Metzger. Jetzt steht er in einem hell gekachelten Raum hinter der Küche und macht Bratwürste. Dazu drückt er mit Hilfe einer Portioniermaschine Brät in einen langen weissen Darm. Dünndarm vom Schwein, aus China. Für Blutwürste nimmt man den anderen, den Dickdarm. Für die Leberwurst wird wiederum Dünndarm verwendet, diesmal aber vom Rind. Wursten ist eine saubere Sache. Die hauseigene Metzg im Waldheim ist so blitzblank wie das Badezimmer in einem Sternehotel. Dass hier vor wenigen Stunden eine Sau geschlachtet wurde, käme keinem in den Sinn. Ist auch nicht passiert, sagt Rolf Vögele, geschlachtet wird im Schlachthaus, einem separaten Raum nebenan. Schlachthaus und Verarbeitungsraum müssen getrennt sein, wegen der Hygiene, das ist gesetzliche Vorschrift. Eine von vielen. Das Waldheim ist berühmt für seine Blut- und Leberwurst und die schöne Schlachtplatte. Es heisst, bei Vögeles gäbe es die knusprigste Rösti im ganzen Schweizer Flachland. Die Vögeles machen auch als Arbeitgeber einen anständigen Eindruck. Sie bilden Lehrlinge aus. Die aufmerksame, wieselige Kellnerin, die für unseren Tisch zuständig ist, steht im zweiten Lehrjahr. Das steht auf dem Schildchen an ihrer Bluse. Zur Schlachtplatte empfiehlt sie einen jungen Roten aus der Region. Wir haben Vertrauen und werden nicht enttäuscht. Der schöne runde Tegerfelder passt prima. Ein Bett aus Sauerkraut Das Schlachten der Tiere im Herbst und vielerorts den ganzen Winter hindurch, gehört zur Viehwirtschaft, seit es sie gibt. Damals, als die Bauern mit Müh und Not die eigene Familie durchbringen konnten, war die Dezimierung des Tierbestandes vor dem Winter überlebenswichtig.

Drei bis vier Liter Blut fliessen durch ein Hausschwein. Das reicht für 70 Blutwürste.

Blitzblank wie im Badezimmer Es ist Herbst 2009. Das Jahr befindet sich in seiner lukullischen Blüte. Verführerisch locken die schönsten Früchte landwirtschaftlicher Schwerarbeit in den Auslagen der Geschäfte und auf den Speisezetteln der Gasthäuser. Neuer Wein, junger Alpkäse, Kürbis und Kastanien, Wild, Blut- und Leberwurst mit Sauerkraut. Es ist bald Mittag. In der Gaststube des Restaurants Waldheim in Hettenschwil legt die Wirtin persönlich Hand an die letzten Vorbereitungen für den Mittagsservice. Gewerbler und Handwerker kehren hier gerne ein. Man isst gut und währschaft. Hin und wieder verirrt sich auch ein Durchreisender auf dem Weg von Koblenz nach Brugg ins Waldheim. Hettenschwil ist ein Weiler bei Leuggern, einem friedlichen Aargauer Dorf inmitten einer beschaulichen Hügellandschaft, nicht weit vom Kühlturm des AKW Leibstadt. Die Wirtsleute Brigitte und Rolf Vögele führen das Waldheim in der sechsten Generation. Fünf Generationen lang betrieb die Familie Vögele neben dem Gasthaus auch eine veritable Landwirtschaft. «Die bringt heute nichts mehr aufs Brot», sagt Rolf Vögele, und am Schluss hätten sie mit dem Hof nur noch draufgelegt. Nein, nein, das Restaurant gebe genügend Arbeit, viel Arbeit, aber SURPRISE 212/09

In der arbeitsteiligen Gesellschaft von heute versorgen immer weniger Bauern immer mehr Menschen in den Städten und Dörfern mit hochwertigen Lebensmitteln. Die Welt ist nicht mehr dieselbe wie einst, und die Metzgete auch nicht. Heute ist sie ein volkstümlicher Brauch, der zunehmend auch die städtischen Agglomerationen erobert. Die urbanisierten Varianten der Metzgete geraten aber leider oft zum ebenso überdrehten wie faden Lifestyleevent und haben mit einer echten Metzgete so viel zu tun, wie die Bratwurst vom Waldheim mit einem Hotdog von Ikea. Zu einer anständigen Metzgete gehören auch heutzutage Äpfel, keine Mangos; Wädli und Schnörrli, aber nicht das Filet. Eine richtige Metzgete ehrt das Tier, das dem Menschen die Nahrung gibt. Designervarianten geben es der Lächerlichkeit preis. Die Lehrtochter hat aufgetragen und vom Tegerfelder nachgeschenkt. Rippli, Bratwurst, Leberwurst, Blutwurst. Dazu Sauerkraut, Rösti und süsse Apfelstückli. Die Blutwurst ist ein Traum, fest im Schnitt, zart und geschmeidig auf der Zunge, rassig am Gaumen. Drei bis vier Liter Blut fliessen durch die Adern eines Hausschweins. Das reicht für etwa 70 bis 80 Blutwürste, je nach Wurstgewicht. Das frische Blut wird mit der gleichen Menge frischer Milch und einer Würzmischung vermengt, deren Geheimnis vom Metzger wahrscheinlich besser gehütet wird als manche Beichte in der Kirche. Die Blutwurst ist nur selten alleine anzutreffen. Ihre beste Freundin ist die Leberwurst, die eine tut kaum etwas ohne die andere. Beide sind, wenn auch von unterschiedlichem Temperament, gleichermassen deliziös, und am besten schmecken sie zu zweit. Wie bei der Blutwurst ist

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Früher wurde die Leberwurst aufs Sauerkraut gebettet. Heute schmeckt sie auch so.

auch die Beschaffenheit der Leberwurst ein heiliges Geheimnis. Sicher ist nur, dass in den Rinderdünndarm, der sie zusammenhält, alles rein darf, was schon im Schwein drin war. Nebst der Leber also auch die Nieren, Herz, Milz, Hirn, Schwarte und so weiter. Damit erweist die Leberwurst der geopferten Kreatur die eigentliche Referenz. Ihr gebührt der schönste Platz in der Mitte der Schlachtplatte, auf einem weichen, gewärmten Bett aus Sauerkraut. Unsere Vorfahren wussten dies und handelten danach.

hergab. Die Schwarte, das Fleisch, die Eingeweide, die Borsten und sogar die Klauen. Das mit einem Haken vom Schweinsfuss abgezogene

Der Leberwurst gebührt der schönste Platz auf der Schlachtplatte.

Uniformknöpfe aus der Metzg Heute hat es die Leberwurst schwerer. Mehr und mehr gerät sie unter Druck, muss sich rechtfertigen und wird in besonders feindseligen Kreisen gar offen diffamiert. Diese warnen vor den Gefahren für die Gesundheit und die schlanke Figur. Sie werfen ihr vor, minderwertiges Zeugs zu enthalten, Schlachtabfälle, die man allenfalls einem Hund zumuten würde. Schlachtabfälle? Das Wort ist neu. Es ist dem Geist einer Zeit entsprungen, die es grossen Teilen der Bevölkerung leicht macht, täglich zweimal teure, zarte und magere Stücke vom Vieh auf den Teller zu bekommen, das Entrecôte am liebsten aus Argentinien, das Lammcarré aus Neuseeland. Die gleichen Menschen haben Probleme damit, dass ihre Kinder und Kindeskinder immer unbeweglicher und fetter, aber keineswegs gesünder werden. Das Wort Schlachtabfälle gab es nicht, als die Metzgete den Menschen half, gut genährt und gesund über den Winter zu kommen. Zu dieser Zeit, es ist noch gar nicht lange her, wurde verwertet, was die Sau

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Horn eignete sich hervorragend zur Herstellung von Knöpfen. Noch im zweiten Weltkrieg trugen die Schweizer Aktivdienstsoldaten Uniformen mit Knöpfen, die aus bäuerlichen Hausmetzgeten stammten. Die Lehrtochter im Waldheim in Hettenschwil hat die letzten Tropfen vom Tegerfelder gerecht verteilt und räumt jetzt ab. Ganz geschafft haben wir die Schlachtplatte nicht. Ein bisschen Sauerkraut, einen Zipfel Bratwurst und einen Rest vom Rippli mussten wir stehenlassen. Bei allem Respekt für die Kunst des Metzgers und der Köche spüren wir auch eine Verantwortung gegenüber unseren Mägen. Die Metzgete-Saison ist noch jung. In einigen Teilen des Landes steht sie erst bevor. In der Ajoie zum Beispiel, dem äussersten Zipfel des Kantons Jura, beginnt die «Cochonnaille» am 11. November, an Martini. Am Tag des Heiligen Martins mussten die Bauern früher ihren Gutsherren den Zehnten entrichten. Die Feldarbeiten waren getan, die Ernte war im Trockenen, und das wurde nun mit einer geschlachteten Sau ausgiebig gefeiert. Schadlos ist eine «Cochonnaille» für einen ungeübten Städter, auch heute noch, nur schwer zu überstehen. Ein selbstgebrannter Birnenschnaps oder ein feuriger Enzian, wie sie ihn in der Ajoie reichen, hilft dabei. Im Waldheim in Hettenschwil gibt es keinen Enzian. Dafür Mandacher Traubenwasser, ein pfiffiger Grappa aus der Region. Genau das Richtige, um ein letztes Mal auf das brave Säuli anzustossen. ■ SURPRISE 212/09


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Kurzgeschichte

Die Kurzgeschichten-Ausgabe, die Surprise im Sommer präsentierte, hatte Folgen: Georg Geiger, Deutschlehrer am Basler Gymnasium Leonhard, nahm das Heft mit in den Unterricht und liess die 17-jährigen Schülerinnen und Schüler der Klasse 4d selber Kurzgeschichten schreiben. Drei davon präsentieren wir Ihnen auf den nächsten Seiten.

Lautlos VON CHRISTINA EMMEL

Ich trinke Milch aus einer kleinen, gepunkteten Tasse und blicke auf meine Uhr. In fünfzehn Minuten beginne ich zu arbeiten, es ist Viertel nach acht. Rasch überprüfe ich meine rechte Hosentasche, um sicherzustellen, dass ich meinen Notizblock nicht zu Hause liegengelassen habe. Das ist mir bereits einige Male passiert und ich habe mich noch nie so verloren gefühlt wie in diesen Momenten. Heute jedoch ist alles in Ordnung und ich mache mich auf den Weg. Frau Tiebra erwartet mich schon im Flur. Sie gibt mir die Liste mit den Anweisungen und entfernt sich eilig. Eine Frau hastet mir entgegen und ruft mir etwas zu. Ich lächle sie an. Es handelt sich um meine erste Kundin, Frau Terces, wie ich der Auftragsbeschreibung entnehmen kann. Ausser Atem steht sie neben mir und versucht, irgendetwas zu erklären. Plötzlich begreift sie und wir verstehen uns. Ich spreche mit ihr, stelle ihr Fragen. Viel gibt es nicht zu erfahren, denn Frau Terces gibt sich geheimnisvoll. An der Art, wie ihre Finger zittern, erkenne ich, dass sie nervös ist. Sie deutet an, formuliert unklar, und ich finde nicht heraus, wie es ihr geht und was zu ihrer Situation geführt hat. Dafür zeige ich ihr, wie um uns beide davon abzulenken, die schönsten Plätze der Stadt. Sie versucht, sich ihre Rührung nicht anmerken zu lassen. Gleich darauf beginnt sie zu weinen. Mein nächster Kunde trägt eine in die Stirn gezogene Schirmmütze und eine dunkle Sonnenbrille. Trotzdem kann ich einige Schweissperlen an seinen Schläfen erkennen, die Temperatur über 30 Grad macht also auch ihm zu schaffen. Ich ergreife die Gelegenheit und lasse eine Bemerkung über das Wetter fallen. Ich warte, bis der Mann meinen kleinen Kommentar zur Kenntnis genommen hat. Ich sehe ihn, wie er die Stirn runzelt. Dann, ohne ein Wort zu verlieren, greift er in seine Tasche und fördert einen kleinen Kugelschreiber und ein zerknülltes graues Trambillet zu Tage. Eine Weile nach Herrn Litneg mit der Sonnenbrille klopft jemand gegen die Scheibe. Ein Mann mittleren Alters, hinter ihm erkenne ich die Umrisse eines weiteren Mannes. Es muss sich um die Familie Brause handeln. Ich blicke mich suchend nach der kleinen Tochter um. Plötzlich sehe ich eine kleine Hand auf der anderen Scheibe, dann eine zweite. Blondes Haar ist zu sehen, mehr vorerst nicht. Ich begrüsse sie herzlich. Sie ist fünf Jahre alt und bereits nach wenigen Minuten eingeschlafen. SURPRISE 212/09

Sie erzählen mir von der bevorstehenden Einschulung des Mädchens. Sie soll bald Lesen und Schreiben lernen. Ich kann die Wichtigkeit dieser Fähigkeiten nur bestätigen. Herr Brause bemerkt ein Buch neben mir und kommt so auf eine Buchmesse und den Autor des Romans zu sprechen. Er hat vor einigen Monaten einer Lesung einer Passage dieses Buches beigewohnt. Ich mache meine Mittagspause in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Bahnhofs. Es ist mein Stammlokal und ich bin dem Personal gut bekannt. Ich bestelle einen frisch gepressten Orangensaft und einen kleinen Salat mit Oliven. Nach dem Essen gehe ich weiter und bereite mich auf den weiteren Tag vor. Der Kellner ruft mir etwas nach, aber ich bin schon zu weit weg. Ich kann ihn nicht hören und möchte den Weg nicht wieder zurückgehen. Ich denke mir: «Morgen ist auch noch ein Tag» und schreite zufrieden weiter. Beim Parkplatz meines schwarzen Autos angekommen, die Schlüssel bereits in der Hand, beschliesse ich, mir einen kleinen Nachtisch zu gönnen. Ich überquere die gut befahrene Strasse und schlendere auf den Eisverkäufer zu. Ich bestelle eine Kugel Schokolade in der Waffel mit bunten Streuseln. Er nennt mir den Preis. Ich reiche ihm zwei Fünffrankenstücke und überlasse sie ihm. «Stimmt so.» Ich steige in mein von der Sonne erhitztes Auto und schalte die Klimaanlage ein. Leider kann ich so die Fenster nicht öffnen, aber ich weiss, dass mein nächster Fahrgast sehr geruchsempfindlich ist. Weder Schweiss noch muffeliger Fahrzeuggeruch stehen auf seiner Wunschliste, wenn er eine Fahrt mit mir bucht. Ich kenne ihn bereits zu gut, um diesbezüglich einen Fauxpas zu begehen. Ich fahre langsam zum verabredeten Treffpunkt. Ich habe noch viel Zeit, also mache ich einen kleinen Umweg und fahre an einem Park vorbei. Das entspannt mich. Ich mag es, Menschen in ihrer Freizeit zu beobachten. Ich halte am Eingang von Herrn Gilies Arbeitsplatz. Er dürfte jede Minute erscheinen. Ich steige aus und lehne mich an das Auto. Ich schaue in die entgegengesetzte Richtung und sehe ihn nicht kommen. Eine Hand legt sich auf meine Schulter, und als ich mich erschrocken umdrehe, grinst mich Frank Gilie selbstzufrieden an. Um seine Augen haben sich kleine Fältchen gebildet, er blinzelt mich an und seine gelblichen Zähne reflektieren das gleissende Sonnenlicht. Ich halte ihm die Tür auf und steige dann selbst ein. Zuerst scheint er verdutzt, dann beginnt er schallend zu lachen. Passanten drehen sich um und lächeln uns an. Das war meine Revanche. Ich umrunde das Auto und nehme auf dem Fahrersitz platz.

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Gilie ist Journalist. Eigentlich wäre er schon lange pensioniert, aber weil er seine Arbeit so gerne macht und es in der Redaktion seiner Tageszeitung ohnehin an Personal mangelt, ist er immer noch berufstätig. Morgens seinen Namen auf der Auftragsliste zu entdecken, ist ein Lichtblick, er ist mein einziger Stammkunde. Herr Gilie schreibt sehr schnell und wir haben schon viele lange Gespräche geführt. Heute ist er nicht besonders kommunikativ, er scheint müde zu sein. Er kritzelt etwas in sein separates Taxifahrtnotizbuch, das bei mir aufbewahrt wird und teilt mir so unser Ziel mit. Während der Fahrt lauscht er aufmerksam dem Radio. Er erzählt mir, welche Ereignisse die Nachrichten dominieren, welche Lieder gespielt werden und was im Kino läuft. Schliesslich kommen wir an. Herr Gilie steigt aus und verabschiedet sich mit einer freundlichen Gebärde. Zum Abendessen gehe ich in das gleiche Restaurant wie beim Mittagessen. Mein Magen knurrt, ich habe seit Stunden nichts mehr gegessen. Ich setze mich an einen Tisch in einer Ecke und warte auf die Bedienung. Das Lokal ist ziemlich voll, ich habe einen der letzten freien Tische ergattert. Nach einigen Augenblicken sehe ich schon den Kellner vom Mittag auf mich zukommen. Er lächelt mich erleichtert an und reicht mir ein Notizbuch. Ich taste meine Hosentasche ab. Es ist meines. ■

Paul auf Achse VON JULIAN T. BRUNNER

Paul fährt in die Arbeitskolonie. Salzburg ab: 07.22, Sibiu, Rumänien an: 20.53. Viel lieber wäre er mit seinen Freunden mit. Nach Spanien, an den Strand, unter die Sonne. Stattdessen schickten ihn seine Eltern, Gutes zu tun, Erfahrungen zu sammeln nach der Matura. Wenigstens ist Franz mit dabei, ein Sandkastenfreund, der im gleichen Block wohnt wie Paul. In letzter Zeit hatten sie sich aber nicht oft gesehen. Sie hatten sich in verschiedene Richtungen entwickelt. Franz weiss, was er will, hat sich seine Ausbildung zum Chemiker schon zurechtgelegt, während Paul in seinen Plänen und Hoffnungen noch etwas verloren ist. 16 Personen sind sie, in guter Absicht, in Sibiu zu helfen, Häuser neu aufzubauen, die bei Erdrutschen zerstört wurden. Paul kennt sie teilweise vom Sehen, sie sind ja alle aus Salzburg. Dieser elenden Provinz. Eigentlich fühlt es sich gut an, dort rauszufahren, findet Paul, auch wenn der Zug ins Elend fährt. Im Zug herrscht eine sonderbare Stimmung. Keiner der Mitkommenden weiss, was er erwarten soll, was auf ihn zukommt. So kommen die Gespräche nicht richtig in Gang und viele schlafen. Pauls Beine schlottern beim Aussteigen aus dem Zug. Die Kälte trotz Sommer und das lange Sitzen haben ihm zu schaffen gemacht. Die Gruppe wird von einer Aufseherin, die sie in gebrochenem Deutsch empfängt, zu ihren Hütten geführt. Paul teilt sich eine Hütte mit Franz. Ohne sich umzusehen, fallen sie in ihre Betten und beginnen müde zu schnarchen. 06.30, es wird zum Appell gerufen, alle sollen aus den Hütten. Als Paul aufsteht, ist Franz schon weg. Der erste Blick ist ein Schock. Die Hütte ist in desolatem Zustand. Löcher in der Decke, Narben im Holzboden, die Schranktüre fehlt und alles ist dreckig. Was für eine Verarsche, denkt sich Paul, während er seine Arbeitsschuhe anzieht. Paul geht raus und tritt in krustigen Schlamm. Scheisse. Da kommt man hierher, um sich ohne Entlöhnung abzurackern und wohnt nicht mal anständig. Er ist unter den Letzten, die zur Gruppe stossen. Als alle da sind, wird jedem ein Spaten in die Hand gedrückt und ein Instruktor versucht auf Deutsch zu erklären, was zu tun ist und weist schliesslich auf ein schlammiges riesiges Etwas in Richtung Westen. Paul macht sich in Gedanken versunken auf den Weg. Die anderen jungen Erwachsenen scheinen erstaunlich motiviert und laufen schnell. Das braune Etwas entpuppt sich als eine heruntergekommene Schlammlawine und soll abgetragen wer-

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den. Den ganzen Tag lang. Fürs Mittagessen ist nur halb gesorgt. Paul sieht den Sinn in seiner Arbeit nicht und das unerträgliche Brennen der Sonne auf seiner dreckigen Haut treibt ihn in den Wahnsinn. Paul muss weg. Einfach weg. Abends packt er seine Sachen, da kommt Franz in die Hütte. Es ist schon nach Dämmerung. «Was tust du da?», fragt ihn Franz erstaunt. Nach einer Pause antwortet Paul fest entschlossen: «Wir gehen.» Die beiden schauen sich einen Moment lang an, Franz zögert, beginnt dann aber zu packen. Eine Stunde später trotten Paul und Franz die Landstrasse entlang, die Daumen ausgestreckt zur Strassenseite. Sie sind sich beide der Aussichtslosigkeit ihrer Situation bewusst, sind aber zu stolz und zu jung, um darüber zu sprechen. So plaudern sie über alles Mögliche und kommen sich wieder näher, nach so langer Zeit ohne Kontakt. Wie früher, in Harmonie. An wilden Wiesen kommen sie vorbei, mit hohem Gras und den farbigsten Blüten. Vögel drehen über ihnen ihre Runden und zweimal hoppelt ein Hase über die Strasse. Paul fühlt sich frei. Ist das Leben? Oder Lebenserfahrung, oder doch nur ein Moment? Nach vier Stunden Marsch sitzen die beiden nun am Strassenrand und Paul spielt ein altes Lied auf seiner Violine. Grillenzirpen begleitet es. Der Wind weht und es ist wieder kühler geworden. Paul fragt sich, wie seine Freunde in Spanien diese Stunde wohl verbringen würden. Da kommt ein Laster, ein grosser Legehennentransporter. Bevor Paul überhaupt reagieren kann, steht Franz schon mitten auf der Strasse und schreit und winkt. Der Wagen hält, sie können einsteigen. Wohin es geht, ist den beiden völlig Wumpe. Der Fahrer spricht kein Wort und Schlaf holt Paul und Franz ein. Paul träumt von Freiheit in allen Formen. Ein heftiges Hupen weckt ihn. Der Lastwagenfahrer sitzt in seinem Sitz und lacht Paul an, als dieser die Augen aufmacht. Man sei in Bukarest, sagt der Fahrer auf Englisch. Paul stammelt Worte der Dankbarkeit, legt zwanzig Euro auf das Armaturenbrett und verlässt die Kabine. Franz folgt ihm. Bukarest. Von der Tankstelle, an der sie ankamen, laufen die beiden Freunde quer durch die Stadt. Schön ist es. Sie reden nicht viel. Um drei Uhr nachmittags laufen Paul und Franz an eine Gruppe Strassenmusikanten heran. Sie swingen gut und nach etwas mehr als zehn Minuten Zuhören spielt Paul mit. Leute kommen und sind begeistert von der Truppe, vor allem von Paul, der eine unglaublich gute Figur abgibt. Nach einer Stunde fragen die Musikanten, ob er, Paul, mit ihnen auf Tour durch den Balkan gehen wolle. Paul ist begeistert von dieser Idee und unterhält sich noch etwas länger mit den Musikern, bis er bei einem Blick um sich Franz bemerkt, der alleine unter einem Baum sitzt. Paul geht zu ihm und erzählt ihm von der Tour. Franz scheint nicht begeistert zu sein von diesen Typen, und als Paul sich umdreht, versteht er auch warum. Einer der Typen rennt mit der Violine davon. Hinterher. Paul und Franz verfolgen den Dieb durch Gassen und Strassen, Alleen und Parks, bis sie den Dieb schliesslich am Bahnhof stellen. In die Ecke gedrängt, legt er die Geige zu Boden und rennt davon. Paul hebt sie auf. In diesem Moment wird ihm seine Naivität bewusst. Er sinkt in sich zusammen. Franz ist es, der sich in diesem Moment um ihn kümmert, der ihn tröstet. Die Freunde sitzen mitten in der Schalterhalle, sich festhaltend, um nicht von den Passanten getreten zu werden. Es fahren Züge nach Salzburg und würden auch nicht noch welche nach Spanien zum Einsteigen bereitstehen, wäre die Sache klar. Freunde oder Familie, Zukunft oder Leben im Jetzt. Welch schwierige Entscheidung! Ihr Verschwinden wurde den Eltern sicher schon gemeldet. Ginge es nach den Eltern, hätten Paul und Franz heimzukehren. Doch waren nicht sie es, die die Jungen geschickt hatten, um Erfahrungen zu sammeln? Im inneren Konflikt ist es wahrlich schwierig, klar zu denken. So steigen die beiden nun ohne Billett in irgendeinen Zug, von dem sie nicht wissen, wo er sie hinfährt. Nach Wien? Nach Valencia? Oder doch nach London, oder gar hinauf zu den Lofoten? Würde er überhaupt auf der Erde bleiben? Der Mond oder der Jupiter wären doch Ziele. Auf in den Himmel, ohne zu wissen, wo es lang geht, ohne zu wissen, wie das SURPRISE 212/09


Ziel aussieht, ob es überhaupt existiert. Auf zu Träumen unserer und anderer. Auf zur tiefsten Tropfsteinhöhle unserer Seele, ja, lass uns zum Himmlischen fahren. Und sei es nur in der Vorstellung, denn dort wohnt die Freiheit. ■

Entscheidungen VON LAVINIA FASCATI

BILD: ZVG

Als mich meine Mutter anrief, hatte ich schon ein eher mulmiges Gefühl, und als sie mir sagte, sie wolle mich bald besuchen kommen, veränderte sich dieser Zustand in Bauchschmerzen. Das «Bald» hat sie sehr betont, denn sie würde vielleicht nicht mehr lange leben, das spüre sie und es habe auch in ihrem Horoskop gestanden, dass sie grad eine schwache Phase durchlaufen würde. Sie habe es zwar beim Löwen gelesen, sie sei ja Skorpion, wie ich mir hoffentlich langsam gemerkt habe, aber diese zwei Tiere hätten ja sehr wohl einen charakterlichen Zusammenhang. Meine Mutter zu beruhigen habe ich schon lange aufgegeben, sie ist halt ein sehr hysterischer Typ und voller Phobien, da kann man nichts machen, wahrscheinlich ist sie schon ängstlich geboren. Und war darum eine Spätgeburt, weil sie sich fürchtete vor dem Rauskommen. Aber eben, sie wollte mich besuchen kommen und ich bin nicht so einer, der wie in der Werbung irgendeinen Energy-Drink trinkt, damit sich eine Wahnsinnskraftwelle in mir aufbaut. Diese würde auf einmal aus mir ausbrechen und sich so ausdrücken, indem ich in zwei Sekunden alles aufräumen könnte. Pizzareste wären fort, das Bett frisch bezogen, Wohnung gelüftet, Geschirr versorgt, blablabla, die Liste wäre endlos. Nein, so einer bin ich nicht. Es klingt jetzt sicher für alle so, als sei ich der coole Typ, als wäre ich einer, der seinen vorprogrammierten Katern vom Wochenende Namen geben würde, der vom Samstag würde zum Beispiel Captain Kasimir und der vom Sonntag Sir Marakesh heissen. Als wäre ich einer, der von der ganzen Stadt halbwegs gemocht und bei allen bekannt wäre wegen seiner famosen Parties. Einer mit 879 Freunden auf Facebook und halb so vielen Handynummern. Ich bin Koch und arbeite bis tief in die Nacht. Mit solchen Arbeitszeiten kann man fast keine Kontakte pflegen. Wenn ich arbeite, festen die anderen. Vor kurzem hatte ich einen Traum: Ich, der sonst doch nicht so mächtige Superfighter, habe das Bonnie and Crime-Paar besiegt. Sie waren DIE Helden der Stadt und keiner konnte auf unserem «better than earth Pla-

net» so gut kämpfen wie die zwei. Jedesmal, wenn sie ihre seidenen Anzüge, die so fein waren, dass man sie nicht spüren konnte, anzogen, wusste man, dass es Zeit war für einen neuen Auftrag. Doch nicht alle glaubten und unterstützten sie, so wie ich. Ich tat es auch nicht. Als es in einer ganzen Region gebrannt hat, bin auch ich mit meinem flightfight dress ausgeflogen, um zu beweisen, dass auch ich ein Held war und nicht nur dieses Promipaar den Planeten retten konnte. Zufälligerweise hatte ich noch meinen Mini-Wassersprüher in meiner Capetasche dabei. Dieser war wohl hinein gerutscht, als ich noch vor dem Start mein Gewand gebügelt hatte. Also nahm ich diesen Sprüher aus der Tasche und wie durch ein Wunder konnte ich das ganze Feuer löschen. Alle feierten mich, den neuen Retter und Helden. Bonnie und Crime zogen sich zurück und zeigten sich nicht mehr in der Öffentlichkeit. Aber eben, es war nur ein Traum. Was aber wahr war, war, dass ich jetzt einen echten Kater hatte. Ich fand Alfredo eines Tages auf meiner Terrasse. Er war abgemagert und sah aus, als wäre es ihm gerade danach zu sterben. Ich brachte ihm die vom Mittagessen übrig gebliebenen Ricotta Ravioli, und er ass sie auf. Nicht allzu gierig, aber er begann zu fressen und hörte erst auf, als der Teller leer war. Ich ging davon aus, dass er ein Italiener war, denn es war mir nicht geläufig, dass hierzulande geborene Kater und Katzen gerne Pasta essen. Er nahm einen grossen Platz in meinem Alltag ein, nicht dass ich solche Viecher liebte oder immer davon geträumt hätte, eines zu haben, aber irgendwie war es jetzt zu meiner Verpflichtung geworden, ihn ordentlich zu füttern und ihn vielleicht ab und zu, wenn mir gerade danach war, zu streicheln. Er war kein gesitteter und nicht im weitesten Sinne ein gut erzogener Kater. Er pisste auf alle Taschen und seine Geschäfte erledigte er am liebsten in meinen Schuhen. Zurück zum Telefonat mit meiner Mutter: Als ich ihr von meinem neuen Hausbewohner erzählte, reagierte sie, wie war es auch anders zu erwarten, hysterisch. Um Gottes willen, solche Tieren brauche man überhaupt nicht und schon gar nicht ich, der doch nie Katzen gemocht hatte. Sie sei doch allergisch, ob ich das denn nicht wüsste? Nein, sagte ich, wir hätten ja nie ein Haustier gehabt. Ja eben, meinte sie. Zum Schluss sagte mir meine Mutter, ich könne jetzt Alfredo weggeben oder sie würde mich nicht besuchen kommen. Die Entscheidung fiel mir nicht allzu schwer. Alfredo war mir dann doch lieber. Manchmal sollte man einfach das tun, wonach einem gerade zu Mute ist. Meine Mutter war beleidigt und ich wünschte ihr viel Glück beim Durchlaufen ihrer schwierigen Phase. So läuft es halt. ■

Die Klasse 4d des Gymnasiums Leonhard mit den Autoren: Julian T. Brunner (vorne, 2. v.l.) sowie Lavinia Fascati und Christina Emmer (2. Reihe, 1. und 2. von rechts). SURPRISE 212/09

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Zeitungen In indischen Hotels bekommt man jeden Morgen eine frische Zeitung unter der Tür durchgeschoben. Obwohl diese fast nur aus einem Inlandteil besteht, freut mich das, denn ich gehöre zu der aussterbenden Sorte Mensch, die gerne zum Frühstück die Zeitung liest. In Mexiko werden die Zeitungen auf der Strasse oder an schmucken Kiosken feilgeboten, je nach Gegend muss man bis zum Mittag auf neue Ausgaben warten, aber vielerorts kann man unter bis zu zwölf verschiedenen Titeln auswählen und der Verkäufer kennt nach zwei Tagen die Präferenz und erschrickt heftig, wenn man von der links-intellektuellen «Jornada» zum reisserischen «El Universal» wechselt. Mexikanische Zeitungen haben eine klare Ausrichtung. So war das bei uns früher auch. Es war eine Glaubensfrage, ob man in Zürich den «Ta-

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ges-Anzeiger» oder die «Neue Zürcher Zeitung» kaufte. Als man in der NZZ noch Sätze lesen konnte wie: «Ein paar Hundert Jugendliche, die meinten, gegen die Umweltverschmutzung demonstrieren zu müssen …» Die Meinungen waren gemacht, und zwar im Voraus. Heute steht überall dasselbe, allerdings erst nachher. Oder hat jemand vor dem Ausbruch der Finanzkrise die Gier gegeisselt? Oder eher die von Neidern belagerte Elite verteidigt? Wie dem auch sei, die Zeitungen sind in der Krise, zumindest in den USA und in Europa. Sie sterben aus, wie die Flussdelphine im Yangtse. Obwohl sie uns täglich erklären, was auf der Welt vorgeht, sind sie selber ziemlich ratlos, wie auf die sich ändernden Zeiten zu reagieren sei. Die einen versuchen es mit allerlei monatlichen Beilagen, die leider nicht an die ausländischen Originale herankommen. Andere versuchen aus ihren Traditionstiteln Gratiszeitungen zu machen, für die man bezahlen muss. Solange es Menschen wie mich gibt, die am Morgen einen Stapel bedrucktes Papier vor der Tür haben wollen, kommen sie damit durch. Ich könnte die «New York Times» gratis am Bildschirm lesen oder jegliche erdenkliche Information abrufen. Es geht nicht. Ich brauche eine Zeitung, hinter der ich mich verstecken kann. Ich habe gerne unzählige Artikel zur Auswahl, von denen selbst die interessanten kaum fertig gelesen werden.

Über die ich mich aufregen kann. Denn durch geschicktes Auswählen der Artikel bestätigt einem die Zeitungslektüre stets, was man schon immer gewusst hat. Artikel, die dem Weltbild widersprechen, bestärken es trotzdem, weil sie bestätigen, dass die ganze Journalistenbande nichts taugt. Um eine Zeitung zu lesen, braucht man nicht 20 Minuten, sondern den halben Tag. Aber die Abonnentenära läuft ab. Spätestens wenn ein valabler elektronischer Ersatz erhältlich ist, wird die gute alte Zeitung verschwinden. Den Verträgern, die bei Wind und Wetter frühmorgens unterwegs sind, wird derzeit gerade der ohnehin bescheidene Lohn gekürzt, bald werden sie arbeitslos sein. Wer will schon jeden Tag ein schlechtes Gewissen haben, wenn er über Fairness, unternehmerische Verantwortung und auf Leistung basierende Entlöhnung liest, in einer Zeitung, die ihm von einer hart arbeitenden und miserabel bezahlten Person gebracht wurde? Wer mir hier in Indien die Zeitung bringt, weiss ich zum Glück nicht.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 212/09


Literatur Die Buchmesse der zwei China China war Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Unabhängige chinesische Intellektuelle kommentierten die Veranstaltungen für die deutsche Zeitung «taz». Das ernüchternde Fazit: Der offiziellen chinesischen Delegation ging es vor allem darum, täglich Jubelmeldungen nach Hause zu kabeln.

Nachmittag des 17.Oktobers, eine Veranstaltung im Rahmen des chinesischen Gastlandauftritts: Ein deutscher Leser fragt den Schriftsteller Wang Meng, warum China seine Schrift nicht reformiert. Er habe gehört, es gebe mehrere hunderttausend Schriftzeichen, das müsse doch die Eingabe in die Computertastatur ungeheuer erschweren. Und Nordkorea und die Türkei beispielsweise hätten ihre Schrift ja auch reformiert. Wang Mengs Antwort war wundervoll und auf den Punkt, das Publikum spendete Applaus und lachte. Das sind Fragen nach dem Geschmack der amtlichen chinesischen Delegation: Sie tun nicht weh. Eine Pressekonferenz am gleichen Vormittag war für dieselbe Klientel gar nicht entspannt verlaufen. Ein Korrespondent aus der Türkei berichtete, er habe den Eindruck gewonnen, es gebe zwei China auf dieser Buchmesse, ein aus China angereistes und das der chinesischen Exilautoren. Beide nähmen einander überhaupt nicht wahr. Warum die offiziellen Organisatoren keine gemeinsame Veranstaltung für ihre und die Exilautoren ansetze? Die Antwort des Pressesprechers: «Alle Menschen sind frei, man kann niemanden zwingen, jemanden anderen zu treffen.» Der Journalist hakt nach: «Sie haben gestern eine ganze Reihe von Veranstaltungen abgesagt und Autoren verboten, Interviews zu geben.» Darauf die Erwiderung des Pressesprechers: Erstens wisse er nicht, von welchen Veranstaltungen der Journalist rede, er wisse also auch nicht, ob das so stimme, zweitens werde er nach Abschluss seiner Recherchen, falls zutreffend, die tatsächlichen Gründe für die Absagen nennen. Nach dem türkischen Journalisten durften Korrespondenten der Nachrichtenagentur Xinhua, der China Dayli und der China News Agency ihre Fragen stellen. Überflüssigerweise, denn ihre Fragen waren wie die an Wang Meng: unschädlich. Die chinesische Delegation trät an der Buchmesse das Banner des Austauschs vor sich her, verwehrt sich ihm aber nur allzu oft. Ausserdem hatte der Sprecher quasi vollmundig gelogen: Kein Mensch glaubt ihm, dass er die Gründe für die Absagen nicht kennt. Aber er nennt sie eben nicht, als müsse er fürchten, die Worte blieben ihm im Halse stecken. Und die amtlichen chinesischen Autoren? Sie üben sich im Schattenboxen, reden um den heissen Brei herum. Konfrontiert man sie mit Problemen, weichen sie aus oder schweifen ab, ganz so, wie eine deutsche Zeitung trefflichst titelte: Keiner fragte nach Liu Xiaobo. Tatsächlich gab es Fragen nach dem inhaftierten Schriftsteller und Dissidenten, aber laut gestellt wurden sie fast ausschliesslich von Leuten, die nicht in China leben. Diejenigen, die sie in China stellen, sitzen im Gefängnis oder stehen unter Polizeiaufsicht. Es sind wirklich zwei China, zwei Sorten von Autoren, zwei Sorten von Intellektuellen. Wobei ich ernsthaft zweifle, ob man die Vertreter der ersten Gattung, die das Lied der Regierung singen, überhaupt noch als Intellektuelle bezeichnen kann. Es waren also zwei China gleichzeiSURPRISE 212/09

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VON WANG XIAOSHAN

Das offizielle China und Exil-Autoren blieben sich an der Buchmesse so fremd wie Europäern die chinesischen Schriftzeichen.

tig präsent auf der Frankfurter Buchmesse, jedes hat sein Ding gemacht, man ist sich nicht einmal begegnet. Lediglich auf einer Pressekonferenz der offiziellen Delegation tauchten ein paar Leute mit «Free Tibet»-Bannern auf, aber die waren blond und blauäugig. Austausch ist gut, er kann den Fortschritt schneller voranbringen. Doch in den letzten Tagen wurde klar, dass es der offiziellen chinesischen Delegation einzig darum ging, täglich Jubelmeldungen nach Hause zu kabeln, wie herzlich sie aufgrund ihres guten Auftritts hier in Deutschland aufgenommen worden sei. Um substantiellen Austausch ging es ihr jedenfalls nicht. Diese Veranstaltungen hätte man statt in Frankfurt ebenso in einer chinesischen Provinzhauptstadt wie Lan zhou oder Fu zhou abhalten können. Das hätte keinen grossen Unterschied gemacht. ■ Wang Xiaoshan, geb. 1967, ist freier Autor und lebt in Peking. Bis 2006 war er Feuilletonchef der «Neuen Pekinger Zeitung». Aus dem Chinesischen von Petra Mann.

Ein journalistisches Experiment Auf ihrer Webseite präsentierte die deutsche Zeitung «taz» ein deutsch-chinesisches Journalistenprojekt zur Frankfurter Buchmesse und ihrem Gastland China. Renommierte chinesische Journalisten, «taz»-Redakteure und chinesische Autoren sowie Übersetzer vor Ort arbeiteten Hand in Hand. So schuf die «taz» eine unabhängige, journalistische Plattform zur Buchmesse, auf der Themen jenseits der offiziellen Agenda der chinesischen Delegation beleuchtet wurden. Surprise präsentiert Wang Xiaoshans Artikel mit freundlicher Genehmigung der «taz».

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Kulturtipps

Gleiche Chancen auf ein gesundes Leben – für alle.

Im Stück «Meat Market» werden Körper zur Ware.

Tanz Ein gutes Stück Fleisch «Meat Market» heisst das Stück, in dem die Japanerin Azusa Nishimura unverblümt ihren Körper als Ware anpreist. Es ist eines von fünf kurzen Duetten, die im Rahmen von «tanzfaktor interregio» in der Kaserne Basel gastieren.

Studie Arm, krank und früher tot Ein ungelernter Arbeiter stirbt im Durchschnitt vier Jahre früher als ein Akademiker: Die neue Caritas-Studie zeigt auf, wer welche Chancen auf ein gesundes Leben hat. Und was dafür getan werden muss, damit alle die gleichen Voraussetzungen haben. VON MENA KOST

Donnerstag, 10. Dezember, 20.00 Kurtheater, Baden.

Der Kühlschrank ist voll mit Essen, aber die Qualität ist schlecht. Eine Wohnung ist vorhanden, aber sie liegt an einer stark befahrenen Strasse; schwarz liegt der Feinstaub auf dem Fenstersims. Die Eltern arbeiten beide ganztags. Ein teures Hobby liegt trotzdem nicht drin, schicke Klamotten auch nicht. Aber ein Fernseher steht im Wohnzimmer – und wenn schon kein Geld für Gitarren- oder Reitstunden da ist, wer wollte den Kindern auch noch die Playstation verbieten? Die Gesundheit eines Menschen hängt erheblich davon ab, wie und wo er lebt. Die Lebensumstände wiederum werden durch den Bildungsgrad, den Berufsstatus und das Einkommen geprägt. Es gilt: Wer von Armut betroffen ist, wird häufiger krank und lebt weniger lang als jemand, der keine Geldsorgen hat. So stirbt ein un- oder angelernter Arbeiter in der Schweiz im Durchschnitt vier Jahre früher als ein Akademiker; die Lebenserwartung einer Uni-Abgängerin ist 3,6 Jahre höher als die einer Frau, welche die obligatorische Schule besuchte. Die neue Armuts-Studie der Caritas Schweiz macht deutlich, dass es im Wesentlichen gesellschaftliche Verhältnisse sind, die ungleiche Voraussetzungen für ein gesundes Leben schaffen. Um diese Chancenungleichheit zu verringern, fordern die Autoren der Studie mehr als schlichte Verhaltensprävention: «Es müssen jene gesellschaftlich bedingten Hemmnisse beseitigt werden, die es einem Menschen verunmöglichen, ein gesundes Leben zu führen», stellt Carlo Knöpfel, Co-Autor der Studie «Armut macht krank», klar. Um das zu erreichen, muss das Verständnis von Gesundheitspolitik erweitert werden. Wer erkennt, dass Bildung, Beruf und Einkommen die Gesundheit eines Menschen beeinflussen, muss dort ansetzen: Also etwa bei der Bildungs-, Steuer- und Sozialpolitik. Knöpfel: «In all diesen Bereichen werden gesundheitsrelevante Entscheide gefällt.» Um das Bewusstsein dafür zu schärfen, fordern die Autoren die gesamtschweizerische Einführung der Gesundheitsverträglichkeitsprüfung: Diese zeigt auf, welche politischen Entscheide welchen Einfluss auf die Gesundheit der Bevölkerung haben. Wer weiss: Vielleicht würde sich herausstellen, dass bereits eine Verkehrsberuhigung der Strasse, ein Skaterparkt im Quartier, kleinere Schulklassen und ein kostenloser Mittagstisch das Leben der anfangs erwähnten Kinder erheblich verlängert?

www.tanzfaktor.ch

Simone Villiger, Carlo Knöpfel: «Armut macht krank. Warum gesellschaftliche

VON SANDRA SCHÖLL

«Mein Haar ist lang, schwarz, glatt und es glänzt wunderschön. Es fliegt,w wenn ich tanze, es ist einzigartig. Die Leute lieben mein Haar.» Wie die japanische Tänzerin ihre Haarpracht scheinbar arglos feilbietet, hallt beim Zuschauer gerade der leisen Ironie wegen nach: Auch die Tanzwelt ist ein Business, in dem es nicht auf die Persönlichkeit des Tänzers ankommt, sondern auf den Marktwert seines Körpers. Durch die Wiederholung von abstraktem Bewegungsmaterial entsteht in «Meat Market» eine irritierend emotionale Körperlichkeit. Zu dem Themenkomplex, den der Berner Choreograf und Tänzer Marcel Leemann in seinem Stück behandelt, gehört auch die Frage, wie lange man den Beruf des Tänzers ausüben kann. In diesem Zusammenhang ist in «Meat Market» einmal vom Verfallsdatum des Körpers die Rede. Was Leemann persönlich dazu denkt, hat etwas erfrischend Unangestrengtes: «Das Alter spielt im Tanz meiner Meinung nach überhaupt keine Rolle. Ich habe mit 18 zu tanzen begonnen, seither habe ich 20 Jahre Bühnenerfahrung gesammelt. Ich habe noch immer viel Zeit. Mir rennt nichts weg. Im Alter ist man weniger nervös vor einem Auftritt, man muss nichts mehr beweisen. Man tanzt sogar besser, wenn man älter wird.» Seine Tänzer sollen sich körperlich verausgaben, sich «reintanzen», sagt Leemann. Leemann wünscht sich, dass die Zuschauer durchs blosse Zuschauen mitgerissen werden, sozusagen mit auf den Trip kommen. Der «tanzfaktor interregio», der auf eine Initiative des Tanzbüro Basel (IG Tanz) zurückgeht, ist schon zum dritten Mal in der Schweiz unterwegs und macht in acht verschiedenen Städten Halt. Zu entdecken gibt es neben Leemanns Projekt auch andere Exponenten der zeitgenössischen Tanzszene: Cie. Müller-Sandstø (Luzern), Evangelos Poulinas (Pully), Zooscope Production (Lausanne) und die Compagnie Kolo/Oettli (Genf). Mittwoch, 18. November, 20.00 Uhr, Kaserne, Basel. Freitag, 20. November, 19.30, Südpol, Luzern.

Verhältnisse die Gesundheit prägen», CHF 16.–, Bestellung: www.caritas.ch/shop

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Witz, Charme und ein Schuss Anarchie – Ina Müller.

Musik Schlager-Single Ina Müller bringt eine frische Brise in die deutsche Showszene. Nun präsentiert sie ihre Lieder aus dem Leben einer Singlefrau in Zürich. Männer sind auch willkommen. VON RETO ASCHWANDEN

Schlager. Es gibt kaum ein schlimmeres Etikett für Musiker, die ihre Kunst nur schon halbwegs ambitioniert verfolgen. Doch sobald jemand eingängige Lieder mit deutschen Texten produziert, ist das böse Wort schnell zur Hand. Nichtsdestotrotz feiert seit einigen Jahren eine neue Generation deutschsprachiger Acts wie Rosenstolz, Annett Louisan und Roger Cicero grosse Erfolge. Neu spielt auch Ina Müller in dieser Riege mit. Ihre Lieder stammen wie bei Louisan und Cicero von Frank Ramond und Hardy Kayser, doch weil Musik und Texte massgeschneidert wurden, klingt «Liebe macht taub» an keiner Stelle austauschbar. In den poppigen Ohrwürmern, in denen Rock, Soul und Reggae anklingen, geht es meist um die Freuden und Nöte einer Singlefrau jenseits der 40, präsentiert mit Wortwitz und rauchigem Schmelz in der Stimme. Erste Erfolge feiert Ina Müller in den 90er-Jahren mit dem Kabarettduo Queen Bee. Parallel moderiert die Bauerntochter aus Cuxhaven beim Norddeutschen Rundfunk, veröffentlicht Bücher mit plattdeutschen Texten («Schöönheit vergeiht, Hektar besteiht») und startet ihre Gesangskarriere. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wird sie ab 2007 mit der preisgekrönten Sendung «Inas Nacht». In einer winzigen Hamburger Kneipe empfängt sie unter mitunter tumultartigen Umständen Gäste, während vor dem offenen Fenster ein Shantychor auf Kommando Seemannslieder singt. «Inas Nacht» bringt einen Schuss Anarchie ins öffentlich-rechtliche Programm: Die Moderatorin stellt fröhlich fadengerade Fragen, bestellt mitten im Gespräch Bier und wenn ihr danach ist, gibt sie eine Ständchen. Neue Folgen laufen ab Mitte November im Spätabendprogramm der ARD. Vorher kommt die 43-Jährige auf Konzertbesuch. Auf der Bühne ist Müller so richtig im Element, denn da kann sie tun, was ihr am besten liegt: «Sabbeln, singen und saufen.» Und spätestens wenn sie im Lied «Maxi Cosi» zum Latino-Groove erzählt, wie ein One-Night-Stand scheitert, weil der Mann vergessen hat, den Kindersitz im Auto wegzuräumen, wird klar: Schlager ist nur ein anderer Ausdruck für einen eingängigen Song mit Pfiff und Charme. Auf Englisch heisst das: Hit.

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Kaiser Software GmbH, Bern

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chefs on fire GmbH, Basel

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Statistik Georg Ferber GmbH, Riehen

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Locher Schwittay Gebäudetechnik GmbH, Basel

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Schützen Rheinfelden AG, Rheinfelden

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Responsability Social Investments AG, Zürich

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SV Group AG, Dübendorf

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Baumberger Hochfrequenzelektronik, Aarau

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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VXL AG, Binningen

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten

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Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Nottwil

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Ernst Schweizer AG, Hedingen

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JL AEBY Informatik, Basel

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iuliano-gartenbau & allroundservice, Binningen

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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

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KIBAG Kies und Beton

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Inova Management AG, Wollerau

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SVGW, Zürich

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Brother (Schweiz) AG, Baden

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Segantini Catering, Zürich

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Axpo Holding AG, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

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Kaiser Software GmbH, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag! Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Ina Müller: «Liebe macht taub» (Sony Music). Live: 12. November, 19 Uhr, Kaufleuten, Zürich. 212/09 SURPRISE 212/09

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BILD: ZVG

Ausgehtipps Aarau Grössenwahn aus Brüssel Wer abseits der ausgetretenen Pfade nach spannender Rockmusik sucht, landet immer wieder in Belgien. Nach Deus und Millionaire erobern nun Ghinzu die europäischen Indie-Clubs. Auf dem aktuellen Drittwerk zelebrieren sie einen überschwänglichen Tanz der Ideen: von versonnenen Orgelpassagen über Rock und Psychedelik bis zu Elektro und Noise. Da machen sogar Vergleiche Spass, denn wie oft kommt es vor, dass die Traumtänzer von Grandaddy, das bombastische Drama von Muse und die Industrial-Pioniere Suicide als Referenz für ein und dieselbe Band herangezogen werden? Auf Platte ergeben manche Songs für sich allein betrachtet keinen Sinn. Im Konzert aber bündelt die Brüsseler Band ihre unbändige Kreativität zu grössenwahnsinniger und grossartiger Musik. (ash) So sieht unbändige Kreativität aus: Ghinzu.

14. November, 20.30 Uhr, Kiff, Aarau.

Anzeigen:

Spenden Sie, damit Pascal dabei sein kann.

Die Stiftung Cerebral hilft in der ganzen Schweiz Kindern wie Pascal und deren Familien. Zum Beispiel mit Massnahmen zur Förderung der Mobilität. Dazu brauchen wir Ihre Spende, ein Legat oder Unternehmen, die einzelne Projekte finanzieren. Helfen Sie uns zu helfen.

Schweizerische Stiftung für das cerebral gelähmte Kind Erlachstrasse 14, Postfach 8262, 3001 Bern, Telefon 031 308 15 15, PC 80-48-4, www.cerebral.ch

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BILD: ZVG/ANJA BASMA

Fribourg/Winterthur Schäumende Nordmänner Wie die Zeit vergeht. Gerade noch liefen Motorpsycho in den Jugendzimmer jener Rockfans, die in den Neunzigern Alternativen zum allgegenwärtigen Grunge-Gedröhne suchten. Nun feiert das Trio auch schon sein 20-jähriges Bestehen. In dieser Zeit sind die Norweger ganz schön rumgekommen: Hardrock, Psychedelia, Beatles-Pop, Jazz – vor den frickelfreudigen Nordmännern ist kein Stil sicher und immer wieder lässt sich die Freude am freien Spiel nur durch Doppel- und Dreifach-Alben bändigen. In voller Pracht entfalten sich Motorpsycho aber auf der Bühne. Wer sie zum ersten Mal erlebt, geht nicht selten mit einer neuen Lieblingsband heim, während langjährige Fans so verwöhnt sind, dass sie selbst nach herausragenden Auftritten finden: «Die können noch mehr.» Mal schauen, was die Band auf der Jubiläumstour zu bieten hat.(ash) Fröhliche Frickler: Motorpsycho.

BILD: ISTOCKPHOTO

9. November, 20 Uhr, Fribourg; 10. November, 19.30 Uhr, Salzhaus, Winterthur.

Basel Evolution zum Zmittag Lust auf Hirnfutter über Mittag? Kein Problem: Im Affenhaus des Zolli Basel erklärt Professor Bernd Schierwater die Evolution des Urmetazoons. Oder anders gesagt: Der Leiter des Instituts für Tierökologie und Zellbiologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover erzählt uns, woher wir kommen. Anlässlich des Darwin-Jahrs organisierte der Verein Flying Science eine Vortragsreihe und geht dafür in den Zoo. So komplex die Sache ist, so kurz ist der Vortrag – er dauert 20 bis 30 Minuten. Danach kann bei Suppe und Sandwich weiter diskutiert werden. (juk) Die Evolution des Urmetazoons: Träumerei und Wirklichkeit, 12. November, 12.30 Uhr, Affenhaus Zoo Basel. Für den Vortrag kann am Veranstaltungstag zwischen 11.45 und 12.20 Uhr ein vergünstigter Eintritt von CHF 5.– bezogen werden. www.flyingscience.ch

BILD: HR. ROHRER

Charles Darwin ist Thema im Affenhaus des Basler Zolli.

Winterthur Kleider und Leute Spiel, Verführung, Ausschluss oder Zugehörigkeit: Die Wirkung von Kleidern entsteht immer im Zusammenspiel mit dem Körper und dem Umfeld, in dem sie getragen werden. Das Gewerbemuseum Winterthur hat 30 Designer beauftragt, unabhängig vom derzeitigen Modemarkt Unikate zu schaffen, die sich in Beziehung zum gewöhnlichen und ungewöhnlichen Alltag setzen. Der Text zur Ausstellung wird in einer szenischen Lesung mit Werken von Kurt Tucholsky und Brigitte Kronauer dazu geliefert. (juk)

Anzeige:

Ausstellung «Kleid im Kontext», bis 2. Mai 2010. Szenische Lesung «Von Menschen und Kleidern», Sonntag, 15. November, 11 Uhr, anschliessend Führung durch die Ausstellung, Gewerbemuseum, Die Ausstellungsunikate von Designer Tran Hin Phu.

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Winterthur. www.gewerbemuseum.ch

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Verkäuferporträt «Nichts tun macht depressiv» Der 25-jährige Mike Senn aus Basel ist seit einigen Jahren drogenabhängig. Während er sich im Entzugsprogramm auf ein suchtfreies Leben vorbereitet, verkauft er Surprise. Das gibt seinem Tagesablauf Struktur und bringt ihn unter Menschen.

«Die Schule war für mich keine besonders tolle Zeit. Ich wurde gehänselt, ja regelrecht fertiggemacht. Das änderte sich auch nicht, als ich eine Lehre als Konstrukteur begann. Trotzdem hat mir die Lehrzeit gut gefallen. Ich war gerne Konstrukteur. Am Modellbauen hatte ich schon immer Freude gehabt und das konnte ich gut in den Beruf mit einbringen. Nach der Lehre durfte ich zum Militär. Nach der RS machte ich bis zum Wachtmeister weiter und war insgesamt eineinhalb Jahre bei der Armee. Danach geriet ich zum ersten Mal in Kontakt mit harten Drogen. Zuerst konnte ich dem Heroin noch widerstehen, doch nach einem halben Jahr habe ich es dann doch ausprobiert. Während dieser Zeit spielte ich in einer Band, mit der ich auch nach Schottland reiste. Nach drei Monaten kehrte ich wieder in die Schweiz zurück – in Schottland hatte es mir einfach nicht gefallen. Zurück in der Schweiz war ich in verschiedenen Jobs tätig und konsumierte nebenbei täglich mein Heroin. Ich führte sozusagen ein Doppelleben: Tagsüber arbeitete ich und abends konsumierte ich Drogen. Ich achtete stets darauf, dass man mir die Sucht nicht anmerkte. Ich pflegte mein Äusseres und vernachlässigte nie meine Körperhygiene. Irgendwann jedoch habe ich meine ‹Regeln› gebrochen und angefangen, auch während der Arbeit Drogen zu konsumieren. Ich schlief am Arbeitsplatz ein; ein klassischer Nebeneffekt der Drogen. Das war mit ein Grund, wieso ich meinen Job verloren habe. Daraufhin habe ich die Notbremse gezogen und an einem Methadonprogramm teilgenommen. Irgendwann verschwand meine Lust auf Heroin. Allerdings hat sich meine Sucht lediglich verlagert: Heute bin ich abhängig von Kokain. Die Drogensucht kostet natürlich viel Geld. Deswegen verkaufte ich eines Tages meinen Laptop. Ich vermisse meinen Computer, denn ich blogge seit Jahren regelmässig. Beim bloggen schreibe ich offen und ehrlich und natürlich ist meine Drogensucht ein wichtiges Thema. Zu Surprise kam ich über einen Bekannten, der bereits Magazine verkaufte. Er hat mich eines Tages angesprochen und mir geraten, es doch mit dem Verkauf der Magazine zu probieren. Es würden immer Leute gesucht. Mit dem Verkauf von Surprise-Heften kann ich auf legalem Weg Geld verdienen. Ich glaube, ich habe Talent für den Heftverkauf; es macht mir Spass. Es tut gut, etwas zu arbeiten. Surprise ermöglicht mir zudem einen geregelten Tagesablauf, das gibt einem ein gutes Gefühl. Nichts tun macht einen nur depressiv. Deshalb mache ich auch im Surprise-Chor mit. So komme ich unter Leute. Als Drogensüchtiger zieht man sich halt generell eher zurück, geht nicht mehr in den Ausgang.

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BILD: ZVG

AUFGEZEICHNET VON DENISE ANANIA

Um mein Leben in den Griff zu kriegen absolviere ich seit längerem ein Entzugsprogramm. Zudem mache ich eine Psychotherapie, um herausfinden, warum ich überhaupt Drogen und den dazugehörenden Kick brauche. Ich will lernen, wie ich den Drogen aus dem Weg gehen kann, um in Zukunft nicht mehr dem Stoff hinterherrennen zu müssen. Ich hoffe, bald in ein berufliches Wiedereingliederungsprogramm einsteigen zu können. Ausserdem hätte ich gern irgendwann Kinder mit meiner Freundin. Dafür muss und will ich abstinent sein. Zudem wünsche ich mir ein Haus oder eine Wohnung auf dem Land. Ich würde gerne wieder als Konstrukteur arbeiten; der Beruf hat mir immer gut gefallen. Vielleicht werde ich einen sozialen Beruf ausüben. Ich denke, das würde mir liegen.» ■ SURPRISE 212/09


Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte ber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise-Sozialarbeiterinnen betreut, individuell begleitet und gezielt gefördert. Dazu gehört auch, dass sie von Surprise nach bestandener Probezeit einen ordentlichen Arbeitsvertrag erhalten. Mit der festen Anstellung übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

Starverkäufer BILD: ZVG

Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich sel-

Als Götti oder Gotte ermöglichen Sie einer Strassenverkäuferin oder einem -verkäufer eine betreute Anstellung bei Surprise und damit die Chance zur Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben.

Kurt Brügger Baselland

Jela Veraguth Zürich

Fatima Keranovic Baselland

Andreas Ammann Bern

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer!

Ausserdem im Förderprogramm SurPlus: Peter Gamma, Basel Peter Hässig, Basel René Senn, Zürich Marika Jonuzi, Basel Jovanka Rogger, Zürich

Janine Schuler aus Brittnau AG nominiert Lars Bernet als Starverkäufer: «Am Samstag ist vor der Migros in Zofingen immer ein ‹Riesengloif›. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich Lars Bernet sehe. Inmitten der gestressten Wochenend-Einkäufer bildet er einen ruhenden Pol. Wie er in seiner eigenen Art mit schräg gestelltem Kopf ‹Danke› sagt, wenn ich ein Heft kaufe, das ist ein herzerwärmendes Bild, das ich zusammen mit dem Magazin nach Hause trage.»

Wolfgang Kreibich, Basel Anja Uehlinger, Baden Bob Ekoevi Koulekpato, Basel Kumar Shantirakumar, Bern Marlise Haas, Basel

Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welchen Verkäufer Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41+61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 8000 Franken

1/2 Jahr: 4000 Franken

1/4 Jahr: 2000 Franken

Vorname, Name

Telefon

Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

1 Monat: 700 Franken

212/09 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 212/09

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise fördert seit 1997 die Selbsthilfe von Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit begleiteten Angeboten in den Bereichen Arbeit, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit und berufliche Eingliederung, das Verantwortungsbewusstsein, die Gesundheit und eine positive Lebenseinstellung. Surprise gibt es in der deutschsprachigen Schweiz. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Strassensport Der zweite Schwerpunkt von Surprise ist die Integration von sozial benachteiligten Menschen in der Schweiz über den Sport. Mit einer eigenen Strassenfussball-Liga, regelmässigem Trainings- und Turnierbetrieb, der Schweizermeisterschaft sowie der Teilnahme des offiziellen Schweizer Nationalteams am jährlichen «Homeless Worldcup» vernetzt Surprise soziale Institutionen mit Sportangeboten in der ganzen Schweiz. Organisation und Internationale Vernetzung Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die von dem gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband gegen 100 Strassenzeitungen in über 40 Ländern an.

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Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende unabhängige Strassenmagazin Surprise heraus. Neben einer professionellen Redaktion verfügt das Strassenmagazin über ein breites Netz von freien Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen. Der überwiegende Teil der Auflage wird von Menschen ohne oder mit beschränktem Zugang zum regulären Arbeitsmarkt auf Strassen, Plätzen und in Bahnhöfen angeboten. Die regelmässige Arbeit gibt ihnen eine Tagesstruktur, neues Selbstvertrauen und einen bescheidenden aber eigenständig erwirtschafteten Verdienst. Für viele Surprise-Verkaufende ist das Strassenmagazin der erste Schritt zurück in ein eigenständiges Leben.

Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel www.strassenmagazin.ch Geschäftsführung Fred Lauener Öffnungszeiten Sekretariat Mo–Do 9–12/14–16.30 Uhr, Fr 9–12 Uhr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Redaktion Fred Lauener (Leitung), Reto Aschwanden, Julia Konstantinidis, Mena Kost, Agnes Weidkuhn (Koordination), T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch Freie Mitarbeit Denise Anania, Julian T. Brunner, Christina Emmel, Lavinia Fascati, Etrit Hasler, Esther Michel, Stefan Michel, Dominik Plüss, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Sandra Schöll, Isabella Seemann, Udo Theiss, Priska Wenger, Wang Xiaoshan Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Anzeigenverkauf Therese Kramarz, T +41 61 564 90 90 anzeigen@strassenmagazin.ch

Marketing Theres Burgdorfer Vertrieb Smadah Lévy Basel Matteo Serpi Zürich Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11, Mobile +41 79 636 46 12 r.bommer@strassenmagazin.ch Bern Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern T +41 31 332 53 93, Mobile +41 79 389 78 02 a.maurer@strassenmagazin.ch Betreuung und Förderung Rita Erni, T +41 61 564 90 51 Chor/Kultur Paloma Selma, T +41 61 564 90 40 Strassensport Lavinia Biert, T +41 61 564 90 10 www.strassensport.ch Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Carlo Knöpfel

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. SURPRISE 212/09


Schöne Shirts! Und erst noch limitiert! Olivier Mossets (64) letzte Ausstellung nannte sich «Ten Monochromes» und zeigte – wie der Name verspricht – zehn unifarbene Werke des Schweizer Künstlers. Auf 3 à 3 Meter. Die hat Mosset zum Anlass genommen, um für Surprise zehn T-Shirts in denselben Farben zu entwerfen. Mit Surprise-Aufschrift. Und vom Künstler signiert.

Der in Berlin lebende Schweizer Künstler Erik Steinbrecher (45) hat für Surprise eine Fotosammlung von Werbetexten durchforstet. Daraus sind drei T-Shirts mit «flüchtigen Hinweisen» entstanden. In Steinbrechers Worten: «Dadurch, dass der Text auf Schulterhöhe steht, ist er nicht dekorativ.» Dafür mutiere jeder T-Shirt-Träger zum Werbeträger.

Surprise-T-Shirt Preis CHF 40.–

Hinweis-T-Shirt Preis CHF 20.–

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Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.

Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50 neon-orange schwarz

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Surprise Rucksäcke (32 x 40 cm); CHF 89.– schwarz rot

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