Ewige Liebe Und andere Märchen Health Food Junkies: Die krankhaft Gesunden
Bauernhof oder Grossstadtloft? Surprise auf Hausbesuch
Nr. 213 | 20. November bis 3. Dezember 2009 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.
Schöne Shirts! Und erst noch limitiert! Olivier Mossets (64) letzte Ausstellung nannte sich «Ten Monochromes» und zeigte – wie der Name verspricht – zehn unifarbene Werke des Schweizer Künstlers. Auf 3 à 3 Meter. Die hat Mosset zum Anlass genommen, um für Surprise zehn T-Shirts in denselben Farben zu entwerfen. Mit Surprise-Aufschrift. Und vom Künstler signiert.
Der in Berlin lebende Schweizer Künstler Erik Steinbrecher (45) hat für Surprise eine Fotosammlung von Werbetexten durchforstet. Daraus sind drei T-Shirts mit «flüchtigen Hinweisen» entstanden. In Steinbrechers Worten: «Dadurch, dass der Text auf Schulterhöhe steht, ist er nicht dekorativ.» Dafür mutiere jeder T-Shirt-Träger zum Werbeträger.
Surprise-T-Shirt Preis CHF 40.–
Hinweis-T-Shirt Preis CHF 20.–
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Fuchsia
Zur Kantine
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Zu bestellen auf: www.strassenmagazin.ch/website/streetshop/produkte.html
Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.
Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50 neon-orange schwarz
Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.– rot blau schwarz
Vorname, Name
Telefon
Strasse
PLZ, Ort
Datum, Unterschrift
Surprise Rucksäcke (32 x 40 cm); CHF 89.– schwarz rot
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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch
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Inhalt Editorial Verbrecher per Zufall Leserbriefe Am Puls der Zeit Basteln für eine bessere Welt Mit Karacho Aufgelesen Für Wandervögel Zugerichtet «Ich schwöre bei Gott im Himmel» Mit scharf Wohnen ist ein Menschenrecht Erwin … und die Piratenjagd Porträt Des Beizers Blues Ernährung Besessen von gesundem Essen Le mot noir Nächtlicher Schatten Weihnachtsmusik Süsser die Kassen selten klingeln Kulturtipps Böse Buben, bombastische Bilder Ausgehtipps Schöne Katzenmusik Verkäuferporträt «Easy, easy, langsam pressieren» Projekt Surplus Chance für alle! Starverkäufer In eigener Sache Impressum INSP
10 Kriminalität Auf schiefer Bahn Niemand wird als Verbrecher geboren, doch manchmal braucht es wenig, damit jemand zum Gesetzesbrecher wird. Strafverteidiger Valentin Landmann zeigt in seinem neusten Buch, wie schmal der Grat zwischen Legalität und Illegalität sein kann. Und weil die Gesellschaft je länger, je mehr nach totaler Sicherheit schreit, machen die Gerichte auch Kleinkriminelle zu Schwerverbrechern.
BILD: ESTHER MICHEL
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12 Alltag Hereinspaziert! Auf dem Land oder in der Stadt? Altbau oder Neubau? Schick oder praktisch? Allein oder zusammen? Eine Bäuerin, eine alleinerziehende Mutter, eine Stadtliebhaberin und eine Alters-WG-Mitbewohnerin haben Surprise Einlass in ihre Stuben und ihren Wohnalltag gewährt.
16 Liebe «Jede Liebesbeziehung wird irgendwann zur Vernunftehe» BILD: CORTIS & SONDEREGGER
Wer zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Jawort gab, versprach damit Treue für durchschnittlich 15 Jahre. Heute müssen es Ehepartner bis ins Pflegeheim ganze 50 Jahre zusammen aushalten. Wahrlich keine leichte Sache. Paartherapeut Klaus Heer räumt auf mit den Märchen über Liebe, Ehe und Sex.
Titelbild: iStockphoto/WOMM SURPRISE 213/09
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Leserbriefe «Es tut gut, einen derart positiven Einblick in den Schulalltag zu erhalten.»
FRED LAUENER, GESCHÄFTSFÜHRER
Editorial Verbrecher aus Zufall Verbrechen gibt es, seit es Menschen gibt. Wie es dazu kommt, dass der eine den andern bestiehlt und meuchelt, ist aber bis heute nicht abschliessend geklärt. Vor der Aufklärung galten Gesetzesbrecher als von Dämonen besessen. Im Lauf des 18. Jahrhunderts setzte sich die Überzeugung durch, dass jede verbotene Tat der vernunftgesteuerten Kreatur Mensch auf eine boshafte Absicht zurückzuführen sei. Diese Meinung vom Schuft, der sich mit allen Mitteln einen persönlichen Vorteil verschaffen will, oder vom Rabauken, dessen Streitlust mit dem Gesetz nicht beizukommen ist, gilt auch heute noch. Immerhin ist man nicht mehr der Ansicht, Verbrecher würden schon als Verbrecher geboren. Heute sind wir davon überzeugt, dass Straftäter das Produkt gesellschaftlicher Umstände und des Umfeldes sind, in dem sie aufwachsen und leben. Frühe Erfahrungen mit Armut, Einsamkeit, Ungerechtigkeit und Gewalt prägen die Entwicklung des Kindes und begünstigen Karrieren ausserhalb der Norm. Aber Achtung! Um kriminell zu werden, braucht es keine schwere Kindheit. Eine Straftat «passiert» manchmal fast einfach so. So, wie wir es aus den simpel gestrickten Krimiserien kennen, in denen die unbescholtene Ehefrau ihrem Gatten aus Verzweiflung einen Kerzenständer über den Kopf zieht, und der Liebste mausetot umfällt. In seinem neuen Buch zeichnet der Zürcher Strafverteidiger Valentin Landmann anhand von Fällen aus seiner Kanzlei nach, wie schnell es gehen kann, bis Sie und ich uns im dümmsten Fall plötzlich auf der schiefen Bahn wiederfinden. Seite 10. Das zweite grosse Menschheitsthema, dem wir uns in dieser Ausgabe annehmen, ist die Liebe. Es ging uns auch schon besser damit. Sie ist unsere stärkste Sehnsucht und enttäuscht uns doch immer wieder. Wir halten Beziehungsideale hoch, die uns zuerst überfordern und dann scheitern lassen. Ab Seite 16 versuchen wir im Gespräch mit Paarpsychologe Klaus Heer Ordnung ins Gefühlschaos zu bekommen.
Eine Liebeserklärung Heute muss ich Dir, liebes Strassenmagazin – endlich –, mitten im grauen November, eine kleine Liebeserklärung schicken: So alle zwei Wochen verreise ich am Freitag Abend, wühle mich durch das Getümmel der Menge, die kreuz und quer rennt, und mitten drin, als «Fels in der Brandung», sehe ich das mir seit längerer Zeit bekannte Gesicht des Verkäufers, höre seine Stimme und halte inne. Liebes Surprise, ich finde Deine Standhaftigkeit und Deinen Mut immer wieder grossartig und zudem, last but not least, freue ich mich immer mehr über die steigende Qualität der Artikel und Beiträge. Ihr seid echt am Puls der Zeit. E. Moser, Basel
Nr. 211: «Stadtbewohner – Wildtiere im Asphaltdschungel» Ein gelungener Wurf Schon seit Jahren wollte ich Ihnen schreiben, wie toll ich Ihr Heft finde. Ich kaufe es regelmässig, manchmal gar doppelt, und geniesse dabei auch den Austausch mit den Verkaufenden sehr. Nun endlich habe ich mich aufgerafft: Das Magazin 211 ist rundum ein gelungener Wurf. Ich möchte dazu gratulieren und hoffe, das bleibt in alle Ewigkeit so. Charlotte Jacquemart, per E-Mail
Nr. 212: «Mensch, Mann! – Was ist los mit dem starken Geschlecht?» Gratulation, 4d! Die Kurzgeschichten der Klasse 4d des Gymnasiums Leonhard in Basel sind toll. In den Medien ist in letzter Zeit so viel Negatives über die Jugendlichen von heute zu lesen. Und auch die Schulen und die Lehrer sind oft in der Kritik. Da tut es gut, einen derart positiven Einblick in den Schulalltag zu erhalten. Ein engagierter Lehrer und eine engagierte Klasse. Gratulation zu diesen Geschichten. Rosmarie Walderer, Bern
Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3
Ich wünsche Ihnen gute Lektüre. Ihre Meinung! Herzlich,
Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.
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ILLUSTRATION: WOMM
1 Man nehme: Einen Trichter, 4 Ballone, eine Schachtel Vogelfutter und Wolle.
3 Füllen Sie einen Luftballon mithilfe eines Trichters mit Vogelfutter. Blasen Sie diesen Ballon vorher einmal auf, um ihn zu dehnen.
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2 Schneiden Sie bei allen Luftballons das Mundstück weg.
Stülpen Sie einen zweiten Ballon über die Öffnung des gefüllten Ballons. Damit es hält, stülpen Sie noch einen oder zwei Ballone von gegensätzlicher Seite über den Ball, um ihn zu stabilisieren.
5 Verzieren Sie Ihren Wutball mit Haaren. Dazu kleben Sie mit Leim Wollfäden auf den Ball. Geben Sie Ihrer Wut ein Gesicht und malen Sie es mit Filzstift auf den Ball.
Basteln für eine bessere Welt Impfen oder nicht? Die Frage ist so lästig wie eine Grippe. Wir können Ihnen die Entscheidung auch nicht abnehmen. Aber wir haben etwas gegen den Ärger über die elendiglichen Diskussionen. Lassen Sie ihn am Wutball aus: Drücken, würgen, malträtieren Sie ihn, und wenns ganz schlimm ist: Werfen Sie ihn mit Karacho gegen die Wand! SURPRISE 213/09
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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Würde im Tod Stuttgart. Zu Lebzeiten bleiben sie unbemerkt, viele schauen einfach an ihnen vorbei: Sozial benachteiligte leben am Rand der Gesellschaft. Nach ihrem Tod werden sie oft in anonymen Massengräbern beigesetzt. Damit den Verkäuferinnen und Verkäufern des Strassenmagazins Trottwar dieses Schicksal erspart bleibt – und um sicherzustellen, dass die Verkaufenden von ihren Kollegen würdig Abschied nehmen können –, hat das Stuttgarter Magazin eine Grabanlage mit 30 Grabstätten auf dem Hauptfriedhof gekauft.
Perfide Spiele München. Aus einem Leserbrief der Zeitung «Gamestar» zum Computerspiel «World of Warcraft» (WoW): «Die Bürger wimmern und flehen um Gnade. Sie sagen, sie hätten Kinder … man muss so viele wie möglich von ihnen killen.» Suchtforscherin und WoW-Expertin Regine Pfeiffer: «WoW entfaltet seine Sogkraft dadurch, dass der Spieler in einen Dauerzustand von erregter Glückserwartung versetzt wird. Die Belohnungen, die für ausgeführte Aufträge verteilt werden, erfolgen nicht konstant – unregelmässige Belohnungen erzeugen stärkeren Gehorsam.»
Für Wandervögel Berlin. Dass 1912 im Sauerländischen die weltweit erste Jugendherberge eröffnet wurde, geht auf die Initiative eines einzigen Mannes zurück: Als Lehrer Richard Schirrmann mit seiner Klasse eine achttägige Wanderung unternahm, hatte er jeweils Schwierigkeiten, einen Ort zum Übernachten zu finden. Als er einmal wach lag und fror, kam ihm die Idee, dass jede Stadt und jedes Dorf eine Unterkunft für wanderlustige Kinder anbieten sollte. Er veröffentlichte einen Zeitungsartikel – und bereits 1914 zählte man in Deutschland 535 Jugendherbergen.
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Zugerichtet Bis zur allerhöchsten Instanz Frau Koller-Ekwensi*, eine matronenhafte, 57-jährige Putzfrau mit riesigen Kreolen an den Ohren, versteht die Welt nicht mehr. «Jesus Christ», ruft sie den Herrn auf Englisch an. «Ich habe doch gar nichts getan, Lord Jesus.» Flehend hebt sie ihre Arme zur Decke des Gerichtssaals: «Oh God, have pity on my soul.» Weil von oben keine Hilfe kommt, wendet sie sich an die neben ihr sitzende Dolmetscherin. «Um Gottes Willen, sagen Sie der Richterin, dass ich nichts gemacht habe.» Victoria Koller ist der fahrlässigen Verletzung der Verkehrsregeln und des fahrlässigen pflichtwidrigen Verhaltens bei einem Unfall angeklagt. Davon will sie aber nichts wissen, sie verstehe kein Deutsch. Die Dolmetscherin übersetzt der gebürtigen Nigerianerin das Schriftstück der Staatsanwaltschaft, die sie beschuldigt, am soundsovielten April dieses Jahres mit ihrem Lieferwagen einen Velofahrer gerammt zu haben. «Nein, das ist nicht wahr», ruft Frau Koller dazwischen und rauft sich ihre Haare, die sie im fetzigen Tina-Turner-Look toupiert hat. Sie soll auf der Lagerstrasse im Kreis 4 mit ungenügendem Abstand an ihm vorbeigefahren, den Lenker touchiert, den Mann zu Fall gebracht und nichtsdestotrotz die Fahrt fortgesetzt haben. «Aber das stimmt doch gar nicht», stöhnt Frau Koller auf. Der Velofahrer sei im gleichen Alter wie ihr Sohn. «Wieso sollte ich jemanden umfahren, der gleich alt ist wie mein Sohn?» Die Richterin ist mit Geduld gesegnet, unterbricht Frau Koller kaum, hört zu und fragt: «Kann es sein, dass Sie es einfach nicht bemerkt haben?» Aber selbst diese Möglich-
keit will Frau Koller nicht in Betracht ziehen. Und obwohl niemand sie danach gefragt hat, bekennt sie: «Ich nehme keine Drogen, ich trinke keinen Alkohol, ich rauche nicht und mein Strafregister ist leer. Godjesus ist mein Zeuge.» Ihre Stimme überschlägt sich, sie holt Papiertaschentücher aus ihrer Plastiktasche und tupft sich die Augen ab. Sie sind gesehen worden, sagt die Richterin. Ein Zeuge, ebenfalls Velofahrer, hatte beobachtet, wie sie den Mann rammte, und daraufhin die Polizei angerufen, den flüchtenden Lieferwagen verfolgt und zum Anhalten gezwungen. «Es gibt Fotos von Ihrem weissen Ford Transit», sagt die Richterin, «da sind seitlich schwarze Streifen zu erkennen.» Sie geht zur Angeklagten, zusammen beugen sie sich über die Aufnahmen. «Diese Spuren stammen vom Lenker des Fahrrads. Was sagen Sie dazu?» Frau Koller schnalzt mit der Zunge: «That’s not true.» Diese Streifen seien schon vorher dort gewesen, ihr Pastor habe das Auto beim Umzug beschädigt. «Ich schwöre bei Gott im Himmel, dass ich niemanden touchiert habe.» Doch alles Schwören, Flehen und Beten nützt nichts. Frau Koller wird schuldig gesprochen und mit einer bedingten Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu 30 Franken sowie einer Busse von 100 Franken bestraft. Überdies werden ihr die Gerichtskosten von 2000 Franken auferlegt. Frau Koller erhebt an Ort und Stelle Einsprache, sie will rekurrieren, notfalls bis zur allerhöchsten Instanz. Das könne sie durchaus machen, meint die Richterin gelassen, doch empfehle sie ihr, zuerst einen Anwalt zu konsultieren. * alle Namen geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 213/09
Immobilienmarkt Wohnen ist ein Menschenrecht In Schweizer Städten herrscht Wohnungsnot. Der freie Markt funktioniert nur bei Luxuslogen für Gutbetuchte. Alle anderen suchen oft vergeblich nach einer bezahlbaren Bleibe. Diese Ungerechtigkeit birgt sozialen Zündstoff. VON RETO ASCHWANDEN
Wohnen gehört zu den elementarsten Bedürfnissen jedes Menschen. Die eigenen vier Wände bilden das Zentrum des Lebens. Es ist der Ort, wo wir essen, schlafen, uns lieben und Kinder grossziehen. Deshalb verwenden wir viel Zeit, Mühe und Geld darauf, eine Unterkunft zu finden. Deshalb investieren wir viel Liebe und Fantasie, um aus dem Obdach ein Zuhause zu machen. Die Ansprüche und Bedürfnisse ans Daheim sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Ab Seite 12 berichtet unser Autor von vier Besuchen bei Menschen, die ganz verschiedene Wohnformen kultivieren. Beim Lesen wird klar: Neben persönlichen Vorlieben bestimmen auch die finanziellen Möglichkeiten darüber, wo und wie jemand lebt. Wohnen ist für viele Menschen nicht primär eine Frage des Geschmacks, sondern des Geldes. Besonders in den Zentren hoffen immer weniger Leute auf eine Traumwohnung – die meisten sind schon froh, wenn sie innerhalb der Stadtgrenzen eine bezahlbare Bleibe finden. Besonders dramatisch präsentiert sich die Situation in Zürich. Schon vor 20 Jahren skandierten Demonstranten «Wo-Wo-Wonige!», geändert hat sich seit damals kaum etwas. Die städtischen Statistiker zählen jedes Jahr die leer stehenden Wohnungen. Dieses Jahr kamen sie auf 109, das entspricht 0,05 Prozent. Wie gross die Not ist, wird umso deutlicher, wenn man weiss, dass in Zürich während den letzten zehn Jahren 13 000 neue Wohnungen gebaut wurden. Doch die nützen nur einer Minderheit von Gutverdienenden. In Quartieren wie dem Seefeld oder der Enge lebt die Oberschicht mittlerweile weitgehend unter sich. Im Gegenzug verschwinden mit den Ausländerfamilien und Studenten auch Kleingewerbler und Quartierläden. Das Problem beschäftigt alle Parteien, die Rezepte sind aber unterschiedlich. SP und Grüne wollen mehr Geld für den städtischen Woh-
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nungsbau, die SVP findet, die Zuwanderer seien schuld und Albert Leiser, FDP-Gemeinderat und Präsident des Zürcher Hauseigentümerverbandes, meinte im «Tages-Anzeiger» lapidar: «Es muss ja nicht jeder im Seefeld oder in der Enge leben.» Gewiss nicht, in der Konsequenz aber entspricht diese Aussage der Geisteshaltung jener, die unlängst Unterschriften sammelten gegen ein geplantes Wohnheim für Drogenabhängige im Kreis fünf. Klar müssten diese Leute irgendwo sein, hiess es, aber statt mitten in der Stadt doch bitte schön lieber draussen in der Nähe der Autobahnausfahrt. Sozial Schwache sind die ersten Opfer rücksichtslosen Profitdenkens – fragen Sie ruhig einmal Ihren SupriseVerkäufer, wo er wohnt. Unterdessen trifft die Wohnungsnot auch die so genannten «Working Poor». Es gibt in der Stadt Zürich Dutzende von Familien, die in Herbergen untergebracht sind, deren Standard jenem von Notschlafstellen entsprechen. Eine solch unhaltbare Situation provoziert soziale Spannungen. In Basel wurden im Oktober rund um den Voltaplatz Tramhäuschen und Schaufenster demoliert. In eben diesem Gebiet entsteht derzeit ein neues Quartier mit teuren Neubauten anstelle bezahlbarer Familienwohnungen. Man kann die Sachbeschädigungen als simplen Vandalismus sehen. Womöglich sind sie aber auch Ausdruck von Enttäuschung, Ohnmacht und Wut. Denn Wohnen gehört zu den elementarsten menschlichen Bedürfnissen. ■
und die Piratenjagd
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Porträt Der Blues des Beizers Das Rampenlicht suchte Jörg Walker schon als Gitarrist nicht. Heute hält er sich auch als Wirt lieber im Hintergrund. Fast lieber als mit Menschen umgibt er sich mit Schallplatten. VON RETO ASCHWANDEN (TEXT) UND ROLAND SOLDI (BILD)
einem Partner zusammen eröffnete Walker Mitte der Neunziger das «Kaffee Walti» im Niederdorf, ein typisches Zürcher Szenelokal mit einem jungen, trendigen Publikum. Im «Walti» hätten sich viele Pärchen gefunden, erzählt Walker: «Manche sehe ich jetzt hier wieder mit ihren Kindern.» Die «Bäcki-Mamis» sind in der ganzen Stadt ein Begriff, und der Beizer erinnert sich schmunzelnd an eine Zeitschrift, die eine Liste publizierte, wo die attraktivsten Mütter anzutreffen seien: «Die Bäckeranlage landete auf Platz eins.» Wichtiger als die schönen Mamis ist Walker freilich die bunte Mischung unter den Gästen. Im Gegensatz zum «Kaffee Walti» wollte er mit dem Restaurant auf der Bäckeranlage «von Anfang ein Lokal fürs ganze Quartier Aussersihl aufziehen». Manch ein Alteingesessener betrachtet die familienfreundliche Harmonie auf der Bäcki, diesem einstigen Junkie- und Alkoholikertreffpunkt, mit Misstrauen. Es gibt Ängste, der «Chreis Cheib» könnte von den Yuppies übernommen werden. Walker kennt die Kritik und auch einige der Kritiker aus gemeinsamen Punk-Zeiten. Er versteht die Bedenken ein Stück weit, sagt aber auch: «Es gibt hier eine uralte Tradition der aufmüpfigen Aussersihler, die immer über alles motzen.» Dass sein Restaurant zu den Einrichtungen gehört, die das Quartier aufwerten, ist ihm bewusst und auch recht. Gegen den Yuppie-Vorwurf wehrt er sich aber: «Wir machen nicht auf Schickimicki: Das Bier kostet vier Stutz, der Kaffe 3.20.» Günstig sind die Preise auch im zweiten Geschäft, das Jörg Walker führt. Seit zwei Jahren gehört ihm der CD- und Schallplattenladen «Katalog» in der Nähe des Centrals. Der Vorbesitzer war plötzlich verstorben, dann ging es schnell: «Nach einem Treffen mit den Hinterbliebenen entschied ich mich innerhalb einer halben Stunde, den Laden zu kaufen.» Er übernahm die umfangreichen Lagerbestände und ergänzt diese laufend mit weiteren Sammlungen, die er bei Geschäftsauflösungen oder von Privaten einkauft. «Wir bezahlen zwei Franken und verkaufen für fünf», so die simple Preisgestaltung. Dieses Geschäftsmodell zahlt sich aus, doch neben dem Business ist «Katalog» für Walker auch eine
«Ich bin kein Sozialarbeiter, ich führe hier ein Restaurant.» Jörg Walker ist genervt. Gerade wurde er beim Gespräch mit dem Journalisten von einem Telefonanruf unterbrochen. Jemand, der im Park vor dem Lokal einen Event plant, erkundigte sich zum wiederholten Mal nach irgendeinem organisatorischen Detail. Doch dafür ist Walker nicht zuständig. Er wirtet im «Restaurant B» auf der Zürcher Bäckeranlage, einem beliebten Park mitten im Kreis vier, als privater Unternehmer, «genau wie ein McDonald’s». Weil auf der «Bäcki» aber auch das Sozialdepartement Büros hat, betrachten viele das Lokal als städtische Einrichtung und den Wirt als allzeit bereiten Ansprechpartner für Hobbyveranstalter. Das kann auch einen zurückhaltenden Typen wie Walker kurzzeitig auf die Palme bringen. Ruhig reagiert der 50-Jährige hingegen auf die Vermutung, er rekrutiere seine Angestellten aus Beschäftigungsprogrammen. Das Team ist multikulturell, die Hierarchien spürbar flach. Das spiegelt Walkers Unternehmensphilosophie, er stellt aber klar: «Die Leute sind alle regulär angestellt.» Anders als bei McDonald’s kann sich das Bäcki-Personal über den eigenen Arbeitsbereich hinaus einbringen, das ist Walker wichtig. Die afrikanischen Frauen aus dem Service bringen dem Koch Rezepte aus ihrer Heimat. Und so gibt es bei den «kulinarischen Winterabenden in der Bäcki» neben Vegi- und Fondue-Plausch auch einen Abend mit afrikanischen Spezialitäten. Seine eigene Rolle definiert Walker eher defensiv. Er besorgt die grobe Preis- und Menügestaltung, die klassischen Wirteauftritte – an der Kasse stehen, die Gäste empfangen und unterhalten – liegen ihm aber weniger: «Ich bleibe lieber im Hintergrund.» Das helfe auch gegen die Verschleisserscheinungen, die er nach zehn Jahren auf der Bäcki manchmal feststellt. Bevor Walker Gastrounternehmer wurde, spielte er in verschiedenen Zürcher Bands. Mit Platza und später den Scuba Divers war der introvertiert wirkende Gitarrist zusammen mit anderen Zürcher Indie-Grössen der 80er- und 90er-Jahre auf den legendären «Definitiv»-Samplern vertreten. Eine Zeit«Ich habe keine Lust, mit alternden Männern im Keller lang konnte Walker, der privat seit seiner JuBier zu saufen und über Blues-Akkorde zu jammen.» gend am liebsten Texas-Blues und alten Soul aus den Südstaaten hört, von der Musik leben: Mit einer Unterhaltungsband spielte er im In- und Ausland, trat bei MöArt kulturelles Engagement: «Ich habe Ethnologie studiert und weiss belbörsen und vor Werbern auf. Das Ende der Scuba Divers besiegelte deshalb um den Wert von Kulturgütern. Und mit dem Landen möchte vor zehn Jahren auch Walkers musikalische Karriere. Er übe zwar noch ich dazu beitragen, dass das Kulturgut Tonträger zugänglich bleibt.» auf der Gitarre und die Musik fehle ihm, erzählt er, «aber ich habe keine Walker ist seit seiner Jugend ein passionierter Plattensammler. Da Lust, mit alternden Männern einmal die Woche in einem Keller Bier zu birgt ein eigener Laden natürlich Gefahren. Mit einem Lächeln gibt er saufen und über Blues-Akkorde zu jammen.» Lieber verbringt er die Freizu, die Grenze zwischen persönlicher und geschäftlicher Sammlung sei zeit mit seiner Frau, die er als Sängerin der Scuba Divers lieben lernte. schwierig zu ziehen. Wie viele Platten er hat, weiss der Musikliebhaber «Wir haben eine dreijährige Tochter, da verändern sich die Prioritäten.» nicht. Das sei aber auch nicht so wichtig: «Der Familie zuliebe stehen in Im Gastgewerbe hatte Walker schon als aktiver Musiker nebenbei geder Wohnung nur noch meine 1000 Lieblingsplatten. Den grössten Teil arbeitet. Der Schritt in die Selbständigkeit als Wirt fiel ihm aber nicht der Sammlung habe ich in eine Art Hobbyraum ausgelagert, zu dem nur leicht, umso mehr als er betont, nicht von Haus aus über Geld zu verich Zugang habe.» Und ab und zu packt der Wirt von der Bäcki dort fügen. «Aber ein Angestelltendasein konnte ich mir nie vorstellen.» Mit auch die Gitarre aus und spielt einen Blues. ■ SURPRISE 213/09
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Kriminalität Einbruch in die Unterwelt Die Unterwelt hat von jeher einen festen Platz in Kultur und Medien. Angst und Faszination mischen sich zu einem speziellen Kitzel, denn jeder kann zum Opfer werden. Was die braven Bürger aber meist ausblenden: Es kann einer auch schnell zum Täter werden. VON YVONNE KUNZ
Valentin Landmann, Strafverteidiger und Buchautor, ist ein grosser Anhänger der Chaostheorie. Also der These, nach der das Verhalten dynamischer Systeme – zu denen die menschliche Natur unbestritten gehört – schwer vorhersagbar ist. Die Wege ins Chaos, oder eben in die Illegalität, sind so individuell wie die Menschen, die straffällig werden. Gemein ist ihnen allenfalls das Motiv: «Es geht sehr oft um Geld, um den Wunsch, das Leben zu geniessen», resümiert Landmann. In seinem eben erschienenen dritten Buch, «Dünnes Eis», schildert er Fälle aus seiner
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Praxis. Man folgt unbescholtenen Zeitgenossen aus der Mitte der Gesellschaft aufs Glatteis, wo sie aufgrund unterschiedlichster Nichtigkeiten ins Schlittern geraten und schliesslich einbrechen. Sie werden zu Betrügern und Jahrhunderträubern oder sehen sich nach einer Silvesternacht gar mit dem Vorwurf der versuchten Tötung konfrontiert. Was nach abstrusen Einzelfällen klingt, ist für den Strafverteidiger alltäglich, sind doch diese Fälle die Norm, nicht die kühl planenden Berufsverbrecher. Und selbst hinter jenen finsteren Fassaden findet sich ein Mensch, unter dessen Füssen das Eis einst brach und der so in die Unterwelt abtauchte. Diese Unter- und Halbwelten, so Landmanns ErSURPRISE 213/09
kenntnis, spiegeln letztlich auch nur die Oberwelt, und sie sind wirtschaftlich gesehen ganz normale Märkte, die nicht anders funktionieren als die legalen. Deshalb ist folgerichtig ein Delinquent «kein Alien, das vom Mars gefallen ist» – sondern ein Mitglied der Gesellschaft wie du und ich. Das heisst nicht, dass Landmann die Täter verharmlosen will. Aber es lässt seinen Verteidigungsgrundsatz erkennen: «Nicht die Tat entschuldigen, sondern den Täter erklären.» Gratwanderer in Teufels Küche Die Eisdicke variiert je nach Tageszeit. Besonders dünn wird sie zwischen vier und sechs Uhr morgens. Dann schlägt die «Stunde der Idioten», wie Landmann die Zeitspanne nennt, in der gemäss Kriminalstatistiken die Zahl der schweren Gewalttaten in Städten explodiert. Die unvorhersehbaren menschlichen Faktoren mischen sich zu einem vorhersehbar gefährlichen Gebräu. Mit einem Schlag ergiessen sich Club- und Barbesucher samt dem Sicherheitspersonal aus den Lokalen auf die Strasse. Dabei sind sie meist alles andere als nüchtern und wer noch keine Begleitung gefunden hat, weiss, dass die Chancen jetzt gegen Null tendieren. Denn Frauen sind um diese Zeit typischerweise nicht mehr in Massen anzutreffen, also trifft stattdessen ein Haufen gefrusteter Männer aus allen möglichen Nationen und Schichten aufeinander. «Viel mehr als eine launige Bemerkung braucht es nun nicht mehr, damit das Eis bricht», weiss Landmann. Aber auch während der Geschäftszeiten kann es heikel werden. Vor allem, wenn mit Finanzen, Policen und Devisen jongliert wird – vor der Weltwirtschaft war bereits mancher Mensch solcherlei Handel zum Opfer gefallen. Und/Oder zum Täter geworden. Hier sind die Übergänge fliessend, der Schritt in die Illegalität ein kleiner, «Gratwandern» heisst das im landmannschen Vokabular. In ökonomischen Boomzeiten finde jeweils eine «eigentliche Völkerwanderung» Wirtschaftskrimineller statt. Schneeballsysteme aus Gewinnzahlungen und Rückzahlungen entwickeln sich zahlreich und rasant, Lawinenwarnungen werden, sofern überhaupt gehört, in den Wind geschlagen. Nun mag man sich fragen, weshalb selbst beflissene, ehrliche Geschäftsleute glauben konnten, dass so etwas funktioniere. Schliesslich weiss jedes Kind, dass jeder Schneeball entweder zerbirst oder schmilzt – und dass kein Baum in den Himmel wächst. Landmann hat dazu seine eigene These: «Fachleute sind in ihrem Fachgebiet in der Regel leichter hereinzulegen als Laien, denn sie fangen mit der Skepsis nicht mehr ganz am Anfang an.» Vor allem aber wüssten sie so viel, dass sie auch zu wissen glauben, wo die Gefahren liegen. Fachidiotie nennt das der Volksmund. Und selbst wer weiss, dass er in Teufels Küche steckt, hofft einfach darauf, noch rechtzeitig aussteigen zu können, «einen Stuhl zu haben, wenn die Musik stoppt», wie Landmann es ausdrückt.
drücklich auf die Gefahren des Anspruchs auf 100-prozentige Sicherheit hin, der zur Pervertierung des Rechtssystems führen kann. «Er verträgt sich schlecht mit dem liberalen Staats- und Justizverständnis Westeuropas.» Zum Beispiel die heilige Kuh der modernen Rechtsprechung: In dubio pro reo, im Zweifeld für den Angeklagten. Wenn aufgrund des öffentlichen Drucks etwa an den hierzulande hohen Ansprüchen an die Beweisführung gerüttelt wird, gerät das Rechtssystem aus den Fugen. Am klarsten zeigt sich das Sicherheitsdenken bei Fragen zur Verwahrung. «Man sperrt Menschen weg für Taten, die sie nicht begangen haben», nennt Landmann juristische Präventivschläge schnörkellos beim Namen. «Noch nicht», würde ihm der Gerichtspsychiater entgegnen. Er
«Der Ruf nach der totalen Sicherheit macht mir Angst.» wird immer öfter hinzugezogen, um das Rückfallrisiko beim jeweiligen Täter einzuschätzen. «Wegen der Unerbittlichkeit, mit der heute Unfehlbarkeit verlangt wird, gilt für ihn errare humanum est (Irren ist menschlich) nicht mehr», stellt Landmann fest. Deshalb plädierten die Mediziner «in einem beunruhigend hohen Prozentsatz der Fälle für langfristiges Wegsperren.» Politische Verhärtung und Dauerwahlkampf verstellen den Weg zu einem konstruktiven Umgang mit der Gesetzgebung. So werden etwa Vorstösse wie die Hanfliberalisierung tabu – obschon Verbote eine Tat attraktiver machen können. «Ermöglichte das Gesetz den Dealern nicht, Risikokosten zu verrechnen, wären selbst harte Drogen zu billig, um für kriminelle Organisationen attraktiv zu sein», gibt Landmann zu bedenken. Dies ist der überzeugendste Ansatz von Landmanns Buch: Sich in die Täter hineinzufühlen, erlaubt erst eine wirksame Prävention. Denn erst wenn man weiss, wie er tickt, können Massnahmen geschaffen werden, die auch greifen. Nur zu kriminalisieren, reicht nicht, aber es ist einfacher, als über gesellschaftliches Glatteis nachzudenken, auf dem man auch selbst ausrutschen könnte. «Dünnes Eis», so sagt der Autor selbst, beweise nichts. Bedenkenswert sind Landmanns Thesen aber allemal. ■
Ein illustrer Jurist Hauptsache weggesperrt Wenn die Öffentlichkeit heute über diese Wahnsinnigen, ihren Irrglauben und ihre Gier schimpft, so erinnert sie sich nicht mehr an die grenzenlose Bewunderung für die vermeintlichen Genies mit ihrem unfehlbaren Riecher und ihren Patentrezepten. Je nach politischem und gesellschaftlichem Klima dreht auch für die Gesetzgeber und -vollstrecker der Wind. «Es gibt durchaus Moden in der Rechtsprechung», bestätigt Valentin Landmann. Die Ausgestaltung eines Rechtssystems ist denn auch eine so diffizile wie emotionale Angelegenheit. Denn: «Das Eis ist immer da, der Grund, auf dem man geht, nie fest.» Es sei lediglich mehr oder weniger dick. «In interessanten Zeiten, Phasen des Wandels, wie wir sie derzeit erleben, ist es einfach dünner.» Vor diesem Hintergrund ist es kein Zufall, dass die Forderung nach der totalen Sicherheit gerade jetzt besonders populär ist. Diese ist Landmann gar nicht geheuer: «Der Ruf nach der totalen Sicherheit macht mir Angst.» Gewisses Verständnis mag er dafür zwar aufbringen, weist aber nachSURPRISE 213/09
Valentin Landmann war Lehrbeauftragter an den Universitäten St. Gallen und Zürich für Privat-, Handels- und Versicherungsrecht. Zwischenzeitlich wirkte er als Untersuchungsrichter und Ersatzrichter. Der Zürcher Anwalt ist heute einer der bekanntesten Strafverteidiger der Schweiz. Einer breiten Öffentlichkeit wurde er unter anderem durch seinen Einsatz für Biker-Gruppierungen, Randgruppen und die Legalisierung des Rotlichtmilieus bekannt. Im Orell Füssli Verlag sind bereits erschienen: «Der Reiz des Verbrechens» (2007) und «Verbrechen als Markt» (2006). Als Verteidiger machte er zuletzt mit dem Freispruch der beiden «Whistleblower» Margrit Zopfi und Esther Wyler aus dem Zürcher Sozialamt Furore. «Dünnes Eis. Wege in die Illegalität – ein Milieuanwalt erzählt» Orell Füssli Verlag, Zürich 2009, CHF 34.90
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Alltag Sag mir, wie du wohnst, und ich sag dir, wer du bist Der Winter kommt, und wir werden zu Stubenhockern: In der kalten Jahreszeit wird der Rückzug in die eigenen vier Wände wieder wichtiger. Zeit zur Reflexion, denn Wohnen ist auch Ausdruck individueller Werte und Bedürfnisse. Surprise lässt vier Frauen aus ihrem Wohnalltag erzählen. VON AMIR ALI (TEXT), ESTHER MICHEL UND DOMINIK PLÜSS (BILDER)
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sind damit aufgewachsen, irgendwann waren die Tierli dann halt jeweils wieder weg. Marcel und Simon wachsen auf zwischen dem Leben auf dem Bauernhof und dem Alltag in der Stadt, wo sie in Seebach zur Schule gehen. Ihr Interesse für den Hof lässt in letzter Zeit etwas nach. Ab und zu Nintendo spielen ist halt interessanter. Aber wenn es hart auf hart kommt, helfen beide mit. Marcel, der Ältere, macht mir öfters allein den Hofladen von A bis Z. Er kann es auch gut mit den Tieren. Und Simon interessieren die Maschinen. Ihn hat schon immer alles fasziniert, das herumsurrt. Früher bin ich viel in der Welt herumgereist. Aus dieser Zeit habe ich noch viele Kontakte, die meine beiden Jungs hoffentlich nutzen können, wenn sie etwas älter sind. Isoliert sind wir hier ganz bestimmt nicht. Wir leben mitten im Naherholungsgebiet, bei uns spaziert dauernd jemand auf dem Hof herum. Leider müssen wir sogar die Gartentüre stets geschlossen haben, weil die Leute nicht merken, dass dahinter unser Privatgrund ist. Sonst haben wir im Sommer laufend fremde Kinder samt den Eltern in unserem Garten oder sogar in der Küche. Und das brauch ich dann wirklich nicht. Wir gehen früh zu Bett. Gegen zehn gibt es einen letzten Rundgang über den Hof, und wenig später ist meist Schluss. Wir geben uns Mühe, wieder etwas öfter wegzukommen vom Hof. Vor zwei Jahren haben wir uns gesagt, eine Woche Ferien im Jahr muss drin liegen. Jetzt haben wir super Angestellte, denen wir vertrauen. Sonst könnten wir nicht wegfahren. Mit drei Leuten, die bei uns arbeiten, sind wir auf der äussersten Luxusvariante. Wenn das mit dem Milchpreis so weitergeht, können wir uns das nicht mehr leisten. Aber ich sage immer: Wir sind eine Familie. Man lebt nur einmal.»
Vereint mit der Stadt «Eine Woche Ferien im Jahr muss drin liegen» – Bäuerin Sonja Küchler.
Claudia Schmid, 30, lebt mit Freund Beni, 28, auf 100 Quadratmetern in einer Neubauwohnung im Zentrum von Zürich.
Man lebt nur einmal Sonja Küchler, 40, lebt mit ihrer Familie und drei Mitarbeitern auf einem städtischen Bauernhof am Rand von Zürich. Langweilig wird es hier ganz bestimmt nie. «Morgens um fünf steht Sepp wieder im Stall. Wir haben eine moderne Anlage, aber 60 Kühe zu melken, dauert trotzdem seine Zeit. Ich selbst schlafe bis um sechs Uhr aus, dann geht es auch für mich los. Ich bin die Chefin im Laden, im Haus und im Garten. Mit unserem Angestellten aus Polen, dem moldawischen Praktikanten und dem Lehrling aus der Stadt sind wir oft zu siebt am Tisch. Ich koche für alle zusammen und mache die Wäsche, den ganzen Haushalt einfach. Dazu kommt die Konfi- und Sirupproduktion für den Laden und den Grossteil unserer Buchhaltung. Seit elf Jahren pachten wir den Betrieb von der Stadt, und einen Schweizer Angestellten findet man für die Landwirtschaft wirklich kaum noch. Ich finde das schade, obwohl wir immer gute Leute aus dem Osten hatten. Sie haben ihre eigenen Eingangstüren und ihre Privatsphäre, aber wir sind doch wie eine grosse WG, Küche und Stube sind offen für alle. Für meine beiden Buben ist das gut. Ich glaube, sie sind dadurch offen und flexibel geworden. Vor ein paar Jahren haben wir uns gesagt: Wegen ein paar tiefgekühlter Beeren und einem Liter Milch kommt niemand zu uns raus. Also bauten wir aus und legten uns zu den 60 Milchkühen eine Schafherde und um die 30 Schweine zu. Wir verkaufen nur Fleisch vom Hof. Und auch wenn viele Leute gerne Poulet hätten, wir haben jetzt halt keine Hühner. Dafür gibt es in zwei Jahren Gitzi. Wir sind dabei, die Herde aufzubauen. Man baut gute Beziehungen zu den Tieren auf, auch wenn man sie schliesslich zum Schlachten gibt. Das kann ich gut trennen. Wir leben schliesslich zu einem Teil davon. Für die Buben ist das ganz normal. Sie SURPRISE 213/09
«Es gibt bestimmt Leute in unserem Freundeskreis, die uns als Yuppies bezeichnen würden. Wir haben beide früh zu arbeiten begonnen und hatten so auch immer unser eigenes Geld. 2800 Franken Monatsmiete ist viel, aber Grossverdiener sind wir nicht. Wir teilen uns die Miete, und so zahlen wir am Ende gleich viel, wie wenn jeder von uns in einer eigenen Wohnung leben würde. Dafür ist hier alles nigelnagelneu, und wir haben schon etwas Luxus: das Grümpelzimmer zum Beispiel, in dem unsere Schuhsammlung eine ganze Wand füllt. Oder die zwei Badezimmer. Eins für Mädchen, eins für Jungs. Die Einrichtung wächst organisch mit unserem Leben. Die Bilder über dem Esstisch zum Beispiel haben wir auf Flohmärkten und in Brockenhäusern gesammelt oder von Freunden bekommen. Das neuste ist eine Schwarzweiss-Aufnahme aus den Siebzigern von Polanski, der einem jungen Mädchen etwas ins Ohr flüstert. Nach Jahren als Paar wurde irgendwann klar: Wir ziehen jetzt zusammen. Wir besichtigten Dutzende von Wohnungen, und nie klappte es. Da fing ich an, mit dem Velo Baustellen abzuklappern und mir die Telefonnummern der Architekturbüros zu notieren. Als wir uns für die Wohnung bewarben, stand das Haus noch im Rohbau. Wir wohnen hier gleich neben dem Kino. Wir müssen nicht einmal die Zeitung aufschlagen, um uns das Programm anzusehen. Wir machen einfach ein Foto und zoomen rein. Wenn uns etwas anmacht, müssen wir nur noch über die Strasse. Wir sind auch schon in Finken und Trainerhosen ins Kino rübergeschlurft und haben uns unter all die herausgeputzten Leute gemischt. Ich liebe diese Spontaneität. Sie macht für mich das urbane Leben aus. Seit ich hier wohne, brauche ich viel weniger SMS und Telefonanrufe, um mich mit Freunden und Bekannten zu treffen. Ich gehe einfach raus, und meist geht es nicht lange, bis ich jemandem über den Weg laufe. Ich bin zu einem Teil des Quartiers geworden.
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«Hier habe ich Ruhe und kann in mich hineinhören» – Claudia Schmid.
Früher stand nebenan ein besetztes Haus. Wir haben einige Freunde, die aus der Besetzerszene kommen, also war das schon etwas seltsam, als wir das erste Essen machten und wussten, dass hier früher Partys stiegen. Aber am Ende haben die alle auch hier zu Abend gegessen. Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen deswegen, wenn mir bewusst wird: Du bist jetzt genau ein Teil dieser Gentrifizierung. Wenn ich nicht hier wohnen würde, fände ich es vielleicht sogar ein wenig doof. Viel wichtiger ist mir aber, dass ich mich in meiner Wohnung wohlfühle: Sie ist meine Höhle. Hier kann ich mich zurückziehen und mich ganz auf mich selbst konzentrieren. Hier habe ich die Ruhe, um in mich hineinzuhören. Andererseits sitze ich auch oft da und gucke hinaus, beobachte obsessiv, was da unten passiert. Auch die Beobachtung ist ein Rückzug und hat etwas Meditatives. Am liebsten liege ich hier auf dem Sofa und lasse meinen Blick in den Himmel schweifen. Dann fühlt es sich an, als würde ich mich mit der Stadt vereinen.»
Weile ein Engagement haben. Und einmal die Woche haben wir einen Kunststudenten zu Gast. Im grösseren Teil der Mansarde wohnt eben Christiana. Einerseits wird so meine Miete etwas billiger. Aber auf der anderen Seite: Mit Gloria allein das klassische Dasein der Alleinerziehenden zu leben, das wäre nicht mein Traum. Wir haben beide gerne Gesellschaft. Sogar unsere kleine Border-Terrier-Dame Zora hat gerne Besuch. Unsere Mitbewohnerin mag Brettspiele, das ist natürlich ein Vorteil für Gloria und ihre Freundinnen, die zum Spielen rüberkommen. Ich sage häufig Mitbewohnerin, aber ich glaube, Christiana sieht sich selbst mehr in der Rolle des Gastes. Für mich ist sie ein fester Bestandteil meiner Wohnform. Ich spüre gern, dass jemand da ist. Wir zwingen uns nicht zum Kontakt, aber wenn beide zu Hause sind und Lust haben, setzen wir uns in die Küche und schwatzen, über Kultur, unsere letzten Wanderungen oder unsere Arbeit. Sie pflegt alte Menschen, ich bin Köchin in einer heilpädagogischen Schule. Ab und zu mache ich in einem Restaurant in der Altstadt den Service. Zusammen mit der Untermiete und den gelegentlichen Übernachtungen ist das mein zerstückelter Lebensunterhalt. Abgesehen von der Wohnung und der Mansarde haben wir einen kleinen Garten. Die Beamtenfamilien, die früher in diesen städtischen Reihenhäusern einquartiert waren, pflanzten dort Gemüse zur Selbstversorgung an. Für uns ist es ein kleiner Flecken Grün und im Sommer das erweiterte Wohnzimmer. Alles in allem ist unser kleines Reich doch ganz gross. Zu eng wird es höchstens im Bad, wo auch Gloria immer länger braucht. Aber sonst fehlt es uns hier an nichts. Die Leute gewöhnen sich daran, immer mehr Platz für sich allein zu haben. Ich brauche das nicht, habe es früher nicht gebraucht und brauche es auch heute nicht. Bis vor zehn Jahren zog ich mit Glorias Vater in einem alten Zirkuswagen umher, immer der Arbeit nach. Ein Überbleibsel aus dieser Zeit ist die Gepäckablage aus einem alten Zugwaggon, die in meinem Schlafzimmer hängt. Wohnformen sind etwas Politisches. Wer hinter sich abschliesst, wenn er nach Hause kommt, hat ein gewisses Bild von seiner Umwelt. Genauso wichtig wie die Wohnung selbst ist mir das Umfeld. Wir leben hier in einem durchmischten und vielseitigen Quartier: viele Ausländer, Patchwork-Familien, Alleinerziehende. Und die Umgebung ist grossartig. Einer meiner liebsten Orte ist der Wolf-Gottesacker-Friedhof. Nicht nur wegen seines Namens. Ich liebe es, zwischen den alten Grabsteinen und den verfallenen Engelsfiguren herumzuspazieren. Beim Blick aus dem Küchenfenster schaue ich über die alten Backsteingebäude, und die Farben der Schrebergärten daneben leuchten auch jetzt noch, im Spätherbst. Es ist ein Paradies auf Zeit. Hier sollen dereinst drei neue Stadtteile hingestellt werden, geplant von den beiden Basler Stararchitekten. Ich bin keine Freundin von Herzog und de Meuron. Aber ich mag den Gedanken, dass alles im Wandel ist.»
Alles im Wandel Monica Nobel, 44, lebt mit Tochter Gloria, 13, in einem alten Arbeiterhäuschen am Stadtrand von Basel. Eine Untermieterin und andere Übernachtungsgäste sorgen dafür, dass die beiden stets in guter Gesellschaft sind. «Manche Leute finden, wir hätten hier zu wenig Platz. Meine Tochter Gloria und ich haben je ein Zimmer und die Stube. Bad und Küche teilen wir mit unserer Untermieterin Christiana aus Deutschland, die ein paar Tage pro Woche hier ist. Wo früher das Büro meines Mannes war, richtete ich nach der Trennung zwei Zimmer ein. Im kleineren übernachten häufig befreundete Schauspieler, die hier in Basel für eine
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«Wir haben gerne Gesellschaft» – Monica Nobel und Tochter Gloria. SURPRISE 213/09
Die Blinden helfen den Lahmen Marcelle Burkhardt, Jahrgang 1934, ist Mitbegründerin des Alterswohnprojektes «füfefüfzg» im Berner Lorrainequartier. Elf Männer und Frauen zwischen 63 und 78 teilen hier Freud und Leid des gemeinsamen Alltags. «Am Sonntag essen wir eigentlich immer zusammen Zmorge. Mal haben wir volles Haus, mit Enkeln und Besuch – und dann wieder sitzt man zu dritt am Tisch. Es herrscht kein Zwang, wir haben alle noch Interessen und Hobbys. Dorothy spielt viel Klavier, ihr Mann Richard beschäftigt sich noch immer mit der Wissenschaft und dem Universitätsleben. Sie wohnen in der oberen Etage des kleinen Gebäudes gleich beim Hofeingang. Schräg unter ihnen ist unser Gemeinschaftsraum untergebracht, das «Chaos». Es ist der Schnittpunkt in unserem Alltag und auch die Verbindung hinaus ins Quartier. Immer zu Vollmond etwa kochen wir verschiedene Suppen und haben offenes Haus. Drüben im über 100-jährigen Haupthaus haben wir im Hochparterre die Grandjeans, unsere Gründungsmitglieder und Hausarchitekten. Sie segeln gerade irgendwo auf Frankreichs Kanälen herum. Gleich darüber teilen sich die beiden Jüngsten den ersten Stock: Peter und Lisa sind gerade mal etwas über sechzig, am Wochenende sind oft ihre Lebenspartner hier. Beide haben Küche und Bad für sich. Alle unsere Wohnungen haben wir beim Umbau so ausgerüstet, dass sie sich von zwei unabhängigen Parteien getrennt nutzen lassen. Das Ehepaar Schibler aus dem zweiten Obergeschoss keltert auf ihrem Weingut im Piemont unse-
ren Hauswein und ist nur etwa drei Monate pro Jahr hier in Bern. Und zuoberst sind Elisabeth und ich. Jede ein Schlafzimmer und ein Bad, den Rest teilen wir. Wir sind die Frauen-WG im «füfefüfzg», und wir sind auch die beiden Ältesten in unserem Club. Die Blinden helfen den Lahmen – das war überspitzt gesagt ein Kerngedanke, als wir vor 13 Jahren die beiden Häuser kauften. Es ist klar: wir sind privilegiert. Wir hatten das Geld und konnten zuversichtlich zuschlagen. Damals waren wir Pioniere, in Bern zumindest. Seit acht Jahren wohnen wir nun hier. Die nächsten neuen Mitbewohner werden es nicht einfach haben, das ist wahrscheinlich so, wie wenn jemand nüchtern in eine angeheiterte Gesellschaft platzt. Bis jetzt geht es uns allen wunderbar, aber wir wissen auch, dass das nicht immer so bleiben wird. Das Pflegeheim können wir hier nicht ersetzen, das ist klar. Aber das Altersheim allemal. Wenn so viele Menschen aufeinander treffen, die alle bewusst ihre langjährigen Strukturen, die Familien und Häuser verlassen, dann verlangt das allen etwas ab. Man kann nicht den Fünfer und das Weggli haben. Der Alltag in der Gruppe hat sehr viele schöne Seiten. Im Sommer spazieren wir zum Schwimmen hinunter zur Aare und im Winter gehen wir öfters ins Theater und zu Konzerten. Am Ende geht es bei uns weniger um gegenseitige Hilfe als um gemeinsames Geniessen. Dafür muss man sich auch Dingen stellen, die man sonst im Alter nicht mehr unbedingt erlebt. Grundsatzdiskussionen gehören in dieser Lebensform einfach dazu. Aber so bleibt man flexibel und setzt sich mit seinen Mitmenschen auseinander. Und genau das macht das Leben lebenswert, oder?» ■
«Das Pflegeheim können wir nicht ersetzen, das Altersheim schon» – Marcelle Burkhardt (schwarzer Pulli).
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Liebe «Was normal ist, definiert jedes Paar für sich«Quote.» selbst»
Überladene Beziehungsideale, Zeitstress, Pornografie: Die Liebe im 21. Jahrhundert wird von allen Seiten bedroht. Paarpsychologe Klaus Heer (66) erklärt, wieso jede Ehe irgendwann zur Vernunftbeziehung wird, weshalb man Kinder und Liebesbeziehung nicht unter einen Hut bringen kann – und warum Paare trotzdem allen Grund haben, dankbar zu sein. Bildlegende
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VON MENA KOST (INTERVIEW) UND BASILE BORNAND (BILD)
Herr Heer, damit wir das gleich zu Beginn klären können: Gibt es die «ewige Liebe»? Klar gibt es die. Sie können die Leute fragen, fast alle haben es schon erlebt. Einmal oder ein paar Mal in ihrem Leben, durchschnittlich 90 Tage lang. So lange dauert der Zustand der Verliebtheit. Aber im Ernst: Ich weiss es nicht. Jeder versteht unter «Liebe» etwas anderes. Und bei keinem dauert «ewig» gleich lange. Neigen wir dazu, die Liebe zu verklären? Ja, Liebe gilt als «Himmelsmacht». Diese Idee stammt aus den kurzen Zeiten, wo wir verliebt waren. Und aus Büchern, Film und Fernsehen. Welche Vorstellungen von einer «guten Beziehung» herrschen in unserem Kulturkreis vor? In erster Linie stellt man sich vor, dass eine gute Beziehung die eigenen Bedürfnisse befriedigt. Vor allem die emotionalen; Geliebt- und Verstandenwerden, Geborgenheit und Anerkennung. Heute muss die Beziehung eine Rundum-Wellness-Einrichtung sein. Und das bei möglichst kleinem eigenem Aufwand.
mit ist die Beziehung generell unübersichtlich und offensichtlich konfliktanfälliger geworden. Sodass heute jede zweite Ehe geschieden wird. Die Gründe für die gestiegenen Scheidungsraten sind komplex. Einerseits sind viele Paare überfordert mit dem sozialen Mikrokosmos, den sie sich selbst geschaffen haben und versagen gemeinsam. Unsere emotionalen Fähigkeiten sind nicht auf der Höhe der Anforderungen des 21. Jahrhunderts. Wir wissen ja nicht einmal mehr, worauf es eigentlich ankäme, wenn wir es «gut machen» wollten in unserer Ehe. Und andererseits? Auf der anderen Seite ist es mehr als verständlich, dass wir unseren eigenen Liebesschwüren untreu werden. Wer zu Beginn des 19. Jahrhunderts seinem Geliebten zärtlich ins Ohr flüsterte: «Mit dir will ich alt
«Reden kann jeder. Auch Männer! Nur vergeht einem das Reden, wenn niemand da ist, der hören will.»
War das vor 50 Jahren auch schon so? Nein, nicht ganz. Früher war vor allem wichtig, dass man sich in der Familie gegenseitig unterstützte. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts hat sich der Trend massiv verstärkt, dass die Zweierbeziehung die emotionale Grundversorgung beider Partner zu leisten hat. Das überladene Beziehungsideal von heute passt also nicht zum Beziehungsalltag. Genau. Das konkrete tägliche Zusammenleben hat sein eigenes Gesicht. Aber auch seine eigene Schönheit. Zum Beispiel, dass man nicht allein ist und einander tätig zur Seite steht. Das ist Grund genug, dankbar zu sein, jeden Tag. Wer davon träumt, die Beziehung müsste doch anders sein, mehr hergeben oder glücklicher machen, der macht sich unglücklich. Was macht eine gute Partnerschaft aus? Das weiss ich nicht. Es ist die Hauptfrage in jeder Partnerschaft, das herauszufinden. Das muss die Frage sein, mit der man zu zweit immerzu unterwegs ist, die man sich und einander unermüdlich stellt und kreativ beantwortet: Was weckt und erhält die Freude, die wir aneinander haben könnten? Auch diese Antwort ist für jedes Paar sehr persönlich und einzigartig. Wie verändert das Verheiratetsein eine Liebesbeziehung? Ehe ist eine ebenso nützliche Erfindung wie der öffentliche Verkehr und das Opernhaus: Gold wert und entsprechend teuer. Sie bedeutet ein besonders deutliches und engagiertes Ja zur Beziehung. Wenn man in den Hafen der Ehe einfährt und sich dort vertäut, kann man nicht mehr ohne Weiteres auf die hohe See hinausfahren. Bei dieser Entscheidung spielen oft Sicherheitsinteressen mit: Jetzt gehören die zwei erst richtig zusammen. Das ist natürlich zwiespältig. Geborgen sein ist schön, sich eingesperrt fühlen gar nicht. Von «Zueinander gehören» ist es meist nur ein kleiner Schritt zu «Einander gehören». Früher, heisst es oft, war es mit der Ehe einfacher, da die Rollenzuteilung klar war. (Lacht.) Ja, früher war alles einfacher, als die Frauen ihre Beziehungsbedürfnisse noch für sich behielten, das stimmt. Heute drücken die Frauen klarer aus, wie sie sich eine Beziehung vorstellen. Und sie lassen fast nichts mehr unversucht, diese Ideen auch durchzusetzen. DaSURPRISE 213/09
werden, Schätzeli!», der versprach damit Treue für eine durchschnittliche Ehedauer von 15 Jahren. Heute heisst das, die beiden turtelnden Täubchen müssten es bis zum Pflegeheim glatte 50 Jahre miteinander aushalten. Das ist krass. Und dennoch heiraten viele Paare im festen Glauben, sie hätten das immerwährende Liebesglück gepachtet … Ich bin mir da inzwischen nicht mehr ganz so sicher. Die Meldungen von der Ehefront sind ja alles andere als positiv. Tatsächlich kann man sich als Braut und Bräutigam absolut nicht vorstellen, dass man nach wenigen Jahren Zweisamkeit schon unglücklich sein könnte: «Das passiert allen anderen, aber uns doch nicht!». Vermutlich ist das eher eine Beschwörungsformel als eine zweifelsfreie Gewissheit. Gibt es so etwas wie Gift für eine Partnerschaft? Was die Partnerschaft ruiniert, sind nicht irgendwelche Giftstoffe. Eher eine verhängnisvolle Mischung aus Unwissenheit, Passivität, Mutlosigkeit, Ausweichen, Unlust, Stummheit und Ähnlichem. Dieser Mix wirkt still und unauffällig im Inneren der beiden Partner und führt schliesslich zur kraftlosen Resignation. Viele Frauen und Männer harren in Beziehungen aus, obwohl sie unglücklich und resigniert sind. Wieso tun sie sich das an? Sie harren aus, weil sie resigniert sind. Zu resigniert, um irgendwelche konstruktiven Konsequenzen aus ihrem Unglück zu ziehen.
Klaus Heer (*1943) ist Paartherapeut und führt seit 1974 eine eigene Praxis in Bern. In den 70erJahren erregte der promovierte Psychologe viel Aufsehen mit seien Radiosendungen zum Thema Sexualität und Partnerschaft. Klaus Heer ist seit 28 Jahren verheiratet und ist Vater zweier erwachsnen Töchter. Seine Bücher «Ehe, Sex und Liebesmüh» (1995), «Wonne Worte» (2000) und «Paarlauf» (2005) verkaufen sich tausendfach. Zuletzt erschien Ende September im Wörterseh Verlag «Klaus Heer, was ist guter Sex?» – geschrieben von Barbara Lukesch, die den Fachmann in stundenlangen Gesprächen mit dieser und anderen Fragen konfrontiert hat. http://verlag.woerterseh.ch
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Resigniert, unglücklich – und vielleicht auch sexuell frustriert? Wie wichtig ist Sex in einer Liebesbeziehung? Das weiss ich nicht. Jedes Paar bestimmt den Stellenwert von Berührung, Erotik und Sexualität eigenständig. Niemand sollte sich von dem weitverbreiteten Märchen ins Bockshorn jagen lassen, Sex gehöre unbedingt dazu, zu einer «normalen» Beziehung. Was normal ist, definieren immer Mann und Frau für sich selbst. Gibt es noch andere Märchen über Sex? Eine ganze Menge sogar. Das grösste und folgenreichste von ihnen pflegen wir sogar an zwei Orten gleichzeitig: zwischen den Ohren und zwischen den Beinen. Im Kopf denken wir, beim Sex gehe es letztlich um den Orgasmus, er sei der Gipfel allen Tuns im Bett. Everest Kulm sozusagen. Sex ohne dieses Schlussbouquet habe eigentlich keinen Sinn. Und welche Folgen haben solche Vorstellungen im Bett? Diese fixen Ideen machen uns grosse Probleme beim Liebemachen. Nur die wenigsten Paare schaffen dieses orgastische Jonglier-Kunststück vom gemeinsamen, gleichzeitigen Feuerwerk. Der Orgasmus kommt gewöhnlich wie und wann er will. Zu mickrig, zu früh, zu spät oder gar nicht. Und sogar wenn er kommt, fühlt er sich oft nicht wirklich befriedigend an. Woher dann diese Orgasmusfixiertheit? Viele unserer verdrehten Ideen über Sex stammen aus der Pornowelt. Eine gigantische Pornoflut ergiesst sich in den letzten Jahren via Internet über uns, über uns Männer vor allem. Weit über 400 Millionen für jedermann leicht zugängliche Websites sind es im Moment, Tendenz rasant steigend. Pornografie regt nicht die Fantasie an, wie man immer wieder hören kann, im Gegenteil. Sie versaut unsere Sexualität mit einem frauenverachtenden Einheits-Sexbrei.
che Gelegenheit zu wohliger Körpernähe fällt weg. Es besteht die Gefahr, dass man den erotischen Faden zueinander verliert. Ausser man kümmert sich sorgfältig um sein Liebesleben. Die Schlafzimmerfrage ist ein Dilemma, eine simple Lösung gibt es nicht. Beziehung ist überhaupt die deutsche Übersetzung für das griechische Wort Dilemma. Wer sich zusammentut, begegnet einem Dilemma nach dem anderen. Eine Zweierbeziehung ist also keine einfache Sache. Was, wenn noch Kinder dazukommen? Kinder krempeln die Zweierbeziehung total um. Meistens wird die Beziehung gar bis zur Unkenntlichkeit verändert. Zweisamkeit und Familie sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Ein Kind macht aus einer Liebesbeziehung eine Lebensgemeinschaft. Die wenigsten Paare sind willens und fähig, diese radikale Veränderung zu akzeptieren. Kann man Liebesbeziehung und Elternsein unter einen Hut bringen? Gegenfrage: Wie kann man Frühling und Herbst unter einen Hut bringen? Wer sich gegen die Umwandlung von Zweisamkeit zur Familie stemmt, macht sich das Zusammenleben schwer. Viel schwerer, als es eigentlich ist. Wie verändert sich eine Beziehung im Verlauf des Lebens? Jede Liebesbeziehung, die lange genug dauert, wird zu einer Vernunftehe. Vernunft insofern, als nur zwei emotional intelligente Leute eine geglückte Beziehung führen können. Das hat mit Einfühlungsfähigkeit,
«Mann und Frau werden vermutlich erst mit ungefähr 50 langsam sexuell reif.»
Wie kann ein Paar sein Liebesleben jenseits von solchen fixen oder verdrehten Ideen gestalten? Wie einen Garten. Er gedeiht und blüht nur, wenn man ihn liebevoll pflegt. Gemeinsam, fantasievoll, mit Hingabe. Wichtigste Vorbedingung ist ein fruchtbarer Boden: Zeit. Man muss dem Partner immer wieder von seiner Lebenszeit schenken. Nicht zu vergessen ist auch das Beziehungsklima. Jeder Liebesgarten braucht seine eigenen klimatischen Verhältnisse. An einer zweisamen Klimakonferenz kann man das klären. Sie meinen, man muss zuerst die Pflanzfolge besprechen, einfach drauflos gärtnern bringts nicht? Das ist doch auch in allen anderen Lebensbereichen so, etwa im Berufsleben. Allerdings ist die Allerweltsempfehlung «Man muss halt reden miteinander» nicht ganz das Wahre. Reden kann jeder. Auch Männer! Nur vergeht einem das Reden, wenn niemand da ist, der hören will, was man sagt. Offene Ohren und weite Herzen bringen jeden Liebesgarten zum Blühen. Fast jeden. Was halten Sie eigentlich von getrennten Schlafzimmern? Viele Paare machen sich das Leben schwer, indem sie einander plagen mit allerhand nächtlichem Ungemach. Wann gehen wir zu Bett und wann löschen wir das Licht? Schlafen wir bei offenem Fenster? Sie stören ihren Schlaf mit Revierkämpfen im Bett – ohne es zu merken. Das Schlimmste ist vermutlich das Schnarchen. Das ist wahrlich nur knapp auszuhalten. Dann plädieren Sie dafür, die Schlafzimmer zu trennen? Nein, wie käme ich dazu? Ich weiss doch, dass es auch seine Tücken hat, wenn jeder in seinem eigenen Zimmer haust. Viel selbstverständli-
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Mut und psychischer Eigenständigkeit zu tun. Da wir heute im Durchschnitt sehr alt werden, haben wir rund 50 Jahre Zeit, das zu erreichen. Zu zweit und jeder für sich. Bietet eine Vernunftehe einen guten Boden für eine erfüllte Sexualität im Alter? Man weiss aus Untersuchungen, dass sehr viele Paare ihren Sex zur Ruhe betten, wenn sie zehn oder 15 Jahre zusammen sind. Sie sind überfordert und entmutigt von ihren miesen Betterfahrungen. Und sie verlegen sich auf spannendere Hobbys. Das ist natürlich in Ordnung, aber auch ein bisschen schade, finde ich. Denn Mann und Frau werden vermutlich erst mit ungefähr 50 langsam sexuell reif. Das würde bedeuten, dass ein Paar bis ins hohe Alter sexuell lebendig bleiben könnte. Genau das. Miteinander reif werden ist eine aufregende Herausforderung, im alltäglichen Zusammenleben als auch im Bett. Der Tod rückt einem ja unaufhaltsam auf den Pelz. Er schickt seine Boten voraus, nämlich zunehmende Schwäche und allerhand Krankheiten. Man weiss: Wir haben nicht mehr viel Zeit. Das macht doch eigentlich jeden Augenblick wertvoll. Sind sich ältere Paare dessen bewusst? Ja, vermutlich. Aber ich glaube, nur den wenigsten gelingt es, einander auch zu sagen, dass ihnen das klar ist, und ihre Beziehung entsprechend zu beleben. Die meisten haben zu lange über das Wesentliche geschwiegen, häufig ein Eheleben lang. Grad gestern erzählte mir ein früherer Klient, er habe die Liebe zu seiner Frau erst entdeckt, als sie wenige Wochen vor ihrem Krebstod stand. 40 Jahre war sie da, die Liebe, und wartete geduldig darauf, gelebt zu werden. ■
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BILD: ISTOCKPHOTO
Ernährung Besessen von gesundem Essen Im Coop oder Migros sind sie bei den laktosefreien Milchprodukten oder beim Bio-Gemüse zu finden, aber eigentlich bevorzugen sie Reformhäuser: Health Food Junkies sind besessen von gesunder Ernährung. Diese kann jedoch einsam und sogar krank machen. VON ANNA WEGELIN
Gabriele Hemmeter (48) hat eine Praxis für spirituelle Heilarbeit in Basel. Ihr Erststudium war Innenarchitektur. Mit 19 begann sie, sich intensiv mit gesunder Ernährung auseinanderzusetzen. Ihre Mutter litt an Darmbeschwerden, die Kinder ihrer Tante hatten Lebensmittelallergien. Hemmeter und ihre Mutter stellten auf biologische und ökologische Nahrungsmittel um. Sie assen weniger Fleisch und kein Schwein, keinen raffinierten Zucker, Brot mit Sauerteig statt mit Hefe. Eingekauft wurde im Reformhaus. «Für uns ging eine neue faszinierende Welt auf», meint Gabriele Hemmeter rückblickend über jene «erste Phase der Suche», die ein Jahr dauerte. Mit 20 begann ihre «Hardcore-Phase», die sie auch als «Selbstfindungsphase» bezeichnet. Sie dauerte etwa vier Jahre und veränderte vorübergehend ihr Leben. Hemmeter war gerade von zu Hause ausgezogen und begann, «gesunde» Kalorien zu zählen: «Ich wollte schlanker werden, meine Mutter war sehr füllig.» Zum Frühstück ass sie WeizenSURPRISE 213/09
körner, aufgesetzt am Tag davor, mit Rosinen und verschiedenen Gewürzen angereichert. Zum Zmittag gab es gegartes Gemüse und als Beilage ein Getreide. Das Dessert oder das Zvieri bestand aus Vollkorngebäck mit Ahornsirup, und abends ass sie selbst gebackenes Brot mit vegetarischem Tartex-Aufstrich, Tomaten und Fruchtsaft. Ihre Ernährungsregeln wurden immer strenger und die «sündigen Ausrutscher» immer seltener. Zur rigorosen Diät gehörten für Hemmeter auch die passenden, unmodischen Kleider aus Naturfasern: «Ich sah wie ein Birchermüesli aus.» Als am 26. April 1986 in Tschernobyl ein Atomreaktor explodierte, habe es ihr völlig abgelöscht: «Da schaust du auf die Qualität des Essens und dann kannst du so vieles nicht mehr essen, weil du dir diese ganze radioaktive Geschichte bildhaft vorstellst und glaubst, alles sei verseucht.» Eigentlich müssten wir es alle wissen: Ausgewogene Ernährung und ausreichende Bewegung halten uns fit und gesund. Doch schon an der Definition von «ausgewogen» scheiden sich die Geister: Zwar ist die klassische Ernährungspyramide immer noch der Ausgangspunkt in der
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Ernährungsberatung der meisten Schweizer Spitäler, aber längst schon buhlt ein bunter Markt von Ernährungslehren und -philosophien um die Gunst der Gesunden und Glücklichen. Sie heissen Makrobiotik, Ayurveda oder Sonnenkost, Veganertum, Steinzeitdiät oder Ernährung nach den fünf Elementen. Auch beim Einkaufen für den täglichen Gebrauch begegnet uns diese materielle Heilsversprechung auf Schritt und Tritt, von Activelife-Müesligebäck bis Babybel Light. Für immer mehr Menschen im industrialisierten Norden wird Essen so zur Glaubenssache und produziert eine Jüngerschaft von Health Food Junkies: von gesunder, natürlicher Ernährung Besessene. So bezeichnet der amerikanische Arzt Steven Bratman im gleichnamigen Ratgeberbuch Menschen mit «Orthorexia nervosa» – einer von ihm selbst kreierten «Diagnose», mit der er 1997 zum ersten Mal an die Öffentlichkeit trat. Orthorexie – von griechisch «richtiger Appetit» – bedeutet zwanghaft «gesund» essen. «Orthorexie beschreibt die Überbewertung gesunden Essens, gedanklich wie gefühlsmässig wie verhaltensmässig, und zwar in einem Ausmass, das für die betroffene Person und für ihre Umgebung zu einer psychischen Belastung wird», präzisiert die Ärztin Bettina Isenschmid (siehe Interview S. 21). Noch gibt es kein anerkanntes System zur Diagnose der Orthorexie und deshalb auch keine zuverlässigen Statistiken. Doch gelten folgende Kriterien als Anhaltspunkte: Die Gedanken kreisen ständig um das Essen, das bist ins letzte Detail geplant wird. Die Spontaneität nimmt ab, die soziale Isolation zu und Körperkontakt wird möglichst vermieden. «Ungesundes» Essen kann bei Health Food Junkies zu regelrechten Angstzuständen führen und einige wollen sogar ihre Umgebung «bekehren». Dabei geht es nicht um die Anzahl Kalorien, sondern um die Qualität der Esswaren. Trotzdem kann sich aus einer Orthorexie eine Magersucht – Anorexie – entwickeln. «Orthorexie ist schwer erkennbar», sagt
Christiane Schräer, Beraterin und Geschäftsleiterin der Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen in Zürich. Der Übergang von ausgesprochen gesundem zu zwanghaftem Essverhalten sei fliessend. Orthorektische Personen würden in ihrem Essverhalten nichts Aussergewöhnliches oder Alarmierendes sehen: «Im Gegenteil, sie meinen, sich etwas speziell Gutes zu tun.» Menschen, die «nicht gut zu Hause sind in ihrem Körper», seien anfälliger für Orthorexie als Menschen, die sich gut spüren. Es könne ein langer Weg sein, bis eine orthorektische Person lerne, wieder lustvoll zu essen. Denn ihre Diät verleihe ihrem Leben vordergründigen Halt und Orientierung. Schräer: «Sie muss zuerst wieder lernen, ihren Körpersignalen zu vertrauen, anstatt gesetzten Regeln zu folgen.» «Es gab eine Zeit, da war ich völlig pur», sagt Gabriele Hemmeter über jene 20 Jahre zurückliegende Lebens- und Essphase, die ihr heute «total fremd» sei: «Ich habe mich gefühlt wie in einem inneren Kloster.»
«Ich habe mich gefühlt wie in einem inneren Kloster.» Aber sich dabei als unfrei empfunden oder gelitten habe sie nicht. Veränderte Lebensumstände haben dazu beigetragen, dass sie von ihrem Ess-Extremismus wegkam: Sie wechselte den Wohnort, begann eine neue Ausbildung, verliebte sich. Und wie ernährt sie sich heute? «Ich achte darauf, was mir im Moment gut tut und Freude macht und klammere mich nicht mehr an ein rigides Prinzip.» Sie lasse sich bei der Wahl von Nahrungsmitteln von einem «inneren Sensorium» leiten, erklärt sie. Eine allgemeingültige Formel für gesundes Essen will sie nicht abgeben. Wichtig sei, ein Bewusstsein für Ernährung zu entwickeln und gleichzeitig zu lernen, «immer wieder neu liebevoll auf sich und seinen Körper zu hören, sich mit dem Ernährungsangebot zu beschäftigen und auf seinen Körper zu achten». Der Rest sei Vertrauen ins Leben.
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Ersatzreligion Lifestyle «Zwanghaft, kontrolliert, isoliert» Sie sind meist weiblich, zwischen 35 und 45 Jahren alt und befassen sich stundenlang mit der Planung von Mahlzeiten: Ärztin Bettina Isenschmid behandelt Menschen, die vor lauter gesunder Ernährung krank wurden.
Frau Isenschmid, was zeichnet Menschen mit Orthorexie aus? Am auffälligsten ist, dass sie sich stundenlang mit der Planung von Mahlzeiten befassen und auch akribisch vorbereiten, wo und zu welcher Zeit das Essen stattfinden soll. Sie tragen immer und überall eine Überlebensration mit sich, selbst wenn sie sich dem Spott und den misstrauischen Fragen anderer aussetzen. Wichtig ist einzig, dass der Körper durch die richtige Nahrungszufuhr gesund, sauber und rein bleibt. Menschen mit Orthorexie sind zwanghaft, kontrolliert und daher zunehmend sozial isoliert. Was isst eine orthorektische Person und was nicht? Was ist «gesund» für sie? Das ist ganz individuell. Die Kriterien messen sich zum Beispiel an Herkunft, Farbe oder Hersteller – man geht extra ins Ausland für ein Produkt oder hungert, bis es mit der Post eintrifft. Die Diät ist häufig fleischlos. Einzelne Inhaltsstoffe wie Vitamine werden übermässig konsumiert. Immer mehr Nahrungsmittel kommen gar nicht mehr in Frage, weil man Angst hat, sie könnten ungesund sein oder den Körper vergiften. Vergiften? Ja. Ich hatte eine Klientin, die sich von ihrem Mann scheiden liess, weil sie sich durch die Ausdünstungen seines «ungesunden» Fleischkonsums bedroht fühlte. Was sind mögliche Ursachen für eine Orthorexie? Orthorexie ist eine Bewältigungsstrategie. Sie hilft den Betroffenen, Angst abzuwehren und ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Häufig erlebten sie in ihrer Kindheit und Jugend eine Umgebung, die ängstlich war und die Welt als unkontrollierbar und unberechenbar empfand. Verlusterlebnisse und Instabilität können weitere Ursachen sein. Man verschmäht bestimmte Lebensmittel, weil sie mit einer unguten Situation in der Vergangenheit verbunden sind. Viele meiner Klientinnen hatten Erlebnisse, in denen sie sich vor etwas geekelt hatten. Gleichzeitig spielte sich eine viel grössere Angst ab.
Ist bekannt, wie viele Menschen in der Schweiz an Orthorexie leiden? Es melden sich immer mehr Menschen bei mir, die plötzlich bei sich merken, wie lustlos und unspontan ihr Leben durch ihre zwanghaft gesunde Ernährung geworden ist. Ich begleite mehrheitlich jüngere Frauen, aber auch Frauen und Männer zwischen 35 und 45, die alles im Griff haben müssen, oft sehr gesund leben, häufig sehr sportlich sind und asketische Züge aufweisen. Ich vermute, dass die meisten Betroffenen gar nicht erst in eine Behandlung kommen oder viel später in ihrem Leben Hilfe suchen wegen medizinischer Komplikationen oder Mangelerscheinungen, die auf Orthorexie zurückzuführen sind. Wie soll man reagieren, wenn man den Verdacht hat, dass jemand Orthorexie hat? Wenn Sie eine gefühlsmässige Beteiligung spüren, sprechen Sie die Person unbedingt direkt und unter vier Augen an. Sagen Sie, was Sie beobachten und was Ihnen Sorgen bereitet. Versuchen Sie nicht, ihr anormales Verhalten nachzuweisen. Dabei darf man ruhig sagen, dass man schon einmal von Orthorexie gehört hat. Wie arbeiten Sie selber mit Ihren Patienten? Zuerst gewinne ich ihr Vertrauen, mache ihnen klar, dass ich ihnen nicht wegnehmen will, was für sie stabilisierend wirkt. Dann geht es darum, zu benennen, welchen Sinn ihr Verhalten für sie macht: Was liegt hinter dem vermeintlich gesunden Essen, mit dem man Ängste abwehrt. Dies macht jedoch einen Menschen mit Orthorexie noch lange nicht gesund. Stimmt. Aber vielleicht merken sie irgendwann, was dabei an Spontaneität, Lust und Lebensfreude draufgeht und können ihr Essverhalten ändern. ■
BILD: ZVG
INTERVIEW: ANNA WEGELIN
Können Sie ein Beispiel geben? Ein Mädchen steht nachts auf. Es hat Angst, dass sich die Eltern wieder streiten und greift aus dieser Spannung heraus nach einem Apfel, doch dieser ist verschimmelt. Fortan wird der Apfel als Symbol für Verlustangst aus dem Speiseplan gestrichen. Können der Körper- und Gesundheitskult in unserer Gesellschaft eine Orthorexie begünstigen? Dies ist ein zweiter Ast der Entstehung. Die Botschaft lautet: Wenn du nur das Richtige tust, kommt alles wieder gut. Früher gab es moralische oder kirchliche Gebote, heute sind Lifestylefragen die Ersatzreligion. Menschen, die bereits durch störende oder traumatische Erlebnisse verunsichert sind, sind empfänglicher für diese Botschaft. SURPRISE 213/09
Zur Person: Bettina Isenschmid ist Oberärztin und Bereichsleiterin Essverhaltensstörungen und Übergewicht am Inselspital in Bern sowie Präsidentin des Vereins PEP (Präventionsprojekt Essstörungen Praxisnah).
Ausgewogene Ernährung, Ernährungspyramide, Tests und Ratgeber: www.sge-ssn.ch Orthorexie für Betroffene und Angehörige: www.aes.ch, www.pepinfo.ch Orthorexie für Fachleute: www.netzwerk-essstoerungen.ch Webseite Steven Bratman: www.orthorexia.com
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BILD: ANDREA GANZ
Le mot noir Nächtlicher Schatten Letzthin mitten in der Nacht. Ich schrecke aus dem Schlaf und sehe einen Schatten vor meinem Fenster. «Schschtt!», zische ich dem Hund zu. «Da will einer rein!» Doch der Hund pennt einfach weiter. Und der Schatten verschwindet. «Also dieser Typ, der letzte Woche in das alte Haus eingezogen ist», drücke ich am nächsten Tag in der Waschküche herum. «findest du den nicht irgendwie merkwürdig?» Meine Nachbarin Angela sieht mich an. «Der von gegenüber? Ich finde, der sieht gut aus!» «Seit der hier wohnt, schleicht einer nachts um mein Fenster», zische ich konspirativ. «Bist du sicher?», grinst Angela. «Ja, verdammt!» «Ich meine, du hast nicht zufällig …» «Was?!» «Ein Problem mit deinem bevorstehenden Geburtstag?» «Hörst du mir überhaupt zu?», werde ich jetzt sauer. «Ich sag dir, mit dem Typen stimmt
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was nicht!» »Nun, er ist ein bisschen gross für sein Alter», wiegt Angela den Kopf. «Unheimlich!» «Dunkel?» «Genau! Er sieht aus wie einer, der andere problemlos in Stücke sägt!» Später an diesem Tag leere ich den Briefkasten. Da entdecke ich einen Meter entfernt schmutzige Fussspuren. «Du rührst dich nicht vom Fleck!», befehle ich dem Hund. Ich folge den Spuren. Entlang der Hausmauer und dann weiter in meinen Garten. In meinen Beeten liegen fremde Kuhlen. «Vom Hundehintern stammen die nie», murmle ich mit weichen Knien. «Der Mann niente gut», winkt mich meine mütterliche Nachbarin Philomena zum Zaun. «Er war verheiratet», informiert sie mich. «Seine Frau ist eines Tages einfach verschwunden.» «Einfach so?» «Non che! Niemand weiss, was mit ihr ist.» Ach du meine Güte. «Er hat grosse Tiefkühltruhe mitgebracht», munkelt Philomena. «Viel zu gross für Single!» «Also bitte! Vielleicht friert er einfach gern Sachen ein», suche ich ein logisches Argument. Aber Philomena hebt streng die Braue. «Sitz! Platz! Du endlich Hund dressieren!» In dieser Nacht schiebe ich im Bett Wache. Lange bleibt es ruhig. Doch dann – plötzlich ein Knacken. Schritte. Ich halte den Atem an und greife zum Handy. Angela ist sofort dran. «Was siehst du?» «Du hast recht. Da schleicht einer um dein Fenster.» «Mist! Was soll ich tun?» «Hetz ihm den Hund auf den Hals!» «Ich will den aber nicht wecken!», zische ich
scheinheilig. «Jetzt bewegt er sich in Richtung Tür!» «Wie sieht er aus?!» «Gross. Dunkel.» «Scheisse!» Ich robbe in die Küche und taste nach einem Wallholz. Vergeblich. «Ein schweres Buch!», zischt Angela in mein Ohr. «Welches denn?», werde ich panisch. «Egal!» Ich krieche weiter zum Bücherregal. «Usbekisches Design?», schinde ich Zeit. «Oder Wohnen wie Prinz Charles? Das wird aber ein bisschen überschätzt.» «Willst du ne Einladung?!» Sekunden später reisse ich zitternd die Tür auf und schwenke T.C. Boyle: «Halt! Und keine – ähm – Bewegung!» Der neue Nachbar stiert mich entgeistert an. «Ich – ähm – wollte sie nicht erschrecken», wehrt er ab. «Ich suche nur meine Katze. Sie ist noch neu hier.» Und mit einem Blick auf meinen Boyle. «Oh, ist das die Taschenbuchausgabe?» Stunden später liege ich noch immer wach im Bett. Dann erst dämmert es mir: Älter werden ist nichts für Feiglinge.
DELIA LENOIR (LENOIR@HAPPYSHRIMP.CH) ILLUSTRATION: IRENE MEIER (IRENEMEI@GMX.CH) SURPRISE 213/09
Weihnachtsmusik Süsser die Kassen selten klingeln Manchen Menschen wird es angst und bange, wenn sich Weihnachten nähert. Unser Autor hingegen freut sich eigentlich stets auf die Festtage, wären da bloss nicht die Lieder, die mit ihrer falschen Zuckrigkeit dem Weihnachtszauber meist ein unseliges Ende setzen.
Manchmal muss man aus dem Nähkästchen plaudern und etwas gestehen: Ich mag Weihnachten. Was in meinem sozialen Umfeld etwa der Aussage gleichkommt, dass man eine ausgeprägte Schwäche für Nekrophiles habe. Aber ich bleibe dabei: Ich mag Weihnachten. Ich mag es, mit meinen Verwandten – so schrullig sie auch sein mögen – zusammenzusitzen und ein wenig Familie zu feiern. Mit zu viel Alkohol, mit zu viel Essen, mit zu vielen Erinnerungen. Einen Aspekt an der schönen Chose gibt es allerdings, den ich partout nicht leiden kann. Jener Jahr für Jahr wiederkehrende Moment, an welchem ein (besser ungenannt bleibendes) Familienmitglied mit zittriger Stimme fordert, es wäre doch jetzt noch schön, die Costa-Cordalis-CD namens «Weisse Weihnacht» aufzulegen. Ein Unwerk, das selbst nach dem Ende unseres Universums noch auf der Fahndungsliste der schlimmsten TonträgerVerbrechen ganz oben auftauchen dürfte. Aber weil wir uns ja alle gern haben, gebe selbst ich nach. Und leide. Schliesslich gilt selbst ohne Cordalis, der in einer ganz tiefen und eigenen Schaumschlagerliga sein «musikalisches» Unwesen treibt, der Grundsatz: Weihnachtsmusik ist schlimm. Schlechte Weihnachtsmusik eine Katastrophe. Sie beschert den Menschen nichts Geringeres als die Klanghölle auf Erden. Damit sind nicht mal jene, von stolzen Eltern angetriebenen Kinder gemeint, die sich aus voller aber falscher Kehle an Klassikern wie «Stille Nacht, heilige Nacht» oder «O du fröhliche» vergreifen. Das kann – in homöopathischer Dosis – sogar noch süss wirken. Irgendwie und irgendwo. Gemeint sind jene Heerscharen von Künstlerinnen und Künstlern, die sich am Riesenkuchen laben wollen, den der Weihnachtsmusikmarkt seit einigen Jahrzehnten darstellt. Auch wenn die Nachrichtenagentur Reuters im letzten Jahr berichtete, der Markt sei 2008 ziemlich eingebrochen. 2007, als die Wirtschafts- und Weihnachtswelt noch in Ordnung war, setzte der singende Schmachtschleimer Josh Groban, eine Art amerikanischer Rex Gildo, noch satte 3,7 Millionen Stück von seinem Zuckermachwerk «Noel» ab. Was Wunder, dass in den USA fast jeder, der eine Gitarre oder eine Flöte richtig in der Hand halten kann, sich mal an der Weihnachtsmusik vergeht. Schliesslich gibts in den Vereinigten Staaten an die 400 Radiosender, die in der entsprechenden Jahreszeit nichts anderes über den Äther jagen als Weihnachtslieder. Tag und Nacht. Da brauchts naturgemäss immer wieder Nachschub. Etwa von der ehemaligen Disco-Queen Donna Summer, die in den 70er-Jahren noch die Vorteile des «Bad Girls»-Daseins bestöhnte und nun, scheinbar geläutert, andächtig und überaus betulich die «O Holy Night» besingt. Kaum besser sind die Versuche von Crooner Barry Manilow («In The Swing Of Christmas») oder des früheren Popdarlings Olivia NewtonJohn («Christmas Wish»). Doch spätestens seit sich nun auch Bob Dylan vor wenigen Wochen in die schier endlose Armada der Weihnachtssänger («Christmas In The Heart») eingereiht hat, ist klar, dass nicht nur künstlerisch angezählte oder definitiv ausrangierte Musiker sich des Genres annehmen. Doch selbst His Bobness gelingt es nicht wirklich, SURPRISE 213/09
BILD: CD-COVER
VON MICHAEL GASSER
Alle Jahre wieder: Zuckersüsses aus dem Musikbusiness.
bereits zu Tode gesungenen Liedern wie «Silver Bells» neues Leben einzuhauchen. Immerhin muss man dem alten Grantler zugestehen, dass seine Versionen dank ihrem Schrägheitsgrad vergleichsweise milde stimmen. Doch wenn es selbst Bob Dylan nicht schafft, erträgliche Weihnachtsmusik zu erschaffen, wer dann? Eben. Das Fazit für mich ist ein einfaches: Das Radio lasse ich die nächsten Wochen am besten ausgeschaltet, den Kopf halte ich tief und die Ohren zu. So dürfte einigermassen sichergestellt sein, dass die Weihnachtsmusik (und insbesondere Costa Cordalis) einigermassen schmerzlos an mir vorbeizieht. Und allem Gestänkere zum Trotz: Weihnachten mag ich auch weiterhin. ■
Die drei Ausnahmen – Weihnachtsmusik, die man hören darf und soll: Bing Crosby: «White Christmas» (MCA), weil keiner wärmer singt. Phil Spector: «A Christmas Gift» (Sony Legacy), weil der Produzent zusammen mit Soulkünstlern wie The Crystals oder The Ronettes glatt vergessen lässt, dass es sich bei den Songs um Weihnachtslieder handelt. ■ The Roches: «We Three Kings» (MCA), weil die drei Schwestern die Songs lieber schräg statt artig vortragen. ■ ■
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BILD: URSULA SPRECHER UND JULIAN SALINAS
BILD: ZVG
Kulturtipps
Farvagny/FR: Hier sind Sie immer Willkommen.
Fünf für die schöne Evelyne: «The Fall».
DVD Böse Buben, bombastische Bilder Ein Sklave, ein Bombenleger, Ein Bandit, ein Inder und Charles Darwin – die Figuren in Tarsem Singhs «The Fall» entspringen der Phantasie eines auf Morphium fabulierenden Stuntmans. VON PRIMO MAZZONI
Nach einer Karriere als Werbe- und Videoclipfilmer startete der US-Inder Tarsem Singh im Kino mit «The Cell» mächtig durch – einem Serienkiller-Thriller im Salvadore-Dalì-Look. Dann arbeitete er vier Jahre lang an seinem Nachfolgeprojekt, drehte aufwendig an zahllosen Schauplätzen in rund 20 Ländern, und bezahlte fast alles aus eigener Tasche: «The Fall» erblickte vor drei Jahren nur an wenigen Orten das Licht der Leinwände. Und jetzt erst dürfen wir Sofakartoffeln des Meisters Arbeit im Heimkino überprüfen. Die Handlung ist einfach und leider allzu voraussehbar: Im Hollywood der 1910er-Jahre erzählt ein verunfallter Filmstuntman im Krankenhaus einem Mädchen, das sich hier als Patientin langweilt, täglich eine immer haarsträubendere Räubergeschichte. Als Gegenleistung stiehlt sie für ihn Morphium aus dem Medikamentenschrank. Er fabuliert über eine Fünferbande, die aus einem Banditen, einem Bombenleger, einem Sklaven, einem Inder und aus Charles Darwin besteht. Gemeinsam kämpfen sie gegen den üblen Herrscher Odious und seine finsteren Ritter und versuchen, die schöne Evelyn aus seinen Klauen zu befreien. Der Zuschauer sieht die Geschichte, wie sie in der Phantasie des Mädchens lebendig wird. Die Bilder, die Tarsem hierfür gefunden hat, sind schlicht atemberaubend. Zusammen mit den umwerfenden Kostümen von Eiko Ishioka kreiert er eine noch nie gesehene surrealistische Welt, die, man glaubt es kaum, fast gänzlich ohne Computertricks und nur an Originalschauplätzen entstanden sein soll. Doch leider kommt «The Fall» nicht richtig in die Gänge – und obwohl die Bilder immer wieder erstaunen und fesseln, lässt der Film als Ganzes kalt. Wunderschön, aber zu hochglanzigsauber, fehlt dem Spektakel eine überzeugende Dramaturgie. «The Fall» (2006), Regie: Tarsem Singh, 117 Min., Deutsch/Englisch mit Untertiteln. Extras: Regie-, Autoren- und Schauspielerkommentar. Auf Blu-ray (bei diesen Bildern empfehlenswert!) zusätzlich mit Making-of, entfallenen Szenen, Interviews. www.thefall-film.de
Bildband Heimatland! Mit einem Fotobuch haben zwei Basler Fotografen ein Heimatgefühl jenseits von Edelweiss und Matterhorn geschaffen. VON MENA KOST
Wer beim Begriff «Heimat» an den Ort denkt, an dem seine Nächsten sind, dem geht es wie Werber Frank Bodin. Für wen Heimat kein Ort, sondern ein Gefühl der Geborgenheit ist, der sieht es wie Künstlerin Katrin Freisager. Und wer sich in Kloten auf eine instinktive Art zu Hause fühlt, der wird wie Verleger Roger Köppel dort aufgewachsen sein. Wer aber auf die Frage nach Heimat ein Chaos aus schwarz-weiss gefleckten Kühen, dem Matterhorn und Geranien im Kopf hat – und das Gefühl nicht los wird, damit mache er es sich ein bisschen leicht – dem sei der Bildband «Heimatland.» empfohlen: Die Basler Fotografen Ursula Sprecher und Julian Salinas haben sich aufgemacht, die Kühe auf ihren Bergwiesen samt Enzian aus unseren Hirnen zu verjagen und einem schonungslosen und deshalb berührenden Blick auf die Schweiz Platz zu machen. Drei Jahre lang hat es gedauert, all die Orte zu finden und ins Bild zu setzen, die fernab verkitschter Schönheitsideale zeigen, was wahrhaftiges Heimatgefühl ausmacht: Kurz geschnittene Wiesen, Einfamilien- und Hochhäuser, Rapsfelder und Autobahnzufahrten, Rastplätze, Stausseen und vor allem: Beton und Asphalt. Und über allem liegt ein weisslicher Schleier, der die Farben dämpft, und rote Verkehrsschilder oder blaue Familienkombis etwas blass wirken lässt. Nichtsdestotrotz ist die Schönheit der abgebildeten Orte nicht zu übersehen: Nur wird sie nicht aus leuchtenden Farben und landschaftlichem Idyll gespeist, sondern aus einer Mischung von Ruhe, Weite und Absurdität. Dass jedes Bild im rund 170 Seiten starken Fotoband vertraut wirkt, muss daran liegen, dass Sprecher und Salinas einem mit ihren Bildern aus dem Herzen und der Erinnerung sprechen: Ja, genau so ist die Schweiz! Zu den Dörfern und Städten, die mit einem sorgfältig inszenierten Bild im Buch vertreten sind, werden einige kuriose Informationen geliefert. So ist etwa über Zwillikon/ZH lesen: Der bekannteste Zwillikoner ist Jakob Grob, der erste Lokomotivführer der Schweiz.» Daneben enthält das Buch Überlegungen zum Thema Heimat von prominenten Schweizerinnen und Schweizern, etwa der eingangs erwähnten Katrin Freisager: «Heimat bedeutet für mich Orte, an denen ich Kunst machen kann.» Sollten Salinas und Sprecher diese Ansicht Teilen, so haben Sie sich mit diesem Buch zu jedem einzelnen Kanton der Schweiz heimatliche Gefühle erschlossen. Ursula Sprecher und Julian Salinas: Heimatland. 168 Seiten, TRUCE Verlag. Erhältlich im Buchhandel oder unter www.truce.ch
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BILD: ZVG
Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.
Was vor den Kopf stösst, interessiert: «Strange days, indeed».
Tanztheater Die Rolle meines Lebens Der flämische Choreograf Yves Thuwis hat sich in den letzten zehn Jahren durch Produktionen mit jugendlichen Laiendarstellern einen Namen gemacht. Sein Stück «Strange days, indeed» widmet sich mit ausgelassener Ernsthaftigkeit dem täglichen Ringen um Aufmerksamkeit. VON SANDRA SCHÖLL
«Yves arbeitet sehr intuitiv, wir wussten während des Probeprozesses nicht, wo es hingeht.» Die 19-jährige Nives Onori aus Burg im Leimental ist schon das zweite Mal bei einer Produktion von Yves Thuwis dabei. Sie vertraut ihm und seiner Arbeitsweise: «Mich fasziniert, dass er mit dem arbeitet, was schon da ist. Er greift auf, was in einer Person angelegt ist und spinnt es weiter.» Konsequent weitergedacht bedeutet das: Die Darsteller auf der Bühne brillieren, indem sie sich selbst spielen. Für «Strange days, indeed» haben die sechs jungen Erwachsenen des «jungen theater basel», wo das Stück im letzten Jahr entstanden ist, jeden Tag Hausaufgaben bekommen. Zu einer Liedzeile – beispielsweise «Romeo is bleeding» – oder einem Thema – etwa «Du und deine Stadt» – mussten sie sich kleine Szenen ausdenken, die dann dem Plenum vorgeführt und gemeinsam besprochen wurden. Ein anderes Mal sollten sie nach Zeitungsartikeln suchen, deren Inhalt sie vor den Kopf gestossen hat oder ihnen in irgendeiner Weise «strange» vorkam. Mit feinem Gespür für wirkungsvolle Bilder und Szenen hat Thuwis die einzelnen Fragmente schliesslich zu einem lose zusammenhängenden Ganzen aneinander gefügt, welches das tägliche Ringen um Aufmerksamkeit und Anerkennung widerspiegelt. Für Nives Onori waren die neun Wochen Probezeit sehr intensiv – auch weil sie sich gleichzeitig auf die Matura vorbereiten musste. Die hat sie aber gut bestanden, «vielleicht sogar besser, als wenn ich in dieser Zeit nur für die Schule gelernt hätte.» Mancher wächst an seinen Aufgaben – wie es so schön heisst. «Strange days, indeed» ist qualitativ hochstehendes Tanztheater. Wie das mit Laiendarstellern möglich ist? Der professionelle Rahmen allein kann es nicht sein. Die leidenschaftliche Ernsthaftigkeit und die natürliche Souveränität, mit der die Laiendarsteller bei der Sache sind, schon eher.
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Alfacel AG, Cham
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Kaiser Software GmbH, Bern
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chefs on fire GmbH, Basel
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Statistik Georg Ferber GmbH, Riehen
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Locher Schwittay Gebäudetechnik GmbH, Basel
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Schützen Rheinfelden AG, Rheinfelden
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Responsability Social Investments AG, Zürich
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SV Group AG, Dübendorf
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Baumberger Hochfrequenzelektronik, Aarau
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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VXL AG, Binningen
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Thommen ASIC-Design, Zürich
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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten
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Schweizer Paraplegiker-Stiftung, Nottwil
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Ernst Schweizer AG, Hedingen
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JL AEBY Informatik, Basel
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iuliano-gartenbau & allroundservice, Binningen
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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf
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KIBAG Kies und Beton
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Inova Management AG, Wollerau
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SVGW, Zürich
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Brother (Schweiz) AG, Baden
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Segantini Catering, Zürich
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Axpo Holding AG, Zürich
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AnyWeb AG, Zürich
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag! Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.
«Strange days, indeed»: Fr, 20. November und Sa, 21. November, 20 Uhr, Dampfzentrale, Bern. www.dampfzentrale.ch. Di, 15. Dezember, 20.15 Uhr, Kantonsschule, Schwyz. www.kks.ch 213/09 SURPRISE 213/09
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BILD: ROBERT BIEDERMANN
Ausgehtipps Basel Das Fremde so nah Migration – das klingt so abgehoben. Dabei liegt sie vor der Haustür. Zumindest im Kleinbasel, dem multikulturell geprägten Quartier der Stadt. Das Kultur- und Begegnungszentrum Union nutzt seine Lage aus und veranstaltet eine Themenwoche. Zugewanderte und Einheimische diskutieren den gemeinsamen Alltag. Der Umgang mit Einwanderern in anderen Ländern wird an den Beispielen Brasilien, Senegal und Südkorea vorgestellt. Nebst Podiumsdiskussionen und Vorträgen gibts auch was für die Sinne: Zum Beispiel ein Eröffnungsfest mit Film und Apéro, eine Brazilparty mit Capoeirashow, die Bilderausstellung eines argentinischen Künstlers oder die Vorführung eines Films aus Südkorea. (juk) Themenwoche «Migration vor der Haustüre und weltweit», 20. bis 27. November, Kultur- und Begegnungszentrum Union, Basel. www.union-basel.ch
BILD: FOTOLIA
Weltweit machen sich Menschen mit ihrem Gepäck auf in fremde Welten.
Anzeige:
Ob dieser schräge Vogel singen kann? Die Capella Nova kanns bestimmt.
Basel Schöne Katzenmusik Die Laute aus der Tierwelt inspirierten schon Jahrhunderte vor uns Musiker in ihren Kompositionen. Das 16-köpfige Vokalensemble Cappella Nova stellt in seinem tierischen Programm quer durch die Epochen schräge Vögel, Insekten und Fabeltiere musikalisch vor. Weil Zuhören schnell zappelig macht, werden die Kids vom Dirigenten und den Sängern in die Aufführung mit einbezogen. (juk) Gare des enfants: «Von schrägen Vögeln, Insekten und Fabeltieren», Capella Nova, 29. November, 11 Uhr, Gare du Nord.
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BILD: ZVG
Auf Tour Charme, Schweiss und Soul Tanzbare Rockmusik ist eigentlich ein Widerspruch in sich. Die Rocker stampfen meist breitbeinig und hüftsteif, während die heutigen Funkund R&B-Truppen auf Hochglanz poliert rumturnen. Das Beste aus beiden Welten vereinen The Heavy aus dem britischen Bath. Das Quartett groovt wie Booker T. & The MGs, rockt wie Led Zeppelin und rumpelt wie eine Garagen-Combo aus den 60ern. Meist brodelt der Saal schon, bevor Sänger Kelvin Swaby einsetzt. Und dann gehts erst richtig los: Der Charmebolzen changiert mühelos zwischen Otis Redding und Marvin Gaye und verwandelt die dampfenden Tanztracks in süffige Popsongs. Auf zwei Alben zogen The Heavy bislang geschmacksicher plündernd durch die Popgeschichte. Und im Konzert verwandeln sie Schweiss in puren, reinen Soul. (ash) The Heavy, 3. Dezember, 20.30 Uhr, Rote Fabrik, Zürich; 4. Dezember, 22 Uhr, Drei Weissbrote und ein Otis Redding: The Heavy.
BILD: ZVG
Dachstock, Bern; 5. Dezember, 22 Uhr, Palace, St. Gallen.
Bern Avantgarde aus dem Untergrund Sagenumwoben und kultverdächtig – so beschreiben die Veranstalter die Musiker des dreitägigen Festivals «Saint Ghetto» in der Berner Dampfzentrale. Das ist nicht übertrieben. Denn die Besetzungsliste liest sich wie der feuchte Traum eines Untergrund-Avantgardisten. Los gehts am Freitag mit den Goldenen Zitronen. Einst begannen die Hamburger als bierselige Deutschpunker, heute inszeniert Sänger Schorsch Kamerun Stücke in renommierten Theaterhäusern. Das neue Album «Die Entstehung der Nacht» ist ein musikalisch wie textlich abenteuerliches Stück Diskurspop. Begleitet werden sie von Baby Dee, einer androgynen Exzentrikerin, die zu Piano, Akkordeon und Harfe in rauem Falsett himmeltraurige Lieder singt. Den Samstag eröffnet der 63-jährige Ghédelia Tazartes aus Paris mit seiner ganz eigenen Mischung aus Chanson, arabischer Folklore und Industrial Noise. Danach markiert Little Annie die postmoderne Cabaret Queen, bevor die beiden Berlinerinnen von Cobra Killer mit ratterndem Elektro-Trash den Boden beben lassen. Zum krönenden Abschluss gibt sich am Sonntag die «Queen of Siam» persönlich die Ehre. Lydia Lunch ist die Grande Dame der US-Gegenkultur und Übermutter aller Riot Grrrls. Seit 30 Jahren textet, singt und schauspielert die New Yorkerin und hat dabei mit Legionen von Indie-Helden zusammengearbeitet. Klar kommt sie auch diesmal in illustrer Begleitung. Die Herren, die hier unter dem Namen Big Sexy Noise räudig bluesen und rüde rumpeln, schätzt der Kenner normalerweise unter dem Namen Gallon Drunk. (ash) 27. bis 29. November, Dampfzentrale, Bern. Fr & Sa, 21 Uhr, So, 20 Uhr.
Die Königin der Kultfiguren: Lydia Lunch.
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www.dampfzentrale.ch
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Verkäuferporträt «Easy, easy, langsam pressieren» Das Ehepaar Thevarasamalar (48) und Rathakrischnan (53) Santhirakumar, kurz Malar und Kumar genannt, verkauft Surprise in Bern. Mittlerweile sind sie fast so bekannt wie das Bundeshaus und der Zytglogge-Turm. Kumar erzählt, wie es dazu kam.
«Ich bin 1985 wegen des Bürgerkriegs aus Sri Lanka in die Schweiz geflüchtet. Meine Frau Malar ist mir 1993 nachgereist. Mittlerweile bin ich stolzer Besitzer des Schweizer Passes. Gearbeitet habe ich seit meiner Ankunft unter anderem zehn Jahre bei der Migros in Schönbühl als Fleischabpacker, in diversen Restaurants als Abwäscher und am Buffet. Meine Frau hat zeitweise in der Büroreinigung gearbeitet. Wir haben beide grosse Mühe, zu akzeptieren, dass wir keine Kinder kriegen konnten. Die seelische Belastung ist so gross, dass wir zur Bewältigung unseres täglichen Lebens Medikamente benötigen. Nachdem ich längere Zeit arbeitslos war, vermittelte mir das RAV einen Platz in einem Projekt für Stellensuchende in der Lorraine. Fredi, der Vertriebsleiter von Surprise in Bern, sprach mich eines Tages auf dem Weg dorthin im 20er-Bus an. Ob ich nicht Lust hätte, mir ein Taschengeld zu verdienen, fragte er mich. So fing ich an, Surprise zu verkaufen, und ein paar Monate später startete auch meine Frau. Mittlerweile verkaufen wir beide seit gut vier Jahren das Strassenmagazin, von Montag bis Samstag. Normalerweise arbeiten wir eine Stunde, dann machen wir eine Stunde Pause, und so weiter. Malars Stammplatz ist vor dem Lebensmittelgeschäft ‹Vatter› am Bärenplatz, meiner ist am Bahnhof, dort, wo es zu den Geleisen geht. Manchmal wechseln wir uns auch ab. Am Morgen gehe ich zu Fuss von Bümpliz in die Stadt. So habe ich warm, wenn ich um neun Uhr mit der Arbeit beginne. Meine Frau nimmt lieber den Bus. In den Pausen gehen wir zum Beispiel zur Heiliggeistkirche gleich neben dem Bahnhof, dort gibt es gratis Tee und Kaffee. Zu Mittag essen wir seit Langem immer in der ‹La Prairie›. Das ist ein Haus, geleitet von der katholischen Kirche, in dem Freiwillige Mittagessen kochen. Das Essen ist gut und kostet nur fünf Franken. Malar und ich leben sehr sparsam, denn so können wir jeden Monat ein wenig Geld nach Hause schicken. Mit diesem ‹Zustupf› unterstützen wir meine behinderte Schwester in Sri Lanka. Malar hat fünf Geschwister, ich habe neun. Viele unserer Verwandten wohnen über die Welt verstreut: in Deutschland, England, Kanada, Singapur und eben Sri Lanka. Manchmal besuchen uns die Verwandten, dann machen wir Ausflüge mit ihnen, zum Beispiel nach Interlaken, nach Zürich oder in den Basler Zoo. Wenn keine Gäste da sind, haben wir gar nicht so gerne frei, denn wir beide mögen die Arbeit sehr. Sie macht uns glücklich, bringt uns in Kontakt mit Leuten, und wir können unseren Lebensunterhalt verdienen: Ich bin seit ein paar Monaten nicht mehr Sozialhilfeempfänger. Den freien Sonntag nützen wir, um uns zu erholen. Ich gehe gern schwimmen und ab und zu besuche ich Fussball- oder Volleyballspiele von tamilischen Klubs. Früher habe ich mitgespielt, heute schaue ich
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BILD: ZVG
VON ISABEL MOSIMANN
den andern beim Spiel zu. Malar bleibt in dieser Zeit lieber daheim, sie schaut gerne fern. Wir können auch tamilische Sender empfangen. Die Gebete verrichten wir meistens zu Hause, obschon es den Hindu-Tempel in Bern gibt. Ein Raum in unserer Wohnung wäre eigentlich als Kinderzimmer gedacht. Weil es uns zu traurig macht, wenn es leer steht, haben wir darin unseren eigenen kleinen Tempel eingerichtet. Am Bahnhof kennt man mich als den Mann mit den lustigen Hüten – zum Beispiel dem rot-weissen mit den Hörnern. Damit will ich die Leute zum Lachen bringen, ich will sie glücklich machen. Den Menschen, die an mir vorbeieilen, rufe ich manchmal nach: ‹Easy, easy, langsam pressieren!› Natürlich sind die Hüte und Schals auch Werbung: Die Leute, die regelmässig am Berner Bahnhof und am Bärenplatz sind, kennen uns und kennen somit auch Surprise. Malar und ich sind glücklich, dass wir in der Schweiz leben können, in einem friedlichen, demokratischen Land. Für mich ist die Schweiz auch ein bisschen meine Mutter und mein Vater.» ■ SURPRISE 213/09
Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte ber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise-Sozialarbeiterinnen betreut, individuell begleitet und gezielt gefördert. Dazu gehört auch, dass sie von Surprise nach bestandener Probezeit einen ordentlichen Arbeitsvertrag erhalten. Mit der festen Anstellung übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.
Starverkäufer BILD: ZVG
Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich sel-
Als Götti oder Gotte ermöglichen Sie einer Strassenverkäuferin oder einem -verkäufer eine betreute Anstellung bei Surprise und damit die Chance zur Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben.
Marika Jonuzi Basel
Kumar Shantirakumar Bern
Marlise Haas Basel
René Senn Zürich
Nominieren Sie Ihren Starverkäufer!
Ausserdem im Förderprogramm SurPlus: Peter Gamma, Basel Peter Hässig, Basel Andreas Ammann, Bern Kurt Brügger, Baselland Jovanka Rogger, Zürich
Beatrice Gerster aus Jona nominiert Urs Habegger als Starverkäufer: «Ich freue mich immer, wenn ich Urs Habegger sehe, wie er vor der Post in Rapperswil Surprise verkauft. Mit seiner Dächlikappe macht er stets eine gute Falle und seine freundliche, aufgestellte Art gefällt mir sehr. Immer wieder beobachte ich, wie Leute nach einem kurzen Schwatz mit guter Laune weiterziehen. Urs Habegger ist mein Starverkäufer!»
Wolfgang Kreibich, Basel Anja Uehlinger, Baden Bob Ekoevi Koulekpato, Basel Jela Veraguth, Zürich Fatima Keranovic, Baselland
Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welchen Verkäufer Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41+61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch
Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 8000 Franken
1/2 Jahr: 4000 Franken
1/4 Jahr: 2000 Franken
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213/09 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 213/09
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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise fördert seit 1997 die Selbsthilfe von Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit begleiteten Angeboten in den Bereichen Arbeit, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit und berufliche Eingliederung, das Verantwortungsbewusstsein, die Gesundheit und eine positive Lebenseinstellung. Surprise gibt es in der deutschsprachigen Schweiz. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit.
Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)
Strassensport Der zweite Schwerpunkt von Surprise ist die Integration von sozial benachteiligten Menschen in der Schweiz über den Sport. Mit einer eigenen Strassenfussball-Liga, regelmässigem Trainings- und Turnierbetrieb, der Schweizermeisterschaft sowie der Teilnahme des offiziellen Schweizer Nationalteams am jährlichen «Homeless Worldcup» vernetzt Surprise soziale Institutionen mit Sportangeboten in der ganzen Schweiz. Organisation und Internationale Vernetzung Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die von dem gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband gegen 100 Strassenzeitungen in über 40 Ländern an.
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Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende unabhängige Strassenmagazin Surprise heraus. Neben einer professionellen Redaktion verfügt das Strassenmagazin über ein breites Netz von freien Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen. Der überwiegende Teil der Auflage wird von Menschen ohne oder mit beschränktem Zugang zum regulären Arbeitsmarkt auf Strassen, Plätzen und in Bahnhöfen angeboten. Die regelmässige Arbeit gibt ihnen eine Tagesstruktur, neues Selbstvertrauen und einen bescheidenden aber eigenständig erwirtschafteten Verdienst. Für viele Surprise-Verkaufende ist das Strassenmagazin der erste Schritt zurück in ein eigenständiges Leben.
Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel www.strassenmagazin.ch Geschäftsführung Fred Lauener Öffnungszeiten Sekretariat Mo–Do 9–12/14–16.30 Uhr, Fr 9–12 Uhr T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Redaktion Fred Lauener (Leitung), Reto Aschwanden, Julia Konstantinidis, Mena Kost, Agnes Weidkuhn (Koordination), T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch Freie Mitarbeit Amir Ali, Basile Bornand, Michael Gasser, Yvonne Kunz, Delia Lenoir, Primo Mazzoni, Irene Meier, Esther Michel, Isabel Mosimann, Dominik Plüss, Sandra Schöll, Isabella Seemann, Roland Soldi, Udo Theiss, Anna Wegelin, Priska Wenger Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Anzeigenverkauf Therese Kramarz, T +41 61 564 90 90 anzeigen@strassenmagazin.ch
Marketing Theres Burgdorfer Vertrieb Smadah Lévy Basel Matteo Serpi Zürich Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich T +41 44 242 72 11, Mobile +41 79 636 46 12 r.bommer@strassenmagazin.ch Bern Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern T +41 31 332 53 93, Mobile +41 79 389 78 02 a.maurer@strassenmagazin.ch Betreuung und Förderung Rita Erni, T +41 61 564 90 51 Chor/Kultur Paloma Selma, T +41 61 564 90 40 Strassensport Lavinia Biert, T +41 61 564 90 10 www.strassensport.ch Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Carlo Knöpfel
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. SURPRISE 213/09
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Hochparterre: 8000 Exemplare Auflage, 21 000 LeserInnen mit sehr starkem Umweltschutzinteresse.
WOZ: 14 000 Exemplare Auflage, 40 000 LeserInnen mit sehr starkem Umweltschutzinteresse.
Nebelspalter: 20 000 Exemplare Auflage, 122 000 LeserInnen mit sehr starkem Umweltschutzinteresse.
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Ökopool ist das neue Inseratekombi der Titel Hochparterre, Nebelspalter, Surprise und WOZ und erreicht über 476 000 LeserInnen. 416 000 davon haben ein «eher starkes» und 230 000 ein «sehr starkes» Umweltschutzinteresse. Und dies bei einer Gesamtauflage von nur 65 000 Exemplaren. Sie sparen also nicht nur Papier, Sie schonen mit dem Ökopool sogar die Ressourcen Ihres Mediabudgets. Kilian Gasser freut sich auf Ihren Anruf und kommt auch gerne mit dem Velo vorbei: Telefon 043 810 83 63.
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