Surprise Strassenmagazin 221/10

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Brandstifter Ein Dorf jagt seinen Zünsler Provinz war gestern – Kultur belebt das Land

Chance verpasst: Schweizer Klimapolitik im Hintertreffen

Nr. 221 | 19. bis 31. März 2010 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Schöne Shirts! Und erst noch limitiert! Olivier Mossets (64) letzte Ausstellung nannte sich «Ten Monochromes» und zeigte – wie der Name verspricht – zehn unifarbene Werke des Schweizer Künstlers. Auf 3 à 3 Meter. Die hat Mosset zum Anlass genommen, um für Surprise zehn T-Shirts in denselben Farben zu entwerfen. Mit Surprise-Aufschrift. Und vom Künstler signiert.

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch

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BILD: BEZIRKSFEUERWEHR RIEHEN-BETTINGEN

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10 Brandstiftung 6 Jahre, 60 Brände, keine Spur Er kommt in der Nacht, meist am Wochenende. Mit Vorliebe zündet er Holzstapel, Schober oder Schrebergartenhäuschen an. Dann verschwindet er ungesehen in der Dunkelheit. Wer die Brände in der Basler Vorortsgemeinde Riehen legt, weiss niemand: Die Polizei tappt nach wie vor im Dunkeln. Und die Riehener bekommen es langsam mit der Angst zu tun.

16 Armut Kein Geld, keine Liebe Wer am Rand der Gesellschaft lebt, tut sich schwer bei der Partnersuche. Für Ausgang und Restaurants fehlt oft das Geld, zudem lähmt das Gefühl, einem potenziellen Partner nichts bieten zu können. Armutsbetroffene berichten von Beziehungsproblemen und Behörden, die Liebesglück mit Beitragskürzungen bestrafen.

BILD: LUC-FRANÇOIS GEORGI

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Inhalt Editorial Feuer, Liebe, Rock’n’Roll Leserbriefe Olympiade in Leukerbad Basteln für eine bessere Welt Aufgehängte Datensätze Aufgelesen Gerüchteküche Zugerichtet Stunde der Idioten Mit scharf Sozialeuphorie Erwin … geht nach Libyen Porträt Der Hoffnungsträger einer neuen Linken Umwelt Verpuffte Energiepolitik Wörter von Pörtner Privatsphäre Musik Bildliche Musik Kulturtipps Stahlbad in der Kirche Ausgehtipps Heisse Rhythmen Verkäuferporträt «Auf Baustellen fühle ich mich pudelwohl» Projekt Surplus Chance für alle! Starverkäufer In eigener Sache Impressum INSP

BILD: PATIRC SANDRI

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18 Gesellschaft Kultur-Land Konzerte, Theater, Partys: Bei diesen Worten ziehen vor dem inneren Auge urbane Szenen vorbei. Doch auch Landbewohner wollen Kultur, und das ohne in die Stadt zu fahren. Deshalb sorgen sie selbst für Unterhaltung.

Titelbild: iStockphoto SURPRISE 221/10

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BILD: PABLO WÜNSCH BLANCO

Leserbriefe «Der Narzissmus ist noch nicht das Ende der Fahnenstange.»

MENA KOST, REDAKTORIN

Editorial Feuer, Liebe, Rock’n’Roll Es war eine klare Nacht im September 2004: Auf einem Familiengartenareal im Basler Vorort Riehen brannten mehrere Gartenhäuschen nieder. Tags darauf regte man sich in der Dorfbeiz über die «verwahrloste Jugend» auf, die «nichts als Seich» im Kopf habe. Festgenommen wurde jedoch niemand. Sechs Jahre und 60 Brände später redet in Riehen keiner mehr von schwierigen Jugendlichen. Jetzt verflucht man den «Sauhund», den man umbringen würde, könnte man ihn nur erwischen; jetzt hat man Angst vor dem «Feuerteufel» und macht Kontrollgänge ums Haus; jetzt verdächtigt jeder jeden. Denn trotz intensiven Ermittlungen tappt die Polizei noch immer im Dunkeln – der Brandstifter von Riehen bleibt ein Phantom. Auch wenn es kürzlich in einer Tiefgarage brannte, grosso modo bleibt der Täter seinen Anfängen treu: Schrebergartenhäuschen und Schober brennen am häufigsten. Was deshalb leicht als komische Dorfgeschichte abgetan wird, bekommt bei genauer Betrachtung einen unangenehmen Beigeschmack: Die angezündeten Objekte, sagen die Ermittler, scheinen bewusst so gewählt, dass das Feuer auf Wohngebäude überspringen kann – je nachdem, wie der Wind eben weht. Der Feuerteufel, scheint es, mag das Spiel mit dem Zufall. Lesen Sie ab Seite 10. Heute gibt es nichts umsonst. Ausser, Gott sei Dank, der Liebe: Die, sagen wir gerne, kostet nichts – und wenn wir mausarm wären, unsere Leidenschaft könnte man uns nicht nehmen! Redaktor Reto Aschwanden erklärt ab Seite 16, wieso das romantischer Humbug ist, und wie die Beziehung zwischen der Liebe und dem Portemonnaie in der Realität aussieht. Zu guter Letzt möchten wir Sie dazu bringen, für einmal den Besuch Ihrer Stamm-Bar oder Ihres Lieblingskonzertlokals gegen einen Ausflug aufs Land zu tauschen: Nehmen Sie den Zug oder das Postauto – und schliesslich einen tiefen Atemzug Landluft auf dem Dorfplatz. Dann machen Sie so richtig einen drauf. Wo Sie das tun können, verraten Julia Konstantinidis, Reto Aschwanden und Amir Ali ab Seite 18. Wir wünschen Ihnen gute Lektüre

Nr. 219: «Ich liebe mich – Die neue Ära der Narzissten»

Nr. 218: «Winterspiele – Schneedreikampf statt Fernsehmarathon»

Kein Wunder, geht die Welt kaputt Vielen Dank für die Titelgeschichte über die Narzissten! Insbesondere für den Mut, knallhart Namen zu nennen. Leider beschränkt sich dieses Phänomen nicht bloss auf fünf Prozent unserer Bevölkerung, und der Narzissmus ist auch noch nicht das Ende der Fahnenstange. Kein Wunder, geht die Welt kaputt, wenn solche Menschen an der Macht sind. Patrick Bieri, per E-Mail

Olympiade in Leukerbad Was für ein Glück, dass ich als begeisterte Leserin von Surprise auch die Tipps für die Winter-Olympiade gelesen habe. Denn wenn es in den Skiferien in Leukerbad den ganzen Tag schneit, sind das perfekte Bedingungen fürs Schneeturmbauen. Wir hatten extrem viel Spass. S. E., Postkarte

Ein halbe Million Hefte! Vor wenigen Tagen feierte Surprise ein Jubiläum: Vor dem Coop City Kyburg in Thun wurde das 500 000ste Heft im Kanton Bern verkauft. Erstanden hat das Jubiläumsmagazin Frau Matoshi, die im Einkaufszentrum Kyburg arbeitet. Während einer Arbeitspause wurde sie von SurpriseVerkäuferin Zaklina Busa mit Blumen überrascht. Wir bedanken uns bei allen Leserinnen und Lesern und versprechen: Wir bleiben dran, bis auch die Million geschafft ist.

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20,

Herzlich, Mena Kost

Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen.

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ILLUSTRATION: WOMM

Sie brauchen:

8 CDs

2 schmale Winkel

2 größere Schrauben

3 kleine Schrauben

mit Mutter

mit Mutter

Anleitung: Kleben Sie die CDs paarweise zusammen, sodass die reflektierende Seite aussen ist. Legen Sie die vier CD-Paare in einer Linie etwas versetzt übereinander. Bohren Sie in die zwei äusseren CD-Paare oben in die Mitte je ein Loch, dort wo später die Hängeaufrichtung mit den zwei grösseren Schrauben angebracht wird. Kleben Sie die vier CD-Paare nun aneinander. Bohren Sie, um das Ganze zu stabilisieren, aber auch für die Optik, drei Löcher in die Schnittstellen der CDs (Vorsicht beim Bohren, die CDs springen leicht). Schrauben Sie die drei kleinen Schrauben fest. Befestigen Sie die Winkel mit den zwei grossen Schrauben an den CDs. Hängen Sie den Handtuchhalter hinter die Türe, ziehen Sie das Handtuch durch die CD.

Basteln für eine bessere Welt Schenken macht Freude. In Zeiten, in denen Unsummen für dubiose CDs mit Steuersünderdaten ausgegeben werden, nimmt Surprise sich das zu Herzen. Wir verschenken die Scheiben in Form eines Handtuchhalters. Das ist praktisch und lässt keinen Missbrauch zu. SURPRISE 221/10

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Tabuthema Psychose Linz. Manfred erzählt, wie es war, als er Stimmen in seinem Kopf zu hören begann: «Zuerst kamen sie aus den Köpfen der Leute in meiner Umgebung. Manchmal waren es hilfreiche Mitteilungen, meist aber schwere Beschimpfungen oder Befehle. Es war schwierig, zu unterscheiden, was die Leute wirklich gesagt hatten und was nicht. Dann kamen Stimmen aus Elektrogeräten und aus der Luft dazu. Sie haben mir gesagt, dass ich der einzige Mensch sei, der Kontakt zu ihnen hat, und sollte ich jemandem davon erzählen, würde das meinen Tod bedeuten.»

Die höchste Müllhalde der Welt Berlin. In den ersten 30 Jahren nach der Erstbesteigung des Mount Everest bezwangen ganze 150 Kletterer den Berg. Heute sind es rund 150 pro Woche. Diese lassen jede Menge Müll zurück, etwa Zelte oder Geschirr. Deshalb schickte die nepalesische Regierung Expeditionen zum Einsammeln der Tonnen von Abfall los. Die zumeist einheimischen Teilnehmer erhielten pro Kilogramm Altabfall rund acht Euro Belohnung. Grossteile des Mülls am Berg sollen dadurch beseitigt sein. Eine offizielle Umweltinventur gab es bisher jedoch nicht.

Wussten Sie schon, dass … Stuttgart. Die Liste berühmter Gerüchte ist lang: Da gibt es Elvis, der «in Wirklichkeit noch lebt», oder Kennedy, den «die CIA ermordet hat». Ob hinter der Verbreitung dieser Gerüchte Berechnung steckte oder nicht, bleibt unklar. Sicher ist aber: Wenn ein Gerücht einmal da ist, setzt es sich im Gedächtnis der Leute fest – auch wenn es bereits dementiert wurde. Deshalb gibt es heute auch Gerüchteforschung, wissenschaftliche Literatur zum Thema und PR-Angestellte, die sich ausschliesslich mit dem Ausdenken neuer Gerüchte beschäftigen.

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Zugerichtet Die Stunde der Idioten Wenn abends die blaue Stunde anbricht, in der es weder Tag noch Nacht ist, schwinden die Gewissheiten. Ein Hauch von Wehmut legt sich dann übers Land. Doch es gibt eine weitere leere Stunde, ebenso geheimnisvoll wie die Abendzeit: die Morgendämmerung. Der Strafverteidiger nennt sie profan die «Stunde der Idioten». Sie beginnt um vier Uhr, wenn die ersten Nachtvögel aus den Clubs kommen, und endet um sechs. «Dann sind wirklich nur noch die letzten Abhänger anzutreffen», erklärt er dem Richter-Trio, das Zürichs Nachtleben nur vom Hörensagen zu kennen scheint. Häufig seien jene Leute überdreht, bis oben voll mit Drogen, suchten «Lämpe» und landeten nicht selten auf der Notfallstation. Anthony P.*, sein Mandant, schlitzte im Mai 2008, um sechs Uhr morgens, einem jungen Mann den Hals auf und einem zweiten bohrte er sein Springmesser mehrmals in den Bauch. Alle drei hatten Glück, wenn man von Glück überhaupt reden kann: Die beiden Opfer überlebten, Anthony hat niemanden getötet. Er muss sich am Obergericht wegen mehrfacher versuchter Tötung verantworten. Der vorsitzende Richter geht zur Anklagebank runter und hält ein paar Fotos hoch. Stumpf blickt Anthony die abgelichtete, zwölf Zentimeter breite, stark klaffende Halswunde und die Stichwunden auf einem tätowierten Oberkörper an. Da zieht der Richter jählings die Tatwaffe aus seiner Jackentasche und lässt die 15 Zentimeter lange Klinge knapp vor der Nase des Angeklagten aufschnappen. «Ich wollte nie, dass es so weit kommt», ruft der 33-Jährige. «Ich wünschte,

ich könnte die Zeit zurückdrehen.» Das Gericht dreht die Zeit zurück, es muss wissen, wie es dazu kommen konnte, dass er «fast einen Menschen köpfte». Zur «Stunde der Idioten» war Anthony P. unterwegs zu einem Club, als ihn ein sternhageldichter Mann bat, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, damit er wieder «runterkomme». Anthony zögerte, tat dann aber wie geheissen, worauf der andere zu Boden sank. Sogleich eilten zwei Männer hinzu, in der Absicht, den vermeintlichen Streit zu schlichten, wobei sie unter Einfluss von 1,5 Promille Alkohol hierfür nicht Diplomatie anwandten, sondern handfeste Argumente. Anthony, nicht minder betrunken, fühlte sich bedroht und liess sein Springmesser aufblitzen. Doch statt das Weite zu suchen, zogen die beiden Männer ihre T-Shirts aus und gingen in kämpferischen Posen direkt auf ihn zu. Sie rissen Anthony mehrere Rasta-Zöpfe aus, worauf dieser in Panik geriet und zustach. «Ich habe in meinem Leben noch nie so viel Angst gehabt», beteuert er vor Gericht. Gewöhnlich gehe er jedem Zank aus dem Weg, doch weil er sich in die Enge getrieben fühlte, habe er sich heftig gewehrt. Zu heftig, meint der Staatsanwalt und plädiert für eine Freiheitsstrafe von vier Jahren. Das RichterTrio verurteilt Anthony zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren. «Eigentlich sollte hier nicht das Strafgesetzbuch zur Anwendung kommen», findet der vorsitzende Richter, «sondern die Genfer Konvention», dermassen kriegerisch gehe es in der Zürcher Ausgehszene zu. *persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 221/10


Sozialeuphorie Erst das Fressen, dann die Moral Das wuchtige Nein des Volkes zum «Rentenklau» verleitet die Abstimmungssieger zu Übermut. Das ist keine gute Idee und könnte sich rächen. VON FRED LAUENER

Es ist der Horror jedes Fussballtrainers: Du führst kurz vor Schluss des Spiels Einsnull und bist sicher, dass nichts mehr passieren kann. Der Rest ist Schaulaufen, denkst du, die Punkte sind auf sicher. Die Spieler auf dem Platz verwalten den Vorsprung so so la la, sie sind gedanklich schon beim Bier. Und dann passierts. Tschabumm! Einmal, zweimal liegt der Ball im eigenen Tor, und das Spiel geht am Ende doch noch verloren. Das kann auch in der Politik passieren. Nach der gewonnenen Abstimmung vom 7. März über den BVG-Umwandlungssatz herrschte in der grossen Mehrheit der Schweizer Haushalte Freude. Diese ist verständlich, nachvollziehbar und verdient. Einigermassen erstaunlich und unangemessen war hingegen die Euphorie, die in Teilen jener Kreise ausbrach, welche die Nein-Kampagne geführt hatten: Gewerkschaften, linke und grüne Politiker, Konsumentenschützer. Die Grünen etwa interpretierten das Ergebnis als «Zeichen der Solidarität zwischen den Generationen» und implizierten damit eine Allianz von Jung und Alt, die auch künftige Sozialabbau-Vorlagen zu bodigen vermöge. Die SP verstieg sich gar explizit zur Einschätzung, das Nein zum «Rentenklau» sei eine «Absage an weitere Abbauvorlagen», und sagte uns Normalbürgern damit, dass wir uns vor nächsten Angriffen auf die soziale Absicherung, beispielsweise die anstehende Avig-Revision, nicht zu fürchten hätten, weil die Schweizerinnen und Schweizer keine weiteren Abstriche am Sozialstaat dulden würden. Das ist reine Propaganda und wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Das Damoklesschwert der Angriffe auf die Sozialwerke baumelt auch nach dem 7. März gefährlich dicht über unseren Köpfen. Denn ein Wan-

ERWIN

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… geht nach Libyen

del im Denken der Menschen und damit beim Abstimmungsverhalten hat am 7. März nicht wirklich stattgefunden. Die Schweiz wird auch in Zukunft votieren, wie sie es in der Vergangenheit bei sozialpolitischen Vorlagen fast immer tat: Mit dem Portemonnaie. Will man es uns füllen, sind wir dafür, wie etwa bei der Familienzulagenabstimmung 2006. Will man es uns leeren, sagen wir Nein, wie geschehen am 7. März. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, kommentierte der grosse Freund der kleinen Leute, Bertold Brecht, bereits 1928 ziemlich nüchtern aber realistisch die menschliche Natur. Bei der kommenden Abstimmung über die Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes werden wir unter anderem über die Kürzung der Entschädigungen für Erwerbslose befinden müssen. Denn der Arbeitslosenkasse fehlt Geld. Die Alternative zu den Leistungskürzungen bei der Minderheit der Nichtverdiener wären höhere Lohnabzüge oder Steuern für die Mehrheit der Verdiener. Ob dann die derzeit so grandios beschworene soziale Solidarität, diesmal jene der Erwerbstätigen mit den Erwerbslosen, wieder genauso spielen wird wie am 7. März, ist keineswegs sicher. ■

VON THEISS

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Porträt Ideologe in Bewegung Florian Keller ist der Hoffnungsträger einer neuen Linken. Politische Kämpfe bestreitet der Lebemann ebenso lustvoll wie Jassrunden und Chinareisen. VON CHRISTOF MOSER (TEXT) UND ANNETTE BOUTELLIER (BILD)

«Versammlungspartei» nennt er die SP, und es ist das einzige Mal an diesem Abend, dass er seine Stimme mit leisem Spott unterlegt. «Da fällen die Gremien Entscheide, die dem Parteivolk verkauft werden, und dann wird abgestimmt, fertig. Ich stelle mir unter Politik etwas anders vor.» Denkfaul? Machtversessen? Abgehoben? Nein, Florian Keller operiert nicht mit mediengerechten Schlagworten, wenn er die SP kritisiert. Sein Werkzeug im politischen Nahkampf ist das Florett. Er ist eloquent, jeder Satz sitzt. Er hat etwas Unaufgeregtes und wirkt ausgesprochen gelassen, obwohl sein Hirn ständig in Bewegung ist. «Ich bin ein Ideologe», sagt Keller über sich. «Das heisst aber nicht, dass ich verbissen bin.» Keller will die Schweiz linker machen. Im Kleinen, in Schaffhausen, ist ihm das schon gelungen. Da hat Keller die Alternative Liste gegründet, für die er jetzt im Kantonsrat sitzt. Die Wirkung auf die SP liess nicht auf sich warten: «Die Sozialdemokraten haben in der Steuergesetzrevision dank uns davon abgesehen, den degressiven Steueransatz weiter zu unterstützen. Und auch das Hooligan-Gesetz lehnte die SP auf unser Drängen hin fast geschlossen ab.» Die linke Opposition ziehe die Schaffhauser SP-Fraktion nach links. Und genau das soll jetzt in der ganzen Schweiz passieren. Zusammen mit vorwiegend jungen Politaktivisten aus der Deutschschweiz und Westschweizer PdA-Politikern arbeitet Florian Keller, 26, am Aufbau einer neuen nationalen Partei: «La Gauche – Alternative Liste – La Sinistra» heisst sie, der Startschuss fiel im November 2009 in Schaffhausen. Eine linke Bewegung soll es werden, basisnah, angriffig, und eben: wirklich links. «Die SP ist eine Partei, die Angst hat vor ihrem eigenen Mut. Es darf in der Politik nicht darum gehen, ob Positionen in der Bevölkerung gut oder schlecht ankommen, es muss darum gehen, ob die Positionen richtig oder falsch sind», sagt Keller: «Alles andere endet im Opportunismus.» Florian Keller sitzt in der Berner Markthalle vor einer Apfelschorle und erzählt, wie ihn die Abstimmung über die F/A-18-Kampfjets politisiert hat. Keller kommt aus einem sozialdemokratischen Elternhaus, sein Vater ist Rechtsanwalt, seine Mutter Lehrerin. Er habe sich immer wieder über den Lauf der Dinge aufgeregt und darüber den Weg in die Politik gefunden. Heute studiert er an der Universität Bern Jura, arbeitet für den Schweizerischen Gewerkschaftsbund – und liebt den politischen Diskurs. Wahrscheinlich ist es das, was ihn von so manchen alteingesessenen linken Politikern unterscheidet: seine ungebrochene Lust an der politischen Auseinandersetzung. «Ich weiche keiner Diskussion aus», sagt Keller. Und das merkt man: Seine Argumente sind geschliffen und kampferprobt. Egal bei welchem Thema. «Links der SP besteht ein politisches Vakuum», sagt Keller. Themen wie das Ausländerstimmrecht blieben verwaist. Auch die politische Grosswetterlage erfordere ein entschiedenes Auftreten – und zwar jetzt. «Es kommt in Mode, den Menschen per Demokratie eine Uniform überzustülpen. Das Rauchverbot ist nur ein Beispiel dafür. Das Recht dar-

auf, nicht gestört zu werden, hat in einer toleranten Gesellschaft aber niemand. Die Demokratie darf nur legiferieren, wenn die Gesellschaft in Gefahr ist», sagt Keller. Er denkt gern in grossen Linien. Das macht ihn als Diskussionspartner spannend, wie selbst politische Gegner anerkennen. Und es lässt ihn so pathetische und wahre Sätze formulieren wie: «Ich empfinde das Bedürfnis, die Fahne der Aufklärung hochzuhalten und jeden Tag daran zu erinnern, dass ihre Werte nie selbstverständlich waren und nie selbstverständlich sein werden.» Wer sagt so etwas heute noch? Doch bei aller Ernsthaftigkeit: Keller ist ein Lebemann. Politik ist nur eine Leidenschaft. Von Sitzungen und Terminen lässt er sich nicht auffressen. Im Gegenteil: «Ich empfinde Sitzungen nicht als Belastung. Es sind Gelegenheiten, um sich auszutauschen und um Positionen zu ringen.» Trotz seines grossen politischen Engagements nimmt er sich Zeit für Freunde. Regelmässig trifft er sich mit einer Jassgruppe, und dann wird gezockt. Mit dem Geld, das dabei in die Jasskasse fliesst, unternimmt man hin und wieder gemeinsam eine Städtereise. Unterwegs sein ist überhaupt eine grosse Leidenschaft von Keller. Letztes Jahr reiste er quer durch China. Die asiatischen Kulturen haben es ihm angetan. «Die konfuzianische Tradition fasziniert mich», sagt er. «Die Menschen gehen gleichberechtigt und sorgsam miteinander um. Sie verbiegen sich nicht für Touristen. Das bewundere ich.» Er bereiste auch schon Nordafrika, konnte aber mit den rigiden Regeln des Islam dort nichts anfangen. Und in Südamerika schreckte ihn der Katholizismus ab. Nächstes Jahr will er nach Kirgisien und von dort mit der Bahn nach Kasachstan reisen. «Das ist aber erst ein Traum.»

«In einer toleranten Gesellschaft hat niemand ein Recht darauf, nicht gestört zu werden.»

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Vorerst arbeitet er weiter am Aufbau der neuen Partei. Der provisorische Vorstand hat ihn zum Koordinator für die Deutschschweiz gewählt. Noch nimmt die SP kaum Notiz von der linken Konkurrenz. Aber wenn es nach Keller geht, wird sich das bald ändern. «Wir werden die SP dazu zwingen müssen, sich zu entscheiden, ob sie den dritten Weg einschlagen will – wie Labour in Grossbritannien. Oder ob sie sich auf ihre linken Wurzeln besinnt.» Keller will wieder mehr Grundsätzlichkeit in der Politik, und weniger Marketing und Machtkalkül. Er empfände es schon als Erfolg für die neue Bewegung, wenn dies gelänge: «Wir müssen die SP nicht unbedingt überholen, wir müssen sie nur linker machen.» Berührungsängste kennt Keller nicht. Er ist Mitglied einer Studentenverbindung – nicht unbedingt das, was man von einem Linken erwartet. Er hat kein Problem damit, bei einem Skirennen den Schweizern zuzujubeln. Seine Sensibilität für traditionell linke Anliegen kombiniert er mit Offenheit. Er ist ein Ideologe, ohne seine Überzeugungen mit quasireligiösem Eifer zu vertreten. Er hört gern zu, er denkt gern, er kämpft gern für das, was er richtig findet. Keller ist ein linker Hoffnungsträger. Und wohl schon bald ein ernstzunehmendes Ärgernis für denkfaule Sozialdemokraten. ■

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BILD: KEYSTONE

Samstag, 29. März 2008, ca. 5:00 Uhr: Die Scheune des Riehener Bauernguts Bäumlihof steht in Flammen.

Brandstiftung Der Zünsler von Riehen In Riehen hat es in den letzten sechs Jahren rund 60 Mal gebrannt. Wer die Feuer legt, weiss niemand. Aber einen Verdacht hat jeder. Surprise ist in der Basler Vorortsgemeinde auf Spurensuche gegangen. VON MENA KOST

Der Brandstifter von Riehen hinterlässt keine Spuren: Er hält ein Feuerzeug, ein Streichholz oder eine Kerze ans Gartenhäuschen und wartet, bis es räuchelt und glüht. Dann verlässt er den Tatort. Bis Flammen in den Himmel schlagen und Ziegel vom Dach fallen, hat er genügend Zeit, um im Dunkel zu verschwinden. Lässt er Fingerabdrücke oder DNA-Spuren zurück, werden sie von den Flammen getilgt. Allfällige Fussspuren fallen dem Löschwasser der Feuerwehr zum Opfer. Ausser Verwüstung hat der Brandstifter bisher nichts hinterlassen.

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«Leider», sagt die wohlfrisierte Dame im 6er-Tram Richtung Riehen, «leider muss ich sagen, dass die Stimmung im Dorf am Tiefpunkt angelangt ist». Die Mittfünfzigerin im pastellfarbenen Kostüm senkt ihre Stimme: «Man fühlt sich unwohl und denkt darüber nach, wichtige Gegenstände aus dem Haus in Sicherheit zu bringen. Niemand weiss, wer der nächste ist.» Mit jeder Haltestelle, mit der man Basel weiter hinter sich lässt, werden die Mäntel der Fahrgäste teurer, die Designerbrillen mit Blaustich und überpflegte Gesichter häufiger: In den noblen Basler Vorort zieht, wer Karriere gemacht hat – Anwälte, Ärzte, Banker. Die Villen haben Umschwung, die Häuser um den Dorfkern Fachwerk, und die Boutiquen SURPRISE 221/10


an der Hauptstrasse machen nicht den Eindruck, rentieren zu müssen. Auch wenn Riehen mit rund 20 000 Einwohnern eine Kleinstadt ist, hier sprechen alle nur vom «Dorf». «Einige nennen ihn ‹Feuerteufel›. In meinem Umfeld aber verwendet man keinen Übernamen für den Brandstifter. Wir sprechen schlicht von ‹der Brandserie›», erklärt die Dame im Flüsterton, bevor sie sich zum Aussteigen bereitmacht: Haltestelle «Riehen Dorf». Rund 60 Brände wurden in den letzen sechs Jahren in Riehen und Umgebung gelegt: Zur Tag-und-Nacht-Gleiche im September 2004 begann die Serie, mehrere Häuschen auf dem Familiengarten-Areal Spitalmatten standen in Flammen. Zum bisher letzten Mal brannte es Ende Februar in einer Einstellhalle an der Lörracherstrasse. In den gut fünf Jahren dazwischen sind Bauernhäuser, Schuppen, Holzstapel, Tiefgaragen, Unterstände, WC-Anlagen und Lagerräume dem Brandstifter zum Opfer gefallen. Meist am Wochenende, meist in der Nacht. Und jedes zweite Jahr in gehäufter Dichte. 40 000 Franken «Kopfgeld» sind unterdessen auf den Täter ausgesetzt. Der durch die Brände verursachte Sachschaden beläuft sich auf mehrere Millionen Franken; die Gebäudeversicherungen haben ihre Prämien vorsorglich erhöht. Menschen sind bisher keine zu Schaden gekommen. Einziges lebendiges Opfer ist ein Hund, der in einem Gartenhäuschen verbrannte.

hörte sie das Klopfen und Knallen des Feuers. Und irgendwann knallte es nicht mehr nur in ihren Träumen: «Da brannte es bei der Pilgermission St. Chrischona. Dem Bandstifter hat unsere Scheune nicht lange hingereicht, er brauchte wieder etwas Neues.» Auch Thomas Kyburz schläft nicht mehr gleich gut wie vorher. Immer wieder steht er nachts am Fenster und kontrolliert, ob alles in Ordnung ist. Noch schlimmer dran als er seien aber die anderen Bauern der Umgebung: «Die machen jede Nacht Kontrollgänge, und einer hat sich einen Hund angeschafft. Sie haben Angst, sie könnten als nächstes dran sein.»

«Das Problem bei Brandlegern ist, dass sie meinen, sie hätten das Feuer im Griff.»

Das Spiel mit dem Zufall Da die Polizei an den Brandstellen bisher keine Spuren gefunden hat, können auch kaum Rückschlüsse auf die Täterschaft gezogen werden. Die Sicherheitsbehörden mögen es deshalb nicht, wenn im Dorf und in den Medien vom «Feuerteufel» die Rede ist. «Gesucht wird eine Person, die zwischen zwölf und 80 Jahre alt ist, männlich oder weiblich. Wir können auch nicht ausschliessen, dass es sich um mehrere Täter handelt», sagt Markus Melzl, Sprecher der Basler Staatsanwaltschaft. Alle weiteren Angaben zur Täterschaft seien Spekulation und kämen damit Kaffeesatzlesen gleich. «Trotzdem: Wir gehen davon aus, dass zwei Drittel der Brände von einer Haupttäterschaft begangen wurden. Das andere Drittel fällt irgendwie aus dem Rahmen. Die Handschrift der Haupttäterschaft sieht folgendermassen aus: Es wird kein Brandbeschleuniger – etwa Benzin – verwendet. Die Täterschaft nimmt also in Kauf, dass eine Brandlegung misslingt. Wir erhielten schon verschiedentlich Meldung von Anwohnern, die in ihrem Sonnenstoren ein Brandloch entdeckten oder einen angeschwärzten Fensterladen vorfanden.» Weiter seien die angezündeten Objekte leicht zugänglich. Und: Oftmals stünden sie so nahe an einem Wohnhaus, dass das Feuer auf dieses überspringen könnte. «Der Täter», stellt Kriminalkommissär Melzl klar, «nimmt billigend in Kauf, dass es Verletzte oder Tote gibt.» Es war vier Uhr nachts, als der junge Bauer Thomas Kyburz von lautem Knallen aus dem Schlaf gerissen wurde. «Schon ein Feuer im Ofen kann recht laut sein. Nun muss man sich vorstellen, dass unsere Scheune und die zwölf Meter hohen Silos lichterloh brannten.» Kyburz sitzt neben seiner Mutter am langen Holztisch in der Küche des denkmalgeschützten Bauernguts Bäumlihof. An der Wand hängt ein Foto von drei Männern und einer Kuh, durch das Fenster blickt man direkt auf die wieder aufgebaute Scheune: Genau zwei Jahre ist es her, dass das Feuer von einem kleineren Schober auf das stattliche Gebäude übergriff, 20 Meter hoch wurde schliesslich die Feuerwand. «Es war taghell. Mein Vater und ich rannten raus, um nachzusehen, was los ist. Dann brachten wir so viele Geräte und Maschinen wie möglich in Sicherheit.» Erst um acht Uhr morgens war der Brand unter Kontrolle. Der Boden auf dem Hof war rot vor Löschschläuchen. 100 Feuerwehrmänner waren im Einsatz. «Ich stand unter Schock», sagt Mutter Kyburz, «ich zitterte und schlotterte.» Monatelang konnte sie daraufhin nicht schlafen, jede Nacht SURPRISE 221/10

Die Mutter räuspert sich: «Man muss sagen, er ist recht geschickt, der Brandleger. Es muss ein Ortskundiger sein. Wo er als nächstes zuschlägt, kann niemand vorhersehen: Einmal brennt es im Riehener Norden, dann im Süden. Und nach ein paar Bränden ist wieder eine Weile Ruhe, als würde er sich zurückziehen.» Es kocht im Dorf Im «Restaurant zum Schlipf» gleich beim Bahnhof hat man auch so seine Theorien zur Täterschaft. Sieben ältere Männer sitzen an den hellen Tischen, vier vor einem Zweierli Roten, zwei vor einem Bier, einer trinkt Cola. Es ist zwei Uhr nachmittags und aus den Lautsprechern tönt Celine Dion: «My heart will go on». «Erstens ist es ein Mann, zweitens ist er krank und getrieben und drittens muss das ein Mensch mit zwei Gesichtern sein», setzt einer den anderen seine Überlegungen auseinander. Allgemeines Nicken. «Vielleicht verkleidet der Sauhund sich ja vor seinen Touren.» Mhm. Könnte durchaus sein. «Er muss ein soziales Umfeld haben, hier kennt doch jeder jeden. Das ist ein Tarnprofi, der täuscht uns alle!» Betroffenes Schweigen. Willi Fischer, soeben wiedergewählter Gemeinderatspräsident, weiss, dass man im Dorf spekuliert. «Die Leute sind verängstigt. Sie wollen, dass man ihn endlich schnappt. Früher brannten vor allem Gartenhäuschen und Holzstapel. Einstellhallen in Wohnhäusern sind schon etwas anderes.» Die Lebensqualität in Riehen – und das sagt Fischer ungern – sei durch die Brände schon ein wenig in Mitleidenschaft gezogen worden. Von der Forderung der SVP, Bürgerwehrpatrouillen einzusetzen, hält er trotzdem nichts: «Das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Wir wollen hier keinen Highnoon.» Deshalb sollten Normalbürger tun, was Normalbürger eben tun können: Vermehrt Kontrollgänge ums Haus machen, immer überall abschliessen, und sollte sich einer im Garten oder der Tiefgarage aufhalten, den man nicht kennt – unbedingt ansprechen. Dann rückt Fischer mit seinen «eigenen Überlegungen» heraus. Er kann sich zweierlei Motive vorstellen: Entweder möchte sich der Brandstifter an Riehen rächen, weil er ungerecht behandelt wurde – «Zoneneinteilung? Steuerrechnung?» –, oder der Täter sei schlicht geisteskrank. «Deshalb finde ich den Übernamen Feuerteufel problematisch. Sollte sich herausstellen, dass der Täter aus niedrigen Motiven handelt, bitte … dann ist es tatsächlich ein Teufel.» Aber bis zum Beweis des Gegenteils ist Willi Fischer überzeugt: «Das ist ein ganz armer Kerl, der Hilfe braucht.» Dann sagt er eindringlich: «Der Brandstifter soll sich bei uns melden. Wir können ihm wirklich helfen.» Grosse weisse Flocken beginnen auf das Frühmesswegli zu fallen – sehr zum Vergnügen der Kinder auf dem nahen Spielplatz. Riehen wirkt freundlich und friedlich. Auf einer Bank neben der Schaukel sitzt eine junge Frau. Die Brandserie? Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen und ihr Blick wird kalt. «Niemand tut etwas. Nicht die Polizei, nicht der Gemeinderat. Nur die SVP will etwas unternehmen. Aber die lässt man ja nicht.» Die stämmige Frau erhebt sich zu stattlicher Grösse: «Ich

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weiss schon, wieso die Polizei nicht will, dass wir patrouillieren. Würden wir auf den Zünsler treffen, wir würden ihn zu Tode prügeln. Also ich täte das. Dieses Schwein.» Wie die Frau auf der Parkbank zweifelt auch der betrunkene Mittdreissiger, der neben dem Eingang zum Beyeler-Museum an der Mauer lehnt, daran, dass die Polizei alles Mögliche zur Ergreifung des Täters tut. Das weckt in ihm aber keine Wut. Im Gegenteil: Es scheint ihn zu amüsieren. «Diese Beamten haben keinen Schimmer. Sollten sie aber. Würden die ein bisschen nachdenken, dann wüssten sie, wer die Brände legt.» Mehr will er nicht sagen, den Bullen helfe er nicht. Nur soviel: «Es war einmal ein Rektor, der hatte einen Traum, dass alle Zeugnisse verbrennen würden. Nachts darauf legte einer Feuer im Sekretariat vom Gymnasium Bäumlihof.» Der Alptraum des Rektors «Ja», sagt Hans Gygli, «ich träumte, dass es im Sekretariat brennen würde. Am Tag darauf nahm ich sicherheitshalber alle Maturarbeiten auf Mikrofilm auf. Damals war das übrigens noch nicht gang und gäbe. Nochmals einen Tag später, am 23. Juni 1983, brannte es dann im Sekretariat. Alle Maturarbeiten waren futsch.» Dem ehemaligen Rektor des Gymnasium Bäumlihof – die Basler Schule liegt nahe der Riehener Gemeindegrenze – ist das sonderbare Erlebnis noch gut in Erinnerung: «Rache», sagt er, «jemand wollte sich an mir rächen. Anders kann ich mir das nicht erklären. Gefunden hat man den Täter jedoch nie». Auch für ehemalige Schüler ist der Brand im Jahr 1983 noch immer ein Thema. «Gygli war ein autoritärer Rektor, ein Mann der alten Schule. Damit gab er eine gute Zielscheibe für Junge ab», erklärt einer, der im Brandjahr seine Matur absolvierte. «Unter uns Schülern gab es natürlich diverse Theorien über mögliche Täter: Neonazis im Umfeld der Schule, Linksradikale und solche, die im Jahr zuvor von der Schule geworfen worden waren.» Der ehemalige «Bäumlihofer» zupft sich am Ohr: «Nehmen wir einmal an, dass es einer war, der von der Schule geschmissen worden war und sich rächen wollte: Der wäre heute Anfang vierzig. Der Mann auf diesem Phantombild, das die Polizei vor ein paar Jahren im Zusammenhang mit Riehen in Umlauf gebracht hatte, war ungefähr in diesem Alter.» Eine Folge der Brandserie scheint zu sein, dass jeder jedem potenziell verdächtig wird.

Laut Graf gibt es verschiedene Kategorien, denen Brandstifter mit psychischen Störungen oder Krankheiten zugeordnet werden. Einmal gebe es den rachsüchtig dissozialen Brandstifter. Dieser begehe auch andere Delikte, beispielsweise Einbruchsdiebstähle. Wenn er keine lohnenswerte Beute finde, könne es sein, dass der Einbrecher – aus Rache – ein Feuer lege. Eine andere Täter-Kategorie sei der psychisch kranke Pyromane. Den tatsächlichen Pyromanen, der vom Feuer im Extremfall sogar sexuell erregt werde, gebe es höchst selten. Graf: «Aber Brandstifter, die in Richtung Pyromanie gehen, kommen schon häufiger vor.» Das seien dann zum Beispiel Menschen mit einer emotional instabilen Persönlichkeit. «Mit Feuer kann man viel erreichen, als Feuermacher kann man sich mächtig und potent fühlen», sagt Graf. In dieser Kategorie kommt es vor, dass die Täter die Brände beobachten, die Medienberichterstattung verfolgen, Zeitungsartikel sammeln oder sogar selber Fotos des Feuers machen. «Im Alltag hingegen fühlen sich diese Leute oft ohnmächtig und inkompetent.» Lange Intervalle zwischen den Bränden sind bei diesem Tätertyp keine Seltenheit. «Vielleicht geht es einem Menschen sogar über Jahrzehnte gut und er hat eine deliktfreie Zeit», erklärt Graf. «Dann passiert irgendetwas in seinem Leben – vielleicht holen ihn Suchtmittelprobleme ein, vielleicht verliert er den Job oder die Familie – und er wird rückfällig.» Aus der Tatsache, dass der Riehener Täter bisher keinen einzigen Fehler gemacht hat, lassen sich laut Graf Vermutungen ableiten: «Keine Spuren ist auch eine Spur.» Ein starkes Suchtproblem habe der Brandstifter von Riehen wohl eher nicht, ansonsten könnte er nicht über sechs

«Würden wir dem Zünsler begegnen, würden wir ihn zu Tode prügeln.»

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BILD: BEZIRKSFEUERWEHR RIEHEN-BETTINGEN

Keine Spur ist auch eine Spur «Leider können wir unmöglich ein Täterprofil erstellen. Dazu bräuchten wir mehr Daten», erklärt Kriminalkommissär Markus Melzl. Dafür arbeite die Polizei mit sogenanntem Geo-Profiling: «Die Kollegen in Zürich untersuchen mögliche Gemeinsamkeiten der Brände: Wie war das Wetter, wie der Mondstand – oder legt der Täter mit den Brandorten ein Muster? Alles wird untersucht.» Eine Task-Force, bestehend aus mehr als einem Dutzend Personen, treffe sich einmal wöchentlich zum Informationsaustausch. Als Motiv, sagt Melzl, gehe die Polizei von Geltungssucht, Verzweiflung oder Rache aus. Und das Phantombild eines Mannes, der am Brandort unter den Schaulustigen aufgefallen war, führte zu nichts und wurde wieder aus dem Verkehr gezogen. Den Hinweisen der Bevölkerung, die laufend eintreffen, gehe man allen samt und sonders nach. Bisher ohne Erfolg. «Dass der Gewerbeverband die Belohnung für Hinweise, die zur Ergreifung der Täterschaft führen, im Februar von 20 000 auf 40 000 Franken erhöhte, führte übrigens nicht zu markant mehr Hinweisen», erzählt Melzl. Dafür brannte es am Wochenende darauf in der Einstellhalle des «Gewerbehauses». «Ob der Täter damit auf die Erhöhung der Belohnung reagierte, können wir nicht sagen.» Marc Graf, er ist forensischer Psychiater, arbeitet im Fall Riehen mit der Basler Polizei zusammen: «Brandserien werden meist von psychisch kranken Tätern begangen», erklärt er.

Jahre derart «diszipliniert» vorgehen. Und eine sehr starke psychische Störung komme ebenfalls eher nicht in Frage, da der Täter sonst auf die eine oder andere Weise auffiele. Der Brandstifter scheint also kein Irrer zu sein, sondern jemand, der durchdacht handelt und clever ist. «Das Problem bei Brandlegern ist, dass sie meinen, sie hätten die Brände im Griff. Die Feuerwehr würde schon rechtzeitig kommen, um Verletzte oder Tote zu verhindern», sagt Graf. Leider sei das ein Fehlschluss: «Die Erfahrung zeigt, dass ein Feuer oft tödlich ist.» In Riehen wird es langsam dunkel. Strassenbeleuchtung und Schnee tauchen die Tramhaltestelle «Riehen Dorf» in ein seltsames Blau. Eine Frau und ihre 7-jährige Tochter warten aufs Tram Richtung Basel-Stadt. «Ich hatte als Kind ja Angst vor Hexen», sagt die Frau und schüttelt den Kopf. Aber als die Tochter kürzlich im Schlaf geweint habe und sie sie aufweckte und fragte, was los sei, habe das Mädchen geantwortet: «Der Feuermann kommt.» ■

Samstag, 29. März 2008, ca. 9.00 Uhr: Der Brand ist gelöscht. SURPRISE 221/10


Umwelt Schlafen auf hohem Energieniveau Die Schweiz verpasst die grosse Chance, welche die Umstellung auf klimafreundliche Technologien darstellt: Innovation, Wachstum, Arbeitspl채tze. Die Wirtschaftsverb채nde und die Politik sind gefordert, findet Klimaforscher Martin Grosjean.

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VON STEFAN MICHEL (INTERVIEW) UND ANNETTE BOUTELLIER (BILDER)

Herr Grosjean, es scheint, als ob die Wissenschaftler, die den Klimawandel für menschgemacht halten, in Beweisnot gerieten: Die Medien berichten im Zusammenhang mit Messungen von mangelhaften Datensätzen und falschen Schlussfolgerungen … Die Fehler in den Datensätzen haben an der Aussage der Untersuchungen nicht ein Komma verändert: Der Klimawandel ist menschgemacht. Dass man von einem Datensatz verschiedene Versionen hat, die sich minim unterscheiden, ist in der Wissenschaft völlig normal. Das kann viele Gründe haben, zum Beispiel, dass eine Messstation nach hundert Jahren ihres Bestehens allmählich von der Stadt umwachsen wird, was ihre Daten in einen anderen Zusammenhang stellt. Die Klimarekonstruktion ist ein extrem komplexes Gebiet. Können Sie solche Feinheiten über die Medien kommunizieren? Das ist fast nicht möglich. Ein Beispiel: Anfang dieses Winters, nachdem die Skilifte an der Lenk geöffnet hatten, setzte Regen ein. Ein Journalist nach dem anderen rief mich an, sogar das Fernsehen kam vorbei, um mich zu fragen, ob das jetzt die Klimaerwärmung sei. Schon um den Unterschied zwischen dem Wetter und dem Klima zu erklären, braucht man mindestens drei Sätze. Klar zu machen, dass Extremereignisse die denkbar schlechtesten Indikatoren für die Klimaveränderung sind, weil sie viel zu selten eintreten, ist noch viel schwieriger. Von aussen scheint es, als ob die Klimadebatte zwischen den verschiedenen politischen Lagern darauf hinausläuft, dass sich die Wissenschaft nicht einig ist. Kein Wissenschaftler, der auf diesem Gebiet ernsthaft geforscht hat, behauptet heute noch, die Verbrennung fossiler Brennstoffe sei nicht der Grund für den Anstieg der Temperatur. Die Klimaforscher sind sich in 95 bis 99 von 100 Fragen einig. Strittig sind höchstens Details. Doch worüber wir uns einig sind, darüber brauchen wir ja nicht mehr zu diskutieren. Wenn Sie an eine Konferenz gehen, sehen Sie Wissenschaftler sich leidenschaftlich streiten. Nur so ist Fortschritt möglich. Ein Laie kann dabei aber den Eindruck bekommen, die Wissenschaft sei sich überhaupt nicht einig, die Erkenntnisse umstritten.

Martin Grosjean: «Wir hätten riesiges Potenzial, Emissionen zu reduzieren.»

Es sieht so aus, als ob die Schweiz ihre für 2012 angestrebten Reduktionsziele erreichen wird. Wie beurteilen Sie die CO2-Bilanz der Schweiz? Die Schweiz hat das Glück, dank der Wasserkraft relativ emissionsarm Energie produzieren zu können. Ausserdem basiert unsere Wirtschaft stark auf Dienstleistungen, die natürlich viel weniger CO2 produzieren als die Schwerindustrie anderer Länder. Dafür importieren wir viele Güter, die im Ausland bei ihrer Herstellung CO2 verursacht haben.

Was halten Sie vom Argument, der Anteil der Schweiz am weltweiten Ausstoss von CO2 sei so gering, dass es sich nicht lohne, wenn sie sich um Reduktion bemühe? Für das Klima ist es völlig irrelevant, ob eine Tonne CO2 in der Schweiz oder in China hochgeht und wo sie eingespart wird. Economiesuisse argumentiert, man «Wir müssen auf lange Sicht verbindliche Reduktionsziele müsse das Geld dort zur CO2 -Reduktion einsetzen, wo man für einen Franken am meisten vereinbaren. Nur so schafft man Investitionssicherheit.» einsparen kann. Tatsächlich ist es in der Schweiz etwa viermal so teuer, eine Tonne CO2 einzusparen wie in China. CO2 -Reduktion hat aber neben der fiWenn man bereits wenig ausstösst, ist es noch schwieriger zu renanziellen auch eine volkswirtschaftliche Komponente. Man muss sich duzieren. Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass dies der Schweiz fragen: Entstehen tatsächlich nur Kosten, oder ist CO2 -Reduktion nicht trotzdem gelingt? vielmehr eine Investition in unsere Wirtschaft, in die WertschöpfungsDie Reduktion erreichen wir vor allem im Ausland durch den Kauf von kette und unterstützt so das Schaffen von Arbeitsplätzen hier in der Emissionszertifikaten, welche wir über den «Klimarappen» finanzieren. Schweiz? Dabei hat die Schweiz ein riesiges Potenzial, vor allem durch Gebäudesanierung und das Mobilitäts- und Freizeitverhalten Emissionen zu Ihre Antwort? reduzieren. Wenn man den Multiplikator-Effekt einkalkuliert – also wie viele Jobs geschaffen werden, wenn man beispielsweise konsequent in die GeWas müsste geschehen, damit dieses Potenzial genutzt wird? bäudesanierung zwecks Energieeinsparung investiert –, dann fällt die Dazu braucht es ein starkes Signal von der Politik: Man muss auf lanRechnung positiv aus. Oder anders: Economiesuisse oder die Stiftung ge Sicht verbindliche Reduktionsziele setzen. So schafft man Investi«Klimarappen» sollen einmal erklären, worin der volkswirtschaftliche tionssicherheit. Wenn eine Firma weiss, dass die Energiepreise in den Gewinn liegt, wenn jährlich rund 70 Millionen Franken aus der nächsten zehn Jahren jährlich um einen bestimmten Betrag steigen, Schweiz in andere Länder fliessen, um dort Emissionen zu reduzieren. kann sie sich ausrechnen, wann der richtige Zeitpunkt ist, um ein Heiz-

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system zu ersetzen oder in die Isolation zu investieren. Wenn die Politik den Unternehmen diese Freiwilligkeit lässt, entstehen effiziente Lösungen. Die Freiwilligkeit bestünde aber nur bezüglich des Zeitpunkts. Die Investition an sich wäre obligatorisch. Ja, die muss vorgegeben sein. So war das ja auch im CO2 -Gesetz vorgesehen. Selbst Economiesuisse hatte gelobt, dass man zuerst auf Freiwilligkeit setzt und erst später, wenn so nicht genug erreicht wird, jenen Abgaben auferlegt, welche die Reduktionsziele nicht erreichen. Leider war es dann Economiesuisse, die, wohl aufgrund von Partikularinteressen der Erdölindustrie und anderen energieintensiven Branchen, erfolgreich dafür lobbyierte, während des Spiels die Spielregeln zu ändern. Und die CO2 -Abgabe nur auf Brennstoffe, nicht aber auf Treibstoffe einzuführen. Im Gegenzug wurde der «Klimarappen» etabliert. Damit tat Economiesuisse, was man in der Wirtschaftspolitik niemals tun darf: Unsicherheit bei den Investitionen schaffen. Wie gross wäre der ökonomische Nutzen, wenn man in der Schweiz bei Gebäudesanierungen konsequent auf energiesparende Standards setzen würde? Es gibt Berechnungen des Paul Scherrer Instituts. Die Zahlen hängen vom Zeithorizont ab. Sicher ist: Wenn die Energiepolitik der Schweiz für die nächsten 30 Jahre klare Vorgaben machen würde, dann würde es sich für Schweizer KMU lohnen, in die Forschung und Entwicklung zu investieren, um dann mit einem marktfähigen Produkt bereit zu sein, wenn es gebraucht wird. So würde man ein entwicklungs- und investitionsfreundliches Klima schaffen. Ohne klare Vorgaben verpasst die Schweiz den Anschluss? Norwegen hat vorgemacht, was möglich ist. Und beschloss ein Bündel von sehr strengen Massnahmen, die diejenigen belohnen, die mit Energie effizient umgehen. Dies führte zu einem Forschungs- und Entwicklungsschub in energiesparende Technologien, die sich heute weltweit exportieren lassen. Die Schweiz hat in diesem Bereich geschlafen, mit Ausnahme von ein paar innovativen Nischenprodukten. Diese haben übrigens auch die Stürme an den Börsen relativ unbeschadet überstanden. Ist der Rückstand noch aufzuholen? Die Schweiz kann jederzeit wieder einsteigen, und sie tut das besser heute als morgen. Die Pionierrolle hat man also verpasst. Wie gut oder wie schlecht steht die Schweizer Klimapolitik im internationalen Vergleich da? In den Achtziger- und Neunzigerjahren waren wir führend. Früher passte die EU ihre Regelungen der Schweiz an. Inzwischen läuft es umgekehrt. Die Haltung in der Schweiz ist derzeit: Bloss keinen Alleingang. Wenn man immer die anderen das Tempo vorgeben und die Standards setzen lässt, dann spricht das halt auch Bände über das Selbstbewusstsein und die Innovationskraft eines Landes. ■

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Die Schweizer Klimapolitik Per Gesetz verpflichtete sich die Schweiz im Jahr 2000, ihren CO2-Ausstoss gegenüber dem Volumen von 1990 um zehn Prozent zu senken. Die Förderung freiwilliger Massnahmen durch die Unternehmen sollte die Reduktion möglich machen. Für den Fall, dass diese ihre angestrebte Wirkung verlieren, hatten die Gesetzgeber die Möglichkeit eingebaut, mit Abgaben die Abgasmenge zu drosseln. Denn nichts reduziert besser, als wenn das Emittieren teurer wird. Klimarappen vs. CO2-Abgabe Tatsächlich reichten die freiwilligen Bemühungen von über 1500 Schweizer Firmen, darunter praktisch alle Grossunternehmen, nicht aus, um im Reduktions-Fahrplan zu bleiben. Doch Economiesuisse, Erdölvereinigung und weitere Verbände lobbyierten erfolgreich für die Einführung des Klimarappens auf Benzin und Diesel, um die unter den gegebenen Umständen eigentlich vorgeschriebene CO2-Abgabe zu verhindern. Die 1,5 Rappen, die man seit 2005 pro Liter Benzin oder Diesel zahlt (jährlich über 100 Mio. Franken), finanzieren Projekte zur Senkung des CO2-Ausstosses, zum grössten Teil ausserhalb der Schweiz. Die CO2-Abgabe auf Brennstoffe (Heizöl, Kohle, Erdgas) wurde 2008 doch noch eingeführt und 2010 von 12 Rappen pro Tonne CO2 auf 36 Rappen erhöht, um die Reduktionsziele bis 2012 zu erreichen. Eine durchschnittliche, ihr Einfamilienhaus mit Öl heizende Familie kostet die CO2-Abgabe pro Jahr rund 190 Franken. Da die Gebühr keine Steuer ist, sondern eine Lenkungsabgabe, wird sie an die Bevölkerung rückerstattet, was über eine Verbilligung der Krankenkassenprämie geschieht. Für die Jahre 2008 und 2009 wurden jeder in der Schweiz wohnhaften Person einmal rund 80 Franken gutgeschrieben. Das CO2-Gesetz nach 2012 Parlament und Regierung arbeiten zurzeit an der Totalrevision des CO2-Gesetzes für die Zeit nach 2012. Wohl auch wegen der hängigen «Volksinitiative für ein gesundes Klima» lässt der Gesetzentwurf auf dem momentanen Stand auf etwas ambitioniertere Ziele schliessen: Mindestens 20 Prozent Reduktion bis 2020 gegenüber 1990 – und dies vollständig durch Einsparungen im Inland. Die Klima-Initiative fordert 30 Prozent. Über die Initiative und den Vorschlag der Räte zur Totalrevision des CO2-Gesetzes wird voraussichtlich 2011 abgestimmt.

Martin Grosjean Das Forschungsinteresse des Geografen Martin Grosjean ist breit gesteckt und reicht weit zurück: Er ist Spezialist für die klimatische Entwicklung seit der letzten Eiszeit, also etwa der letzten 20 000 Jahre. Er forscht auf den Gebieten Klimatologie, Klimageschichte, Geoarchäologie, Seesedimente, aber auch zu globalem Wandel, Mensch und Umwelt. Zu dieser Vielseitigkeit passt sein beruflicher Werdegang: Er war Mitarbeiter von Helvetas auf Haiti, forschte in der chilenischen Atacama-Wüste und am Schweizerischen Lawinenforschungsinstitut. Heute ist er Professor für Geografie und Direktor des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung an der Universität Bern und steht dem Nationalen Forschungsschwerpunkt Klima vor, einem interdisziplinären Zusammenschluss von 130 Klimaforscherinnen und -forschern.

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Armut No Money No Honey Am liebsten hätten alle einen schÜnen, gescheiten und liebevollen Partner mit viel Geld. Welche Chancen aber haben Menschen, die vom Sozialamt leben? Armutsbetroffene berichten von den Schwierigkeiten bei der Partnersuche und den Problemen, die entstehen, wenn man sein Herzblatt gefunden hat.

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VON RETO ASCHWANDEN (TEXT) UND PATRIC SANDRI (ILLUSTRATION)

«Die letzten Jahre habe ich nur für meine Karriere gelebt. Nun suche ich einen intelligenten, grosszügigen Mann, der mich ins WellnessHotel, zum Tauchen und ins Theater entführt.» So oder ähnlich klingen viele Kontaktanzeigen. «Ich habe einer Frau nichts zu bieten. Nicht mal ein Glas Wein.» Das sagt ein Sozialhilfeempfänger in der aktuellen Caritas-Kampagne «Wir sind arm». Arm sein bedeutet in der Schweiz nicht in erster Linie materielle Not. Sondern sozialen Ausschluss: Vereinsmitgliedschaften, Einladungen und Ferien liegen kaum drin. Wenn die alten Kameraden gemeinsam verreisen, bleibt der ausgesteuerte Kollege allein daheim, und irgendwann fragt keiner mehr, ob er auch mitkommen möchte. Das soziale Umfeld bricht weg und damit auch eine Möglichkeit, neue Bekanntschaften zu knüpfen. Wie das die Suche nach einer Partnerin erschwert, musste Hans Kennel* erfahren.

ner Gesellschaft, in der der Sozialstatus eine grosse Rolle spielt, bilden Ausgesteuerte das Gegenteil einer guten Partie. Verständnis sei nur von Leuten mit einem ausgeprägten sozialen Interesse zu erwarten, meint Abderhalden, die selber in einer Beziehung lebt: «Die anderen haben viele Ratschläge und Tipps und sagen: Das wird schon werden. Im Grunde genommen wollen sie aber finanziell unabhängige Partner. Erotische Gefühle entwickeln diese Leute erst, wenn der Status geklärt ist.» Strafe für Verliebte Studien zeigen, dass sich Partner meistens unter Menschen mit ähnlicher Bildung und vergleichbarem Status finden. Akademiker bleiben in der Regel ebenso unter sich wie Menschen ohne Schulabschluss. Wäre eine armutsbetroffene Frau also vielleicht eine Option für Hans Kennel? Eher nicht, findet er, denn wer von der Sozialhilfe lebe, schleppe meistens viele Probleme mit sich herum. Statt sich gegenseitig zu stützen, könne das zu einem gegenseitigen Hochschaukeln der Hoffnungslosigkeit führen: «So eine Beziehung wäre kaum nachhaltig.» Auch Petra Abderhalden erlebt es selten, dass zwei Armutsbetroffene zusammen kommen: «Wenn beide keine Aussicht auf eine neue Arbeitsstelle haben, gibt es auch keine Perspektive auf ein gemeinsames

Status vor Erotik Im Jahr 2000 wurde der heute 58-Jährige arbeitslos, seit acht Jahren bezieht er Sozialhilfe. «Das Interesse an einer Frau wäre schon da», sagt der Winterthurer. Eine Beziehung hatte er aber seit vielen Jahren nicht mehr. Die Gründe sind vielfältig. Zum einen hätten sich über die Zeit Marotten und Mödeli Während sich die Verliebten noch in der Kennenlernphase eingeschlichen, die eine Partnerschaft nicht wähnen, zücken die Behörden bereits den Taschenrechner. einfacher machten, erzählt Kennel. Das passiert auch sozial integrierten Gutverdienern. schöneres Leben.» Finden doch einmal zwei Sozialhilfebezüger zuSpezifisch für Sozialhilfebezüger sind aber die Einschränkungen bei sammen, bricht bald die Realität in die Romantik ein. Ziehen zwei alzwischenmenschlichen Kontakten. Der Arbeitsplatz gehört noch immer leinstehende Armutsbetroffene zusammen, führt das zu Kürzungen der zu den wichtigsten Partnerschaftsmärkten. Wer keinen Job hat, bleibt Sozialhilfe, denn – so die Argumentation der Behörden – im Zweiperdabei draussen. Auch bei Freizeitaktivitäten, die zu neuen Begegnungen sonenhaushalt lebe es sich günstiger als allein. «Wer sich verliebt, wird führen könnten, sind Armutsbetroffene eingeschränkt. Kultur- und bestraft», sagt Abderhalden dazu. Sportveranstaltungen liegen nur selten drin und selbst wenn sich BeEiner noch schwereren Probe wird die Liebe unterzogen, wenn ein gegnungen ergeben, wird das Wiedersehen zum Problem. «Einladungen Sozialhilfebezüger mit einem arbeitenden Partner zusammenzieht. Geins Kino oder ins Restaurant sind zu teuer», sagt Kennel. Auch die Fralangt nämlich das Sozialamt zur Einschätzung, der Erwerbstätige verge «Zu dir oder zu mir» erübrigt sich, denn die Wohnungen von Ardiene genug, dann erwartet es, dass er den armutsbetroffenen Partner mutsbetroffenen sind selten repräsentativ: «Leute wie ich werden oft in unterstützt. Bei langjährigen Beziehungen kann das funktionieren, für Randlagen abgedrängt.» Kennel findet, auch heute noch hätten viele neue Bindungen aber bedeutet die Verlagerung der Abhängigkeit vom Frauen den Anspruch, ein Mann müsse die Rolle des Versorgers überStaat auf den Partner eine schwere Hypothek. Umso mehr, als der Druck nehmen. Damit fällt er ausser Rang und Traktanden. Ganz allgemein auf Armutsbetroffene heutzutage hoch ist. So gibt es Sozialdetektive, bräuchte es sehr viel Verständnis, wenn sich jemand, der nicht von Ardie nächtens kontrollieren, ob ein Sozialhilfeempfänger Besuch hat. mut betroffen ist, auf einen Sozialhilfeempfänger einlässt: «Ich habe Und so kann es geschehen, dass sich die frisch Verliebten noch in der kein Auto und komme mir komisch vor, wenn ich einen Ausflug vorKennenlernphase wähnen, während die Sozialbehörden bereits den schlage und gleich hinterher schicke: Hast du ein Halbtax-Abo?» Taschenrechner zücken, um die Ansprüche aufgrund des geänderten Für armutsbetroffene Frauen scheint es auf den ersten Blick etwas Beziehungsstatus neu zu berechnen. Es klingt zynisch, ist aber nur reaeinfacher. Denn bis heute gebietet es die Galanterie vielen Männern, listisch, wenn Petra Abderhalden findet: «Wenn sich ein Armutsbetroffebeim Rendezvous zu bezahlen. Für Petra Abderhalden* ist das allerner und eine berufstätige Frau verlieben, dann beginnen die Probleme.» dings «ein zweischneidiges Schwert». Denn das könne dazu führen, Wer sich auf eine Beziehung mit einem Armutsbetroffenen einlässt, dass der Mann im Gegenzug Erwartungen an die Frau hege. Die 49-Jähfindet sich bald mitgefangen im Käfig von behördlicher Bevormundung rige engagiert sich in Basel bei einem Selbsthilfeprojekt von Armutsbeund Rechenschaftspflicht. Statt auf den Schwingen der Liebe davon zu troffenen und kennt die spezifischen Probleme armer Singles: «Ich erleschweben, droht ein Eingesperrtsein zu zweit. Für Hans Kennel ist desbe Armutsbetroffene grossteils als vereinsamte Menschen. Sie ziehen halb klar: «Für mich kommt nur eine Fernbeziehung infrage, denn zusich zurück, werden melancholisch oder gar depressiv. Auf der anderen sammenziehen wäre zu teuer. Seite haben viele eine grosse Sehnsucht nach Nähe. Aus Angst vor Ent■ täuschungen geben sie das sich selber gegenüber nicht zu.» Doch auch wer an einer Beziehung interessiert wäre, stösst auf Hindernisse. In ei* Namen geändert SURPRISE 221/10

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BILD: LUC-FRANÇOIS GEORGI

Der Stolz des Heimbesitzers: Sven Unold vor seinem Wohnwagen mit selbst gebautem Vorbau.

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Gesellschaft Kulturlandschaft in Echt In der Stadt geht das Leben ab, auf dem Land herrscht tote Hose. Das meinen die Städter – und irren sich. Denn wer sich aus den Ballungszentren hinaus aufs Land wagt, trifft auf eine höchst lebendige Kulturszene. VON JULIA KONSTANTINIDIS

Der Albtraum eines Stadtkindes geht so: In einem Kaff zu leben, in dem sich die Unterhaltungsmöglichkeiten auf zwei Dorfbeizen und einen Jugendtreff konzentrieren. Ein Stadtkind will Party und Rock’n’Roll; hier und jetzt und immer. Sie bemitleiden die Landeier in ihrem kulturellen Ödland zwischen Restaurant Ochsen und Restaurant Adler. Doch dabei übersehen sie die Perlen, die zwar klein, aber umso leuchtender in der Landschaft funkeln: Kulturbetriebe, die jenseits von Ballungszentren kulturelles Leben aufs Land bringen. Es sind alte Landkinos, nicht mehr gebrauchte Scheunen oder Mühlen, in denen Bands auftreten, Kabarettisten für Lacher sorgen oder Kleintheater gespielt wird. Ob im Fricktal, im Sarganserland oder im Berner Mittelland, die Programme der Häuser lassen sich sehen: Gestandene Schweizer Künstler, Geheimtipps aus dem Ausland oder die Stars von morgen machen zwischen Bad Bonn und Bad Ragaz Stimmung. Die Lokale werden mit Leidenschaft geführt, denn meistens stellen Freiwillige – in Vereinsform organisiert – den Betrieb sicher. Da wird ein Gärtnermeister zum Musikprogrammchef, der Sanitärinstallateur zum Barkeeper und der Rentner zum Filmoperateur.

rungen gekoppelt. Und manchmal, wohl in schwierigeren Zeiten, werden leise Töne der Enttäuschung lauter. Man fühlt sich übergangen auf dem Land, benachteiligt gegenüber den Grossen in Zürich, Bern, Basel, Luzern, St.Gallen oder Aarau. Für die Ämter ist es schwierig, bei der Geldvergabe Äpfel mit Birnen zu vergleichen, oder: Wie viel ist ein Kellertheater im Vergleich zum prächtigen Kulturzentrum an bester Lage in der Stadt wert? Und manchmal ist es tatsächlich so, dass Institutionen, die den Menschen an den Hebeln der Macht besonders vertraut sind, schneller berücksichtigt werden als das Lokal in Hinterdupfingen.

Kultur auf dem Land heisst: viel Herzblut, wenig Geld.

Schamgefühle in der Garderobe Wo viel Herzblut ist, ist jedoch oft wenig Flüssiges vorhanden. Deshalb wirtschaften viele der Betriebe am Limit, kostspielige Renovationen und Umbauten werden häufig Jahr um Jahr verschoben: Schamgefühle gegenüber Künstlern, die mit zu kleinen, wenig glamurösen Garderoben vorliebnehmen müssen, sind landauf, landab bekannt. Um nicht rückwärts zu machen, beantragen die Betreiber früher oder später Unterstützung bei der Gemeinde, dem Kanton, ansässigem Gewerbe sowie bei Banken und Versicherungen, die der Region verbunden sind. Das nagt manchmal zünftig am Unternehmerstolz. Grundsätzlich ist man jedoch mit den Subventionen einverstanden und froh darüber. Die finanzielle Unterstützung stellt den Betrieb sicher, das Beantragen von wiederkehrenden Subventionen ist allerdings eine bürokratische Angelegenheit und die Mittel sind an verbindliche LeistungsvereinbaSURPRISE 221/10

Wenn es zu Ungerechtigkeiten von Behördenseite kommt, müssen sich die Landkulturellen in Nachsicht üben: Dann haben die Stadtkinder wieder einmal nicht über den Tellerrand ins Land hinaus geschaut. Wer mitmacht, bestimmt Allfällige Verzagtheit dürfte den Organisatoren in den Dörfern und Kleinstädten vergehen, wenn die Häuser bei der nächsten Disco, der kommenden Konzertsaison wieder voll sind. Denn die Lokale haben ein breites, gemischtes und treues Publikum. Die Kulturbetriebe sind Heimat für Jugendliche, die ihre ersten Schritte ins Nachtleben wagen, genauso wie für junge Familienleute, die trotz der ersehnten Ruhe auf dem Land ab und zu ein bisschen rocken wollen. Und auch Dorfbewohner, die den Anfahrtsweg in die Stadt nicht mehr auf sich nehmen möchten, dennoch nicht auf Kabarett- und Theaterveranstaltungen verzichten wollen, schätzen das lokale Angebot. Das ist manchmal, je nach Besetzung des Vereinsvorstands, kunterbunt, oder aber es gibt eine klare Linie im Programm. Die kann aber bei der nächsten Vereinsgeneralversammlung und neuer Verteilung von Verantwortlichkeiten wieder ändern. Denn wer mitmacht, bestimmt. Und das ist der Unterschied vieler Dorfkinder zu unzähligen Stadtkindern: Dort Eigeninitiative, da Erwartungshaltung. Also, liebe Urbanisten, wagt euch aufs Land und ihr werdet Discos finden, wo die Leute noch tanzen und man ausserdem noch ein Ticket für das Konzert bekommt, das in der Stadt schon längst ausverkauft ist.

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Teenager im Publikum eher selten. «Aber das kann sich ändern, sobald jemand dabei ist, der sich in dieser Sparte auskennt», so Bösiger. Momentan gibts im Marabu viel Blues und Schweizer Musik zu hören. Nebst lokalen und regionalen Künstlern waren auch schon Stiller Has, Patent Ochsner, Dodo Hug oder Max Lässer zu Gast. Die Mitwirkungsmöglichkeiten scheinen eher geringe Anziehungskraft zu haben: «Es läuft relativ harzig, neue Leute für den Vorstand zu gewinnen», meint Bösiger. Vor etwa sieben Jahren stand der Betrieb deswegen auf der Kippe. Das Geld ist auch im Marabu immer wieder ein Thema. Der Backstagebereich könnte verbessert werden und das Lüftungs- und Heizungssystem kommt immer wieder zur Sprache. Um im Winter den Saal warm zu bekommen, bringt vor Veranstaltungsbeginn ein Gebläse etwas warme Luft in den Raum. Trotzdem behält das Kinopublikum seine Wintermäntel während der Filmvorführung lieber an. Die Haupteinnahmequelle sind die Jahresbeiträge der über 400 Vereinsmitglieder. Kurz bevor Bösiger Präsident wurde, beantragte das Marabu erstmals staatliche Subventionen, und das ist gut so, findet der Präsident: «Wenn man nur von Zuschauerzahlen leben müsste, wäre es schwierig. Jetzt läuft es recht gut.»

Kulturraum Marabu Ort: Gelterkinden/BL Art: ehemaliges Kino Programm: Kino, Theater, Konzerte Wichtigste Geldgeber: Gemeinde Gelterkinden – 10 000 Franken/Jahr Kanton Baselland – 8000 Franken/Jahr Raiffeisenbank – 6000 Franken/Jahr Organisation: Trägerverein Marabu VON JULIA KONSTANTINIDIS

Die acht Zuschauer sitzen etwas verloren in den Kinostühlen der hintersten Reihe im weitläufigen Saal. Am anderen Ende wartet er mit einer theater-, kabarett- und konzerttauglichen Bühne auf. Von aussen würde man keinen so grossen Raum vermuten – der Eingang zum Lokal ist durch eine schmale Passage in der Häuserzeile zugänglich. Zur Filmpause klingelt – schön altmodisch – eine Glocke. Das Marabu, dessen gefiederter Namensgeber im Entrée die Wand ziert, ist ein ehemaliges Kino aus den 50er-Jahren mit rund 230 Sitzplätzen, aufgeteilt in Parkett und Balkon. An Konzerten finden bis zu 350 Leute darin Platz. Das Landkino in Gelterkinden im oberen Baselbiet stand lange leer, bis 1994 der Trägerverein Marabu gegründet wurde. Ziel laut Statuten: Bereicherung des Kulturlebens in der Region. Vor zwei Jahren fusionierte man mit dem Kulturverein Gelterkinden, um die Energien zu bündeln. «Das Programm ist querbeet, alle Generationen werden angesprochen», meint Beat Bösiger, Vereinspräsident seit viereinhalb Jahren. Obwohl, im Segment Hip-Hop/R’n’B sei man aktuell nicht so stark, folglich fehlten entsprechende Veranstaltungen. Deshalb sind

Gare de Lion

BILD: DOMINIK PLÜSS

Ort: Wil/SG Art: ehemalige Lokremise der Mittelthurgau-Bahn Programm: Konzerte und Partys, aber auch Theater, Tanz, Lesungen Wichtigste Geldgeber: Gemeinde Wil – 25 000 Franken/Jahr Kanton SG – 20 000 Franken/Jahr Mitgliederbeiträge – ca. 3000 Franken/Jahr Organisation: Verein Kulturzentrum Wil

Vorstand mit Vogel: Die Marabu-Crew.

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VON AMIR ALI

Es steht in der Ostschweizer Provinz, wird von einem Verein getragen und lebt vom ehrenamtlichen Einsatz der Mitglieder. Das Gare de Lion im St. Gallischen Wil wirtschaftet im Umfeld von Ballungszentren wie St. Gallen und Winterthur. Der Blick ins Veranstaltungsprogramm zeigt neben lokalen und Schweizer Bands auch internationale Musiker aus dem benachbarten Ausland, aber auch England oder gar New York. «Wir wollen, dass es in Wil ein abwechslungsreiches Angebot gibt, von Livemusik und DJs über Kleinkunst bis zum Jugendtheater», bringt Vereinspräsident Matthias Loepfe das Credo der Betreiber auf den Punkt. Und weil sich das Kulturleben des Städtchens ansonsten auf die Tonhalle und die Fasnachtsfeiern beschränkt, nahm das gute Dutzend junger Wiler – alle zwischen 25 und 30 – die Sache eben selbst in die Hand. Der alte, von Graffiti überzogene Schuppen der ehemaligen Lokremise ist bereits seit Mitte der 90er-Jahre eine Stätte der Kultur. Als der alte Betreiber aufhörte, packten die jungen Leute ihre Chance und eröffneten den Gare de Lion im Herbst 2008 neu. Vor allem Independent Rock, Hip-Hop und Elektronische Klänge prägen das Programm an den Wochenenden. Der Schwerpunkt, so Matthias Loepfe, liege bei diesen Konzerten und Partys. Mit Letzteren nimmt das Gare de Lion das Geld ein, um andere Veranstaltungen zu subventionieren. Immer donnerstags ist freier Eintritt. Dann spielen Bands aus der Gegend, jassen die Wiler, tanzen auch ältere Leute Tango oder messen sich jüngere in Powerpoint-Karaoke. Dies sind die Abende, an denen im Gare de Lion das Lokale gepflegt wird, mit fast ausschliesslich einheimischen Besuchern. «Für unser Konzertprogramm sind wir jedoch auf ein überregionales Publikum angewiesen», erklärt Vereinspräsident Matthias Loepfe. Denn für Künstler-Gagen, Hotels, Technik und Türsteher seien schnell einmal 3000 bis 4000 Franken ausgegeben. SURPRISE 221/10


BILD: ANGEL SANCHEZ

BILD: LUC-FRANÇOIS GEORGI

Im Gare de Lion sind junge Wiler am Drücker.

«lödelig» auf dem Holzgerüst, dass es nur so knallt, wenn das Publikum das Tanzbein schwingt. Der Vogelsang, wie ihn Einheimische nennen, ist eine Institution. Gegründet 1969, dient das feuchte Gemäuer seit Generationen als eine Art Heimat für Heranwachsende, die im katholisch-konservativen Kanton nirgends so richtig dazugehören. Wer im Urner Talboden lieber Kabaretts und Konzerte besucht als Volkstheater und Stubeten, landet unweigerlich im Kellertheater. Möglich macht das die ehrenamtliche Arbeit der Vereinsmitglieder. Je eine Veranstaltungsgruppe kümmert sich um Musik, Theater und Kindertheater. Was sie auf die Bühne bringen, ist ihnen überlassen. «Wir lassen die Leute machen», sagt Mike Reichmuth, Co-Präsident des Vereins Kellertheater: «Nicht jede Veranstaltung muss rentieren. Wichtiger ist, dass hier Kleinkunst stattfindet.» Mittlerweile finden etwa 36 Veranstaltungen im Jahr statt, darunter Klassiker wie die Weihnachtsdisco und der Fasnachtsball. Über die Jahrzehnte hat praktisch alles, was Rang und Namen hat, im Vogelsang gespielt: Stephan Eicher, Stiller Has und die Delilahs genauso wie Franz Hohler, Joachim Rittmeyer und Andreas Thiel. Zwar gibt es in Altdorf Menschen, die den Vogelsang meiden, weil er ihnen zu alternativ ist. Doch bei vielen Einheimischen kann das Kleintheater auf Goodwill zählen. Als vor zwei Jahren Toiletten und Garderobe umgebaut wurden, kamen Sponsoren für die Kosten in der Höhe von 100 000 Franken auf. Mike Reichmuth blickt zuversichtlich in die Zukunft: Ein langjähriger Vertrag mit dem Besitzer sorgt für Rechtssicherheit und die wenigen Nachbarn «sind supergut drauf, obwohl seit dem Rauchverbot vermehrt Leute vor dem Lokal rumstehen und reden.» Die Veranstaltungen sind gut besucht, auch wenn das Publikum heute selektiver auftaucht als noch vor ein paar Jahren, als es mehr Stammgäste gab. Im Dorfkern gibt es jedes Wochenende Scherben und Geschrei. Reichmuth aber sagt zufrieden: «Im Vogelsang haben wir eigentlich nie Puff mit Lärm und Abfall.» Die Altdorfer wissen halt, was sie an ihrem Kellertheater haben. ■

Unterstützt wird das Gare de Lion neben einigen kleinen Sponsoren aus dem lokalen Gewerbe vor allem vom Kanton und der Gemeinde. Letztere beteiligt sich mit 25 000 Franken jährlich, wovon sie jedoch die Hälfte gleich wieder als Miete für den Schuppen zurückbekommt. Im Vorstand und in der Betriebsgruppe arbeiten alle gratis, insgesamt rund 250 Stellenprozent. Dies sei auf längere Sicht nicht beizubehalten, sagt Matthias Loepfe. «Wir brauchen in nächster Zeit höhere Beiträge», sagt Loepfe. «Sonst müssen wir auf kommerziellen Betrieb umstellen.» Und das hiesse: Was nicht profitabel ist, fällt aus dem Programm.

Kellertheater im Vogelsang Ort: Altdorf/UR Art: ehemaliger Wein- und Lagerkeller Programm: Konzerte, Partys, (Kinder-)Theater Wichtigste Geldgeber: Gemeinde Altdorf – 15 000 Franken/Jahr Kanton Uri – 10 000 Franken/Jahr Gönnerverein – 10 000 Franken/Jahr Organisation: Verein Kellertheater im Vogelsang VON RETO ASCHWANDEN

Altdorf hat kulturell mehr zu bieten als Telldenkmal und Tellspielhaus. Am Dorfrand zwischen Friedhof und Wald liegt das Kellertheater im Vogelsang. Hinter der schweren Holztüre gehts hinein in den Berg, in den zwei Gewölbe gehauen wurden. Das Foyer beherbergt eine Bar und Sitzgelegenheiten, im Innenraum steigt der Boden bei Theateraufführungen treppenförmig an, bei Konzerten hingen liegen die Bretter so SURPRISE 221/10

Kellerkinder: Die Vogelsang-Präsidenten Mike Reichmuth und Andrea Schelbert.

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Privatsphäre Die Frage, was genau unter Privatsphäre zu verstehen ist, hat der Schweiz einiges Ungemach beschert. Obwohl der 1949 erschienene Roman von George Orwell schon ein Vierteljahrhundert über das Ablaufdatum (1984) hinaus ist, bleibt die Vision eines alles überwachenden Staates fest im öffentlichen Bewusstsein verankert, auch wenn nicht allen Fans des mehr oder weniger erfolgreichen Fernsehformats «Big Brother» bewusst ist, dass der Titel eine Referenz an Orwell ist. Heute sind es nicht nur Regierungen, die mit ihrem Datenhunger die Leute beängstigen. Google kam ins Kreuzfeuer, weil das Unternehmen über alles und jeden Bescheid wissen will. Wer ein Handy benutzt, ist jederzeit lokalisierbar. Wer ein Internet- und GPS-fähiges Smartphone hat, kann diese Daten zum Beispiel über «Google Latitude» anderen zugänglich machen.

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Dann wissen Freunde und Bekannte immer, wo man ist. Unterdessen gibt es in den USA schon Dienste, die falsche Ortungssignale aussenden, weil es schlecht aussieht, wenn man behauptet, in der Firma Überstunden zu schieben, während sich das Handy offensichtlich in der Piranha-Bar vergnügt. Cumulus- und Superkarten wissen, was wir gerne essen, Kreditkarten, was wir gerne kaufen, Bank- und Postkarten, wo wir wann wie viel Geld bezogen haben. 300 Franken morgens um zwei am Bancomat neben der Piranha-Bar zum Beispiel. Das ist vielen Leuten unheimlich und wenn irgendwo eine Videokamera aufgestellt wird, hagelte es Proteste. Um das mythische Jahr 1984 herum flog der Fichenskandal auf, später kam heraus, dass sogar V-Männer eingesetzt wurden, die versuchten, potenziell linksradikale Stammtischrunden zu Bombenanschlägen und bewaffnetem Kampf zu animieren. Das galt als legitim, weil das Staatsinteresse höher gewertet wurde als die Privatsphäre. Wer sich um die Privatsphäre Sorgen machte, geriet in den Verdacht, paranoid oder Sympathisant düsterer Mächte zu sein. Datensammler und Staatsschützer hatten ein schlagendes Argument gegen den Schutz der Privatsphäre parat: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten. Viele Leute sind weiterhin der Ansicht, es sei nicht Privatsache, welches Kraut man im Garten anpflanzt, welches Spiel man in die

Konsole schiebt oder welches Geschlecht die Person hat, mit der man den Bund fürs Leben zu schliessen gedenkt. Seit der Diskussion um ausländische Steuerhinterzieher hat die Privatsphäre eine erstaunliche Aufwertung erfahren: Neuerdings soll selbst wer etwas zu verbergen hat, nichts zu befürchten haben. Vorausgesetzt, es handelt sich beim zu Verbergenden um am Fiskus vorbeigeschleustes Geld. Die Privatsphäre jener, die den Staat um seine Einnahmen bringen, ist eine andere als die derer, die den Staat etwas kosten. Sozialhilfeempfänger, Invalide und Arbeitslose stehen unter Generalverdacht, etwas zu verbergen und ihre Privatsphäre ist auch in Zukunft nicht viel wert. Der Schutz der in diesem Sinne neu definierten Privatsphäre ist zweifellos richtig, denn hätten mehr Leute mit viel Geld und hohen Einnahmen ihre Steuern nicht bezahlt, hätten Staaten wie die USA oder Deutschland während der Finanzkrise kein Geld gehabt, die maroden Kredite der Banken aufzukaufen, diese wären pleitegegangen, das Finanzsystem wäre zusammengebrochen und das ganze Schwarzgeld wäre futsch gewesen. Womit unserem Land eine Menge Ärger erspart geblieben wäre. STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 221/10


Musik Das Lied schläft in der Maschine Mit Kraftwerk revolutionierte Karl Bartos die Popmusik. Heute musiziert er lieber mit Bildern als mit Tönen. Beim m4music-Festival präsentiert er seine Vorstellungen von Musik in Theorie und Praxis.

Ein echter Pionier bleibt nicht stehen. Mit Kraftwerk gehörte Karl Bartos zwischen 1975 und 1990 zu den Begründern der modernen Maschinenmusik. Als Mitautor von «Das Model», «Die Roboter» und «Computerliebe» schuf er Stücke an der Schnittstelle von Song und Track. Beim Festival m4music (siehe Kasten) wird er nun als «Bildmusiker» auftreten. Gefragt, was man sich darunter vorzustellen habe, verweist Bartos zunächst auf den Futurismus, die abstrakte Malerei Kandinskys sowie den «Absoluten Film» der 1920er Jahre, der die visuelle Wirkung über erzählerische Strukturen stellte. Praktisch bedeutet es eine Verknüpfung von Bild und Musik. Während seine Mitmusiker auf der Bühne für den Klang sorgen, montiert Bartos live aus dem Zusammenhang gerissene Filmsequenzen dazu: «Man kann aber auch einfach geometrische Figuren nehmen und die dann tanzen lassen.» Im Unterschied zu so genannten Visuals, die heute bei vielen Konzerten parallel zu Musik projiziert werden, interagiert und improvisiert Bartos in Echtzeit mit seinen Mitmusikern. «Mein Instrument ist der Laptop mit dem Bildmaterial. Ich bin auf der Bühne damit beschäftigt, Filmmaterial zu schneiden und zu verändern, um es mit der Musik zu synchronisieren.» Schon bei Kraftwerk wurde viel mehr live gespielt, als man heute denkt. «Unsere so genannte Computermusik war längst nicht so elektronisch wie heutige Gitarrenmusik.» Während in modernen Studios jeder Ton durch den Computer geht, nahmen Kraftwerk mit analogen Bandmaschinen auf und drehten von Hand die Knöpfe am Sinusgenerator. «Im Prinzip haben wir unsere Stücke so eingespielt, wie es auch ein Streichquartett machen würde», erklärt Bartos, der einst als klassisch ausgebildeter Orchestermusiker begonnen hatte. Die Technobewegung, die sich bis heute auf Kraftwerk beruft, kommentiert Bartos bissig: «Was in den Clubs läuft, ist keine richtige Musik sondern akustische Strukturen, ein Zeitraster, das rhythmische Impulse liefert.» Überhaupt ist Bartos, der als Professor für auditive Mediengestaltung an der Universität der Künste in Berlin lehrt, kein Fan der zeitgenössischen Popmusik. Die Unzahl von Möglichkeiten des Computers führen in seiner Wahrnehmung zu einer Scheinkreativität. «Die verwendeten Programme funktionieren wie Schienen, die kein Ausbrechen erlauben. Dadurch entsteht immer wieder das gleiche Bild, bloss mit anderen Gegenständen drauf. Aber der Pinsel und die Farben bleiben immer dieselben. Eine Entwicklung findet nicht statt.» Die wirklich kreativen Köpfe ortet Bartos heute bei den Programmierern und nicht unter Musikern. Popkulturpessimistisch ist er allerdings nicht: «Es gibt immer interessante Menschen, die faszinierende Sachen machen, sobald sie sich eine Gitarre umhängen.» Und auf einmal entpuppt sich der Mann, der oft wie ein Kunsttheoretiker spricht, als Romantiker: «Für mich liegt das Geheimnis der Musik in der Melodie.» Seit hunderten von Jahren reagierten Menschen mit Wohlgefühl auf Kinderlieder und kirchliche Musik. «Musik tröstet und ist die perfekte Lebenshilfe. Ich glaube, sie ist das, was dem Göttlichen am nächsten ist.» Das wird auch in Zukunft so bleiben. In seinem Vortrag über die Geschichte der Tonaufzeichnung, den er bei m4music ebenfalls halten wird, erklärt Bartos, im binären Code des Computers verberge sich «ein Klang, der schon immer in uns war.» Das Lied schläft in der Maschine. ■ SURPRISE 221/10

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VON RETO ASCHWANDEN

Theorie und Praxis: Bartos als Professor und als Live-Musiker.

m4music Konzipiert vom Migros-Kulturprozent findet das Festival vom 25. bis 28. März in Lausanne und dem Zürcher Schiffbau statt und umfasst Workshops, Vorträge und Konzerte. Einen Schwerpunkt bildet die Nachwuchsförderung: In der «Demotape Clinic» bekommen Amateurmusiker Feedback von Branchenprofis, bei den Konzerten am Abend treten einheimische Newcomer Seite an Seite mit internationalen Stars auf. Diese Jahr gastieren unter anderem die Schweizer Songwriterinnen Anna Aaron und Evelinn Trouble neben der britischen Hype-Truppe These New Puritans, Miss Platnum mit Crossover zwischen R&B und Balkan-Beats und dem französischen Elektro-Star Yuksek am Festival. www.m4music.ch

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Kulturtipps

Roman für Menschen, die Tieren auf Augenhöhe begegnen wollen.

Clareece Precious unterwegs: An jeder Ecke lauert die nächste Demütigung.

Buch Der Graue aus dem Norden

Kino Das eigene Leben kennenlernen

Wer immer noch daran zweifelt, dass Tiere eine Seele haben, liest am besten den lyrischen Roman «Hundeherz» von Kerstin Ekman, der endlich auf Deutsch vorliegt.

Clareece Precious Jones ist so weit unten wie nur vorstellbar. Am Punkt, an dem es nicht mehr auszuhalten ist, macht sie den ersten Schritt ihrer Reise zum eigenen Leben. Ein Plädoyer für Lebenslust und Hoffnung.

VON ANNA WEGELIN VON MICHÈLE FALLER

Die schwedische Schriftstellerin Kerstin Ekman (76), die man im Ausland vor allem für ihre intelligenten Krimis aus den 1960er-Jahren kennt, hat einen Hund, einen Spitz namens Stella. Wer Ekmans Roman «Hundeherz» liest, der über 20 Jahre nach der Erstveröffentlichung endlich auf Deutsch vorliegt, begegnet einem Tier, das nichts mit Kinder- oder Partnerersatz zu tun hat – Kerstin Ekman ist mit einem Förster verheiratet. Es ist tiefer Winter in Nordschweden. Ein Mann und seine Hündin gehen Eisfischen. Ihr Hundewelpe, «der Graue», folgt den beiden und verliert ihre Spur. Er überlebt die harsche Jahreszeit nur dank einem Elchkadaver. Als die Tage länger werden und das Moor matschig, kommen auch Vogeleier und Hasenkötel auf seinen Menüplan, später die knackigen Wühlmäuse und die saftigen Multbeeren. Der Graue ist nicht das einzige Wesen in dieser nordischen Wildnis aus Sumpf, Weide, Wald und Fjällbergen. Es gibt Auerhahnküken und Unglückshäher, Lemminge und Kriebelmücken – und eine Füchsin, der er instinktiv aus dem Weg geht. Durch Zufall begegnen sich der Hund und sein Besitzer wieder. Der Graue findet zum domestizierten Leben zurück und wird ein tüchtiger Jagdhund. Aber er hält immer Wache: «Niemand weiss, worauf er horchte und was er erlebt hatte dort draussen, wo niemand ihn hatte sehen können.» «Hundeherz» ist eine stimmungsvolle, sensible Annäherung an ein Geschöpf im Duell und Duett mit der Natur, deren ganze Pracht und Artenvielfalt sich im Buch ausbreitet. Wir verzehren uns mit dem Grauen vor Hunger, frieren bis unter die Haut. Wir lassen uns mitreissen von seinem immensen Überlebensdrang. Wir pflatschen uns in die wärmende Sonne, verschlingen die Fischresten beim Otterbau, lauschen dem Singen der Waldmeisen in den Knorrbirken – und wittern eine unbestimmte Gefahr, die als Menschenstimmen und Motorengeräusche vom See hinüber wehen. «Hundeherz» ist ein Buch für Menschen, die im Zeitalter der Beschleunigung und des Klimawandels immer noch fest daran glauben, dass es sich lohnt, nach alternativen Lebensmodellen zu suchen. Und dabei den Tieren und Pflanzen auf gleicher Augenhöhe begegnen.

«Gestern war kein guter Tag; ich habe geweint. Dann sagte ich mir: Scheiss auf diesen Tag. Darum macht nämlich Gott, oder wer auch immer, neue Tage.» Das sehr dicke schwarze Mädchen geht durch die Strassen Harlems und seinen Gedanken nach. Und angesichts der Gewalt, des Missbrauchs und der grauenvollen Demütigungen, denen der Teenager ausgesetzt ist, ist das eine geradezu gigantisch optimistische Einstellung zum Leben. Vielleicht aber auch die einzige Möglichkeit, es zu ertragen. Und wenn das Leben fast nicht mehr auszuhalten ist, träumt sich die 17-Jährige auf die Titelbilder von Zeitschriften oder an die Seite eines hellhäutigen Boyfriends. Der Film «Precious» (nach Sapphires Romanvorlage «Push») erzählt die erschütternde Geschichte des gleichnamigen Mädchens, dessen Rufname in krassem Gegensatz zur Aufmerksamkeit steht, die es zu Hause erhält. Die Mutter trichtert der Tochter ununterbrochen ein, wie dumm und nutzlos sie sei. Dann wird sie von der Schule verwiesen. «Werd die weisse Schlampe los», droht die Mutter, als die Rektorin an der Tür klingelt. Diese berichtet durch die Gegensprechanlage von einer Alternativschule, und ganz leise kündigt sich die Hoffnung an. Als das Mädchen schliesslich die Tür des neuen Klassenzimmers ansteuert, breitet sich helles Licht auf der Kinoleinwand aus. Regisseur Lee Daniels zeichnet mit «Precious» ein so grässliches Schicksal eines Menschen, dass einem buchstäblich übel wird. Doch genauso berührend sind die Szenen, die von Witz und Glücksmomenten künden. Der düstere Alltag, die surreale Glitzertraumwelt und die vom Zauber des Aufbruchs geprägten Szenen mit den Mädchen der neuen Schule sind kunstvoll ineinandergefügt und halten die Zuschauer bis zum Schluss in zuweilen beinahe schmerzhafter Spannung. Auch die schauspielerischen Leistungen sind durchwegs beeindruckend. Neben der Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe überzeugte auch Mariah Carey in einer ungewohnten Rolle. Alles in allem wirkt «Precious» mit seinem langsamen Aufstieg von den Abgründen der Gewalt und Missbilligung zur wilden Entschlossenheit, zu leben, wie eine lautstarke Aufforderung, die Hoffnung und den Glauben an die Menschen nie aufzugeben.

Kerstin Ekman: «Hundeherz», Roman. Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder.

«Precious», Regie: Lee Daniels, 110 Min., USA 2009, derzeit in den Deutschschweizer

Piper Verlag, München 2009. 128 Seiten, CHF 26.90.

Kinos.

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SURPRISE 221/10


BILD: ZVG

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Für den 25-jährigen Reed blieb die Zeit 1965 stehen. 01

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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TYDAC AG, Bern

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KIBAG Strassen- und Tiefbau

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OTTO’S AG, Sursee

06

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Canoo Engineering AG, Basel

08

Lehner + Tomaselli AG, Zunzgen

09

fast4meter, storytelling, Bern

10

Brother (Schweiz) AG, Baden

11

Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

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IBZ Industrie AG, Adliswil

Soul? Was war das bitte gleich nochmals? George Clinton stellte 1971 diese Frage singend seiner Band Funkadelic und bekam im fetten Chorus zur Antwort: «Eine Schweinehaxe in deinen Cornflakes.» Merke: Die Musiksparte wurde als ebenso ungewöhnlich wie deftig empfunden. Mitte der 60er-Jahre galt Soul denn auch als Stil Nummer eins für die schwarze US-Bevölkerung und es dauerte nicht lange, bis das weisse Amerika zur Musik von Künstlern wie Otis Redding oder Aretha Franklin mitgroovte. Verschwunden ist der Soul zwar nicht, aber er wurde abgelöst von Rap und Hip-Hop, um nicht zu sagen: abgehängt. Einer der die Soul-Fackel weiterhin hochhält, ist Eli «Paperboy» Reed. Im Gegensatz zu einer Amy Winehouse, die sich des Stils zwar bedient, ihr Material aber einem Retro-Bad unterzieht, ist der Mann mit dem unschuldigen Milchgesicht ein Verfechter der Authentizität. Für den 25-Jährigen ist die Zeit 1965 stehengeblieben, allerspätestens. Für ihn zählen gut sitzende Anzüge, zu viel Gel in den Haaren, rauchige Atmosphären und grosse, beinahe schon pompöse Gefühlsäusserungen. Bereits als Knirps rackerte sich der Sohn eines Musikkritikers durch die extensive heimische Plattensammlung und liess sich von Buddy Holly oder Chuck Berry betören. Doch erst als sein Vater sich das Gesamtwerk von Ray Charles zulegte, kam die endgültige Erleuchtung. «Sein Sound veränderte mein Leben», lässt sich Reed zitieren. In der Highschool mühte er sich etwa auf der Gitarre ab – mit mässigem Erfolg. Sein Talent, das zeigte sich, liegt beim Gesang. Der Bostoner landete vorübergehend als sonntäglicher Keyboarder und Sänger in der Chicagoer Kirche von Mitty Collier, einer Predigerin, die in den Sechzigern selber noch dem Rhythm’n’Blues frönte. Ein Stahlbad in Sachen Auftritten. Zurück in der Heimatstadt veröffentlicht Reed seine ersten beiden Alben und wurde dafür vom «Rolling Stone» für seine «heulenden Grooves und seinen schmutzigen R’n’B» gepriesen. Jetzt erscheint mit «Come And Get It» der Drittling: Zwölf blechlastige, dynamische Songs, auf denen sich der Musiker austobt – jaulend, ausrufend, seufzend. Gegenüber den ersten beiden Versuchen halten nun auch die Kompositionen mit der eh schon überzeugenden Darbietung mit. Was die Sache kein bisschen innovativer macht, dafür umso genussreicher.

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Zeix AG, Zürich

14

Zürcher Kantonalbank, Zürich

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Axpo Holding AG, Zürich

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Experfina AG, Basel

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AnyWeb AG, Zürich

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muttutgut.ch, Lenzburg

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Mobilesalad AG, Bern

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Proitera GmbH, Basel

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Coop Genossenschaft, Basel

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Alfacel AG, Cham

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Kaiser Software GmbH, Bern

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chefs on fire GmbH, Basel

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Statistik Georg Ferber GmbH, Riehen

Eli «Paperboy» Reed: «Come And Get It» (Parlophone/EMI).

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Soul Stahlbad in der Kirche Weshalb nach vorne schauen, wenn die Vergangenheit so viel zu bieten hat? Eli «Paperboy» Reed hats nicht mit dem Sound von heute, dafür mit dem Soul von einst. Diesen hat der 25-jährige so schön verinnerlicht, dass er beinahe wieder zeitgemäss klingt. VON MICHAEL GASSER

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Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag! Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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BILD: ZVG/SIMON HARI UND MATTO KÄMPF

Ausgehtipps Auf Tournee Leidenschaft live «Hey hallo Leidenschaft – ich warte hier Tag und Nacht darauf, dass Du endlich reinkommst.» So beginnt das siebte Album der Aeronauten und die Musik unterstreicht das Verlangen nach Passion mit ordentlich Schub. Das Sextett aus Schaffhausen und Zürich, wie es geografisch korrekt heisst, spielt auf «Hallo Leidenschaft!» ein Songset so abwechslungsreich wie ein Mixtape. Aufgeräumter Schrummelrock trifft auf bläsergetriebenen Soul, Punknummern wechseln sich ab mit schmachtenden Lovesongs und zwischendurch gibts ein bisschen Easy Listening. Und weil Sänger Guz zu den gewitztesten Textern deutscher Zunge zählt, fährt der Konzertbesuch nicht nur zünftig ins Tanzbein, sondern auch schelmisch schmeichelnd ins Oberstübchen. (ash) 19. März, 22 Uhr, Palace, St. Gallen; 20. März, 21.30 Uhr, Cardinal, Schaffhausen; 25. März, 21 Uhr, Dampfzentrale, Bern; 26. März, 20 Uhr, Bar 59, Luzern; 27. März, 21.30, Kaff, Frauenfeld; 1. April, 21 Uhr, Schiff, Basel; 2. April, 21.30 Uhr, Cafe Mokka, Thun; 9. April, 21 Uhr, Selig, Chur; 10. April, 20.30 Uhr, Moods, Zürich.

BILD: ZVG

Die Aeronauten beim Autoklauf für die Tour.

Anzeigen:

Randständige als Modell: Eine Skulptur von Harald Birck.

Bern Armutszeugnisse

Di–So 10–17 Uhr www.verdingkinderreden.ch www.hmb.ch

Kunst mit einem explizit sozialen Anspruch ist ein wenig aus der Mode gekommen. Wie eindrücklich künstlerische Auseinandersetzungen mit sozialen Themen nach wie vor sein können, demonstriert derzeit die Ausstellung «Kunst trotz(t) Armut» in der Berner Heiliggeistkirche. Werke von Schweizer Armutsbetroffenen stehen Seite an Seite mit Exponaten von deutschen Bildhauern, Malern und Fotografen, die Randständige und ihre Lebenswelt abbilden. Unter anderem sind Skulpturen von Harald Birck und Jörg Immendorff zu sehen. (ash) Kunst trotz(t) Armut, Heiliggeistkirche, Bern. Bis 10. April: Di & Mi, 11 bis 18.30 Uhr; Do, 11 bis 20.30 Uhr; Fr, 11 bis 16.30 Uhr.

— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 — 26

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BILD: MAN RAY TRUST/2010, PROLITTERIS, ZÜRICH

BILD: LUKAS HAUSSENDORF

Das Publikum kann sich auch dieses Jahr auf Bscene-Leckerbissen freuen.

«Sans titre»: Gruppenfoto der Herren Georges und Yvette Malkine (oben), André de La Rivière, Robert Desnos, André Lasserre (unten).

Basel Heimspiel

Winterthur Zwischen Illusion und Realität

«Tout Bâle» für einmal nicht an der Fasnacht sondern am Clubfestival Bscene: In neun Lokalen rockts und rollts bereits zum vierzehnten Mal am Rheinknie. Die Stilrichtungen sind vielfältig, das Programm repräsentiert das aktuelle Schaffen der Basler Musikszene: Vom «AvantRok-Indietronic» bis zum Grand Beatbox Battle geben sich bekannte und (noch) unbekanntere Formationen an zwei Abenden ein Stelldichein. (juk) Bscene, 26. und 27. März, Kaserne, Parterre, Nordstern, Alter Zoll, Bird’s Eye, Kuppel, Sudhaus, Nt Lounge/Erlkönig, Basel, Programm: www.bscene.ch

Magisch, traumhaft, verspielt und unergründlich – die surerealistische Formsprache hat bereits vor langem den Weg über Mode, Werbung und Medien in unseren Alltag gefunden. Was dabei meist vergessen wird: Ursprünglich waren die Surrealisten eine Gruppe von Künstlern und Schriftstellern, die sehr pointiert auf Weltveränderung und Selbsterkenntnis hinwirkte und sich als revolutionäre Gegenbewerbung zum bürgerlichen Wertesystem verstand. Mit neuen Bildfindungen hinterfragten ihre Mitglieder das Dasein in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen – in einer Zeit grosser gesellschaftlicher und politischer Instabilität also. Eine Ausstellung mit über 400 Fotografien, Filmen und Dokumenten widmet sich nun dieser surrealistischen Avantgarde: Zu sehen sind Bilder berühmter Fotografen, etwa von Man Ray, Hans Bellmer oder Calude Cahun, aber auch Werke unbekannter Künstler, Magazinpublikationen oder Werbung. (mek) «Subversion der Bilder – Surrealismus, Fotografie und Film», bis zum 24. Mai zu sehen im Fotomuseum Winterthur, www.fotomuseum.ch

BILD: ISTOCKPHOTO

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Basel Dem Sommer entgegen Das bringt unsere Frühlingsgefühle in Fahrt: exotische Rhythmen aus Lateinamerika und dazu die passenden Drinks und Häppchen. Alles zu haben am Festival Latina Canto y Danza, das von der interkulturellen Informationsstelle Nosotras organisiert wird. Shows aus Argentinien, Bolivien, Ecuador, Kolumbien, Mexiko und Peru locken bestimmt auch die Schweizer im Publikum aus der Reserve. An der Fiesta mit live Musik können alle dem Sommer entgegentanzen. (juk) IV. Festival Latino Canto y Danza, 27. März, 18.30 Uhr

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Am Festival Latino gibts mit Sicherheit ein paar dieser

Türöffnung, 19.30 Uhr Show, 22 Uhr Fiesta,

mexianischen Köstlichkeiten.

Kulturzentrum Union, Basel.

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Verkäuferporträt «Am liebsten würde ich Strassen bauen»

BILD: ZVG

Rene Metzger (36) aus Zürich hatte eine schlimme Kindheit. Doch weder Krankheit noch Heimaufenthalte konnten seinen Drang nach Freiheit brechen. Heute fehlt ihm nur noch eines: eine Partnerin, um die ganze Nacht durchzutanzen. AUFGEZEICHNET VON ANDREA KELLER

«Von Anfang an war klar, dass ich es schwer haben würde: Ich kam als eineiiger Zwilling zur Welt und bekam bei der Geburt zu wenig Sauerstoff. Ein denkbar schlechter Start. Seither leide ich an sogenannter Zerebralparese, also an Bewegungsstörungen. Mein Vater machte das Ganze noch schlimmer: Er war Lastwagenfahrer, trank gerne eins über den Durst und schlug dann zu. Manchmal traf es mich, manchmal meinen Bruder, manchmal auch die Mutter. Heute habe ich ihm verziehen. Aber damals war es schlimm. Logisch: Man möchte geliebt werden – nicht geschlagen. Ausserdem sind wir oft umgezogen, auch das war nicht leicht. Mit fünf Jahren kam ich dann in eine Pflegefamilie. Ich erinnere mich gut: Wir lebten in einem riesigen Chalet-Haus am Rande eines Dorfs im Kanton Luzern. Zu Hause hatten wir sechs Schlittenhunde. Manchmal durfte ich mit ins Training. Das klingt recht toll, war es aber nicht. Die Pflegeeltern waren sehr streng mit mir. Das Beste in meiner Jugend war Tina. Als wir uns kennenlernten, waren wir beide 14 und besuchten dieselbe Sonderschule. Tina war querschnittgelähmt, hatte kurzes braunes Haar und war sehr lieb zu mir. Das tat mir gut, ihre Wärme, ihre Person. Ich war verknallt in sie. Als Tina unsere kurze Beziehung nach einem Spitalaufenthalt beendete, war ich am Boden zerstört. Auf den Liebeskummer folgte eine happige Zeit. Ich war oft sehr «hässig» auf die Welt und hatte meine Aggressionen nicht immer im Griff. Aber man fühlt sich halt hilflos und allein, wenn man kein richtiges Zuhause hat. Mancherorts litt ich auch unter den blöden Regeln, an die ich mich zu halten hatte. Zum Beispiel in einem Wohnheim im Thurgau. Da verbot man uns, in der Freizeit Musik zu hören. Das hat mich wahnsinnig gemacht. Ich liebe alle Arten von Musik: Pop, Rock, Techno, alles. Und ich tanze sehr gerne. Im Sommer gehe ich jeweils an die Streetparade, kürzlich war ich auf einer Goa-Party. Ich stand da sogar auf der Gästeliste. Tanzen bedeutet Freiheit für mich. Da kann man alles um sich herum vergessen. Freiheit ist mir sehr wichtig. Wahrscheinlich bin ich deshalb immer wieder abgehauen, bin einfach ausgebüxt, wann und wo ich konnte. Oft habe ich mich von der Schule oder aus Wohnheimen weggeschlichen, um heimlich auf Baustellen zu gehen. Auf Baustellen fühle ich mich pudelwohl. Ich mag die Arbeiter, den Lärm, aber am besten gefallen mir die Maschinen. Könnte ich meinen Beruf frei wählen, würde ich Strassen bauen. Vielleicht würde eine dieser Strassen bis nach Italien und ans Meer führen. Aber diesen Wunsch erfüllt mir niemand. Stattdessen habe ich eine Bäckeranlehre begonnen, die ich aber nicht durchgestanden habe. Später konnte ich auf einem Bauernhof im Zürcher Oberland eine Ausbildung zum Gemüsebaugärtner machen. Dass ich diesen zweiten Versuch durchgezogen habe, verdanke ich meinen damaligen Betreuern. Die hatten viel Geduld mit mir und meinten immer: ‹Komm, Rene, jetzt mach das, dann hast du einen Abschluss. Das ist doch wichtig für dich›.

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Nach meiner Ausbildung wechselte ich immer wieder die Orte und die Jobs, zwischendurch war ich arbeitslos. Ich hatte verschiedene Aufenthalte in Kliniken, wohnte in unterschiedlichen Heimen, habe auch immer mal wieder die Flucht ergriffen. So gut wie heute ging es mir dabei nie: Ehrlich, seit ich Surprise verkaufe, geht es aufwärts. Damit angefangen habe ich vor fast einem Jahr in Biel. Ein Freund brachte mich auf die Idee. Der erste Tag war hart. Aber mittlerweile verkaufe ich im Zürcher Niederdorf und komme gut zurecht. Ausserdem habe ich einen Platz bei der Zürcher Wohn- und Arbeitskoordination in Oerlikon gefunden: Wir wohnen zu zweit in einer WG. Das ist super. Im Grunde fehlt jetzt nur noch eines: eine Frau an meiner Seite. Ich hätte gerne einen ‹Schatz›, irgendwann vielleicht sogar Familie. Aber zuerst einmal würde ich die Frau ausführen. Wir würden tanzen gehen, die ganze Nacht.» ■ SURPRISE 221/10


Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte ber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise-Sozialarbeiterinnen betreut, individuell begleitet und gezielt gefördert. Dazu gehört auch, dass sie von Surprise nach bestandener Probezeit einen ordentlichen Arbeitsvertrag erhalten. Mit der festen Anstellung übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

Starverkäufer BILD: ZVG

Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich sel-

Als Götti oder Gotte ermöglichen Sie einer Strassenverkäuferin oder einem -verkäufer eine betreute Anstellung bei Surprise und damit die Chance zur Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben.

Tatjana Georgievska Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Jela Veraguth Zürich

Kurt Brügger Baselland

Franziska und Julia Stadelmann aus Münsingen nominieren Yikalo Abraham als Starverkäufer: «Bei jedem Wetter steht er vor der Migros in Münsingen und lacht einem schon von Weitem zu. Mit seiner offenen, freundlichen und unaufdringlichen Art ist er immer zu einem Schwatz bereit – und er ist auch der Liebling der Kinder. Yikalo hat in kürzester Zeit sehr gut Deutsch gelernt, was ihm hoffentlich weiterhin zugutekommt. Alles Gute, Yikalo!»

Ausserdem im Förderprogramm SurPlus: Peter Gamma, Basel Peter Hässig, Basel Kumar Shantirakumar, Bern Marika Jonuzi, Basel René Senn, Zürich Anja Uehlinger, Baden

Fatima Keranovic, Baselland Bob Ekoevi Koulekpato, Basel Jovanka Rogger, Zürich Andreas Ammann, Bern Marlise Haas, Basel

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welchen Verkäufer Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41+61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 8000 Franken

1/2 Jahr: 4000 Franken

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221/10 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 221/10

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise fördert seit 1997 die Selbsthilfe von Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit begleiteten Angeboten in den Bereichen Arbeit, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit und berufliche Eingliederung, das Verantwortungsbewusstsein, die Gesundheit und eine positive Lebenseinstellung. Surprise gibt es in der deutschsprachigen Schweiz. Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.)

Strassensport Der zweite Schwerpunkt von Surprise ist die Integration von sozial benachteiligten Menschen in der Schweiz über den Sport. Mit einer eigenen Strassenfussball-Liga, regelmässigem Trainings- und Turnierbetrieb, der Schweizermeisterschaft sowie der Teilnahme des offiziellen Schweizer Nationalteams am jährlichen «Homeless Worldcup» vernetzt Surprise soziale Institutionen mit Sportangeboten in der ganzen Schweiz. Organisation und Internationale Vernetzung Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die von dem gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband gegen 100 Strassenzeitungen in über 40 Ländern an.

Gönner-Abo für CHF 260.–

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Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende unabhängige Strassenmagazin Surprise heraus. Neben einer professionellen Redaktion verfügt das Strassenmagazin über ein breites Netz von freien Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen. Der überwiegende Teil der Auflage wird von Menschen ohne oder mit beschränktem Zugang zum regulären Arbeitsmarkt auf Strassen, Plätzen und in Bahnhöfen angeboten. Die regelmässige Arbeit gibt ihnen eine Tagesstruktur, neues Selbstvertrauen und einen bescheidenden aber eigenständig erwirtschafteten Verdienst. Für viele Surprise-Verkaufende ist das Strassenmagazin der erste Schritt zurück in ein eigenständiges Leben.

Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel, www.strassenmagazin.ch Geschäftsführung T +41 61 564 90 63 Fred Lauener, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) Öffnungszeiten Sekretariat Mo–Do 9–12 Uhr, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Redaktion T +41 61 564 90 70 Fred Lauener (Leitung), Reto Aschwanden, Julia Konstantinidis, Mena Kost, Thomas Oehler (Sekretariat) redaktion@strassenmagazin.ch Freie Mitarbeit Amir Ali, Annette Boutellier, Michèle Faller, Michael Gasser, Luc-François Georgi, Andrea Keller, Stefan Michel, Christof Moser, Dominik Plüss, Stephan Pörtner, Patric Sandri, Milena Schärer, Isabella Seemann, Udo Theiss, Anna Wegelin, Priska Wenger Korrektorat Alexander Jungo Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 77 Therese Kramarz, Mobile +41 76 325 10 60 anzeigen@strassenmagazin.ch

Marketing T +41 61 564 90 61 Theres Burgdorfer Vertrieb T +41 61 564 90 81 Smadah Lévy (Leitung) Vertrieb Zürich T +41 44 242 72 11 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, Mobile +41 79 636 46 12 r.bommer@strassenmagazin.ch Vertrieb Bern T +41 31 332 53 93 Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, Mobile +41 79 389 78 02 a.maurer@strassenmagazin.ch Betreuung und Förderung T +41 61 564 90 51 Rita Erni Chor/Kultur T +41 61 564 90 40 Paloma Selma Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Carlo Knöpfel

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. SURPRISE 221/10


Hier könnte Ihre Werbung stehen. Werfen Sie Ihr Werbegeld nicht auf die Strasse. Investieren Sie es dort. Surprise erreicht 135 000 Leserinnen und Leser. Und das in den grössten Städten und Agglomerationen der Deutschschweiz.* Denn dort stehen die 380 Surprise-Verkaufenden für Sie auf der Strasse. Tagtäglich. Ganze 80 Prozent der überdurchschnittlich verdienenden und ausgebildeten Käuferinnen und Käufer lesen die gesamte Ausgabe oder zumindest mehr als die Hälfte aller Artikel. Das Strassenmagazin steht für soziale Verantwortung und gelebte Integration. Mit Ihrem Inserat zeigen Sie Engagement und erzielen eine nachhaltige Wirkung. Anzeigenverkauf Therese Kramarz, T +41 76 325 10 60, anzeigen@strassenmagazin.ch

*gemäss MACH Basic 2009-2. SURPRISE 221/10

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Kaufen Sie ein Stadion Immer mehr sozial Benachteiligte finden Freude am Sport: 15 Teams streiten ab März dieses Jahres um den Schweizer Meistertitel der Obdachlosen Fussballer, eine Rekordzahl. Um die Begeisterung mit der passenden Infrastruktur unterstützen zu können, hat Surprise eine eigene Street-SoccerArena gekauft. Helfen Sie mit. Werden Sie Besitzer einer turniertauglichen Anlage von 22 x 16 m – mit Toren und Seitenbanden – und sponsern Sie einen oder gleich mehrere der 352 Quadratmeter à 100 Franken. Die Gönner werden auf einer Bande mit Namen verdankt.

Ja, ich will Stadion-Besitzer werden (Die Feldvergabe erfolgt nach Posteingang. Sollte ein gewünschtes Feld bereits verkauft sein, wird das nächste freie Feld zugeteilt.)

Ich kaufe folgende Felder à CHF 100 ( 1

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