Aberglaube Magisches Denken im Alltag Asylgesetz – das Ende der humanitären Tradition
Organmangel – tiefere Krankenkassenprämien für Spendenwillige?
Nr. 233 | 10. bis 23. September 2010 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.
Macht stark.
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10 Asylwesen Die Abwehrschlacht BILD: ISTOCKPHOTO
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Inhalt Editorial Mythen und Mysterien Leserbriefe Luxus Meinungsfreiheit Basteln für eine bessere Welt Das Aberglauben-Notfallkitt Aufgelesen Putzen gegen Rechts Zugerichtet Die Greisin als Kokserschreck Strassensport Unsere Nati für Rio Erwin … wird Organspender Porträt Von der Hobelbank an die Wandtafel Organspende Warten auf ein neues Leben Wörter von Pörtner Irrwege in Frankreich Musik Rückkehr eines Frühvollendeten Kulturtipps Kalauerndes Kinomärchen Ausgehtipps Wütende Künstler Verkäuferporträt Bloss keine Bürokraten Projekt Surplus Chance für alle! Starverkäufer In eigener Sache Impressum INSP
Die offizielle Schweiz rühmt sich gern ihrer «humanitären Tradition». In Wahrheit ist der Umgang mit Flüchtlingen eine Geschichte von Fremdenfeindlichkeit und technokratischer Härte. Über die letzten Jahre wurden von Parlament und Stimmvolk immer härtere Gesetze gutgeheissen. Nun soll das Asylgesetz erneut verschärft werden. Christoph Moser über eine Politik, die Menschenwürde als Ideal der Naiven abtut.
13 Aberglaube Gebannte Angst BILD: ISTOCKPHOTO
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Der moderne Mensch denkt nüchtern und rational. Mysteriös ist für ihn allenfalls noch die Funktionsweise seines Computers. So sehen es die Aufgeklärten. Doch das magische Denken ist keineswegs ausgestorben. Als Erbe aus uralten Zeiten bestimmt es bis heute Denken und Handeln vieler Leute. Ein Streifzug durch allerlei Aberglaube und Hokuspokus, mit dem wir laut Wissenschaftlern die Furcht vor dem Unbekannten und Unkontrollierbaren bekämpfen.
18 Integration Wenn Einsatz nichts bringt BILD: ANDREA GANZ
Ausländische Jugendliche starten voller Elan in die Lehrstellensuche. Viele von ihnen werden aber schnell ausgebremst. Zurück bleiben Ernüchterung und Entfremdung. Ein Gespräch mit der Soziologin Eva Mey, die in einer Studie Jugendliche mit Migrationshintergrund zu ihren Erfahrungen beim Einstieg in die Arbeitswelt befragt. Und: Ein Laufbahnberater berichtet aus der Praxis.
Titelbild: iStockphoto SURPRISE 233/10
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BILD: PABLO WÜNSCH BLANCO
Leserbriefe «Beim Lesen des Verkäuferporträts ist mir bewusst geworden, wie gut ich es habe.»
MENA KOST,
Editorial Moderne Mythen Kennen Sie den: Ein Mann stolpert auf dem Weg zum Flughafen über seine Schnürsenkel und verpasst deshalb sein Flugzeug. Auf dem Weg zu seinem Ersatzflug verunfallt der Mann mit seinem Wagen und stirbt – und zwar genau zur selben Zeit, als der Flieger, den er verpasst hat, abstürzt. Nein, das ist kein Witz. Natürlich auch kein bisschen lustig. Aber erstaunlich ist die Geschichte schon: Hatte hier eine höhere Macht die Finger im Spiel? War das Schicksal? Wieso viele Menschen eher an magische Zusammenhänge glauben als an den Zufall, untersucht die Neurowissenschaft. Für sie ist jeder unbewiesene Zusammenhang per Definition Aberglaube. Damit steht der Begriff für mehr als vierblättrige Kleeblätter und Kaminfeger. Was gut ist, denn es ermöglicht, ein für alle mal mit einem Mythos aufzuräumen: Der moderne westliche Mensch ist NICHT in erster Linie rational und nüchtern. Im Gegenteil: Jeder Zweite, das zeigt eine aktuelle Studie, ist abergläubisch. Mehr zum Phänomen Aberglaube erfahren Sie ab Seite 13. In dieser Surprise-Ausgabe wird ein weiterer Mythos mit der Realität abgeglichen: Seit Jahrzehnten rühmt sich die offizielle Schweiz ihrer «humanitären Tradition», vom «Fluchtort Schweiz» wird gar gesprochen. Schliesslich ist unser Land Sitz des UNO-Hochkommissariats für Menschenrechte, des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Und so weiter. Wer die Schweiz jedoch nicht an der Anzahl philanthropischer Institutionen misst, die sie beherbergt, sondern an Taten, erkennt: Die Schweiz ist ein Abschiebungsland par excellence. Ab Seite 10 ordnet Christof Moser die geplanten Asylrechts-Verschärfungen in die Schweizer Geschichte der Flüchtlingsvertreibung ein. Keine Mär ist leider, dass Jugendliche ohne Schweizer Pass grosse Schwierigkeiten haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. Dabei fehlt es nicht an Einsatz, sondern an Chancengleichheit. Das zeigt die aktuelle Studie von Soziologin Eva Mey. Reporter Stefan Michel hat sie zum Gespräch getroffen. Ab Seite 18.
Nr. 231 «Abenteuerpfad – Der Schulweg als Entdeckungsreise» 50-jährige Erinnerungen Ich lese Surprise immer gerne. In der letzten Ausgabe habe ich mit besonderem Interesse die Berichte über den Landdienst und den Schulweg gelesen. Beide Artikel wecken über 50-jährige Erinnerungen! Mit dem lustigen Werfen von Gegenständen von der Eisenbahnüberführung kommt allerdings zu viel Phantasie dazu. Die Hochspannungsleitungen, die unter jeder Bahnüberführung durchgehen, sind nicht ungefährlich, wenn Gegenstände mit ihnen in Berührung kommen. Da gibt es rundherum nichts zu spielen. Jörg Forrer, per E-Mail Luxus Meinungsfreiheit Das Verkäuferporträt von Samuel Amare hat mich sehr betroffen gemacht. Es ist für mich schwer vorstellbar, dass er seine Familie nie
wieder sehen wird und auch nicht kontaktieren darf: Das muss ein grosser Schmerz sein. Ich bewundere Menschen, die für ihre Überzeugungen alles riskieren. Durch diesen kurzen Artikel ist mir wieder bewusst geworden, wie gut ich es eigentlich habe. Seine Meinung frei äussern zu dürfen, ohne Angst haben zu müssen, ist doch ein grosser Luxus! Marthe Seiler, per E-Mail Surprise-Schaufenster Ich verpasse kaum je ein Surprise. Auch die Ausgabe 204 «Töfflibuebe – Mofa statt MidlifeCrisis» vom 3. Juli 2009 hatte ich in jenem Sommer erstanden. Sie hat mich zu einem Schaufenster für unseren Kleiderladen OLMO in Bern inspiriert. Bis Anfang September konnten die Bernerinnen und Berner das Schaufenster bewundern – für alle anderen habe ich es fotografiert. Francis Pauchard, OLMO, Bern
BILD: ZVG
REDAKTORIN
Modisches Surprise: Die Ausgabe «Töfflibuebe» hat OLMO-Bern zum gleichnamigen Schaufenster inspiriert.
Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung!
Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre
Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt,
Mena Kost
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die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 233/10
ILLUSTRATION: WOMM
Material: Milch- oder Fruchtsaftverpackungen (Tetrapack), Schere, Isolier- oder Textilklebband, Klettband, doppelseitiges Teppichklebband, Lineal und Bleistift.
Das Tetrapack wird mit der Schere (möglichst knapp am Rand) oben und unten gerade abgeschnitten, gut ausgespült und abgetrocknet.
Damit man einen Deckel zum Zuklappen erhält, werden die Vorderseite sowie die beiden Seitenwände um einen Drittel abgeschnitten. Tipp: Zuerst den beiden hinteren Kanten entlang gleich weit – etwa 1/3 der Gesamtlänge – nach unten schneiden, von dort aus mit dem Lineal und Bleistift parallel zur unteren Kante eine Linie rund um die drei anderen Seiten ziehen und mit der Schere dieser Linie entlang schneiden.
Alle Ränder oben und unten mit Isolierband überziehen, damit ein schöner Kantenabschluss entsteht.
Nun kann der untere Teil der Verpackung bis zum Deckelansatz nach oben gefaltet werden.
Die Vorder- und Rückseite der Verpackung werden so zusammengedrückt, dass die beiden Seitenwände sich nach innen zusammenfalten.
Mit einem doppelseitigen Klebband lassen sich die mittleren beiden Wände zusammenkleben.
Damit man das Notfall-Kitt gut schliessen kann, klebt man mit Teppichklebband ein Stück Klettband auf die Vorderseite des Notfall-Kitts und ein gleich langes Gegenstück des Klettbandes an die passende Stelle der Innenseite des Deckels. Eventuell mit Bostichklammern sichern.
Bestücken Sie Ihr magisches Notfall-Kitt wie folgt: – Ein kurzes Stöcklein, damit Sie jederzeit Holz anfassen können – Ein Briefchen Salz, um Böses zu bannen – Ein wenig Kaffeesatz für weise Voraussicht – Ein vierblätteriges Kleeblatt oder ein Glücksbringer Ihrer Wahl für alle Fälle
Basteln für eine bessere Welt Bestimmt gehören Sie nicht zu den abergläubischen Menschen. Aber man weiss ja nie – sicher ist sicher. Ob schwarze Katze oder böse Vorahnung, ob Talisman oder Zukunftsdeutung: Mit unserem Notfall-Kitt sind Sie für alle Eventualitäten gerüstet. SURPRISE 233/10
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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Starthilfe Nürnberg. Was es bedeutet, in einem fremden Land Fuss zu fassen, weiss nur, wer das selbst schon zu Stande gebracht hat. Deshalb bildet die Nürnberger Stadtmission gut integrierte Migrantinnen zu so genannten Stadteilmüttern aus: Ihre Aufgabe ist es, Neuankömmlingen zu helfen, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern, Ängste abzubauen und das Abrutschen in die soziale Isolation zu verhindern. «Ich weiss, was diese Leute durchmachen. Deshalb kann ich ihnen helfen», sagt etwa Stadtmutter Lilli, die vor zwölf Jahren von Ostkasachstan nach Deutschland kam.
Betteln verboten Wien. In Wien wurde vor wenigen Wochen das bestehende Bettelverbot weiter verschärft. Begründet wurde das wie folgt: «Es werden Belästigungen von Personen hervorgerufen, die alleine durch ihr verwahrlostes Auftreten erhebliche Verunsicherung auslösen.» Dazu sagt ein Sprecher der Salzburger Armutskonferenz: «Wir befinden uns mitten im Jahr 2010, dem europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung. Was den politischen Umgang mit der Bettlerfrage betrifft, scheinen wir jedoch ins Mittelalter zurückgekehrt.»
Antifaschistischer Putztag Hannover. Die Hansestadt Bremen hat aufgeräumt: Beim «antifaschistischen Putztag» haben Freiwillige öffentliche Einrichtungen von Nazi-Sprüchen befreit. Busse, Bahnhöfe und Hauswände wurden mit Bürste, Lösungsmittel und Deckfarbe «entnazifiziert». Rund 90 Freiwillige haben sich an der Aktion beteiligt und insgesamt 50 menschenverachtende Parolen entfernt. Dies teilte der Initiator der Privatinitiative, ein pensionierter Schulpsychologe, mit. Das Putzmaterial stiftete das Amt für Strassen und Verkehr.
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Zugerichtet Mit Knirps und Courage Um acht Uhr war die Richterin noch milde gestimmt. Ihr erster Fall, Claudia P.*, war Anfang Jahr in den Pfosten einer Verkehrsinsel gekracht. Dafür sollte die 52-jährige Kosmetikstudio-Besitzerin laut Strafbefehl eine Busse von 2000 Franken bezahlen sowie eine bedingte Gefängnisstrafe von 25 Tagen hinnehmen. Sie hat Einspruch eingelegt, der jetzt vor dem Bezirksgericht verhandelt wird. Denn, so die Dame im engen Jeans-Overall, die Strafe sei schon «megahappig». Die Richterin pflichtet ihr bei und lässt sie mit 700 Franken davonkommen. Ihre gute Laune verfliegt beim zweiten Fall. René V.* hat versucht, eine alte Dame zu überfallen. An einer wenig frequentierten Bushaltestelle hat der 32-jährige Kokainabhängige kurz vor Weihnachten die 84-jährige Berta B.* zum Münzwechseln angesprochen. Als die alte Frau für den vermeintlichen Billettkäufer ahnungslos nach ihrem Portemonnaie kramte, zerrte er an ihrer Handtasche. Frau B. aber war nicht so tatterig, wie der Täter aufgrund ihres Greisenalters gehofft haben mag. Sie schrie um Hilfe und schlug dem Dieb blitzschnell den Knirps ins Gesicht. Der gut ein Meter 80 grosse Mann liess vor Schreck seinen Plastiksack fallen und taumelte auf die Strasse. Wenige Stunden später versuchte er sein Glück aufs Neue. Einem Bankomat-Kunden wollte er zwei Hunderternoten entreissen, doch Passanten hielten ihn fest. Seitdem sitzt René V. in Untersuchungshaft. Bei dem Überfall hatte sich die alte Dame den Fuss verknackst, sie geht noch immer am Stock. Trotz bewiesener Courage ist ihr Leben seit dem Vorfall belastet. «Es passierte zwar
ganz schnell, aber die Folgen dauern an», erzählt sie in der Verhandlungspause, auf der Holzbank sitzend. «Ich fühle mich jetzt immer unsicher.» Nach Sonnenuntergang traue sie sich nicht mehr vor die Tür. Das sei schon traurig, klagt die rüstige Dame, denn sie sei früher nach dem Abendessen gerne spazieren gegangen. Ihr «böses Bein» schmerzt heut wieder, aber das Urteil will sie unbedingt abwarten: «Der wird doch nicht etwa freigelassen, oder?», erkundigt sie sich. Gründe für ein mildes Urteil sieht die Richterin nicht. Gewiss sei der Angeklagte seit sechs Jahren drogenabhängig, aber die kriminelle Karriere des mehrfach Vorbestraften habe lange vorher begonnen. Das Geständnis sei zu würdigen, findet die Richterin, andererseits hätte es aber auch wenig Sinn gehabt, die Tat abzustreiten, denn die Geschädigten haben den Angeklagten ja wiedererkannt und in dem zurückgelassenen Plastiksack war an ihn adressierte Korrespondenz drin. Anderthalb Jahre Haft wegen mehrfachen Raubes und Diebstahls, lautet das Urteil. Denn die Liste der Opfer ist noch um einiges länger. Eine so hohe Strafe hat René V. offensichtlich nicht erwartet. Und da nun für ihn kein Grund mehr besteht, ein reuevolles Gesicht zu zeigen, springt er enerviert auf und herrscht den Justizvollzugsbeamten an: «Machen Sie schon, ich will hier raus!» Der möchte so aber nicht angesprochen werden: «Jetzt aber mal halblang. Sie sind hier im Gericht und nicht im 5-Sterne-Hotel.» * persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 233/10
Strassensport Reise nach Rio BILD: MATTHIAS WILLI
Wo sonst Sonne, Samba und Strandleben dominieren, dreht sich diesen September alles ums runde Leder: Die Copacabana ist Austragungsort des 8. Homeless World Cup. Die Schweizer Nati steckt in den letzten Vorbereitungen. VON OLIVIER JOLIAT
Eine Weltmeisterschaft im fussballverrückten Brasilien zu erleben, ist eine einmalige Chance. Nicht nur, weil gemäss Regeln des Homeless World Cup (HWC) jeder Spieler nur einmal an der Obdachlosen-WM teilnehmen darf. Fussball und insbesondere Strassenfussball wird schlicht nirgendwo so mitreissend zelebriert wie in Brasilien. Und mit dem legendären Copacabana-Strand ist erst noch der schönste Platz unter dem Zuckerhut Austragungsstätte des Spektakels. Die acht Spieler, die es dieses Jahr in die Surprise Nationalmannschaft geschafft haben, wollen in der Woche vom 19. bis 26. September jedoch nicht eine gleichmässige Bräune ersünnele. Man will den 38. Rang vom HWC 2009 toppen. Kein einfaches Ziel, nehmen in Rio doch 64 Nationen teil, 16 mehr als letztes Jahr in Mailand. Nati-Trainer David Möller ist dennoch zuversichtlich: «Das Team ist ausgeglichener und gefestigter als letztes Jahr. Ausserdem nehmen die Spieler das Turnier sehr ernst und trainieren sogar zusätzlich zu den Einheiten ihrer Stammteams und der Nati». Die Spieler aus vier verschiedenen LigaMannschaften haben in den Nati-Zusammenzügen einen Teamgeist entwickelt. Man unterstützt sich, auch wenn es nicht so gut läuft wie im letzten Testspiel, als sie ein von FCB-Legende Massimo Ceccaroni angeführtes All-Star-Team mit 9 zu 5 wegputzten. «Entscheidender als dieser Prestigesieg war, wie die Mannschaft eine Niederlage beim letzten Surprise Turnier souverän abgehakt hat. Die Spieler haben sich gegenseitig für das nächste Spiel motiviert und dieses dann auch gewonnen», so Möller.
ERWIN
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Oben v.l.: Eduardo, Umberto, Burim, Markus. Unten v.l.: Junior, Christian, Marcel, Steve.
Mentale Stärke ist das Wichtigste für den Trainer. Technik, Taktik und Kondition stehen aber ebenso auf dem Programm des letzten Nati-Trainingslagers vor Rio de Janeiro. In der Ruhe des Juras bei Moutier gilt: Je mehr Salz hier geschwitzt wird, desto süsser wird der HWC unterm Zuckerhut. ■ Mehr zum Homeless World Cup und der Surprise Nati unter: www.strassensport.ch oder www.homelessworldcup.org
… wird Organspender
VON THEISS
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Porträt Realschüler im Lehrerzimmer Für Martin Bricker ist das neue Schuljahr ein besonderes: Zum ersten Mal arbeitet er als Klassenlehrer. Dahin war es ein langer Weg – denn zum Auftakt seiner Berufslaufbahn fiel er als Schreinerlehrling durch die Abschlussprüfung. VON RETO ASCHWANDEN (TEXT) UND ANGEL SANCHEZ (BILD)
Die Pulte hat Martin Bricker in L-Form aufgestellt. Das gehörte zu seiner Vorbereitung aufs neue Schuljahr, sein erstes als Klassenlehrer. Den Sommer über hat er die Jahrespläne geschrieben und die Dossiers seiner künftigen Schüler studiert. Und eben – sein Schulzimmer eingerichtet. «Die U-Form passt mir nicht, dieses Hufeisen. Ich finde es nicht gut für die Dynamik in der Klasse. Über das L hingegen habe ich gelesen, es beuge Zwischengesprächen vor. Ich probiere das jetzt einmal aus.» Der 31-Jährige unterrichtet seit Ende August eine 1.-Real-Klasse in Steinen SZ am Lauerzersee, wo er auch aufgewachsen ist. Davor war er ein Jahr lang Fachlehrer, der «eine lustige Kombination» unterrichtete: Musik, Technisches Gestalten, Tastaturschreiben, Geschichte und geometrisches Zeichnen. «Alles war neu. Ich hatte sieben Klassen. Das waren nur schon 140 Namen, die ich auswendig lernen musste», erinnert er sich an seinen Einstieg in den Lehrerberuf. «Ich musste mich zunächst herantasten. Das gilt nun auch für meine eigene Klasse: Wo stehen die Schüler, wo kann ich ansetzen, wie lernen sie am besten?» Eines ist aber jetzt schon klar: «Jetzt am Anfang bin ich sehr streng. Locker lassen kann man immer, die Zügel anziehen ist hingegen schwieriger.» Die Stimme des Junglehrers klingt ruhig und bestimmt. Er hat Respekt vor seiner neuen Aufgabe, ins Bockshorn jagen lässt er sich aber nicht. Vielleicht hängt das Selbstvertrauen, das Bricker ausstrahlt, mit seiner Biografie zusammen. Seine eigene Schulkarriere ist nicht die eines typischen Lehrers. Er kam zu früh auf die Welt und hinkte deshalb der Entwicklung der anderen Kinder immer etwas hinterher. Die vierte Klasse musste er wiederholen, später reichte es ihm ganz knapp nicht in die Sekundarschule. «Lieber ein guter Realschüler als ein schlechter Sekschüler», fanden die Eltern – und plötzlich ging Martin Bricker der Knopf auf. Schon nach dem zweiten Jahr hatte er eine Lehrstelle als Schreiner gefunden. Nichtsdestotrotz gab er auch im dritten Jahr Gas und schloss die Schule mit 5,9 ab: «Ich war schon immer sehr ehrgeizig.» In der Lehre erlebte er aber den nächsten Dämpfer. Schon als Kind hatte er gern mit seinem Vater gebastelt: eine Sprungschanze für sein Hobby Inline-Skaten oder eine Gitarre – «getönt hat die zwar nicht, aber ich hatte Freude daran.» Doch mit dem Lehrmeister im Nachbardorf Schwyz verstand sich Bricker nicht: «Ich machte zu und habe resigniert.» Die Noten an der Berufschule hätten zwar gestimmt, doch bei der praktischen Lehrabschlussprüfung fiel er durch. Bricker absolviert zunächst die RS und suchte sich anschliessend einen anderen Lehrmeister. Beim zweiten Anlauf schloss er die Lehre mit 5,6 ab. «Im ersten Betrieb gab es einen Druck, der nichts brachte. Der zweite Lehrmeister hingegen liess mich einfach machen.» Eine Zeit lang arbeitet Bricker temporär an verschiedenen Orten in der Zentralschweiz. Er war gerne Schreiner, doch die Realität des Berufs gefiel ihm nicht: «In der Lehre machst du schöne Rahmen und arbeitest mit Massivholz. In der Praxis wird furniert, der Kunde möchte es mög-
lichst billig und am besten gestern geliefert.» Bricker begann sich nach Alternativen umzuschauen, machte ein Praktikum im Büro, doch das war nichts für ihn. Die Wende kam nach einem Termin bei einem physiognomischen Berufsberater. Einem was? «Das war spannend», lacht Bricker. «Der Mann machte ein Foto von mir, ich zeichnete einen Baum und schrieb ein Textchen ab. Zuerst hielt ich das für Humbug. Doch beim anschliessenden Gespräch erzählte er mir gleich am Anfang Sachen über mich, wo ich sagen musste: Ja, stimmt.» Der Berater empfahl Bricker zwei Berufe: Holzingenieur oder Primarlehrer. Bricker verfolgte beide Stränge, dann entschied er sich: Primarlehrer. Er absolviert einen einjährigen Vorbereitungskurs, der Berufsleuten mit abgeschlossener Ausbildung offensteht, 2006 fing er mit dem eigentlichen Studium an der Pädagogischen Hochschule an. Anpassungsschwierigkeiten gab es diesmal keine – auch wenn er auf jüngere Mitstudenten traf, die vom Gymi kamen. Zweifel am eingeschlagenen Weg hatte Bricker während des Studiums keine: «Ich fand, ich sei am richtigen Ort. Am meisten Spass machte mir schon während des Studiums die Praxis, wenn es zu theoretisch wurde, habe ich mich hingegen manchmal gefragt, was das jetzt bringen soll.» Vor einem Jahr trat Bricker das erste Mal als Lehrer ins Schulhaus Halti, wo er einst selber die Schulbank gedrückt hatte. Und das trotz Primarlehrerpatent als Fachlehrer in der Real: «Das hat sich so ergeben», sagt Bricker, «ich war auf Stellensuche und diese Stelle war frei.» In Kanton Schwyz kann auch ein Primarlehrer für drei Jahre an der Oberstufe unterrichten. Andere Kantone setzen im Kampf gegen den Lehrerman-
«Lehrer, die alles wissen, gibt es nicht mehr. Oder es sollte sie zumindest nicht mehr geben.»
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gel auf Schnellbleichen für Quereinsteiger. Bricker mag nicht beurteilen, wie sinnvoll das ist. Lieber betont er die Wichtigkeit des Bezugs zu den Schülern. «Der entsteht, indem man zunächst ehrlich zu sich selber ist. Lehrer, die alles wissen, gibt es schon lange nicht mehr. Oder es sollte sie zumindest nicht mehr geben. Wenn man etwas nicht weiss, soll man offen damit umgehen, denn die Schüler merken das sowieso.» Offen geht Bricker auch mit seinem eigenen Lebensweg um. «Ich habe Tiefschläge erlebt. Ich sage immer – auch den Schülern – umfallen ist erlaubt, wichtig ist, dass man wieder aufsteht.» Allzuweit vorausdenken mag der Junglehrer noch nicht, ein Leben lang Lehrer zu sein, kann er sich aber nicht vorstellen: «Lehrer sind irgendwann ausgebrannt, auch ohne Burn-out. Zudem bin ich ein Typ, der Abwechslung braucht.» Zunächst aber kümmert sich Martin Bricker um seine Realschüler. Sein Berufsweg ist das beste Beispiel, dass die Realschule kein Abstellgleis bedeuten muss. «Natürlich ziehen viel Lehrmeister Sekschüler vor», weiss der Realist: «Aber ich sage meinen Schülern immer: Ihr könnt alles schaffen, was ihr wollt. Euer Weg ist einfach ein bisschen länger.» ■
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Asylwesen Die Fremdmacher Humanitäre Schweiz? Das war einmal. Die neusten Pläne zur Asylrechts-Verschärfung reihen sich ein in die gutschweizerische Tradition der Vertreibungspolitik gegen unerwünschte Flüchtlinge. Fremdenfeindlichkeit und die Angst vor dem «Schwarzen Mann» haben sich vom rechten Rand in die Mitte der Gesellschaft verschoben.
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VON CHRISTOF MOSER
Vom humanitären Fluchtort zum Abwehrstaat gegen Flüchtlinge, der an der Grenze 25 000 Juden in den sicheren Tod zurückgeschickt hat: Das ist Schweizer Geschichte. Jetzt haben wir Gegenwart und die ist kein bisschen besser. Aber alles der Reihe nach. Als 1916 auf Europas Schlachtfeldern der Erste Weltkrieg tobte, hatten Kriegsverweigerer freien Zugang in die Schweiz. «Humanitärer Rettungsanker» – das war die Selbstdeklaration unseres Landes damals, und die kriegführenden Nachbarländer hatten gar keine Freude daran, dass Deserteure hier Unterschlupf finden konnten. Drohgebärden von Deutschland und Frankreich führten dazu, dass der Bundesrat desertierenden Soldaten die Einreise verbieten wollte. Das Ansinnen scheiterte jedoch am Widerstand der Bevölkerung. Heute, ein knappes Jahrhundert später, sollen Dienstverweigerung und Desertion nicht mehr als Asylgrund gelten. Mit einer «Lex Eritrea» wollen die Behörden in der neusten Asylrechtsrevision Flüchtlinge aus Ostafrika davon abschrecken, überhaupt in Erwägung zu ziehen, in die Schweiz zu flüchten. Und was tut das Schweizer Volk? Es applaudiert. Dazwischen liegen fünf Asylrechtsrevisionen und einige Jahrzehnte der wirtschaftlichen Prosperität und des schlechten Gewissens über das Verhalten im Zweiten Weltkrieg, in denen sich die Schweiz mit ihrer humanitären Tradition brüstete. Und der Aufstieg der SVP zur stärksten politischen Kraft, die fremdenfeindliche Parolen salonfähig machte und mit der bürgerlichen Mitte um noch härtere Asylgesetze wetteifert, während die Linken einem vereinigten Europa zujubeln, das zur Trutzburg gegen alles Fremde geworden ist.
Der Umgang mit Flüchtlingen zur Zeit des Nationalsozialismus ist allgemein bekannt. Und spätestens seit dem Bergier-Bericht von 2002 gesteht auch die offizielle Schweiz ein, dass die damalige Politik alles andere als humanitär war. Ein schlechtes Gewissen hatte man aber anscheinend schon in den 50er-Jahren. «Das Asylrecht», hielt der Bundesrat 1957 fest, «ist nicht nur Tradition, sondern Staatsmaxime» und «Ausdruck der schweizerischen Auffassung von Freiheit und Unabhängigkeit». Entsprechend grosszügig handelte die offizielle Schweiz.
Die Grenzen zwischen Fremdenfeindlichkeit und offizieller Politik sind kaum noch zu erkennen.
Sündenböcke der Globalisierung Heute kommt aus der Mitte der Gesellschaft, was bis Mitte der 1990er-Jahre Kleinparteien am äussersten rechten Rand des politischen Spektrums betrieben haben, bevor sie von der SVP aufgesogen wurden: Überfremdungsangst und Fremdenhass. Die Globalisierung wirkt dabei wie Zunder, die Asylanten sind Sündenböcke in einer zusammenwachsenden Welt. «Wir Schweizer müssen uns immer mehr den Ausländern und Asylanten unterwerfen und werden zu Fremden im eigenen Land. Die einstigen Bäcker, Metzger und Chrämerlädeli sind einer Fülle von Kebabshops, Pizzerias und Asiafoodläden gewichen und widerspiegeln den Aufbau von Parallelgesellschaften», schimpfte ein Bürger kürzlich in einem Leserbrief. Den Grundstein für die Abwehrpolitik der Schweiz gegen Asylsuchende legte der Bundesrat noch während des Ersten Weltkriegs mit der Schaffung der Fremdenpolizei. Die schlechten Erfahrungen nach dem Krieg mit sowjetischen Flüchtlingen, die angeblich «gesoffen haben und unseren Frauen nachstellten», wie in Zeitungsspalten von damals zu lesen war, führte 1931 zum ersten Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung von Ausländern (Anag). Darin war erstmals ein grundsätzliches Arbeitsverbot für Ausländer festgehalten. Und die Abschreckung von Asylanten wurde erstmals zu einem Ziel des staatlichen Handelns. SURPRISE 233/10
Bereits 1956 nahm das Land 4000 Flüchtlinge aus Ungarn auf, 1959 dann 1000 Tibeter und schliesslich während des Prager Frühlings auch Tausende Tschechoslowaken. Dass die osteuropäischen Flüchtlinge dem Kommunismus entsagten, verstärkte die Sympathie in der Bevölkerung. Erleichternd kam dazu, dass die Schweiz zwischen 1950 und 1973 gemessen am Bruttosozialprodukt BIP ihren Wohlstand um satte 100 Prozent steigern konnte. Das Ende der Grosszügigkeit kam mit der Wirtschaftskrise in den 1970er-Jahren. Und dem rasanten Anschwellen der Asylgesuche. 1979 trat das erste Asylgesetz im heutigen Sinn in Kraft, im selben Jahr stellten in der Schweiz 1182 Menschen einen Asylantrag. 1983 waren es bereits 7886. Zudem kamen die Flüchtlinge plötzlich aus der Dritten Welt – und führten der satten Schweiz schonungslos die Folgen der wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten vor. All dies führte 1983 und 1986 zu den ersten beiden Revisionen des Asylgesetzes. Im Zuge von Verfahrensbeschleunigungen kam es dabei erstmals zu Verschärfungen. So wurden aus maximal 72 Stunden Ausschaffungshaft 30 Tage. 1990, als die dritte Revision des Asylgesetzes in Kraft trat, suchten 35 836 Menschen in der Schweiz Schutz. Das waren 47 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Trotzdem versuchten die Behörden immer noch primär, die Verfahren zu beschleunigen. Verschärfungen im Sinn der Abschreckung und Vergraulung standen noch nicht auf der Agenda. Umstritten war damals vor allem, dass der Bundesrat sogenannte «safe countries» bestimmen konnte – Länder, aus denen Asylanträge keine Chance hatten. Und dass die Asylsuchenden in den ersten drei Monaten keiner Arbeit nachgehen durften. Die Mitte macht mit Erst mit dem Aufstieg der SVP in den 1990er-Jahren wurde die Abwehr gegen Asylanten in der schweizerischen Politik mehrheitsfähig. Unter dem Druck fremdenfeindlicher Parolen, die der SVP Wahlsieg um Wahlsieg eintrugen, entdeckte plötzlich auch die politische Mitte «die Asylanten» als Problem. Damit begannen die Grenzen zwischen Fremdenfeindlichkeit und offizieller Politik zusehends zu verschwimmen. Heute sind sie kaum noch zu erkennen. Im zürcherischen Langnau kandidierte kürzlich Georg Jaggi als Vertreter der Partei National Orientierter Schweizer (Pnos) für den Gemeinderat. Seine wichtigster Programmpunkt: «Während ihres Aufenthaltes sind Integrationsbestrebungen für Asylanten zu unterlassen, da es keinen Sinn macht, sie ihrem
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Volk zu entfremden.» Kurz darauf forderte der freisinnige Nationalrat Otto Ineichen Internierungslager für Nigerianer. Und auch die CVP will «die Schraube in der Ausländer- und Asylpolitik weiter anziehen». Dass dabei zuweilen überdreht wird, gehört zum politischen Wettbewerb. Der CVP-Vorschlag, Eingebürgerte einen Pflichtenkatalog unterschreiben zu lassen, ist nur ein Beispiel dafür. Wer dagegen verstösst, soll laut CVP wieder ausgebürgert werden. Was mit Personen geschehen soll, die in diesem Fall staatenlos würden, «konnten die CVP-Vertreter allerdings nicht sagen», hielt die Nachrichtenagentur SDA fast schon süffisant fest. Abschreckung heute Die Auswirkungen dieser Entwicklung spiegeln sich im geltenden Schweizer Asylgesetz. Seit Januar 2008 sind Asylsuchende, deren Antrag abgelehnt worden ist, von der Sozialhilfe ausgeschlossen. Ihnen wird nur noch sogenannte Nothilfe gewährt. Das Volk stimmte 2006 dieser Praxis mit 67 Prozent Ja-Stimmen zu. In Absprache mit dem Bundesamt für Migration (BFM) haben einige Kantone den Asylsuchenden auch die Krankenversicherung gestrichen. Heute gibt es in bürgerlichen Kreisen nur noch ein paar wenige liberale Intellektuelle, die dagegen protestieren. Wie alt FDP-Bundeskanzler François Couchepin, der als Mitglied der Interessengemeinschaft für Asylsuchende und Migranten (IGA) kürzlich dazu aufrief, diese «unmenschliche Praxis» zu überdenken. Es dürfe nicht sein, «dass in der Schweiz Grundrechte mit Füssen getreten werden», so Couchepin. «Aufgrund der fehlenden Versicherungsdeckung hatten einige Personen Schwierigkeiten, eine Behandlung zu erhalten», antwortete der Bundesrat jüngst ganz nüchtern auf die parlamentarische Anfrage von SP-Nationalrätin Christine Goll, welche Auswirkungen diese Praxis habe. Und jetzt? Jetzt sind weitere Asyl-Verschärfungen geplant. Und dies, obwohl die AbschreckPolitik ihre Wirkung verfehlt. Fast 50 Prozent der in den letzten zwei Jahren auf Nothilfe gesetzten Asylbewerber leben nach wie vor in der Schweiz – in engsten Verhältnissen und von acht Franken pro Tag. Das zeigte die kürzlich veröffentlichte Studie «Langzeitbezüger in der Nothilfe» von Bund und Kantonen. Die Nothilfe ist vom früheren SVP-Justizminister Christoph Blocher eingeführt worden, mit dem Ziel, die Schweiz als Asylland unattraktiv zu machen und abgewiesene Asylanten möglichst rasch zur Ausreise zu bewegen. Blochers Asyl-Revision machte die Schweiz vom Land der Schweizermacher zum Land der Fremdmacher. Um die abgewiesenen Flüchtlinge zu vergraulen, werden sie bewusst von der Gemeinschaft isoliert, können nicht arbeiten und nur unter grosser Mühe die Schule besuchen. Trotzdem bleiben sie laut der Studie hier, am längsten die Schwächsten – Alte, Frauen, Kinder. Ein Grund dafür ist einmal mehr das Engagement von Privaten. Sie unterstützen die Asylsuchenden oft mit Bargeld oder Dienstleistungen. BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf verurteilte diese Privatinitiativen kürzlich in einem «SonntagsBlick»-Interview: «Das untergräbt die Glaubwürdigkeit der Asylpolitik. Der Gesetzgeber will, dass weggewiesene Asylsuchende freiwillig ausreisen.» Alard du Bois-Reymond, der Chef des BFM, antwortete in der Sendung «Rundschau» auf die Frage, ob dieses System der Vergraulung nicht inhuman sei, dass «die Abgewiesenen ja jederzeit abreisen» könnten. Auf die Nachfrage, welchen Stellenwert die Menschenwürde da noch habe, betonte er mehrfach: «Man darf nicht naiv sein.» Die fehlende Naivität der schweizerischen Asylpolitik führte dazu, dass die EU intervenierte, weil die 24 Monate Ausschaffungshaft, die in der Schweiz gegen Asylsuchende maximal verhängt werden können, gegen europäisches Recht verstossen hat. Vergangenen Sommer musste das Schweizer Parlament die Haftdauer deshalb auf 18 Monate verkür-
zen. Wie tief die Schweiz asylpolitisch gesunken ist, zeigt sich daran, dass die EU dafür sorgen muss, dass hierzulande Menschenrechts-Standards nicht unterschritten werden. Hilfe von Gaddafi Dabei zeigt Europa gegen Fremde selber seine hässliche Fratze. Am deutlichsten wird das an den Rändern des Kontinents. Flüchtlinge, die via Libyen übers Mittelmeer nach Europa gelangen wollen, werden abgefangen und wieder nach Libyen zurückgeschafft. Der libysche Diktator Gaddafi spielt dabei eine wichtige Rolle. Die Flüchtlinge werden in Lager gesteckt, die von der EU mitfinanziert werden. Dort werden sie laut der Menschenrechtsorganisation «Human Rights Watch» verprügelt, manchmal mit Elektroschocks traktiert, es gibt überfüllte Zellen, kein Wasser, kaum zu essen, keine Toiletten und keine medizinische Versorgung. Die Wärter arbeiten mit Schleppern zusammen und kassieren ab. Die Technokraten in Bern haben für Gaddafis Hilfe aber trotzdem nur Lob übrig, wie im «Migrationsbericht 2009» nachzulesen ist: «Mit der faktischen Schliessung der Route über das Mittelmeer via Libyen nach Italien wurde der wichtigste Migrationsweg in Richtung Schweiz unterbrochen.» Der Migrationsbericht zeigt auch, wie sehr die Schweiz dank des Schengen- und Dublin-Abkommens von der Festung Europa profitiert. Europaweit haben 2009 283 000 Menschen einen Asylantrag gestellt, davon 16 000 in der Schweiz. Fast 4600 Menschen konnten in ein EU-Land
Der Chef des BFM zum Stellenwert der Menschenwürde: «Man darf nicht naiv sein.»
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zurückgeschoben werden. 2600 Gesuche wurden gutgeheissen, das heisst, 16,3 Prozent wurden als Flüchtlinge anerkannt. Fast 4000 wurden in Ausschaffungshaft gesetzt, 300 zwangsweise ausgeschafft. 2010 hat einer von ihnen dieses Prozedere nicht überlebt. Der Nigerianer Joseph Ndukaku Chiakwa starb am 17. März während der Zwangsausschaffung. Vor einigen Jahren noch hätte das zu einem öffentlichen Aufschrei geführt. Heute gilt das als Kollateralschaden. Derzeit diskutieren die vorberatenden Kommissionen von Nationalund Ständerat die nächste Asylrechtsverschärfung. In den Schweizer Botschaften sollen künftig keine Asylanträge mehr gestellt werden können, Dienstverweigerung kein Asylgrund mehr sein. Und die Beschwerdefrist für abgewiesene Asylbewerber wird von 30 auf 15 Tage verkürzt. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die neuerlichen Verschärfungen im Parlament oder bei einer allfälligen Volksabstimmung abgelehnt werden. Die Frage ist eigentlich nur noch, wie lange es dauert, bis wir uns für das Handeln von heute werden entschuldigen müssen. ■
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Aberglaube Vom Hausgeist zur Gehirnchemie Eine aktuelle Studie zeigt: Fast jeder Zweite ist abergläubisch. Was es mit dem magischen Denken auf sich hat, erklären ein Neurowissenschaftler, ein Psychiater – und ein Blick in unsere Vergangenheit.
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VON MENA KOST
Bitte stellen Sie nie Ihre Schuhe auf den Tisch. Denn wenn Sie das tun, geschieht ein Unheil: Es wird sich einer in Ihrer Stube erhängen. Und wenn er sich erhängt hat, werden seine Schuhe über Ihrem Tisch baumeln … Das ist selbstverständlich Humbug. Alter Aberglaube. Ich weiss das, Sie wissen das. Schliesslich sind wir aufgeklärte Menschen. Aber es gibt sie zuhauf, abergläubische Vorstellungen und Praktiken aus vergangenen Zeiten. Jahrtausende lang waren sie Richtschnur für alle Handlungen, die das tägliche Leben und die Zukunft betrafen; allgemein anerkannt, von Ärzten und Dorfältesten empfohlen – einst der neuste Stand der Wissenschaft, heute nachzuschlagen im «Kleinen Lexikon des Aberglaubens»: Wer rot unterlaufene Augen hat, vor dem soll man sich hüten; er ist bösartig und gefährlich. Wer unfruchtbar ist, muss das Fleisch eines im März erlegten Hasen zu sich nehmen und er wird zeugen oder empfangen. Wer wissen will, ob jemand verhext ist, kann ihn an der Stirn lecken – schmeckt sie salzig, ist der Beweis erbracht. Hausgeister stimmt man mit frisch gemolkener Milch milde. Und wenn die Katze sich gegen den Strich putzt, dann gibt es Sturm. Und jetzt frage ich Sie: Hat Sie beim Anblick einer schwarzen Katze auch schon der Gedanke gestreift, dass ein Unglück bevorstehen könnte. Oder: Wünschen Sie sich etwas, wenn sie eine Sternschnuppe sehen? Was ist mit Holz anfassen? Daumendrücken? Hals und Beinbruch? Lieblingszahl 7? 8? 3? Was halten Sie von vierblättrigen Kleeblättern? Hängt am Rückspiegel Ihres Autos ein Glücksbringer? Oder tragen Sie einen um den Hals? Damit wären Sie nicht alleine. Eine kürzlich vom deutschen Institut für Demoskopie in Allensbach aktualisierte Langzeitstudie zeigt: 42 Prozent aller EU-Bürger geben an, abergläubisch zu sein. Das sind deutlich mehr als noch in den Siebzigerjahren. Wir glauben jetzt einfach mal, dass es in der Schweiz ähnlich ist und halten salopp fest: Fast jeder zweite ist – irgendwie – abergläubisch. Einer, der sich auskennt mit abergläubischen Westlern, ist Peter Brugger, Leiter der neuropsychologischen Abteilung am Universitätsspital Zürich. Seit 20 Jahren forscht er zum Thema. «Viele meinen, in unserer intellektualisierten Gesellschaft spiele Aberglaube keine Rolle. Das ist eine Täuschung», erklärt Brugger. Laut seiner Definition ist Aberglaube der Glaube an Bezüge – wenn ich das und das mache, passiert dies oder jenes –, die wissenschaftlich nicht beweisbar sind. Oder kurz: Magisches Denken.
gehören die Phänomene, mit denen sich Esoterik, Parapsychologie und Astrologie beschäftigen, genauso zum Bereich des Aberglaubens wie Kleeblätter, Kaminfeger – und ganz persönlich kons-truierte Kausalitätsannahmen. Ein Beispiel für einen individuell konstruierten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang ohne wissenschaftlichen Beweis, den alle kennen: Ein Freund, von dem wir lange nichts gehört haben, ruft uns genau in dem Moment an, in dem wir an ihn denken. Das kann kein Zufall sein! «Doch», würde Brugger einwenden. Und nachschieben: «Was ist mit den tausend Situationen davor, in denen Sie auch an jemanden gedacht haben und der selbstverständlich nicht anrief?» Wieso wir lieber an Gedankenübertragung glauben als an den Zufall, erklärt die Neurobiologie wie folgt: «Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, Muster zu erkennen. Denn die Suche nach Ursache-WirkungsZusammenhängen ist für uns (über-) lebenswichtig», so Brugger. Wenn der Himmel sich dunkelviolett verfärbt, zieht ein Sturm auf. Ist der Kot frisch, ist der Bär noch in der Nähe. Wenn einer den Abzug drückt, dann fliegt die Kugel.
Man hüte sich vor Menschen mit rot unterlaufenen Augen – sie sind bösartig und gefährlich.
Wenn das Hirn zu weit denkt Nicht immer war es die Wissenschaft, welche die Grenze definiert hat zwischen dem, was wir glauben und nicht glauben sollen. Der Begriff Aberglaube geht zurück auf die lateinische Bezeichnung «superstitio». So nannten die alten Römer alle fremden, nichtrömischen Kulte. Der Heilige Augustinus (345 – 430), Bischof und bedeutender Kirchenlehrer des Abendlands, übernahm den Begriff, um nun seinerseits nichtchristliche Religionen zu kennzeichnen. Von seinen Lehren geprägt, bekämpfte die katholische Kirche im Mittelalter die Verehrung heidnischer Gottheiten und den Dämonen-Kult. Ab dem Zeitalter der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert wandelte sich die Vorstellung vom rechten Glauben dann zunehmend in eine Vorstellung naturwissenschaftlicher Belegbarkeit. Aberglaube wurde zum historischen und sozialen Bildungsproblem erklärt, und der Mensch zum vernunftbegabten Wesen. Die Geschichte des Aberglaubens verläuft also parallel zur Geschichte der Deutungshoheit über die Zusammenhänge in der Welt. Heute ist die Neurowissenschaft in der Poleposition: Für Peter Brugger
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Es ist also durchaus sinnvoll, dass unser Hirn auf Kausalzusammenhänge spezialisiert ist. Nur hat das eine Kehrseite: «Wir assoziieren auch Zusammenhänge, wo es keine gibt», erklärt Brugger. Wenn wir also an jemanden denken und der im gleichen Moment anruft, stellen wir zwischen den beiden Vorkommnissen automatisch eine Verbindung her. Brugger: «Unser Hirn verleitet uns quasi dazu, zu weit zu denken. Auch der Kaminfeger oder die schwarze Katze könnten auf solche Kausalitätsannahmen zurückzuführen sein.» Krokodile unterm Bett Das Horoskop in der Gratiszeitung verspricht Ihnen einen Flirt, Sie lernen am gleichen Tag jemanden kennen: Das waren dann wohl die Sterne. Oder – ein Beispiel aus einem wissenschaftlichen Experiment: Sie ziehen unter 1000 mit fortlaufenden Zahlen versehenen Kärtchen jenes mit der Zahl 1000. Das finden Sie dann schon etwas speziell! Haben Sie vielleicht ein besonderes Gespür für Zahlen? Dass die Wahrscheinlichkeit, die 1000 zu ziehen, genau so gross ist, wie die 349 zu fassen zu kriegen, wird dabei gern verdrängt. Oder gehören Sie zu jenen Menschen mit mathematischem Flair, die sich kein bisschen wundern, wenn sie das 1000. Kärtchen ziehen? Glauben Sie auch dann nicht an Horoskope, wenn sie zufällig einmal zutreffen? Der Frage, warum einige Menschen abergläubisch sind und andere nicht, gilt Neurowissenschaftler Bruggers besonderes Forschungsinteresse: «Hier kommt die Gehirnchemie ins Spiel. Namentlich Dopamin. Es beeinflusst unsere Fähigkeit zu assoziieren.» Das haben Experimente mit dem Botenstoff gezeigt. Brugger: «Wer abergläubisch ist, ist besser im assoziieren. Sozusagen ein wenig gläubiger.» Sehr gut im Assoziieren ist die siebenjährige Mirjam: Unter ihrem Bett wohnt ein Krokodil. Am Morgen, wenn Mirjam aufsteht, schläft es noch. Also ist Mirjam beim Anziehen sehr leise – und überlebt problemlos. Der Abend ist leider problematischer: Das Tier ist wach. Das Tier ist hungrig. Und es schnappt nach jedem Kinderbein, das in die Nähe seines grossen Mauls kommt. Doch Mirjam hat einen Weg gefunden, dem Monster zu entkommen. Und der geht so: Auf der Türschwelle zu ihrem Zimmer holt das Mädchen tief Luft und nimmt genau drei grosse Schritte bis zum Wasserfleck auf dem hellen Eichenparkett. Erst von dort aus macht es einen Hechtsprung auf sein – sicheres – Bett. Wenn ihre Beine unter der Decke stecken, darf Mirjam wieder atmen. SURPRISE 233/10
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Halten Sie diesem Blick ruhig stand. Nur wenn die Katze von links Ihren Weg kreuzt, bringt sie Unglück.
Auch Erwachsene bannen Gefahren mit magischem Denken. So wie Anton: Der Kommunikationsfachmann, 50, glaubt nicht an Krokodile unter dem Bett. Dafür glaubt er, dass er seine Flugreisen sicherer machen kann, indem er vor dem Start der Maschine eine Zahlenkombination aufsagt. Immer die gleiche Zahlenabfolge, in unterschiedlichen Tempi gesprochen. Bisher war er mit seiner Methode erfolgreich: «Noch ist kein Flieger abgestürzt, in dem ich sass.» Und unterdessen könne er im Flugzeug sogar schlafen. Eine Prise Salz «Aberglaube hat hauptsächlich die Funktion, Ängste zu bannen», erklärt Udo Rauchfleisch. Dem Professor für Klinische Psychologie begegnen während der Therapie-Arbeit in seiner Praxis in Baselland immer wieder abergläubische Vorstellungen: «Viele Menschen versuchen mit magischen Vorstellungen und Ritualen, ihre Angst zu kontrollieren und abzubauen.» Das kann mit einem Talisman für die Prüfung geschehen oder mit einem selbst kreierten Ritual – wie es etwa Anton vor dem Fliegen praktiziert. «Während der Glaube an den Talisman die eigenen Kräfte mobilisiert, hilft ein Ritual dabei, die Angst unter Kontrolle zu halten.» Weiter hat Aberglaube die Funktion, im chaotischen Leben ein wenig Sinn zu stiften: «Besonders in Extremsituationen, wenn etwa unser Leben bedroht ist, neigen wir dazu, auf magische Weise Einfluss nehmen zu wollen.» Und das ist gut so: «Solange uns Aberglaube nicht in unseren Handlungen einschränkt, ist er eine gute Möglichkeit, mit der Unberechenbarkeit des Lebens umzugehen», findet Rauchfleisch. Zwar könne man einiges beeinflussen, aber grundsätzlich seien wir der Welt ganz schön ausgesetzt.
Die Geschichte des Aberglaubens ist eine wechselhafte. Denn die Deutungshoheit ist innerhalb einer Gesellschaft hart umkämpft. Was man als Aberglaube ansieht, ist je nach Epoche, Weltanschauung und Wissenschaftsdisziplin unterschiedlich. Es ist der Preis des Erkenntnisfortschritts, dass wir stets mit dem neuesten Stand des Irrtums leben müssen. Und weil unser kollektives Kulturgedächtnis nicht wie Computer mit laufenden Updates à jour gebracht wird, schleppen wir auch haufenweise Verhaltensweisen mit uns durch die Jahrhunderte, die auf Welterklärungsmustern aus vergangenen Zeiten basieren. Aberglaube, das sind jene Verhaltensweisen und Deutungen, die dem aktuellen Mainstream in Sachen Welterklärung widersprechen. «In 100 Jahren werden sich vielleicht einige wissenschaftliche Erkenntnisse von heute
Der Preis des Erkenntnisfortschritts: Stets müssen wir mit dem neuesten Stand des Irrtums leben.
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als Aberglaube herausgestellt haben. Und umgekehrt», sagt dazu Neurowissenschaftler Peter Brugger. Schliesslich könnte hinter allem eine bisher ungekannte Ordnung stehen. Deshalb: Stellen Sie Ihre Schuhe vorsichtshalber besser nicht auf Tische. Und sollten Sie es – entgegen besseres Wissen – doch einmal tun: Dann werfen Sie doch einfach eine Prise Salz über Ihre Schultern. ■
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Integration «Und jetzt machen sie etwas, das sie nicht wollen» Ausländische Jugendliche haben es schwerer, eine Lehrstelle zu finden und werden oft vorschnell in die unattraktiven Berufe gedrängt, so der Befund einer Studie der Soziologin Eva Mey. Dadurch geht auch der Kontakt zu gleichaltrigen Schweizern verloren und die Integration wird empfindlich gebremst. VON STEFAN MICHEL (INTERVIEW) UND ANDREA GANZ (BILDER)
Mit ihrer letzten Studie hat Eva Mey Staub aufgewirbelt. Zusammen mit Miriam Rorato befragte sie in der Luzerner Vorortsgemeinde Emmen 45 Jugendliche mit Migrationshintergrund, einmal gegen Ende der Schulzeit und ein zweites Mal drei Jahre später. In exemplarischen Biografien zeigen die beiden Soziologinnen, wie der Weg von der Schule in die Berufswelt verläuft und dass die Wünsche der Jugendlichen dabei oft nicht erfüllt werden können. Wie die Heranwachsenden mit dieser Enttäuschung umgehen, steht im Zentrum der Untersuchung. Hier setzen auch einige negative Reaktionen an: «Die sollen froh sein, dass sie hier sein dürfen und sollen sich anstrengen, statt zu jammern», sagten oder schrieben einige. Vor ihrem Wohnhaus in einem idyllischen Weiler im zürcherischen Säuliamt erzählt die Sozialforscherin, was es für Jugendliche ohne Schweizer Pass heisst, in der Schweiz erwachsen zu werden. Wie steht es um die Chancengleichheit in der Schweiz? Um die steht es nicht so goldig, wie man immer tut. Sicher ist die Stellung von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz im internationalen Vergleich höher und die Integration funktioniert besser. Jedoch haben wir in der Schweiz – auch wieder im internationalen Vergleich – eine relativ hohe Reproduktion der sozialen Ungleichheit. Sozial schwache Familien bleiben über Generationen hinweg in dieser Position. Das gilt für Schweizer wie für Ausländer.
auch sagen, sie sind erwachsener und realistischer geworden. Aber sie wirkten insgesamt gedämpft und dieses Gefühl muss man ernst nehmen. Wie kommt es dazu? Ihre Berufswünsche haben sich nicht erfüllt. Sie haben sich eingesetzt und es hat nichts gebracht. Darauf mussten sie ihre Wünsche reduzieren und machen jetzt etwas, das sie eigentlich nicht wollten. Waren die Berufswünsche denn realistisch? Die wollen Automechaniker werden und nicht Pilot. Die jungen Frauen wollen Dentalassistentin werden, nicht Frauenärztin. Die Wünsche sind durchaus realistisch. Wie wirkt sich das auf die Gefühle gegenüber der Schweiz aus? Sie sind ernüchtert. Und das nicht nur, weil sie nicht den Beruf lernen können, den sie wollten. Was noch wichtiger ist: In der Volksschule gehörten sie selbstverständlich dazu. Zumindest symbolisch gibt es keinen Unterschied zwischen Schweizer und ausländischen Schülern. Dieser Ort der selbstverständlichen Gleichheit fehlt ihnen danach. Die meisten berichten, dass sie kaum mehr Kontakt zu gleichaltrigen Schweizern haben. Wollen Sie damit sagen, dass die Integration bis zur neunten Klasse funktioniert und danach scheitert? Das ist zu hart ausgedrückt. Die Integration wird gebremst. Wie ich schon sagte, bereits im Übertritt in die Oberstufe haben ausländische
Obwohl das nicht Teil ihrer Untersuchung war: Warum haben Jugendliche mit Migrationshintergrund mehr Mühe, eine Lehrstelle zu finden? Aus anderen Studien wissen wir, dass schon in «Die jungen Ausländer haben realistische Wünsche: Sie der Mittelstufe ausländische Schüler eher in wollen nicht Pilot werden, sondern Automechaniker.» die Realschule als in die Sek eingeteilt werden. Ein Teil der Chancenungleichheit kommt also schon aus der Primarschule. Dann gibt es ein Muster, das wir bei einem Kinder tendenziell schlechtere Karten. Das verstärkt sich nach der Teil der Jugendlichen beobachten: Sie steigen zwar voller Elan in die BeSchule und viele finden sich in Berufen wieder, wo sie kaum Schweirufswahl ein, trauen sich aber zu wenig, bei Widerständen weiter zu zer antreffen. kämpfen und werfen relativ schnell das Handtuch. Und schliesslich machen viele ausländische Jugendliche Diskriminierungserfahrungen alDroht die Gettoisierung? leine aufgrund ihrer Herkunft oder ihres Namens. Das wissen wir aus Das geht zu weit. Viele Secondos sind extrem erfolgreich. Die sind auch unserer Befragung, und andere Studien haben das statistisch bewiesen. für die positive Gesamtbilanz verantwortlich. Es gibt aber auch einige, Secondos und Zugewanderte der ersten Generation, die überhaupt nicht Wie haben sich die Jugendlichen verändert in den drei Jahren erfolgreich sind. zwischen den zwei Befragungen? Sie wurden gebremst. In der achten und neunten Klasse haben sie Zurück zur Lehrstellensuche. Was braucht es, damit die Jugendeinen grossen Drive. «Gesellschaft, ich komme!» ist ihr Motto. Drei lichen bereit sind, ihre Berufswünsche zu reduzieren? Jahre später haben sich die Hoffnungen vieler nicht erfüllt. Man kann Das ist ein langfristiger Prozess, aber letztlich bleibt vielen nichts ande-
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«Erfolge gibt es immer wieder.» Laut Eva Meys Studie zeigen Ausländerkinder überdurchschnittlichen Einsatz.
ren übrig. Viele orientieren sich an Freunden und Verwandten: Die Freundin, die eine Detailhandelslehre angefangen hat oder der Bruder, der auch schon auf der Baustelle arbeitet. Sie sagen sich: «Dann mach ich das halt auch.» Welche Rolle spielen Berufsberater und spezielle Fördermassnahmen? Sie unterstützen sie dabei, ihre Ansprüche der sozialen Realität anzupassen. Manche drängen sie auch dazu. Das geschieht natürlich nicht aus bösem Willen, sondern im Bemühen, möglichst schnell etwas für sie zu finden. Da müssen die Jugendlichen manchmal zu viele Kompromisse eingehen. Wird den Jugendlichen in der Beratung etwas ausgeredet? In der ganzen Dynamik um den Berufseintritt wird ihnen Angst gemacht, sie fänden nichts und müssten möglichst schnell einen Lehr-
Eva Mey Eva Mey (45) studierte Soziologie, Ethnologie und Allgemeines Staatsrecht. Sie ist Projektleiterin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit und forscht in den Bereichen soziale Ungleichheit, Migration und Sozialstaat. Sie ist verheiratet, Mutter von zwei Kindern im Alter von zwölf und 16 Jahren und lebt in Mettmenstetten ZH. Eva Mey, Miriam Rorato, Jugendliche mit Migrationshintergrund im Übergang ins Erwachsenenalter – eine biographische Längsschnittstudie im Auftrag des Schweizerischen Nationalfonds. Schlussbericht zuhanden des Bundesamtes für Migration. 2010
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vertrag unterschreiben. Eine junge Frau, die bereits in einem Brückenangebot (ein zusätzliches Schuljahr mit Praktikum und intensiver Berufsberatung, red) oder einer anderen Unterstützungsmassnahme ist, wehrt sich irgendwann nicht mehr. Das führt zu vorschnellen Lösungen. Die Jugendlichen haben nicht das Gefühl, selber einen Beruf gewählt zu haben, sondern einmal mehr fremdbestimmt zu sein. Das ist auch ein Teil der Ernüchterung, die sie zwei bis drei Jahre nach der Schule äussern. Ist denn keine Lehre besser als eine schlechte? Natürlich nicht. Aber ob man den Beruf lernt, den man will, hängt auch davon ab, wie lange man durchhält. Ich kenne die Geschichte eines Jugendlichen, der unbedingt Optiker werden wollte, lange erfolglos. Von allen Seiten und auch im Brückenangebot wurde er bearbeitet, etwas anderes zu machen, doch er ging nicht darauf ein und suchte weiter. Nach über einem Jahr fand er die gewünschte Lehrstelle. Solche Erfolge gibt es immer wieder. Ein Berufsberater sagte mir, die Eltern können die Lehrstellensuche mit ihren Vorstellungen und Wünschen auch behindern (siehe nebenstehender Text). Welche Rolle spielen die Eltern bei den Jugendlichen, die sie interviewt haben? Unsere Erfahrung ist, dass sich die Eltern extrem für ihre Kinder einsetzen. Besonders nach Rückschlägen sind sie sehr wichtig für sie. Auch wenn sie sich anfänglich einen höher angesehenen Beruf gewünscht haben, motivieren sie ihre Kinder, eine Lehre anzunehmen und helfen aktiv bei der Suche mit. Vereinzelt haben Jugendliche gesagt, ihre Eltern seien anfänglich enttäuscht gewesen über ihre Lehrstelle, aber die verstünden halt das Schweizer System nicht und wie viele Aufstiegsmöglichkeiten es biete. SURPRISE 233/10
Welche Rolle spielen die Lohnaussichten für die Jugendlichen und ihre Familie? Viel wichtiger ist der soziale Aufstieg. Die Eltern haben ihr Leben in die Hand genommen und sind in die Schweiz gekommen, weil sie etwas erreichen wollten. Ihre Kinder sind zu vielem bereit, um weiter aufzusteigen. Aus Brückenangeboten höre ich, ausländische Jugendliche seien viel leichter zu vermitteln als schweizerische, weil sie viel mehr annehmen.
Ich habe die Arbeit für einen Ort der Integration gehalten. Was läuft schief? Arbeit ist ein zentraler Integrationsfaktor, aber nicht für alle. Die Angst vor Fremden oder der Unmut gegenüber Fremden ist in unserer Gesellschaft stark verankert. Der fremdenkritische bis fremdenfeindliche Diskurs ist sicher ein schlechter Boden für einen Jugendlichen, der gerade dabei ist, sich einen Platz in der Gesellschaft zu suchen.
Integration Auf Umwegen zum Ziel BILD: ZVG
Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund haben Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Mit Ausdauer, Anpassungsfähigkeit und realistischen Vorstellungen im Elternhaus stehen auch schwachen Schülern viele Türen offen. Ein Laufbahnberater berichtet aus seiner Praxis. VON STEFAN MICHEL
«Das Klischee, dass man mit einem ‹ic› am Ende des Namens keine Lehrstelle findet, ist falsch. Die Realität ist viel komplexer.» Erhard Brodmann kennt sie. Als Berufs- und Studienberater am Laufbahnzentrum der Stadt Zürich arbeitet er mit Langzeitarbeitslosen und Jugendlichen, die nach der obligatorischen Schulzeit keine Berufsausbildung angefangen haben. Auch solche, die 150 Bewerbungen verschickt haben, ohne auch nur zu einem Gespräch eingeladen zu werden. Haben es Jugendliche mit Migrationshintergrund schwerer, einen Ausbildungsplatz zu finden, der ihnen entspricht? Der Berater denkt lange nach und sagt schliesslich: «So plakativ formuliert, ja. Aber letztendlich ist es eine Summe von Details, die darüber entscheidet, ob der Übertritt von der Schule in die Berufsausbildung gelingt.» Brodmann analysiert Jugendliche während eines ganzen Tages. Neigungen, Fähigkeiten, Persönlichkeit, Biografie – er prüft gemeinsam mit seinen Klienten schlicht alles, um herauszufinden, wie die berufliche Zukunft aussehen könnte. «Indem ich genau hinsehe, begleite und unterstütze ich die Jugendlichen beim Erkennen ihres Potenzials und eines passenden Berufsweges.» Wenn Brodmann von der Eignung einer Person überzeugt ist, setzt er sich auch persönlich bei Lehrbetrieben für sie ein. Oft mit Erfolg. Auf Nachfrage präzisiert er: «Wenn die Person willens ist und aktiv mitarbeitet, finden wir immer einen Weg. Soeben habe ich einem 40-Jährigen mit Migrationshintergrund eine Lehrstelle vermittelt.» Woran liegt es, dass sich Jugendliche häufiger schwer tun, die mit ihren Eltern nicht Schweizerdeutsch sprechen? «Neben dem Übergang vom Kind zum Erwachsenen und dem Übertritt von der Schule in die Berufswelt müssen Jugendliche mit Migrationshintergrund auch noch den Übergang von einer Kultur in die andere schaffen», holt Brodmann aus. «Wer nicht weiss, wer er ist und was er will, hat Mühe, das Richtige für sich zu finden». Bestimmt sind auch nicht alle jungen Schweizerinnen und Schweizer mit 15 Jahren gefestigte Persönlichkeiten. «Aber wenn bei den Nichtschweizern mittelmässige Schulleistungen dazu kommen, vielleicht, weil sie zu Hause keinen geeigneten Ort zum Lernen haben, dann kann es sehr schwierig werden.»
Die viel zitierten 150 erfolglosen Bewerbungen müssen nicht Folge von Diskriminierung sein. «Wer sich auf einen Bereich versteift, für den er die Anforderungen nicht erfüllt, kann so viele Bewerbungen schreiben, wie er will», sagt der Berater. Die Lösung ist der Weg um das Hindernis herum. Und den kennt Brodmann. «Eine schwache Sek-B-Schülerin wird kaum je eine Lehrstelle als Fachfrau Betreuung erhalten. Als Pflegeassistentin kann sie den Einstieg in den Pflegebereich trotzdem schaffen und sich später weiterbilden.» Auf keinen Fall will er den Heranwachsenden ihre Wünsche ausreden, sondern Alternativen finden, die in die Nähe des Wunschberufs führen. Wenn der Vater beleidigt reagiert Ein Hindernis können auch die Eltern sein. Findet Brodmann heraus, dass für einen Jugendlichen aufgrund seiner Interessen und Fähigkeiten eine Lehre als Sanitärinstallateur eine passende Möglichkeit wäre, kann es sein, dass dessen Vater geradezu beleidigt ist ob diesem Vorschlag. «Sanitärinstallateur lernt man nicht, das ist man einfach», hat Brodmann schon zu hören bekommen. «Viele kennen nur zwei Berufsausbildungen: die kaufmännische und das Hochschulstudium.» Nicht immer gelingt es, den Eltern klar zu machen, dass ein Sanitärinstallateur später technischer Kaufmann oder gar Ingenieur werden könnte, wenn er das wirklich möchte. Auch für den Wunsch nach einem hohen Einkommen hat er einen Tipp parat: «Berufe mit einem tiefen Image bieten oft viele Stellen für gut qualifiziertes Fachpersonal. Mit der passenden Weiterbildung, wie etwa der höheren Fachprüfung, kann zum Beispiel ein Gebäudereiniger weit über 100 000 Franken im Jahr verdienen.» «Vielleicht erscheine ich zu optimistisch», sinniert Brodmann, «aber ich weiss aus Erfahrung, dass sehr viel möglich ist, wenn man bereit ist, dort einzusteigen, wo man gute Chancen hat.» Es komme vor, dass ein
«Wer die Anforderungen nicht erfüllt, kann so viele Bewerbungen schreiben, wie er will.»
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schwacher Schüler in der Werkstatt mathematische Regeln begreife, die er vorher nie verstanden habe. Zuletzt konsultiert der Berufsberater den öffentlich zugänglichen Lehrstellennachweis des Kanton Zürich. Ende August waren allein im beliebten Bereich Automobil noch 19 Lehrstellen offen. In Dietikon wird ein Multimediaelektroniker gesucht. «Es ist noch nicht zu spät. Bis Mitte September werden Verträge unterschrieben.» ■
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Spender mit Herz – auch wenn es eine Niere ist: Operationsnarbe einer Organspenderin.
Organspende Das Warten dauert noch länger Seit 2007 ist der Staat verpflichtet, für genügend Spenderorgane zu sorgen. Trotzdem warten heute doppelt so viele Patienten auf neue Nieren, Lungen oder Herzen als vor zehn Jahren. Eine junge Juristin schlägt nun konkrete Massnahmen vor. VON JOEL BISANG
Vor kurzem haben die Ärzte dem Lungenpatienten Beat Arnold* nach wochenlangen Spitalaufenthalten seine Eignung für eine Transplantation bestätigt. Zugleich wurde er auf eine Wartezeit zwischen zwei Monaten und zwei Jahren vorbereitet. Eine Zeit, in der täglich die erlösende Nachricht eintreffen kann: Der Anruf, der das Bereitstehen einer Spenderlunge und damit den Beginn der lang erwarteten Operation ankündigt. Eine Zeit der emotionalen Hochs und Tiefs für den an einer Lungenfibrose Erkrankten. «Die Transplantation kann für mich ein neues Leben bedeuten, aber manchmal halte ich das Warten beinahe nicht mehr aus. Dazu kommen immer wieder Angstgefühle im Hinblick auf die Operation», beschreibt der 58-Jährige seine Gefühlslage. Das Herz eines Toten Wer sich wie Beat Arnold für eine Transplantation entscheidet, muss eine zermürbende, je nach Organtyp monate- bis jahrelange Wartezeit
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in Kauf nehmen. Denn Hunderte von Patienten warten in der Schweiz derzeit auf ein Spenderorgan. Und jedes Jahr sterben Dutzende Menschen, weil kein geeignetes Organ gefunden wird. «Eine Transplantation ist eine Riesenchance, der Organmangel und die steigenden Wartefristen werden aber zu einem immer grösseren Problem für die Betroffenen», sagt Ruth Ackermann, Sekretärin von Novaria, dem Verein Schweizer Lungentransplantierter. Vor sieben Jahren hat sich die heute 54-jährige, die an einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD) litt, selbst einer Lungentransplantation unterzogen. Sieben Monate musste sie damals ausharren, bis eine Spenderlunge zur Verfügung stand. Monate, in denen kein Tag verging, an dem sie nicht an die kommende Operation dachte. Die Transplantation hat ihr, der die Ärzte vor der Operation noch ein bis zwei Jahre einräumten, ein neues, gesundes Leben ermöglicht. Die Wartezeiten für Spenderorgane sind in den letzten Jahren immer länger geworden – und dürften in Zukunft weiter ansteigen. Die Spenderzahlen stagnieren, während sich die Patientenzahlen auf den WarSURPRISE 233/10
telisten in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt haben. Die zunehmende Nachfrage nach Spenderorganen hat verschiedene Ursachen: Die Menschen werden immer älter und sogenannte Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht oder Diabetes nehmen zu. Dazu kommt, dass die Transplantationsmedizin ausgesprochen erfolgreich ist und sehr hohe Überlebensraten aufweist. Schwieriger fällt die Erklärung, weshalb sich die Bereitschaft zu Organspenden in engen Grenzen hält. Grundsätzlich stehe die Bevölkerung dem Thema eigentlich positiv gegenüber, heisst es bei den Patientenorganisationen dazu. Dies komme jeweils auch bei Meinungsumfragen oder öffentlichen Aufrufen und Aktionen zum Ausdruck. Auf die Spendenbereitschaft hat das aber nur wenig Einfluss. Gemäss den Angaben von swisstransplant, der nationalen Stiftung für Organspende und Transplantation, warteten Anfang 2010 insgesamt 996 Personen auf ein Spenderorgan (Anfang 2001: 468). Am längsten ist mit grossem Abstand die Liste der Nierenpatienten mit rund 800 Personen, gefolgt von derjenigen der Leberpatienten. Jährlich sind jeweils etwas mehr als die Hälfte der gut 200 Organspender sogenannte Lebendspender, im Normalfall Angehörige oder Bekannte der Patienten. Dies kommt allerdings nur bei Nieren- oder Leberspenden infrage, Lunge und Herz können nur von bereits verstorbenen Spendern stammen.
Registrierte Spender könnten bei Bedarf schneller ein neues Organ erhalten.
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*Name geändert Am 18. September finden im Rahmen des nationalen Tages der Organspende Standaktionen in verschiedenen Ortschaften statt. www.swisstransplant.org
Interview «Wer gibt, bekommt auch etwas» Mélanie Mader, Sie haben sich in Ihrer Doktorarbeit mit möglichen Anreizmodellen zur Förderung der Spendenbereitschaft auseinandergesetzt. Zu welchen Schlüssen sind Sie gekommen? Es stehen verschiedene Möglichkeiten zur Diskussion. Einerseits sind Modelle ohne finanziellen Anreiz, andererseits solche mit indirekt finanziellem Anreiz denkbar. Mein Favorit ist ein nichtfinanzielles Modell, bei dem Personen, die sich als Spender registrieren lassen, eine gewisse Priorität geniessen, wenn sie selbst einmal ein Organ benötigen. Das ganze wäre ohne grossen administrativen Aufwand und kostengünstig realisierbar. Das Signal lautet: Wer gibt, bekommt auch etwas. Diese Lösung wird in Singapur und Israel bereits praktiziert und wäre mit einer kleinen Änderung des geltenden Transplantationsgesetzes einfach umzusetzen. BILD: ZVG
Neues Leben schenken Umstritten ist unter Fachleuten, ob die Rechtslage Auswirkungen auf die Zahl der Organspenden hat. In der Schweiz wurde mit dem seit 2007 geltenden Transplantationsgesetz die sogenannte erweiterte Zustimmungslösung für Organspenden von verstorbenen Personen eingeführt. Transplantationsärzte dürfen Verstorbenen nur dann Organe entnehmen, wenn diese vorgängig ausdrücklich ihre Zustimmung erteilt, das heisst einen Spenderausweis ausgefüllt haben. In Ländern wie Österreich oder Spanien, welche die sogenannte Widerspruchlösung kennen, liegt die Zahl der Organspenden wesentlich höher als in der Schweiz. Eine Organentnahme ist dort ohne Zustimmung möglich, sofern sich die verstorbene Person nicht vorgängig in ein Widerspruchsregister eingetragen hat. Trägt in der Schweiz ein Verstorbener keinen Spenderausweis auf sich, müssen die nächsten Angehörigen der Organentnahme zustimmen. Dies kann in der Praxis, wo jeweils schnelles Handeln nottut, zu schwierigen Situationen führen. Die trauernden Angehörigen sind dann zu einer heiklen Entscheidung gezwungen, über die sie sich möglicherweise noch nie zuvor Gedanken gemacht haben. Zahlreiche Experten argumentieren jedoch, der Erfolg der Widerspruchlösung sei, trotz höherer Spenderzahlen in den entsprechenden Ländern, nicht eindeutig belegt. Mélanie Mader hat die Situation in der Schweiz in ihrer Doktorarbeit untersucht. Laut der auf Gesundheitsrecht spezialisierten Juristin deutet beispielsweise in Spanien vieles darauf hin, dass die hohe Zahl der Organspenden mit organisatorischen Massnahmen in den Spitälern zusammenhängt. Anstelle einer Einführung der Widerspruchslösung plädiert die 29-Jährige für die Schaffung von Anreizen für künftige Spender (vgl. Interview). Ähnlich sehen es die Patientenorganisationen: «Mit dem Transplantationsgesetz können wir gut leben und die erweiterte Zustimmungslösung finden wir grundsätzlich richtig», sagt Andrea Schäfer, Präsidentin des Verbandes Nierenpatienten Schweiz. Allerdings fordert sie, der Staat müsse bei der Förderung der Spendertätigkeit aktiver werden. Es gelte, Hemmungen in der Bevölkerung abzubauen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass das Spenden von Organen etwas Normales sei. Ein Bewusstsein, das natürlich nicht einfach von heute auf morgen hergestellt werden kann. Erfolgreiche Beispiele aus anderen Ländern sind jedoch zahlreich verfügbar. Die Ideen seien schon länger auf dem Tisch, sie müssten einfach politisch umgesetzt werden, so Schäfer. «In Norwegen beispielsweise wurde ein Ausbildungsmodul für Schulen erstellt, das Lehrern
hilft, die Organspende in Schulen zu thematisieren. Kinder lernen so viel natürlicher, dass die Organspende nach dem Tod einem anderen Menschen das Leben retten kann.» Beat Arnold wartet unterdessen weiter auf eine neue Lunge. Sein Koffer steht seit Wochen gepackt neben der Wohnungstür. Mit jedem Klingeln des Telefons könnte es so weit sein. ■
Und wie sehen Modellen mit finanziellem Anreiz aus? Hier gilt es ganz eindeutig klarzustellen: Es geht nicht darum, dass der Staat Geld für den Kauf von Organen ausgibt. Ein staatlich regulierter Organhandel ist kein Thema. Vielmehr sollen Anerkennung und Dankbarkeit für einen grosszügigen Akt ausgedrückt, das heisst die Spendenbereitschaft belohnt werden. Dazu sind indirekte finanzielle Anreize denkbar wie beispielsweise Steuererleichterungen für registrierte Spender oder eine staatliche Beteiligung an Begräbniskosten. In den Niederlanden erhalten Personen, die einwilligen, dass ihnen nach dem Tod Organe entnommen werden dürfen, Verbilligungen ihrer Krankenkassenprämien. Weshalb sind überhaupt Anreizmodelle notwendig? Das geltende Transplantationsgesetz ist erst seit 2007 in Kraft. Ist es untauglich, um das Problem des Organmangels zu beheben? Das Transplantationsgesetz hat zwar allgemein viele Verbesserungen gebracht, das Problem des zunehmenden Organmangels löst es aber nicht. Es verpflichtet zwar den Staat, dafür zu sorgen, dass genügend Organe zur Verfügung stehen, gibt ihm jedoch keine Instrumente in die Hand, um die Spendenbereitschaft direkt zu fördern. Hier besteht ein gewisser Widerspruch. Der Staat beschränkt sich auf eine reine Informationstätigkeit – im Gegensatz zu anderen gesundheitspolitischen Bereichen, wie beispielsweise der Alkohol- und Drogenpolitik. Aktive Aufrufe zur Organspende werden nicht lanciert. (job)
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BILD: GUIDO SÜESS
Wörter von Pörtner Bürokratie light In der Schweiz soll eine Initiative zum Kampf gegen die Bürokratie lanciert werden. So etwas klingt immer gut, ist aber bei näherem Hinsehen nichts weiter als Jammern auf sehr hohem Niveau. Zu diesem Schluss bin ich gekommen, als ich vor einiger Zeit versuchte, mir in Frankreich einen Internetanschluss zuzulegen. In Frankreich braucht man, wenn man Internet-, Telefonanschluss oder ein Handyabo will, ein französisches Bankkonto. Da ich in Spanien, wo ich einst eine Wohnung mieten wollte, vor vielen Jahren einmal eine Filiale des Bankhauses Banesto (wegen Miguel Indurain) betreten und meine 10 000 Peseten deponiert hatte – die unterdessen wahrscheinlich von Gebühren aufgefressen oder zu einem nachrichtenlosen Vermögen geworden sind, da es dann doch nichts wurde mit der Wohnung –,
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versuchte ich dasselbe in Frankreich. Ich wählte die Postbank, da man von dieser aus auch die Steuern per Lastschriftverfahren bezahlen kann. Könnte. Der erste Versuch schlug fehl, da ein Ausweis nicht genügt, die letzte Steuerrechnung muss auch mitgebracht werden. Nun gut, dachte ich, Frankreich ist nahe und so fuhr ich bei meinen nächsten Ausflug nach Basel gleich bis Mulhouse weiter, ausgerüstet mit allen Unterlagen. Konten kann man aber nur in dem Departement eröffnen, in dem man Steuern bezahlt. In den nächsten Ferien klappte es dann und wenig später war ich im Besitz des ominösen R.I.P., eine Art Zahlencode, der nachweist, dass man ein Konto hat. Frohgemut lasse ich mich beim Internetprovider über die verschiedenen Angebote informieren, wähle aus und will bezahlen. Doch halt, zum R.I.P. braucht es auch noch einen Check, denn man kann nur über das französische Konto bezahlen. Checks hatte ich bestellt, sie wurden aber, wie ich später rekonstruieren kann, an die französische Adresse geschickt, eingeschrieben. Dort war halt niemand, also gingen sie wieder zurück. Ich mache mich auf zur Post, wo ich an drei verschiedenen Schaltern rund eineinhalb Stunden anstehe, um dann jedesmal weitergeschickt zu werden. Am Schluss wäre ich wieder bei der netten Dame, die mich auf meine Odyssee geschickt hat, aber die hat jetzt Feier-
abend. Ihre Kollegin hört sich mein Problem an, verspricht, sich darum zu kümmern. Ob ich ein Telefon habe? Nein, das geht ja eben nicht ohne die Checks. Ach ja, stimmt. Aber es gibt ja noch das Internet, über den teuren Schweizer Provider kann ich mein französisches Konto einsehen. Als Korrespondenzadresse ist der Schweizer Wohnsitz aufgeführt, trotzdem erreichen mich die Checks nie, im Gegensatz zur Bankkarte. Doch mindestens die Stromrechnung, die ich bisher per Kreditkarte übers Internet bezahlte, weil man Strom und Wasser übers Internet bezahlen kann, nicht aber das Internet, könnte ich jetzt mit meinem R.I.P endlich automatisieren. Doch dieser sei ungültig, vermeldet das System. Bei der Postbank kann man als Kunde keine Fragen stellen oder Beschwerden anbringen, man muss sich anmelden und wird dann angerufen. Wenn man eine französische Telefonnummer hat. Nach diesen Erfahrungen habe ich mir in der Schweiz alle möglichen Handy-, Internetund Fernsehangebote aufschwatzen lassen, nur weil es so schön ist, dass es funktioniert. Bürokratie geht anders.
STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 233/10
Pop 1000 Fans, 45 Dollar, 1 CD Gleich mit seinem Debüt landet Lloyd Cole 1984 in den Bestenlisten. Den Erfolg des Erstlings vermochte der Brite allerdings nie zu wiederholen. Die letzten zehn Jahre gab er den einsamen Folksänger. Mit «Broken Record» hat er nun wieder den Pop entdeckt. Und wie.
Irgendwie war Lloyd Cole schon immer da. Meist auf einem Nebenschauplatz. Nur mit seiner ersten Platte «Rattlesnakes» schaffte es der Brite, sich kurzzeitig in den Vordergrund zu musizieren. Und so einmal, ein einziges Mal auch weite Teile der breiten Masse mit seinem Liedschaffen zu bewegen. Das Debüt, zusammen mit seiner Band The Commotions eingespielt, traf den Zeitgeist seines Entstehungsjahres 1984 in seinem Kern. Cole und Kollegen lieferten perfekten Pop, der nach den Sixties sehnsüchtelte und mit Referenzen an das vermeintlich so unbekümmerte Jahrzehnt gespickt war: vom Gitarrensound der Byrds bis hin zu textlichen Anspielungen auf «Jules et Jim» von Meisterregisseur François Truffaut oder auf die Werke des US-Literaten Norman Mailer. Weitere Platten folgten. Von den Kritikern meist geschätzt und vom Publikum weitgehend ignoriert. Was den Künstler dazu bewog, seine Commotions aufzulösen und in die USA umzusiedeln. Cole versuchte sich in der Folge an verschiedensten Stilrichtungen, mal an streicherlastiger Cabaret-Musik («Don’t Get Weird On Me, Babe», 1991), aber auch an psychedelisch inspirierten Elektro-Sounds («Bad Vibes», 1995). Doch egal, wohin sich Cole auch wandte, beim grösseren Publikum gelangte er nicht mehr über einen Ferner-liefen-Status hinaus. Worauf er die Konsequenzen zog und seine Karriere als melancholischer Rockmusiker für beendet erklärte. Fortan wollte er Folksänger sein. Jetzt, zehn Jahre nach diesem Entscheid, kommt ein erneuter Sinneswandel. «Damals war ich müde und hatte keine Lust mehr, mich mit einer Live-Band zu umgeben», sagt der 49-Jährige im Interview. «Es deprimierte mich, dass gleich mehrere Menschen und ihr Einkommen von meinem Wohlverhalten abhingen. Das fühlte sich an, als ob ich mit fünf Typen gleichzeitig verheiratet wäre.» Worauf er nicht geringste Lust verspürte. Der Soloweg sei somit eine völlig natürliche Entwicklung gewesen. Für einige Zeit hielt Cole gar mehr den Golfschläger als die Gitarre in der Hand. «Das tat ich nicht, um auf neue Ideen zu gelangen, sondern um von der Musik wegzukommen.» Ziemlich unverhofft verspürte der zweifache Vater im letzten Jahr dann wieder ein leichtes Zwicken. Nach ein bisschen mehr Rock’n’Roll-Lifestyle. Zwar vermisste er «weder Produktmanager noch den Tourbus», das Interagieren mit anderen Musikern aber schon. «Was nicht heisst, dass ich nun wieder deftige Rocksongs zu schreiben gedenke, das habe ich einfach nicht mehr drauf.» Kurzerhand erstellte Cole eine Liste mit Leuten, die er gerne auf seinem neuesten Werk hören würde. Und bis auf den gewünschten Produzenten («Der war zu teuer») taten zu seiner Freude alle Angefragten mit. Das Geld für die Aufnahmen schossen 1000 seiner Fans vor, jeder zahlte 45 Dollar und erhielt als Dank eine erweiterte Deluxe-Version der neuSURPRISE 233/10
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VON MICHAEL GASSER
Milde Melancholie in starken Songs: Lloyd Cole.
en CD «Broken Record». Ob er das Experiment nochmals in dieser Form wiederholen würde, stellt Cole in Frage. «Ich habe Blut und Wasser geschwitzt, weil ich nicht sicher war, ob denn auch alles rechtzeitig fertig wird.» Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, so meint er, länger auf Tournee zu gehen und das benötigte Kapital auf diese Weite einzuspielen. Cole, der einen Ruf als Schwarzmaler par excellence geniesst, glaubt – erstaunlich positiv gestimmt – mit «Broken Record» eins seiner besten Alben gefertigt zu haben. Nur um gleich anzufügen: «Mag natürlich sein, dass ich das in ein paar Jahren völlig anders sehe.» Wir sagen: Lloyd Cole hat allen Grund, stolz auf «Broken Record» zu sein. Schon lange haben seine Lieder keine derartige Frische mehr ausgestrahlt. Die Platte bietet grossartigen Pop, keinen forschen, eher einen zarten und folkigen. Vor allem aber einen, der hinhören und aufhorchen lässt. Kompositionen wie «Writer’s Retreat», «The Flipside» oder «Why In The World» sind wunderbar griffig, jonglieren gekonnt zwischen Weltschmerz, Abgeklärtheit und dem Wissen um die eigene Endlichkeit. Die Musik zeigt den Singer/Songwriter leicht gemildert, aber erheblich gestärkt. So sehr, dass man feststellen darf: Mit «Broken Record» ist die Zeit für Lloyd Cole gekommen, vom Nebenschauplatz endlich zurück ins Rampenlicht zu kehren. ■ Lloyd Cole: «Broken Record» (Tapete Records/Irascible).
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Kulturtipps
Augenblicke so kurz wie ein Lidschlag – Gerd Imbsweilers Fotografien.
Buch Momentaufnahmen Der Theatermann und Autor Gerd Imbsweiler fängt in Fotografien und Texten Augenblicke ein, unscheinbar und kostbar zugleich und so flüchtig wie ein Tropfen auf einem heissen Stein. VON CHRISTOPHER ZIMMER
Ein schönes Buch ist mehr als sein Inhalt. Die gute Form gehört dazu und erhöht Wert und Vergnügen. Die Qualität von Einband und Papier sind mit Händen zu greifen, an der Sorgfalt von Gestaltung und Schriftsatz freut sich das Auge. Dem wird allen Unkenrufen zum Trotz kein noch so stylischer E-Book-Reader ein Ende bereiten. So ein Buch ist auch «Zisch» von Gerd Imbsweiler, Theatermann und Autor, Mitbegründer des Vorstadttheaters Basel und gemeinsam mit seiner Frau Ruth Oswalt seit 1999 Träger des Hans-Reinhart-Rings, der höchsten Theaterauszeichnung der Schweiz. Schmal ist das Büchlein, mit ganz- und doppelseitigen Fotografien und mit Texten, die in vier halb so grossen Blättersammlungen eingeheftet sind, sodass Bild und Gedichte («Getexte» nennt sie Imbsweiler) einander ergänzen, ohne sich zu beschneiden. Beide fangen sie Momente ein, «kurz wie ein Lidschlag, ein Gedankenblitz oder die Verschlusszeit einer Kamera». Die mal nachdenklichen, mal humorvollen bis kabarettistisch spitzen Gedichte sind meist knapp bis zum Aphorismus, andere sind eigentliche Lieder mit Strophen und Reimen oder frönen dem Dadaismus und ausgelassenem Nonsens. Die Bilder erzählen von Reisen und von Dingen, die nur solange unscheinbar sind, bis die Kamera sie erfasst und in ein neues Licht rückt. Manchmal hält Imbsweiler unfreiwilligen Humor fest, wie bei einem riesigen Kreuz, an dem ein Mini-Jesus hängt, winzig wie eine PlaymobilFigur. Oder er provoziert ihn, indem er ein Schild, auf dem «Ausfahrt freihalten» steht, neben eines mit «Freiheit aushalten» stellt. Ob in Text oder Bild, Imbsweiler ist ein genauer Beobachter – und ein gewitzter Unterhalter. Verspielt, ohne oberflächlich zu sein, und mit einem ausgeprägten Sinn für die Poesie des Alltäglichen. Wie tief das gehen kann, zeigt sich im letzten Text, der ein einziges langes Tagebuchgedicht ist und von den Geschehnissen rund um Imbsweilers «Herzvorfall» berichtet. Geschehnisse, die die Flüchtigkeit und Kostbarkeit der eingefangenen Augenblicke schmerzlich bewusst machen und dem Titel «Leben erleben» über den Gedichten zusätzliches Gewicht verleihen. Gerd Imbsweiler: «Zisch». Fotografien und Texte. Imbos Verlag 2009. CHF 36.–.
Nachdenken in der «Wildnis». Filmstill aus «Seven Intellectuals in Bamboo Forest».
Festival Bambuswald und neue Medien Die achte Ausgabe von Culturescapes widmet sich China. Während rund drei Monaten ermöglicht das Festival schweizweit eine höchst vielfältige Annäherung an die chinesische Kultur. VON MICHÈLE FALLER
Wenn etwas für jemanden «chinesisch» ist, gibt es ein Problem zwischen Ausdruck auf der einen und Eindruck auf der anderen Seite. Eine kulturell umfassende Annäherung an das fremde Land bietet die diesjährige Ausgabe des Festivals Culturescapes. «Es ist ein Format, bei dem mehrere Kunstsparten parallel erlebbar werden», erklärt Jurriaan Cooiman, der die «Kulturlandschaften» 2003 initiierte und sich nach anfänglicher Fokussierung auf Osteuropa über die Türkei und Aserbeidschan nach Asien vorgetastet hat. Musik, Theater, Kunst, Literatur und Film würden einen Längsschnitt und somit die Möglichkeit eines tieferen Einblicks in das Kunstschaffen der einzelnen Länder bieten. «Mit China wagen wir uns in eine ganz andere Dimension vor.» Cooiman meint damit nicht nur die schiere Grösse und damit einhergehende Kulturvielfalt des Landes, und auch nicht nur die Grösse des Festivals, das an verschiedenen Orten der Deutsch- und Westschweiz stattfindet. «Das Neue an der Auseinandersetzung liegt in der ganz anderen Kulturwurzel Chinas», stellt der Festivalleiter fest. Estland oder die Türkei hätten viele Gemeinsamkeiten mit der Schweiz, doch dass eine Begegnung zwischen Ost und West anspruchsvoller sei, habe er schon bei den Verhandlungen mit dem Kulturministerium in China festgestellt. In der Ausstellung «Soloshows» im Kunsthaus Baselland begegnet man der Schweizer Künstlerin Mireille Gros, die in Shanghai «artist in residence» war, sowie zwei chinesischen Filmemachern. Der junge Animationskünstler Sun Xun, der traditionelles Material mit neuen Medien kombiniert, brauchte für seinen neuen Film «21 g» 20 000 Zeichnungen und vier Jahre Arbeit. Das filmische Erlebnis wird um eine Installation erweitert, in der Elemente der ungeheuren Fleissarbeit der Filmproduktion Verwendung finden. Der namhafte Yang Fudong zeigt die fünfteilige Filmserie «Seven Intellectuals in Bamboo Forest». In der sehr ästhetischen und sozialkritischen Arbeit transportiert der Künstler Figuren aus Geschichten von historischen Dynastien in neue Kontexte. Im Bambuswald trafen sich die Intellektuellen, um ihren Wunsch nach Individualität und Freiheit auszuleben. «Culturescapes», 16. September bis 7. Dezember; «Soloshows», 18. September bis 14. November, Kunsthaus Baselland. www.culturescapes.ch
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BILD: FRENETIC
Proben für Paris: Nach der Zwangspause ist der Cellist etwas eingerostet.
Kino Degradierter Dirigent Ein seit 30 Jahren untätiges Moskauer Orchester bekommt eine zweite Chance. Die heimliche Reise in den Westen ist voller Tücken und ergötzt sich an mehr Klischees als man für menschenmöglich gehalten hätte. VON MICHAEL GASSER
Ein Hoch auf die Klischees. Regisseur Radu Mihaileanu hat sie alle in seinen Film «Le Concert» untergebracht. Die Geschichte, die sich um den unter dem Breschnew-Regime zum Hauswart degradierten Dirigenten Andreï Filipov ( Alexedreï Guskov) dreht, trägt nicht bloss dick, sondern geradezu vollfett auf. Im Werk des Franzosen mit rumänischen Wurzeln prallen die Welt des Ostens und des Westens in beinahe vergessener Wucht aufeinander. Fast so, als ob der Eiserne Vorhang des Kommunismus nie zerrissen worden wäre. Filipov, der tief fiel, weil er sich weigerte, die jüdischen Musiker aus seinem Ensemble zu tilgen, fällt beim Büroputz an seiner alten Wirkungsstätte, dem Bolschoi-Theater, ein Fax in die Hände: Das Théatre du Châtelet in Paris sucht dringend und kurzfristig ein Orchester. Eine Chance, die sich Filipov nicht entgehen lassen will. Er steckt das Schreiben ein und beginnt in aller Heimlichkeit seine Musiker von einst zusammenzutrommeln. Die fahren Taxi und schleppen Möbel, um sich über Wasser zu halten. Oder untermalen mit ihrer Musik Pornofilme. Und dann beginnt das Märchen, denn trotz aller Widrigkeiten, fehlender Pässe und Instrumente schafft man es bis in die französische Metropole, wo die Schwierigkeiten aber erst richtig beginnen. Und als Sahnehäubchen obendrauf entspinnt sich – zu Tschaikowski-Klängen – auch noch ein dunkles, dunkles Familiengeheimnis. Mihaileanu setzt ganz auf die Extreme: Sein Moskau ist schmierig, die Menschen bessere Tagediebe oder uferlose Ignoranten. Auch die Westler kommen nicht besser weg, sie werden als erfolgssüchtige Oberflächler dargestellt und das vermeintlich glamouröse Paris wirkt kühler als jedes Eisfach. «Le Concert» lässt kaum einen billigen Kalauer aus, setzt gnadenlos auf jeden Kitsch und funktioniert erstaunlicherweise trotzdem. Gerade weil der Film, der sich in Sachen Ästhetik ganz an die Welt der tschechischen Fernsehmärchen hält, von durchschaubaren Billigelementen und abgehalfterten Pointen nur so wuchert. Over the top, wie der Engländer sagt. Trotzdem wird der geneigte Zuschauer prächtig unterhalten. Quasi schon fast wider Willen.
Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.
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Coop Genossenschaft, Basel
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AnyWeb AG, Zürich
03
Velo-Oase Bestgen, Baar
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Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel
05
Niederer, Kraft & Frey, Zürich
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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur
07
Kaiser Software GmbH, Bern
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Responsability Social Investments AG, Zürich
09
chefs on fire GmbH, Basel
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Ingenieurbüro BEVBE, Bonstetten
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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau
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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen
13
Scherrer & Partner GmbH, Basel
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TYDAC AG, Bern
15
KIBAG Strassen- und Tiefbau
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OTTO’S AG, Sursee
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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen
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Canoo Engineering AG, Basel
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Lehner + Tomaselli AG, Zunzgen
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fast4meter, storytelling, Bern
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Brother (Schweiz) AG, Baden
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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf
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IBZ Industrie AG, Adliswil
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Zeix AG, Zürich
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Zürcher Kantonalbank, Zürich
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag! Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.
«Le Concert», Regie: Radu Mihaileanu, 122 Min., Frankreich/Russland 2009, ab 16. September in den Deutschschweizer Kinos. SURPRISE 233/10
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BILD: ZVG BILD: ISTOCKPHOTO
Ausgehtipps Bern Schonungsloser Wutausbruch Wut hat heute einen schlechten Ruf: Es gehört sich nicht, wütend zu sein, und schon gar nicht, öffentlich seine Wut zu zeigen. Im gesellschaftlichen wie im privaten Bereich werden Diplomatie und Rhetorik mehr geschätzt als ein brachialer Schlag auf den Tisch. Auch von der Kultur erwartet man eher Abgehobenes als einen schonungslosen Wutausbruch. Fertig mit höflich, haben sich die Kuratoren der Biennale Bern deshalb gesagt, und Wut zum Motto der diesjährigen Veranstaltungen gemacht. Das spartenübergreifenden Festival für zeitgenössische Kunst wird also für einmal richtig grell, abgründig – und undiplomatisch laut. (mek) Biennale Bern, Festival für zeitgenössische Kunst, 10. bis 18. September. Das Festivalzentrum ist im Foyer des Stadttheaters Bern. Die Wut rauslassen – an der Biennale Bern.
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Detailprogramm: www.biennale-bern.ch
Gut erhaltenes Punkrock-Urviech: Sonny Vincent.
Auf Tour Punk der ersten Stunde Der Herbst bringt Laub und Legenden. Mit Sonny Vincent besucht einer der wenigen noch aktiven Punkrocker der ersten Stunde die Schweiz. Dabei war der Amerikaner nie so hart und nihilistisch wie andere. Seine Songs klangen stets melodiös und wenn dem Mann mit der schwarzen Mähne ein Liebeslied einfiel, dann war das auch okay. Mit der ersten Band The Testors trat er in den späten 70ern im New Yorker Punktempel CBGB’s auf, später spielte er in verschiedene Projekten mit Leuten von Velvet Underground, MC5, The Damned und Sonic Youth. Richtig erfolgreich wurde der gute Sonny nie, dazu war sein Benehmen und Auftreten auch im vorgeschrittenen Karrierestadium stets zu unberechenbar. Und so zieht er heute mit wechselnden Begleitmusikern durch die Lande und spielt, wo immer ein Schlagzeug und Gitarrenamps Platz finden und der Biernachschub sichergestellt ist. Soviel ist also schon vorab klar: Es wird eng, feucht und laut. (ash) 18. September, 21.30 Uhr, Mars Bar, Zürich; 19. September, 20 Uhr, Chäller, Schaffhausen.
— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 — 26
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BILD: TANJA DORENDORF
Zürich Unterwegs ins Dunkel Das Theater Rigiblick hat vielleicht nicht die grösste Bühne Zürichs. Aber sicher die schönste Lage: Mit der Standseilbahn gehts hoch an den Züriberg, wo der umtriebige Daniel Rohr das einst verschlafene Haus über die letzten Jahre zum Stadtgespräch machte. Rohr ist nicht nur Theaterleiter, sondern auch Schauspieler und als solcher bringt er mit Vorliebe musikalische Vorlagen auf die Bühne. Zum Beispiel «To The Dark Side Of The Moon», ein Verknüpfung der Erzählung «Kaleidoskop» von Ray Bradbury mit dem Klassiker von Pink Floyd. Nach einem Kometeneinschlag treibt die Besatzung eines Raumschiffs hilflos durchs All, nur noch über Funk miteinander verbunden und im Wissen: Bald werden wir sterben. Daniel Fueter hat die Musik für Klavier und Streichquartett arrangiert, Videoprojektionen führen ins Weltall und Daniel Rohr spielt und singt eine Geschichte von existenzieller Tragik. Wer die Aufführungen im Frühjahr verpasst hat, bekommt nun noch mal eine Chance. (ash) «To The Dark Side Of The Moon», 16. und 17. September, 20 Uhr, Theater Rigiblick, Drama im Weltall mit Daniel Rohr.
BILD: TOTAL-LIQUIDATION, 2009 GEFUNDENE VITRINE, UNIKAT, SAMMLUNG HAUSER & WIRTH, HENAU. ©STEFAN BURGER.
Zürich. Weitere Daten: www.theater-rigiblick.ch
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Spenden Sie, damit Pascal dabei sein kann. Ausverkauft – Fotograf Stefan Burger hält nichts von kaschierter Wirklichkeit.
Winterthur Am Lack gekratzt
Die Stiftung Cerebral hilft in der ganzen Schweiz Kindern wie Pascal und deren Familien. Zum Beispiel mit Massnahmen zur Förderung der Mobilität. Dazu brauchen wir Ihre Spende, ein Legat oder Unternehmen, die einzelne Projekte finanzieren. Helfen Sie uns zu helfen.
Wir sind Weltmeister darin, unsere Welt ein wenig aufzupolieren: Wir putzen und lackieren, decken ab und übermalen – das alternde Gesicht, die verbeulte Karosserie, die heruntergekommene Fassade. So wird das Unfertige kaschiert, Mängel und Fehler grosszügig übermalt, die Entstehung der Dinge in den Hintergrund gedrängt. Der Schweizer Fotograf Stefan Burger durchschaut die Performance des Perfekten und kratzt den Lack der Oberfläche ab, bis das Halbfertige und Chaotische wieder sichtbar wird. Die Ausstellung «Unter den Umständen» zeigt seine Fotoarbeiten, die nicht den blühenden Blumenstock sondern den leeren Blumentrog, nicht die Herbstneuheit sondern den Ausverkauf in den Mittelpunkt stellt. (mek) «Unter den Umständen», noch bis zum 14. November zu sehen im Fotomuseum Winterthur. www.fotomuseum.ch
Schweizerische Stiftung für das cerebral gelähmte Kind Erlachstrasse 14, Postfach 8262, 3001 Bern, Telefon 031 308 15 15, PC 80-48-4, www.cerebral.ch SURPRISE 233/10
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Verkäuferporträt «Ich muss gar nichts» BILD: ZVG
Dragoslav Pavlovic, genannt Paul, 61, ist der erste blinde Surprise-Verkäufer. Gleich zum Auftakt seiner neuen Beschäftigung bekam er Ärger mit dem Sicherheitsdienst eines Warenhauses. Doch das ist ihm immer noch lieber, als sich mit dem Zürcher Sozialamt rumschlagen zu müssen. VON YVONNE KUNZ
«Ich bin aus Serbien, vor dem Sozialismus geflüchtet. Nie hätte ich gedacht, dass es hier noch ärger ist. Mit dem Zürcher Sozialamt kam ich nicht zurecht, Bürokratie ist ein zu mildes Wort. Die benehmen sich, als wären wir für sie da, nicht umgekehrt. Immer diese Unzuständigkeiten. Immer andere Sachbearbeiterinnen, immer wieder andere Beträge. Ich sah nicht durch – nicht nur, weil ich blind bin. Fünf Jahre lebte ich zum Beispiel im Hotel Regina. Dort warf man mich raus, wegen der FussballEuropameisterschaft. Das Zimmer kostete 1100 Franken, am neuen Ort zahle ich 680. Da nahm man mir sofort 400 Franken Zusatzleistungen weg. Ausserdem rechnete man mir plötzlich die Hilflosenentschädigung der IV, 440 Franken, als Einkommen an. Als ich fragte warum, reagierten sie aggressiv. Vor vier Jahren bin ich denen davongelaufen. ‹Sie müssen zum Sozialamt›, sagte man mir. Aber ich muss gar nichts. Bis April des letzten Jahres zahlten sie noch die Krankenkasse. Als sich die IV-Rente um 20 Franken änderte, wurde ich vorgeladen. Ich weigerte mich, deswegen aufs Amt zu gehen. Man sagte mir: Dann zahlen wir gar nichts mehr, das ist ihr Entscheid. Jetzt bekomme ich von der IV insgesamt 1470 Franken. Davon zahle ich die Wohnung, Internet, Telefon, alles. Die Krankenkassenprämien kann ich mir nicht leisten. Wenn ich ins Spital muss, zahle ich direkt. Gerade letzthin, 174 Franken. Das zahle ich in Raten ab. Was passiert, wenn ich krank werde? Ich sterbe. Die Leute auf der Strasse sind aber ganz anders: Nirgends wurde mir so viel geholfen wie hier. Man kommt auf mich zu, bringt mich über den Fussgängerstreifen. Eigentlich brauchte ich dringend einen Hund. Die IV würde mir auch einen geben, aber ich brauchte eine 2-Zimmer-Wohnung. So bleibt es halt beim Stock. Ich habe mich lange dagegen gewehrt. Nicht aus Stolz, ich wollte einfach niemandem zur Last fallen. Doch seit fünf Jahren geht es gar nicht mehr anders. Hätte ich den Stock früher genommen, hätte ich mir viel Ärger und Anstrengung – und viele Beulen! – erspart. Ich kam 1969 erstmals in die Schweiz, pendelte dann aber viele Jahre zwischen der Schweiz, Deutschland und Italien. Damals war ich Kunstmaler – leider verdient man damit nicht viel. Nebenbei habe ich als Kellner, Fotomodell, Küchenhilfe, Zeitungsverträger gearbeitet. 1982 wurde ich hier sesshaft – meine Frau hatte gesagt: Entweder du bleibst jetzt hier oder du bleibst ledig! Meine Frau war Schweizerin, eine interessante Frau. Und Kettenraucherin. Ich sagte ihr immer: Maya pass auf, du rauchst zuviel. Aber sie hatte Angst dick zu werden, wenn sie aufhören würde. Am 6. November 1996 starb sie an Kehlkopfkrebs. Dann kamen die ganzen Probleme. Ich hatte niemanden mehr, der mir die Briefe vorlas oder mir sonst wie im Alltag half. Auch finanziell wurde es immer schwieriger – und ich verlor ja in den folgenden Monaten mein Augenlicht vollständig.
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Jetzt bin ich richtig froh, dass ich diesen Job als Surprise-Verkäufer gefunden habe. So kann ich wenigstens stolz sein auf mich selbst und etwas Geld verdienen. Ich habe noch keinen festen Verkaufsplatz, bin ja erst seit drei Wochen dabei. Einmal wurde ich rüde weggeschickt. Ich war bei einem Warenhaus, nach 20 Minuten kam der Sicherheitsdienst und sagte mir, es sei hier sehr gefährlich, ich stünde vor dem Notausgang. Sie gaben mir einen anderen Platz – einen besseren, sagten sie. Etwa sieben, acht Meter um die andere Ecke. Ich glaube, die gaben mir diesen unattraktiven Platz, weil sie dachten, ich würde dann von selbst verschwinden. Ich bedankte mich und richtete mich ein. Nach zehn Minuten waren die Sicherheitsleute wieder da. Der Chef habe gesagt, der Platz sei nicht so toll, wegen des Plakats hinter mir … Aber ich bin ja eine robuste Persönlichkeit. Wenn ich in die Gassenküche gehe, bin ich immer der, der die anderen aufmuntert. Von daher bin ich überzeugt, dass ich schon bald ein tolles Plätzchen habe, an dem man mich in Ruhe Unmengen von Surprise verkaufen lässt.» ■ SURPRISE 233/10
Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte ber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise-Sozialarbeiterinnen betreut, individuell begleitet und gezielt gefördert. Dazu gehört auch, dass sie von Surprise nach bestandener Probezeit einen ordentlichen Arbeitsvertrag erhalten. Mit der festen Anstellung übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.
Starverkäufer BILD: ZVG
Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich sel-
Als Götti oder Gotte ermöglichen Sie einer Strassenverkäuferin oder einem -verkäufer eine betreute Anstellung bei Surprise und damit die Chance zur Rückkehr in ein selbstbestimmtes Leben.
René Senn Zürich
Kurt Brügger Basel
Marlise Haas Basel
Marlies Dietiker Olten
Alois und Ruth Setz aus Wilen b. Wollerau nominieren Urs Habegger als Starverkäufer: «Seit langer Zeit kennen wir Herrn Habegger. Er verkauft Surprise in Rapperswil. Er ist stets sehr aufgestellt, fröhlich, zuvorkommend, nicht aufdringlich. Wir schätzen ihn sehr. Seine Anwesenheit im Bahnhofgelände erfreut uns immer. Wir wünschen ihm auf diesem Weg alles Gute.»
Ausserdem im Förderprogramm SurPlus: Tatjana Georgievska, Basel Peter Hässig, Basel Bob Ekoevi Koulekpato, Basel Marika Jonuzi, Basel Jela Veraguth, Zürich Jovenka Rogger, Zürich
Anja Uehlinger, Baden Wolfgang Kreibich, Basel Peter Gamma, Basel Andreas Ammann, Bern Fatima Keranovic, Baselland
Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welchen Verkäufer Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41+61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch
Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 8000 Franken
1/2 Jahr: 4000 Franken
1/4 Jahr: 2000 Franken
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1 Monat: 700 Franken
233/10 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 233/10
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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.
Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–
Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.
Geschenkabonnement für: Vorname, Name
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Rechnungsadresse: Vorname, Name
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Datum, Unterschrift 233/10 Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch
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Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel, www.strassenmagazin.ch Geschäftsführung T +41 61 564 90 63 Fred Lauener, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) Öffnungszeiten Sekretariat Mo–Do 9–12 Uhr, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Redaktion T +41 61 564 90 70 Reto Aschwanden (verantwortlich), Julia Konstantinidis, Mena Kost, Thomas Oehler (Sekretariat) redaktion@strassenmagazin.ch Freie Mitarbeit Joel Bisang, Michèle Faller, Andrea Ganz, Michael Gasser, Olivier Joliat, Yvonne Kunz, Stefan Michel, Christof Moser, Stephan Pörtner, Angel Sanchez, Milena Schärrer, Isabella Seemann, Udo Theiss, Priska Wenger, Christopher Zimmer Korrektorat Alexander Jungo Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Anzeigenverkauf T +41 76 325 10 60 anzeigen@strassenmagazin.ch
Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die vom gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.
Marketing T +41 61 564 90 61 Theres Burgdorfer Vertrieb T +41 61 564 90 81 Smadah Lévy (Leitung) Vertrieb Zürich T +41 44 242 72 11 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, Mobile +41 79 636 46 12 r.bommer@strassenmagazin.ch Vertrieb Bern T +41 31 332 53 93 Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, Mobile +41 79 389 78 02 a.maurer@strassenmagazin.ch Betreuung und Förderung T +41 61 564 90 51 Rita Erni Chor/Kultur T +41 61 564 90 40 Paloma Selma Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Carlo Knöpfel Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 233/10
Macht Sommerlaune!
Dazu passend: Sommerlich leichtes T-Shirt, 100% Baumwolle, für Gross und Klein.
Grosses Strandtuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.
Herren CHF 25.– S M
L
XL
Damen CHF 25.– M L CHF 20.– XS S (auch für Kinder) Alle Preise exkl. Versandkosten.
Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–
50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.
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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch
Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.
Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50 neon-orange schwarz
Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.– rot blau schwarz
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Surprise Rucksäcke (32 x 40 cm); CHF 89.– schwarz rot
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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch
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