Surprise Strassenmagazin 242/11

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Gute Idee mit bösen Folgen – per Mikrokredit in die Schuldenfalle

Nr. 242 | 21. Januar bis 3. Februar 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

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TITELBILD: ISTOCKPHOTO/BILDBEARBEITUNG WOMM

Editorial Der Mensch im Zentrum BILD: DOMINIK PLÜSS

Alles neu macht der Mai, heisst es. Nun befinden wir uns zwar noch im Winter, trotzdem präsentieren wir Ihnen Surprise in veränderter Aufmachung. Es ist nicht alles neu, ein paar Umstellungen haben wir aber doch vorgenommen. Neu finden Sie den Starverkäufer auf Seite 7. Bisher war diese Rubrik eher diskret im hinteren Heftteil platziert. Doch es sind unsere Verkaufenden, die alle zwei Wochen eine neue Ausgabe auf die Strasse und unter die Leute bringen. Sie sind es, die Surprise einzigartig machen. Deshalb gebührt Ihnen ein Platz an prominenter Stelle im Heft. Falls auch Sie eine Lieblingsverkäuferin, einen Lieblingsverkäufer haben – rücken Sie sie oder ihn mit Ihrer Nomination ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Für die Verkaufenden bedeutet die Nomination einen zusätzlichen Motivationsschub. RETO ASCHWANDEN

Neben dem Starverkäufer finden Sie auf Seite 7 künftig abwechselnd Kommentare, REDAKTOR Hausmitteilungen und Leserbriefe. Diese Seite ist unser Forum für Meinungsäusserungen und -austausch zwischen Leserschaft und Redaktion. Eingestellt wurde hingegen unser Comic «Erwin». Wir bedanken uns bei seinem Schöpfer Udo Theiss ganz herzlich für die satirischen Bildergeschichten. Unverändert bleibt unser journalistischer Ansatz, der den Menschen ins Zentrum stellt. In dieser Ausgabe erzählen wir Ihnen die Geschichte des Urner Kantonsarbeiters Toni Briker, der bei der Schneeräumung in eine Lawine geriet. Kollegin Julia Konstantinidis begleitete eine Gruppe von Schwerstbehinderten zur Arbeit in den Wald, wo sie feststellte, wie beruhigend die Arbeit in der freien Natur auf Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen wirken kann. Wir blicken nach Indien und Bangladesch, wo Mikrokredite manche Menschen in die Schuldenfalle treiben. Und schliesslich präsentieren wir Ihnen zur Erinnerung an Emilie Lieberherr einen persönlichen Rückblick auf das Leben der verstorbenen Zürcher Sozialpolitikerin. Ich wünsche Ihnen anregende Lektüre Reto Aschwanden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 242/11

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Jeden Winter verschütten Lawinen Hunderte von Menschen. Rund zwei Dutzend kommen dabei ums Leben, viele werden gerettet. Menschen wie der Urner Toni Briker. Er erzählt, was in einem vorgeht, der 20 Minuten lang im Schnee begraben liegt und wie das Leben danach weitergeht. Und ein Retter schildert, was die Suche nach Verschütteten bei den Helfern auslöst.

13 Mikrofinanz Die Schulden der Ärmsten Mikrokredite galten eine Zeit lang als Wundermittel gegen Armut. Nun offenbaren sie schlimme Nebenwirkungen. Enormes Wachstum und scharfer Wettbewerb haben in Indien und Bangladesch Massen in die Überschuldung getrieben. Doch die Verdammung der Kleinstdarlehen ist so verfehlt wie die unkritische Verherrlichung.

BILD: CHRISTIAN FLIERL

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10 Lawinen Leben nach dem weissen Tod

BILD: ISTOCKPHOTO

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Inhalt Editorial Umgestaltet Basteln für eine bessere Welt Heli-Mann fürs WEF Aufgelesen Künftig kommts dick Zugerichtet Die gerammte Politesse Leserbriefe Zum Lachen Auflösung Bildrätsel Die Gewinner Starverkäufer Ernst Aebersold Porträt Lebenslang reisen Emilie Lieberherr Rückblick auf ein bewegtes Leben Wörter von Pörtner Hündischer Optimismus Politikerband Parteiübergreifend musikalisch Kulturtipps Ein Reifen dreht durch Ausgehtipps Solidarischer Jass Verkäuferporträt Persönliche Räume Projekt Surplus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

BILD: ZVG

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19 Integration Männer im Wald Marco, Peter, Daniel und ihre Kollegen brauchen konstant Betreuung. Sie sind schwerstbehindert und leben im geschützten Rahmen von therapeutischen Institutionen und Wohnheimen. Sie sind aber auch Waldarbeiter und verbringen ihre Zeit tageweise bei jedem Wetter draussen und halten ein Stück Basler Naherholungsgebiet in Schuss.

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ILLUSTRATION: WOMM

Schneiden Sie den oberen, leeren Teil des Streifens in der Mitte bis zur angezeichneten Linie in zwei Hälften. Das sind die Flügel des Hubschrau-

20 cm

bers.

7 cm Schneiden Sie aus Papier oder dünnem

Zeichnen Sie auf beide Seiten des

Karton einen Streifen mit den Massen

Papierstücks eine Figur. Sie soll so

20 x 7 Zentimeter aus.

gross sein, dass sie zwei Drittel des

Flügel mit dem Motiv Ihrer Wahl,

der guten W orte.

Verzieren Sie die eine Seite der

Eine Invasio

n

Streifens ausfüllt.

Schreiben Sie Ihre Botschaft auf die andere Seite der Flügel.

zum Beispiel mit Sternen, einem blauen Himmel oder Ähnlichem.

Befestigen Sie eine Büroklammer an den Füssen des Hubschraubermannes, so fliegt er besser.

Basteln für eine bessere Welt Davos, und jedes Jahr dasselbe Trauerspiel: Am Weltwirtschaftsforum treffen sich Promis aus Politik und Wirtschaft im für die Öffentlichkeit abgeschotteten Bergdorf und diskutieren Weltbewegendes. Weil wir auch mitreden wollen, schicken wir unsere Botschaften via Hubschraubermänner über die Absperrzäune: Eine Invasion der guten Worte. SURPRISE 242/11

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Übergewicht Wien. Frauen sind wöchentlich bis zu 5000 «Idealkörperfotos» ausgesetzt. Gleichzeitig erreichen laut Thomas Dorner vom Wiener Institut für Sozialmedizin nur gerade sechs von 10 000 die sogenannten Idealmasse 9060-90. Denn immer mehr Menschen werden übergewichtig: Im Jahr 2048, warnen Experten, könnten bereits alle Erwachsenen übergewichtig sein. Die Kinder von heute seien deshalb womöglich die ersten in der Menschheitsgeschichte, die eine geringere Lebenserwartung haben als ihre Eltern.

Trinkerlied Stuttgart. Von Peter, Verkäufer der Salzburger Strassenzeitung «Apropos»: «Gross, gross, gross, manchmal werden die Probleme übergross. Dann tut sich Peter niedersaufen, und die Frau will mit ihrem Manne raufen. Wein, Wein, Wein, es muss ein Doppelter sein. Den Wodka will ich lieber lassen, den Zustand der Welt, wie er ist, kann ich nur hassen. Still, still, still, wie ich eine andere Gesellschaft will. Die Reichen habens dick in ihren Händen, der Peter wird seine Rente nicht mehr vollenden.»

Geld zu verschenken Graz. Ein einfach gekleideter Mann steht in der Grazer Innenstadt vor einem der Luxusgeschäfte, in seiner Hand ein Porzellanschälchen, daran klebt ein schäbiger Kartonfetzen mit der Aufschrift: «Geld zu verschenken». Im Schälchen klappern 18 Euro in Münz. Während die vorbeieilenden beim ersten Blick an einen Bettler denken, sind sie beim zweiten ganz schön irritiert. Genau das bezweckt Künstler Thomas Seiger auch. Spricht ihn jemand an, erklärt er routiniert: «Meine Grundbedürfnisse sind gedeckt. Was übrigbleibt, verschenke ich.»

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Zugerichtet Weg frei! Im Juli vorletzten Jahres soll der 52-jährige Kaufmann René O.* der Politesse P. zuerst den Stinkefinger gezeigt und sie anschliessend angefahren haben. Nun steht er vor Gericht. Seine Glatze ist so glänzend poliert wie seine Lederschuhe. Ein Bonvivant, elegant, souverän. Nur die roten Flecken auf den Wangen verraten seine Nervosität. Er sei zurzeit arbeitslos, antwortet er auf die Frage nach seinem Einkommen, werde aber hoffentlich bald in den Aussendienst einer Computerfirma übernommen. An jenem Tag im Juli hat er seinen Wagen gerade im eingeschränkten Halteverbot abgestellt, als er die Politesse auf der anderen Strassenseite sah. «Da ist es mir hochgekommen.» In Zürich könne man einfach keine Parkplätze finden, immer werde er aufgeschrieben. Vor Wut habe er der Politesse zugerufen, ob sie eigentlich nichts Gscheiteres im Leben zu tun hätte, als die Leute zu nerven. Die Frau sei daraufhin im Sturmschritt auf ihn zugekommen. Er habe sich bedroht gefühlt, behauptet René O., und sich schnell in seinen Wagen geflüchtet. Ja, das sei nicht die feine Art gewesen, aber, my God, «in Zürich redet man halt so». Einen Stinkefinger habe er der Politesse jedenfalls nicht gezeigt, das sei nicht sein Stil, er sei eher der verbale Typ. Der Richter ist skeptisch, von einer älteren Dame müsse man sich doch nicht bedroht fühlen. Doch, die sei wild gestikulierend um den Wagen herum gelaufen und habe unverständlich auf ihn eingeredet, sagt Herr O. Ganz vorsichtig, wie er das immer mache, habe er dann aus der Lücke rausfahren wollen, aber die Beamtin habe ihm den

Weg versperrt. Ganz langsam sei er auf die Frau zugerollt, und die sei zurückgewichen. Von einem Zusammenstoss habe er nichts bemerkt. Das Ganze sei einfach eine Unmutsäusserung gewesen – und jetzt eine Anklage wegen so was, also nein. Die Politesse wollte sich diese Unmutsäusserung aber nicht gefallen lassen. Sie sei zügig über die Strasse gegangen und habe die Papiere von Herrn O. verlangt. Aber René O. habe ihr wie in einem Anfall immer wieder den Stinkefinger gezeigt und dabei hämisch gelacht, steht im Einvernahmeprotokoll. Wie die Politesse weiter aussagte, habe sie dann den Wagen in der Lücke blockiert und deutliche Zeichen zum Anhalten gegeben. Ganz starr sei sie geworden, als der Wagen auf sie zugeschossen sei. Als sie vom Wagen getroffen worden sei, habe Herr O. ihr genau in die Augen geschaut und sei dann einfach davongebraust. Sie habe einen handtellergrossen Bluterguss am Bein davongetragen. Kaufmann René O. zeigt sich über die Anklage und den Prozess nach wie vor erstaunt. Wenn er gewusst hätte, «dass so ein Apparat» sich ein Jahr mit ihm beschäftigen würde. My God, er frage sich, ob die Justiz nichts Besseres zu tun habe. Der Richter glaubt der Politesse. Auch wenn René O. Frau P. nicht habe überfahren wollen, dürfe er sich nicht mit dem Auto den Weg freirammen. Er verurteilt René O. zu einer Geldstrafe. Deshalb sei er aber kein Krimineller, tröstet der Richter. Doch René O. sagt, offenbar beleidigt: «Jetzt fühle ich mich aber so.» *Persönliche Angaben geändert. ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 242/11


Leserbriefe «‹Das Magazin ist mir schnuppe›, dachte ich.» Nr. 241: «Bauern global – Wie Afrika in die Schweizer Alpen kam» Hochachtung Ich gratuliere zum Porträt «Verletzlich wie ein Schmetterlingsflügel». Der Text ist sehr einfühlsam verfasst. Ich habe grosse Hochachtung vor Lisa Huber. Gerade in der heutigen Zeit, wo so viel Wert auf das Äussere gelegt wird, braucht es viel Mut, zu einer Hautkrankheit zu stehen und sich so, wie frau ist, anzunehmen. Sigrid Lüber, Wädenswil Nr. 240: «Es werde Licht – Erkenntnisse der Nullerjahre» Zum Lachen Ich war zu Besuch in Zürich und erwarb eine Ausgabe des Strassenmagazins Surprise. Dachte, tust mal gutes Werk und kaufst dem in der Kälte Stehenden etwas ab. Das Magazin ist mir schnuppe, dachte ich. Und dann fing ich mit dem Lesen an, und ich muss sagen, ich bin angenehm überrascht worden. Kritische und auch ernste Themen werden erfrischend wiedergegeben. Und immer/meistens mit einer Schlusspointe,

die mich zum Lachen bringt. Dabei lache ich nicht über den Verfasser des Textes, sondern über die Suuuperreichen und Suuuperschönen und Suuuperpolitiker im Lande, welche die Autoren so geschickt aufs Korn nehmen – recht so! Georg Bernhard, Bremen Viel Mut Ich habe mich riesig über die Weihnachtsnummer gefreut. Vielen Dank für eure Arbeit und den guten Lesestoff. Alles Gute weiterhin und viel Mut im neuen Jahr. Barbara Gygli Dill, Basel Nicht veraltet Ich finde Surprise echt gut. Auch zwei, drei Wochen später sind die drin enthaltenen Artikel nicht «veraltet». Ich freue mich jedes Mal über eine Neuausgabe, und den dankbaren Blick des Verkäufers. Hedy Peer, Hünenberg See

Bilderrätsel 240 Die Gewinner Unser Postfach quoll über von der Vielzahl an Einsendungen zum Bilderrätsel in der Weihnachtsausgabe und den vielen Neujahrsglückwünschen, für die wir uns herzlich bedanken möchten – Ihnen allen ebenfalls ein gutes und erfolgreiches 2011! Gewinnen konnten jedoch leider nur drei. Hier sind sie: 1. Preis (eine Surprise-Tasche gefüllt mit Überraschungen): Walter Lentzsch, Kilchberg (ZH) 2. Preis (ein Surprise-Strandtuch): Vreni Siegfried, Thörigen (BE) 3. Preis (eine Surprise-Tasche): Murielle Scherrer, Basel

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer!

Starverkäufer Ernst Aebersold

Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch

Sandra Blatter-Genier aus Burgdorf nominiert Ernst Aebersold als Starverkäufer: «Schon frühmorgens ist er bei jedem Wetter unterwegs und oft pfeift er dabei zufrieden vor sich hin. Seit sechs Jahren kennen die Burgdorferinnen und Burgdorfer Aschi als immer gut gelaunten Verkäufer der Zeitschrift Surprise. Egal, ob er seine Hefte in der Bahnhofspassage oder in Restaurants an den Mann respektive die Frau zu bringen versucht – seine aufgestellte, liebenswürdige Art kommt überall gut an.»

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BILD: ZVG

Herzlichen Glückwunsch!

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Porträt Die Steppenwölfin Charlotte Peter hat ein aussergewöhnliches Leben lang die Welt bereist. Dieses Jahr stehen erneut China, Äthiopien, Indien und Georgien auf dem Programm der bald 87-jährigen Dame. ISABELLA SEEMANN (TEXT) UND NANDOR NAGY (BILD)

Oh, diese Männer! Nicht immer einfach waren in fernen Ländern die Begegnungen mit ihnen. Da sass sie einst im Propellerflugzeug. Tausend Meter unter ihr ein grünes Meer, das nicht zu enden schien. Kilometer um Kilometer, eine gefühlte Ewigkeit. Prompt schaltete der Buschpilot seine Maschine auf Autopilot, ging nach hinten in die Kabine und drängte sich seiner einzigen Passagierin auf. Es gab kein Entweichen. «Er meinte, der Flug über den Amazonas eigne sich auch gut für einen Quickie.» Selbstbewusst und gelassen erzählt sie von ihren Abenteuern als allein reisende Frau. Eine zarte Dame, das Haar im Pagenschnitt frisiert, ein feines Gesicht mit verschmitzten Augen, dezent gekleidet und mit Dutzenden von Armringen äthiopischer Stämme geschmückt: Das ist Charlotte Peter, promovierte Historikerin, Grand Old Lady des Reisejournalismus, 86 Jahre alt. Wer ihr begegnet, vergisst ihr Lachen nicht, und diesen hintergründigen Humor. Man braucht allerdings Glück, sie in Zürich anzutreffen. Eben noch weilte sie in Burma, schon bereitet sie sich auf die Überlandfahrt von Addis Abeba nach Nairobi vor, dann stehen dieses Jahr noch eine Bootsfahrt auf dem Ganges und eine Reise von Georgien durch Ostanatolien bis nach Istanbul auf ihrem Programm, dazwischen besucht sie «schnell» ihr Pied-à-terre in Paris, und selbstredend geht es wieder nach China, das sie schon mehr als hundert Mal bereiste. Die Weltenerforscherin erinnert sich noch gut an ihre Premiere vor genau 50 Jahren, als Mao die Tore für Touristen öffnete. Wenn sie alleine essen ging, platzierte man sie im Restaurant hinter Paravents. Ob man sie vor den Blicken Einheimischer schützen wollte oder die Einheimischen vor ihrem Anblick – sie weiss es bis heute nicht. Mittlerweile ist Peking zu ihrer zweiten Heimatstadt geworden und Chinesisch kann sie so viel, dass sie die Strassenschilder lesen kann. Sinologin wollte sie eigentlich werden, doch gab es in ihrer Jugend noch keinen Lehrstuhl an der Universität Zürich. So hat sie Geschichte und Kunstgeschichte studiert. Ihr Elternhaus war bürgerlich, der Vater, ein Ingenieur und weitgereister Mann, unterstützte seine Töchter in ihrem Wissens- und Freiheitsdrang. Nach dem Studium, kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, sagte die junge Lotte der Schweiz Adieu und schiffte in Le Havre nach Amerika ein, wo sie an der University of Kansas als Assistentin arbeitete. Das Geld für die Rückreise verdiente sie sich als Erbsenpackerin in einer Konservenfabrik. Bereits damals hielt sie alle Erlebnisse in Notizbüchern fest, von der Fahrt auf dem Frachtschiff über den Pazifik nach Japan, von ihrem Aufenthalt in Kalkutta und ihrer Zugreise zurück in die Schweiz. Seit dieser ersten Weltumrundung hat Charlotte Peter mit dem Reisen nicht mehr aufgehört. Über 100 000 Kilometer fliegt sie jährlich, fährt noch immer stundenlang auf Jeeps über Schotterpisten – und winkt allfällige Bedenken wegen Strapazen weg. Schliesslich hält das Reisen Belohnungen parat, die das Rentnerdasein nicht kennt: «Wenn man so viel reist wie ich, dann ist es, wie wenn einem Flügel wachsen.»

Ferien hat sie nie gemacht, sie ist immer nur gereist. Bereits in ihrem Beruf als Journalistin war sie ständig unterwegs, schrieb über Kultur und Mode, als Chefredaktorin bei der «Elle» und der «Annabelle» begleitete sie die Fotoshootings «around the world». Nach ihrer Pensionierung – ein Wort, das sie nur vom Hörensagen kennt – verfasste sie Reiseberichte für die «Züriwoche» und «Die Weltwoche». Mit 70 wechselte sie die Seiten, wurde Reiseorganisatorin und vermittelte ihr immenses Wissen als Reiseleiterin. Heute bietet das Reisebüro «Indo Orient Tours» Reisen unter der «kulturellen Leitung von Dr. Charlotte Peter» an und es gibt richtige Peter-Fans, die keine Tour mit ihr verpassen. Oft aber ist «der Steppenwolf», wie sie sich zuweilen selbst sieht, alleine unterwegs. Dabei begleiten sie weder Einsamkeit noch Langeweile. «Ich bin neugierig wie ein junger Hund, es gibt immer etwas zu entdecken». Geheiratet hat sie nie. Nicht aus Prinzip, es hat sich einfach nicht ergeben. «Das Leben ist kein Dessertbuffet, an dem man sich nach Belieben bedienen kann», sagt sie mit der Gleichmut eines reifen Menschen. «Und wenn ich mir die Welt anschaue, so habe ich unter den sieben Milliarden Menschen doch ein gutes Los gezogen.» Dieses Bewusstsein macht sie ausgeglichen und auch tolerant gegenüber den Unbill auf Reisen. Nur wenn ihr die «Gerneguten» vorwerfen, sie unterstütze mit ihrem Tourismus in Militärdiktaturen wie Burma das herrschende Regime, verliert die alte Dame die Contenance. «Das ist doch fertiger Blödsinn.» Durch das Wegbleiben von Touristen würde die Bevölkerung zusätzlich bestraft. Nicht nur, weil Gäste nötige Devisen brächten, sondern auch, weil die Menschen auf unzensierte Informationen von Besuchern angewiesen seien. «Geben diese Möchtegern-Menschenrechtler auch nur einem einzigen Burmesen Arbeit?», fragt sie indigniert. Auch über Besserwisser kann sie sich fürchterlich echauffieren. «Kaum haben sie ihren Fuss über die Grenze gesetzt, schulmeistern sie die Bevölkerung, wie ihr Land zu regieren sei – also nein, so geht das nicht!» Alles Missionarische ist ihr zuwider. «Ich liebe diese Welt», sagt sie, «und mit dieser Einstellung bereise ich sie.» Traumziele hat sie keine mehr, und das stimmt sie ein wenig melancholisch. Der letzte Wunsch, den sie sich erfüllt hat, war der

«Wenn man so viel reist wie ich, dann ist es, wie wenn einem Flügel wachsen.»

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Kailash, der Heilige Berg der Buddhisten in Tibet. Ihn einmal zu umwandeln, soll die Verdunkelungen eines Lebens bereinigen. Manch ein junger Spund rannte zielgerichtet den Berg hoch – und bekam den Höhenkoller. «Ohne Ehrfurcht, Glauben und Hingabe ist nichts gewonnen», erklärt Charlotte Peter, die sich dem Buddhismus verbunden fühlt. Obwohl sie unsportlich ist, schaffte sie es, den Berg auf 5000 Metern Höhe in drei Tagen zu umwandeln. «Weil ich mit der inneren Haltung einer Pilgerin ging.» Bescheiden wie ein Pilger und behutsam wie ein Liebender, das ist ihre Reisephilosophie, so will sie den Menschen begegnen. ■

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BILD: ZVG

Hier steckte Toni Briker im Mai 1982 im Schnee. Drei Tage sp채ter hilft das Milit채r beim Ausgraben der Schneefr채se.

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Lawinen «Sechs Meter lagen über mir» Jedes Jahr sterben in der Schweiz durchschnittlich 25 Menschen in Lawinen. Manche aus Leichtsinn, andere bei der Ausübung ihres Berufs. Den Urner Kantonsarbeiter Toni Briker traf es bei Räumungsarbeiten am Klausenpass. Er hat überlebt. Die Erinnerung begleitet ihn bis heute.

«Es geschah am 10. Mai 1982. Da war ich 27 Jahre alt. An Ostern hatte ich mich verlobt. An diesem 10. Mai kaufte meine Zukünftige ihr Hochzeitskleid. Ich arbeitete beim Bauamt Uri und hatte den Auftrag, mit einem Kollegen den Klausenpass zu öffnen. Auf der Schächentaler Seite gab es seinerzeit unterhalb der Passhöhe eine Notbrücke, die im Winter weggenommen wurde. Deshalb machten wir die Strasse vom Urnerboden her frei: Drei Helfer gingen voraus und steckten die Route aus. Der Maschinist Heinz Fedier räumte mit der Schneefräse die Strasse, ich arbeitete dahinter. Einer muss schauen, dass man richtig in der Spur liegt, das heisst, im Schnee mit der Sondierstange prüfen, wo der Strassenrand liegt und dem Maschinisten Anweisungen geben. Es war ein Montag mit stockdickem Nebel, keine zehn Meter Sicht. Übers Wochenende hatte es noch einmal Neuschnee gegeben. Nasser, schwerer Schnee. Kurz nach 16 Uhr brach weit oben am Berg eine Lawine los. In der Maschine laufen zwei Dieselmotoren mit je 300 Rössern. Da hörst du nichts von der Umgebung. Die Schneewände am Strassenrand waren sechs Meter hoch. Der Schwall kam wie eine grosse Welle über mich, füllte den Graben und packte mich von unten her ein, in Sekundenbruchteilen. Stehend, mitten im Schritt, eine Hand vor dem Gesicht, die andere hinter dem Rücken, ich wollte ja flüchten, hatte aber keine Chance. Nassschnee im Frühling, der ist wie Beton. Da kamen immense Kubik, Unmengen von Schnee. Sechs Meter lagen über mir.

und länger. Mir schien, es liefen Leute über mir herum. Es gab da so ein Geräusch: Wupp, wupp, wupp. Nachträglich habe ich erfahren, dass das der Sauerstoff war, der aus dem Schnee entwich, während die Masse immer kompakter wurde. Ich spürte, wie es meinen Körper zusammenpresste. Es gab nichts mehr zum Schnaufen, keine Möglichkeit zum Dehnen. Atmen konnte ich nur noch schnappend, so wie wenn man den Schluckauf hat. Dann verlor ich das Bewusstsein. Das lag am Sauerstoffmangel, Verletzungen hatte ich keine. Irgendwann beginnt dann ein Film zu laufen. Ich habe mich nie so weit in die Kindheit zurückerinnern können wie in der Lawine. Kurz vor dem Erstickungstod fängt das Hirn an abzubauen und dann läuft dieser Film. Mein Bruder hatte mir als ich keine zweijährig gewesen war, bei einem Unfall mit dem Beil den kleinen Finger abgeschlagen. Diese Geschichte kannte ich nur aus Erzählungen. In der Lawine aber war mir das präsent: Ich war dabei, wie er mir beim Holzen den Finger abhackte. Ich sah mich im Spital, wie ich den Verband abriss. Jedes Detail, das in meinem Leben etwas verändert hatte, tauchte vor mir auf: aus der Kindheit, der Schule, bis in die Zeit als Erwachsener. Am Schluss kam der Tag, an dem wir zum Klausen hochfuhren an die Stelle, wo uns die Lawine traf. Ich fand das schön, diese Klarheit, meine 27 Jahre noch einmal in Bildern zu sehen. Es vergingen gut 20 Minuten, bis sie mich fanden. Als sie bis zu mir runter gegraben hatten, liessen sie den Arzt mit der Sauerstoffflasche Kopf voran ins Loch. Die Lunge klebte bereits zusammen, doch durch den Sauerstoff riss es die Gewebefasern auseinander. Danach ging es mit dem Heli ins Spital nach Glarus. Als sie mich in die Notaufnahme schoben, kam ich das erste Mal wieder zu mir. Sie massen 17 Grad Körpertemperatur, das ist nicht mehr viel. Der Arzt meinte, ohne den stabilen Wetterhut, den ich trug, hätte ich nicht überlebt, zumindest nicht ohne bleibende Schäden. So aber hielt er mir die Kälte vom Kopf. Im Polizeirapport gibt es Bilder, auf denen erkennt man mich nicht: wie aufge-

Wenn das Herz den Schieber zumacht Die Maschine wiegt 16 Tonnen, doch sie wurde wie ein Spielzeug an die Schneewand geschoben. Die Lawine drückte die Kabine und die Fenster ein und presste Heinz Fedier in eine Ecke. Zum Glück konnte er mit einer Hand vor dem Gesicht ein Luftloch freihalten. Die Helfer weiter vorne bekamen das nicht mit, hörten aber, wie es den Motor abwürgte. Deshalb machten sie kehrt. Zuerst merkten sie nicht, dass die Lawine die Fahrrinne wieder aufgefüllt hatte. Erst als sie vor sich die geräumte Strasse sahen und Toni Briker: weit und breit keine Fräse, merkte einer: Da hinten, das ist Lawinenschnee! Einer ging run«Die Lawine erwischte mich stehend, mitten ter auf den Urnerboden, um Alarm zu schlaim Schritt, eine Hand vor dem Gesicht, die gen. Zum Glück waren wir kurz davor mit andere hinter dem Rücken.» Barryvox ausgerüstet worden, das sind Lawinensuchgeräte. Damit konnten sie uns orten. Mit den Suchstangen stiessen sie dann auf das dunsen und alle Adern stehen raus. Das ist typisch für Erstickungstod. Metall der Maschine. Heinz Fedier hatten sie relativ schnell. Er sagte: Es war haarscharf. Ohne Sauerstoff macht das Herz irgendwann den Mir geht es soweit gut, lasst mich erst mal drin, sucht den Kollegen! Schieber zu. So haben sie es mir später erzählt. Ich war unter dem Schnee. Sorgen Der Fedier Heinz und ich erholten uns sehr schnell. Nach zwei Tagen machte ich mir nicht gross. Ich dachte: Ich habe ein Barryvox, damit wurden wir aus dem Spital entlassen und auf den Urnerboden gebracht. werden sie mich finden. Jetzt will ich schauen, wie lange es dauert, bis Der Arzt sagte, wir sollten uns eine Woche lang auf 1400 Meter erholen, der Fedier Heinz mich ausgräbt. Dass es ihn in der Maschine auch erdamit sich die Lunge regenerieren könne. Ich telefonierte meiner Verwischt hatte, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Es dauerte länger SURPRISE 242/11

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BILD: ZVG

VON RETO ASCHWANDEN


Mit blossen Händen Am Donnerstag beschlossen wir, das Militär aufzubieten, das auf dem Urnerboden im Dienst war, damit sie uns helfen, die Schneefräse auszugraben. Nachdem wir den Schaden beurteilt hatten, sassen wir auf dem Urnerboden mit unseren Rettern zusammen. Ein Bauer, der bei der Rettung dabei gewesen war, zeigte mir seine Finger. Der hatte sämtliche Kuppen offen, weil er mit blossen Händen nach mir gegraben hatte. Ich sagte: Euch bin ich wirklich zu Dank verpflichtet, dass ihr mein Leben gerettet habt. Er meinte, er hätte einfach das Gefühl gehabt: Den finden wir, der ist noch da, den holen wir raus. Solche Momente gehen einem nahe! Wir haben später allerlei unternommen mit diesen Rettern – den Bauern, dem Samariterverein –, um unsere Dankbarkeit zu zeigen. Am Montag darauf flickten wir die Maschine provisorisch und brachten sie zum Laufen. Das Dach frisch geschweisst. Die Fenster fehlten halt, aber wir schafften die Passöffnung trotzdem. Anschliessend ging die Maschine in die grosse Revision. Care-Teams und professionelle Betreuung waren seinerzeit kein Thema. Nicht einmal meine Eltern waren informiert worden. Heute ist das alles tipptopp organisiert, aber damals musste ich selber schauen. Der Schock verfolgte mich lange Zeit. Wenn es hiess: Du stehst jetzt hier und beobachtest diese Gipfel und Hänge, um uns zu warnen, wenn was kommt – das ging überhaupt nicht. Wenn irgendwo etwas rumpelte, dann erstarrte ich. Da war diese Angst in mir drin. Mit Arbeitskollegen habe ich darüber gesprochen, gesagt, dass ich dieses Problem hätte, aber die wussten auch keinen Rat, fragten nur: Aber Schmerzen hast du keine? Nein, hab ich nicht. Bloss wenn es irgendwo knallt, dann bin ich blockiert, kann weder laufen noch schreien noch irgendwas. Da kommt nichts. Mit der Zeit hat das zum Glück dann gebessert. Ein Jobwechsel war nie ein Thema. Ich war 1973 zum Kanton gegangen und von Anfang an bei den Passöffnungen dabei gewesen. Ich bin jedes Mal froh, wenn der Frühling kommt, dann kann ich wieder in die Höhe. Für mich sind Passöffnungen das Schönste. Auch nach dem Unfall. Ganz ausschliessen kann man ein Unglück nie. Keine Passöffnung ist wie die andere. Schneeschmelze ist Schneeschmelze, aber der Aufbau der Schichten, die Rutschgefahr, das ist jeden Frühling verschieden. Heute werden wir geschult in der Einschätzung der Schneegefahren, das hilft. Ein Risiko bleibt immer, das kann man in der Bergwelt nie ausschliessen. Wenn die Lawine von ganz oben kommt – wie es dort oben aussieht, können wir nicht wissen. Ich schätze das Leben seither mehr, denn ich weiss, normalerweise endet so etwas tödlich. Das muss ich ganz klar sagen. Ich wurde gerettet, aber es gibt andere, die hatten weniger Glück. Wenn ich zurückblicke, bin ich sehr dankbar über meine Rettung, denn in den letzten Jahren verloren drei Arbeitskollegen, alles Familienväter, ihr Leben in den Lawinen. Der 10. Mai ist mein zweiter Geburtstag. Wir sprechen daheim in der Familie noch heute ab und zu über meinen Unfall. Die Kinder finden, diese Arbeit auf den Passstrassen wäre nichts für sie. Sie sind im Urner Reusstal aufgewachsen, also nicht direkt in den Bergen. Ich hingen bin in einer Grossfamilie mit zwölf Geschwistern auf den Eggbergen in 1450 Metern Höhe aufgewachsen, da ist man mit den Naturgewalten vertraut. Für mich ist es einfach so: Das sind unsere Berge, wir dürfen mit ihnen leben.»

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Lawinen «Eine dankbare Aufgabe» Hans-Jürg Etter hat schon manchen Verschütteten aus dem Schnee gezogen. Als Präsident der Lawinenkommission der Internationalen Kommission für alpines Rettungswesen (ICAR) und ehemaliger Chef des Parsenn Rettungsdienstes kennt er die Herausforderungen bei Lawinenrettungen.

BILD: ZVG

lobten. Die Stimmbänder waren von der Unterkühlung beschädigt, aber ein paar Worte brachte ich heraus. Da teilte sie mir mit: Entweder suchst du dir einen anderen Job oder ich heirate dich nicht. Sie hatte so eine Angst, dass ich irgendwann bei der Arbeit ums Leben komme. Sie ist Luzernerin, konnte es damals nicht nachvollziehen, dass wir in den Bergen mit diesen Gefahren leben.

INTERVIEW: RETO ASCHWANDEN

Wie läuft eine Rettungsaktion ab? Die Basis trägt so viele Informationen wie möglich zusammen: Wetter, Gefahren, Zugangswege. Sie organisiert die optimalen Such- und Rettungsmittel wie etwa Lawinenhundeteams. Vor Ort ist der Selbstschutz das Wichtigste: Drohen zum Beispiel Nachlawinen? Sobald das abgeklärt ist, organisiert man das Team, um optimale Hilfe leisten zu können. Wie gehen Sie damit um, wenn die Kollegen des Opfers mit blossen Händen graben, während Sie diese Leute eigentlich aus der Gefahrenzone evakuieren müssten? Diese Leute sind wichtig. Bei gezielten Fragen können sie gute Zeugenaussagen liefern. Man nimmt sie zur Seite, um möglichst viel über den Unfallhergang und den Verschwindepunkt zu erfahren. Hat man als Retter manchmal Angst? Nein. Einen Retter muss man eher «zurücknehmen» als «stossen». Das Helfen, Leben retten, steht im Vordergrund. Macht es einen Unterschied, ob man jemanden retten muss, der unverschuldet in die Lawine geraten ist oder ob die Person aus Leichtsinn verschüttet wurde? Suche und Rettung müssen beeinflusst sein von den Umständen: Wetter, Schnee, Lawinen. Und nicht von der Frage, ob das nun ein «Joggel» war oder einer, der einfach Pech hatte. Das Mitgefühl ist vielleicht ausgeprägter, wenn es einen Rettungskollegen trifft oder jemanden, der wirklich nichts dafür konnte. Wie schwer fällt die Verarbeitung, nachdem man Tote aus dem Schnee gezogen hat? Solange es nicht einen Kameraden oder ein Familienmitglied trifft, können die meisten damit umgehen. Die Retter stammen aus den Bergen, sie wissen um die Gefahren. Das macht sie zwar nicht unsensibel, aber emotional relativ robust. Wie oft erleben Sie Dankbarkeitsbekundungen von Geretteten? Sehr oft, sei es am Telefon oder in persönlichen Gesprächen. Das macht unsere Aufgabe zu einer dankbaren. Es ist schön, wenn man jemandem das Leben retten kann. Was raten Sie Laien, die an eine Unfallstelle geraten? Man sollte nicht blindlings Rettungsversuche starten. Ich habe selber erlebt, dass man leicht Dinge – etwa drohende Nachlawinen – übersieht, die hoch kritisch werden können. Deshalb muss man möglichst objektiv bleiben und überlegt handeln. Und immer den Selbstschutz beachten. ■

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BILD: ISTOCKPHOTO

Mikrofinanz Eine gute Idee in Misskredit Vom Wundermittel gegen die Armut zum Gift fßr die Armen – Mikrokredite erleben einen massiven Imageverlust. Doch der ist so wenig berechtigt wie die unkritischen Loblieder der letzten Jahre.

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VON STEFAN MICHEL

Er war die Lichtfigur und sein Produkt das Allheilmittel: Muhammad Yunus, der «Banker der Armen», verhalf mit seinem Mikrofinanzinstitut «Grameen Bank» Millionen Bangladeschi aus der Armut. Darlehen von wenigen Dutzend Dollar ermöglichten ihnen, ihren Marktstand auszubauen, ein paar Hühner zu kaufen oder in eine Velowerkstatt zu investieren und so der Armut zu entkommen. Da sie ihre Kredite mitsamt Zinsen zurückzahlten, finanzierte sich die Massnahme sogar selber. «Unsere Grosskinder», pflegt Muhammad Yunus zu prophezeien, «werden Armut nur noch im Museum sehen können.» Und es kam noch besser. Die Mikrofinanz wurde zum Investitionsobjekt, dessen Renditen zwar moderat waren, die Finanzkrise dafür gut überstand. Der Finanzmarkt merzt quasi im Vorbeigehen die Armut aus, glaubten einige.

lich oder mehrheitlich Kredite an neu gegründete Kleinunternehmen zu vergeben. Bei «Oikocredit», einer 1975 vom Weltkirchenrat gegründeten Genossenschaft, die in über 70 Entwicklungsländern Geld an MFI ausleiht (Stand Ende 2010: 430 Mio. Euro), gilt die strikte Regel: Keine Konsumkredite. «Damit sind wir bis heute gut gefahren. Unsere Partner haben keine Probleme mit ihren Schuldnerinnen», erklärt Elvira Wiegers, Geschäftsführerin der Schweizer Zweigstelle. Klaus Tischhauser räumt ein, dass wohl nur ein kleiner Teil dank Mikrokrediten und eines Kleinunternehmens der Armut entkommen ist. Das Ziel sei ein anderes: «Es geht darum, den Menschen Zugang zu formalen und transparenten Finanzdienstleistungen zu geben, die bisher davon ausgeschlossen waren. Mikrokredite sind nur ein Teil davon. Viel wichtiger für die Armen sind Sparkonti für kleinste Beträge oder Möglichkeiten, Geld sicher und günstig übermitteln zu können.» Er verweist auf die Vergangenheit, um zu zeigen, dass dies nach wie vor richtig sei: «Finanzdienstleistungen für Arme gab es schon immer. Bis vor kurzem wurden sie von informellen Geldverleihern erbracht. Die nahmen Hunderte bis Tausende Prozent Zins. MFI reduzieren ihn auf vielleicht 25 Prozent, machen das formal, transparent und im guten Fall mit sinkenden Zinsen.» Damit spricht er einen weiteren Streitpunkt an: die Zinsen. Die nicht subventionierten bewegen sich zwischen 20 und 50 Prozent im Jahr. Was in der Schweiz als Wucher gälte, erklärt sich durch die hohen Kosten, die es verursacht, Menschen kleinste Beträge auszuleihen, wöchentlich Raten einzuziehen und sie zu beraten, wie sie ihren Kredit am sinnvollsten einsetzen. Dass die hohen Zinsen auch Geschäftsleute angelockt haben, denen es weniger um den Geldbeutel der Armen als um ihren eigenen geht, lässt sich in Bangladesch und Andhra Pradesh allerdings nicht mehr wegdiskutieren. Die Geschäftemacher beschränken sich darauf, möglichst viele Kredite zu verkaufen und diese dann mit rüden Methoden wieder einzutreiben. Wer nicht mehr zahlen kann, wird

Tödliches Wundermittel Misstrauen weckten allenfalls Mikrofinanzinstitute (MFI), die so gross wurden, dass sie den Gang an die Börse wagten wie die mexikanische «Banco Compartamos» 2007 und die indische «SKS Microfinance» 2009. Derweil wuchs die Summe der Darlehen unablässig weiter, in der ganzen Welt verleihen Tausende Institute Geld an Arme, die bis vor kurzem nicht kreditwürdig waren. Dass vor allem Frauen Kredit erhalten, macht die Geschichte noch schöner. Aber sind das wirklich alles erfolgreiche Kleinunternehmerinnen? Und kann es gut gehen, wenn profitorientierte Investoren Anteile und Einfluss an einem Unternehmen kaufen, deren Ausrichtung eine soziale ist? Im vergangenen Jahr häuften sich schlechte Nachrichten. Aus Andhra Pradesh, einem indischen Gliedstaat mit 76 Millionen Einwohnern und einer der höchsten Dichten an MFI weltweit, wurde eine Selbstmordwelle überschuldeter Bauern gemeldet – nicht die erste. Auch in Bangladesch stieg die Anzahl Zahlungsunfähiger. In Andhra Pradesh hat die Provinzregierung mit einem Gesetz reagiert, das die Vergabe und Rückzah«Wer das Geld nicht für Wertschöpfung nutzt, sondern für den lung kleiner Darlehen innert Kürze zum StillKonsum, den macht ein Kredit nicht reicher, sondern ärmer.» stand brachte. So mussten sich alle Mikrofinanzinstitute registrieren, bevor sie weiter mit gedrängt, das alte Darlehen durch ein neues bei einem anderen Institut Frauengruppen zusammenarbeiten durften. Es mag erstaunen, dass bis abzulösen. In dieser Schuldenspirale befinden sich die Menschen, die dahin ohne Registrierung Geld verliehen werden durfte, aber so ist die nun die Schreckensnachrichten aus der Mikrofinanz dominieren. Realität im 1,2-Milliarden-Schwellenland Indien. Der Schluss liegt nahe, dass das ursprünglich wohltätig angelegte Mit Schaufel und Peitsche Mikrokreditwesen durch profitorientierte Investoren korrumpiert worDass die Mikrokreditgeber überhaupt so viel Geld zur Verfügung hatden ist. Der deutsche Journalist und Buchautor Gerhard Klas hält gar ten, liegt laut von Stauffenberg und Tischhauser nicht an internationadas ganze Prinzip der Minidarlehen als wirksames Mittel gegen die Arlen Mikrokreditfonds, sondern an Staaten und Spendern, die immer mut für eine Illusion (siehe Interview). Anders Klaus Tischhauser. Der mehr Geld in den Sektor pumpen. «ResponsAbility» stoppte im letzten Gründer von «ResponsAbility» – gemäss Selbstbeschreibung eine der halben Jahr den Verkauf von Fondsanteilen, weil nicht mehr genügend gröss-ten Vermögensverwaltungsfirmen im Bereich sozialer InvestitioInvestitionsmöglichkeiten von guter Qualität vorhanden waren. Von nen (Volumen Mikrofinanzfonds Ende 2010: 805 Mio. US Dollar) – sieht Stauffenberg beschreibt: «Während die MFI auf die Bremse traten, weil die Krise in Andhra Pradesh und anderen Gebieten als Begleiterscheisie weniger Geld brauchten, verkündete die Kreditanstalt für Wiedernung des Erfolgs der Mikrofinanz. aufbau (deutsche staatliche Entwicklungsbank, die Red.), dass sie ihre Der mediale Aufschrei ist die logische Konsequenz aus den unkritiKredite an MFI von 720 Millionen auf 2,2 Milliarden Euro erhöht habe.» schen Lobliedern, welche die gleichen Medien verbreiteten, die nun den Tischhauser doppelt nach: Spendengelder und staatliche Subventionen zumindest moralischen Bankrott der grossen Idee verkünden. Dazu bedeuten für die Mikrokreditgeber billigeres Geld, als jenes, das sie von gehören auch falsche Vorstellungen dessen, was Mikrokredite leisten Banken erhalten. Das hat in mehreren Ländern zu einem Wirrwarr an können und was nicht. Akteuren geführt, die ihr Geschäft nicht im Griff haben und noch dazu die guten Institutionen zwingen, ebenfalls aggressiver auf die Kunden Den Ärmsten nützen Kredite nichts zuzugehen.» Dass Mikrokredite den Ärmsten der Armen helfen, stimmte von AnDer springende Punkt ist die Regulierung. Die sei in Andhra Pradesh fang an nicht. Sie nützen nur jenen, die sie in ein Geschäft investieren, besonders schlecht, findet Tischhauser. Als positives Beispiel führt er am besten in eines, das bereits läuft und ausbaufähig ist. Damian von Bolivien und Peru an, wo staatliche Behörden mit ihren Richtlinien zu Stauffenberg bewertet mit seiner Firma Microrate seit 1996 MFI. Für ihn einer nachhaltigen Entwicklung des Mikrofinanzsektors beitragen. Dass steht fest: «Wer das Geld nicht für die Wertschöpfung nutzt, sondern für gewinnorientierte Investoren die Mikrofinanz als neues Eldorado entden Konsum, den macht ein Kredit nicht reicher, sondern ärmer.» Hindeckt haben und durch den Kauf von Anteilen den Wettbewerb verzu kommt, dass es für den Kreditgeber viel zu riskant ist, ausschliess-

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schärfen, lässt Tischhauser nicht gelten. «Dafür sind unsere Renditen zu gering und für schnelles Kaufen und Verkaufen eignen sich unsere Fonds nicht.» Dass sich Mikrofinanzinstitute auf dem Geldmarkt mit Kapital eindecken, hält er für richtig. «Die Mikrofinanz muss ein normales Geschäft werden.» Dass trotz stellenweise überbordenden Wettbewerbs auch für staatliche Akteure viel zu tun bleibt, betont Peter Tschumi von der Deza: «2,7 Milliarden Menschen sind noch immer von formalen Finanzdienstleistungen ausgeschlossen und bezahlen für informelle viel zu viel.» Die Deza setzt bescheidene zehn Millionen Franken pro Jahr in der Finanzsektorentwicklung ein. «Das liegt daran, dass wir kaum noch Institutionen finanzieren, sondern vor allem Know-how einbringen und mithelfen, neue Finanzprodukte für Arme zu entwickeln.»

Letztlich kann es nicht funktionieren, Mikrokredite mit der Schaufel zu verteilen und dann mit der Peitsche einzutreiben. Hier gleicht die Situation in Andhra Pradesh und Bangladesch der Hypothekenkrise in den USA. Die Kunst wird auch an den Schauplätzen der Mikrokreditkrise darin bestehen, den Markt von den unseriösen Anbietern zu säubern. Wird dereinst wirklich nur noch an Arme Geld verliehen, die dieses zukunftsträchtig in ihr kleines Geschäft investieren, dann werden spektakuläre Wachstumsraten nicht mehr möglich sein. Trotzdem wird dem Mikrofinanzmarkt das Geld so schnell nicht ausgehen. Wie man die traditionellen Wucherer davon abhalten will, jene zu bedienen, die von Mikrokreditinstituten kein Geld erhalten, ist eine andere Frage.

Mikrofinanz «Die Blase wird platzen»

BILD: ZVG

Seit der deutsche Journalist Gerhard Klas in Indien und Bangladesch recherchierte, ist er überzeugt: Mikrokredite stossen viele Arme noch tiefer ins Elend. Dieses Jahr erscheint sein Buch «Die Mikro-Finanzindustrie. Die grosse Illusion oder das Geschäft mit der Armut». INTERVIEW: STEFAN MICHEL

Herr Klas, Sie sagen, Mikrokredite funktionieren nicht. Wieso? Die Kreditgeber gehen davon aus, dass für die Kreditnehmer alles gleich bleibt: die Umwelt, der Gesundheitszustand, die Marktbedingungen. Aber das ist völlig unrealistisch. In Bangladesch ereignen sich oft Naturkatastrophen. Laut Wirtschaftswissenschaftlern aus Bangladesch, die im Westen allerdings mehrheitlich ignoriert werden, schaffen es fünf bis zehn Prozent, dank Mikrokrediten der Armut zu entkommen. Lange wurde berichtet, Mikrokredite seien eine Erfolgsgeschichte im Kampf gegen die Armut. Es ist immer eine Frage der Perspektive, und das gilt auch für die meisten Studien, die bisher zum Thema erschienen sind: 80 Prozent der Studien schauen in erster Linie, ob die Frauen zurückzahlen oder nicht. Wenn der Rubel rollt, ist es ein Erfolg, wenn nicht, dann nicht.

Es wird immer so dargestellt, als würde ein Angestellter eines Mikrokreditinstituts zu einer weit entfernt lebenden Frau gehen. Dabei kassieren sie in den Dörfern auf wöchentlichen Versammlungen bei über 50 Frauen das Geld ab. Setzt man die Zahl der Grameen-Beschäftigten mit der der Kreditnehmerinnen ins Verhältnis, ist jeder der meist männlichen Geldeintreiber für etwa sieben bis acht Versammlungen zuständig. So gross ist ihr Aufwand nicht. Welchen Einfluss haben profitorientierte Investoren auf das Mikrokreditwesen? Es gibt Mikrokredit-Fonds, die eine Rendite von zwölf Prozent versprechen – das ist einfach aberwitzig! Das Finanzkapital ist immer auf der Suche nach neuen Anlagemöglichkeiten. Die Mikrokredite erschienen als eine lukrative Alternative. Zumindest bis zur Krise in Indien. Da sind Milliarden investiert worden. Der Börsengang von der indischen «SKS Microfinace» hat auf einen Schlag 350 Millionen Dollar eingespielt. Trägt das dazu bei, dass sich Leute überschulden? Ohne permanentes Wachstum funktionieren Mikrokredite genau so we-

Wenn die Kreditnehmerinnen ihre Raten «Es gibt Mikrokredit-Fonds, die eine Rendite von zwölf nicht mehr bezahlen können, geht doch Prozent versprechen – das ist einfach aberwitzig!» auch für den Kreditgeber die Rechnung nicht mehr auf. nig wie jeder andere Bereich der kapitalistischen Wirtschaft. Diese VorBis zur Pleite ist es ein langer Weg: Viele Anbieter bieten zahlungsunstellung des unendlichen Wachstums ist nicht nur mit der Finanzkrise fähigen Gläubigerinnen zunächst neue Kredite an und fordern sie auf, infrage gestellt worden, sondern auch durch die ökologischen Probleme, ihr bisschen Hab und Gut zu verkaufen: Ein kleines Stück Land, ihr mit denen die Menschheit heute konfrontiert ist. Kochgeschirr, ihre Nutztiere. In Bangladesch gibt es ausserdem mehrere Tausend Institute und die Frauen nehmen dort neue Kredite auf, um Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie generell nicht an das ihre alten abzulösen. Mittlerweile sind in Bangladesch 70 Prozent der 30 Konzept der freien Marktwirtschaft und des Wachstums glauben? Millionen Kreditnehmerinnen bei mehr als einer Institution verschuldet. Ich denke, es ist allerhöchste Zeit, über Alternativen nachzudenken. ■ Diese Blase wird irgendwann platzen. Die Zinsen für Mikrokredite sind hoch. Die Finanzinstitutionen begründen das damit, dass es verhältnismässig teuer sei, so kleine Kredite zu vergeben. SURPRISE 242/11

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SURPRISE 242/11 BILD: MARCEL STUDER


Emilie Lieberherr «Ich will unabhängig bleiben» Mit Emilie Lieberherr (14. Oktober 1924 – 3. Januar 2011) starb ein Stück Schweizer Sozialgeschichte. Zur Erinnerung an eine kämpferische Frau, die sich im Einsatz für Gerechtigkeit auch nicht vor Streit mit der eigenen Partei scheute, präsentieren wir einen Rückblick auf ein volles Leben in Emilie Lieberherrs eigenen Worten. VON SUSANNA SCHWAGER

Ich wurde in Erstfeld geboren, zusammen mit zwei Schwestern. Ich bin die mittlere, bekam auch zwei viel ältere Stiefbrüder aus der ersten Ehe meines Vaters. Das Temperament habe ich eindeutig von der italienischen Mutter, obwohl sie eine zurückhaltende Frau war. Den harten Kopf hab ich vom Nonno. Die Toggenburger sind eher ruhigere Typen, das bin ich weniger. Ich war immer lebhaft und laut, schon in der Schule. Ich habe sehr gern gelernt, viel gelesen und darüber debattiert. Ich war ein wenig die Spezielle in der Familie. In der zweiten Klasse las ich bereits regelmässig die Zeitung, am liebsten die Fortsetzungsromane und die Gerichtsberichte. Und wegen dieser Gerichtsberichte wurde ich später, was ich wurde. Sie sensibilisierten mich für die Angelegenheiten der Frauen. Jedenfalls fiel mir schon als Kind auf, dass die Frauen praktisch immer benachteiligt waren in den Gerichtsurteilen. Ich konnte das nicht verstehen, und erklären konnte mir das auch niemand. Es störte mich wahnsinnig. Das sagte ich auch laut in der Schule, ich konnte schlecht aufs Maul hocken. Die Mamme sagte oft zu uns: «Meine lieben Töchter, ihr müsst alle Schneiderinnen werden. Wenn ihr verheiratet seid, könnt ihr eine Familie haben, zu den Kindern schauen und trotzdem nähen.» Frauen konnten, ausser Schneiderin oder etwas Ähnliches, nichts lernen. Von den Mädchen hiess es, «die heiraten ja, dann sind sie versorgt». Dieses Wort «versorgt» blieb bei mir hängen, das gefiel mir nicht. Meine ältere Schwester wurde brav Schneiderin. Aber ich sagte zur Mutter: «Mamme, du bist eine gute Schneiderin. Und die Theres ist auch eine gute Schneiderin. Aber ich werde nicht Schneiderin. Ich will zur Schule gehen, ich will studieren.» Es gab im Kanton Uri allerdings kein Gymnasium für Mädchen. Aber wir hatten ein katholisches Frauenkloster in Ingenbohl. Und diese wunderbaren Schwestern führten ein Gymnasium. Dort durfte ich als externe Schülerin lernen, obwohl ich Protestantin war wie der Vater. Ich habe den Nonnen sehr viel zu verdanken. Der Krieg lag schwer in der Luft während dieser Zeit. Und ich schwang eine freche Röhre in der Schule, auf der Strasse und bei Bekannten, gegen diesen Sauhitler. 1940, mitten im Krieg, starb mein Vater. Die ganze Situation war für meine Mutter unerträglich schwer, auch wirtschaftlich. Ich sagte zu ihr: «Jetzt gehe ich ein wenig schaffen, richtig arbeiten. Ich will wissen, wie das ist.» Ich war sechzehn und noch in der Handelsschule. In den langen Ferien meldete ich mich bei der Korrespondenzabteilung der Schweizerischen Bankgesellschaft in Zürich. Der Personalchef, Keller hiess er, sagte: «Fräulein Lieberherr, Sie können ausnahmsweise ein paar Wochen kommen. Aber bezahlen können wir Ihnen nichts.» Ich tippte aber so gerne und wie verrückt auf der Schreibmaschine, dass mir der Herr Keller am Schluss ein Fünfzigernötli in die Hand drückte. Ich kaufte vom Nötli beim Sprüngli für die Mutter ein Törtli und mir ein lang ersehntes Paar Lederstiefel von Löw. Sehr stolz fuhr ich damit heim nach Erstfeld und machte ein Jahr später mein Diplom bei den Schwestern in Ingenbohl.

Danach meldete ich mich mit dem Zeugnis wieder bei den Bankgesellen an der Bahnhofstrasse. Und siehe da, sie nahmen mich. Weil ich so gute Noten hätte und eine kämpferische Natur sei. Der Herr Keller sagte: «Fräulein Lieberherr, ich habe Ihnen sogar einen sehr interessanten Posten. Unser Generaldirektor hat soeben eine Nationalökonomin aus Bern eingestellt.» Und so wurde ich also mit 17 Jahren die Sekretärin von Frau Dr. Dora Schmidt, mit eigenem Büro an der Bahnhofstrasse. Das war ein Meilenstein in meinem Leben. Diese Baslerin prägte mich sehr. Dora Schmidt war eine wichtige Frau in der Schweiz damals, eine Frauenstimmrechtskämpferin, die Begründerin der Berufs- und Geschäftsfrauenvereinigung und der Akademikerinnenvereinigung. Endlich, am 8. Mai 1945, war der Krieg zu Ende. Der Bankdirektor Richner schickte die Dora Schmidt nach Amerika, nach Washington, um wegen den jüdischen Geldern auf den Schweizer Banken zu verhandeln. Bevor sie abreiste, sagte sie zu mir: «Emilie, jetzt gehen Sie zurück nach Ingenbohl und machen noch die Wirtschaftsmatura. Damit Sie so bald als möglich studieren können. Sie müssen eine Kämpferin werden für die Rechte der Frauen. Werden Sie meine Nachfolgerin!» Nach zwei Jahren hatte ich die Matura. Die Politik habe ich nicht beim Studieren gelernt, sondern über das Verkaufen. Politik hat sehr viel mit Psychologie zu tun. Ich machte eine Ausbildung zur Verkaufstrainerin, weil ich Geld verdienen musste, um studieren zu können. Mein ganzes Studium bezahlte ich selber. Dann bekam ich eine Stelle als Verkaufstrainerin bei Oskar Weber. Ich hatte schon als Kind gern Lehrerin gespielt, und jetzt unterrichtete ich also Verkäuferinnen. Nach drei Jahren als Lehrerin in Bern war es aber endlich an der Zeit, mich zu immatrikulieren. Juristin wollte ich werden, die Frauen vertreten in der Gerichtsbarkeit, wo sie so benachteiligt waren. Aber die Universität von Bern teilte mir mit, meine kantonale Matura werde nicht anerkannt. Das fand ich seltsam, weil männliche Bekannte von mir, die am Kollegium in Schwyz die gleiche kantonale Matura gemacht hatten, problemlos in Bern Jurisprudenz studierten. Ich studierte also Pädagogik und Ökonomie und promovierte in Politikwissenschaften. Bevor ich irgendetwas anderes wollte, wollte ich nach Amerika. Amerika war ein Traum, das Land, das Europa die Freiheit wiedergebracht hatte nach dieser bösen Zeit. Ich fuhr mit dem Schiff nach New York, mit der «Liberté». Sieben Tage dauerte das, wunderschön. Seekrank

«Auf den Buttons stand ‹Elvis Presley›. Ich dachte, das sei ein Präsidentschaftskanditat.»

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wurde ich überhaupt nicht, man darf nur keine Eier essen. In New York nahm mich die Frau Rutishauser in Empfang, war das ein Hallo. Die Mini! Mit der Mini Rutishauser wohne ich auch hier im Bauernhaus. Ich kenne sie jetzt seit über 50 Jahren, die Frau Rutishauser. Komisch, es kommt mir überhaupt nicht so lange vor. Die Mini war schon eine Weile drüben und hatte mir immer geschrieben und geschwärmt, wie toll dieses Amerika sei. Sie war Au-pair bei einem Bankier. Wir schlender-

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ten zusammen durch die Hauptstrasse von Manhattan, den Broadway. Überall sah man Buttons, das fiel mir sofort auf. «Elvis Presley» stand darauf, und ich dachte, das sei ein Präsidentschaftskandidat. Die Mini lachte mich ein bisschen aus. Im Kanton Uri kannte man den nicht, man hatte eher Ländlermusik, und ich war ja im Handorgelklub. Als wir nach einer Rundreise mit den Greyhounds, diesen silbernen Bussen, zurückkamen nach New York, war ich vollkommen blank. Ich musste wie der Blitz eine Möglichkeit finden, Geld zu verdienen. Da sagte die Frau Rutishauser: «Losmal, wenn du in ein Büro gehst, verdienst du fast nichts. Du bist doch ein guter Teacher, du kannst auch gut Französisch. Wenn du in eine vornehme Familie gingest, als French Speaking Governess, dann würdest du auf Händen getragen. Und bekämst auch noch Geld dafür.» Sie vermittelte mir auch einen Job, bei einer Familie Fonda. Diese Fondas suchten jemanden, der gut Französisch konnte, für die Kinder. Für die Jane, den Peter und die kleine Amy, die man gerade adoptiert hatte. Ich war nicht so begeistert, aber die Frau Rutishauser liess nicht locker und kam dann mit mir. Die kleine Amy war schon im Bett, als ich hereinkam, und ich sagte zu ihr: «Bonsoir, Amy, comment ça va?» Da strahlte sie sofort. Und auch die Mrs. Fonda strahlte, ich glaube, es war Henrys dritte Frau, und sagte zu mir: «Alright, Emily, Sie passen mir sehr. Holen Sie Ihre Koffer und fangen Sie an.» Es ging bestens. Ich segelte mit denen um die halbe Welt und blieb ein ganzes Jahr. Die Mama war gar nicht glücklich, dass ich so lange so weit weg war und in solcher Gesellschaft. Im Siebenundfünfzig ging ich dann zurück. Die Frau Rutishauser wollte eigentlich für immer bleiben, aber mit der Zeit kam sie doch nach. Ich liess mich in Zürich nieder, eigentlich zufällig. In erster Linie, weil es direkte Zugsverbindungen nach Erstfeld gab. Ich mietete eine Wohnung an der Universitätsstrasse und trat eine Stelle an der Gewerbeschule an, unterrichtete die Verkäuferinnen. Aber meine gesamte Freizeit widmete ich dem Kampf für das Frauenstimmrecht. Ich hielt überall Reden zu diesem Thema, gründete das Konsumentinnenforum und die Zeitschrift «Prüf mit», mit anderen natürlich. Wir hatten sogar eine Sendung im Radio über Konsumentenfragen, und im Fernsehen war ich eine der ersten Frauen, die mit Politikern stritt. Diese Arbeit für die Frauenrechte und den besseren Schutz der Konsumenten war meine ganze Leidenschaft. Ich ging völlig auf darin. Auch Lehrerin war ich mit Haut und Haar. Aber nicht so eine, die sagte, mit den Schülern muss man vor allem ganz lieb sein. Das war nicht mein Stil, ich forderte etwas. Die Schüler sollten vor mir Respekt haben, und sie durften auch von mir Respekt erwarten. Fertig. Ich habe den Schülern nie Du gesagt und sie mir auch nicht. Es gab natürlich etliche Kollegen, die rumexperimentierten in diesen Zeiten, aber ich machte das nicht. Die Rollen müssen klar sein. Ich kam auch im Achtundsechzig gut über die Runden mit meinen Schülern. Ich sagte ihnen: «Losed, geht da nicht Mais machen auf der Strasse. Geht nicht an diese Demonstrationen, das schadet euch nur! Diese Studenten machen den Radau für sich und nicht für die kleinen Verkäufer, das könnt ihr grad vergessen.» Und so ist es doch. Karriere haben die Leuenbergers und die Leuteneggers gemacht, nicht Verkäuferinnen aus der Gewerbeschule. Ein Jahr später, muss ich gestehen, ging ich selber an eine Demo, und zwar an vorderster Front. Ich führte den Marsch nach Bern an. 5000 Leute an einer Demonstration, das war wahnsinnig viel in jenen Jahren. In Bern oben schimpfte ich auf dem Podium vor dem Bundeshaus und hielt eine Brandrede. Und dann, endlich, nach so vielen Anläufen, kam 1971 das Frauenstimmrecht. Die Stimmung änderte sich, und die Parteien begannen urplötzlich, sich für Frauen zu interessieren. Frauen zu portieren, wurde auf einmal chic. Eines Tages klopften sie an meine Tür, Leute von den Sozialdemokraten. Sie hätten eine Geheimsitzung in Altstetten, ob ich nicht kommen könnte. Ich war ja immer ein neugieriger Mensch und ging an diese Sitzung. Da kam der Schütz Otti, ein kleiner dicker Gewerkschafter,

auf mich zu, schüttelte mir lange die Hand und sagte: «Frau Lieberherr. Man kennt Sie aus Radio und Fernsehen als gute Rednerin. Kandidieren Sie für uns in Zürich, als Stadträtin!» Ich war schon ein wenig von den Socken. Ich stand auf und hielt meine erste Rede vor der SP. «Meine Herrn, ich bedanke mich für diese Ehre. Aber ich bin leidenschaftlich gerne Lehrerin. Ich will gar kein Amt. Etwas vom Wichtigsten im Leben ist mir die Freiheit. Ich will denken und sagen können, was ich will. Ich will unabhängig bleiben.» Da sagte der Otti: «Das können Sie doch trotzdem. Wir würden Sie auch als Parteiunabhängige portieren. Überlegen Sie es sich.» Ich ging nach Hause und hatte wirklich nachzudenken. Zu der Zeit war gerade meine Mutter gestorben, und die Frau Rutishauser sagte zu mir: «Mach das doch. Das lenkt dich ab, das wird dir guttun.

«Man warf mir vor, ich sei keine richtige Büezerin.»

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Aber nicht als Parteilose, das verstehen die Leute nicht. Wenn du mitmachst, dann mit allem Pipapo.» Und so machte ich das und wurde die erste Stadträtin von Zürich. Wenn ich etwas mache, dann glaube ich ganz und gar daran, sonst mache ich es nicht. Von dem Moment an war es mit meiner Ruhe dahin. 24 Jahre blieb ich im Amt, Vorsteherin vom Sozialamt. Danach wurde ich noch ins Bundeshaus gewählt, als Ständerätin. Und dann warf mich die Partei wieder hinaus. Weil ich nie aufs Maul hocken wollte. Ich hatte von Anfang an in vielem das Heu nicht auf der gleichen Bühne wie die SP. Das ging nicht. Ich muss aber offen gestehen, dass ich schon lange gehofft hatte, sie würden mich hinauswerfen, dass ich es geradezu provozierte. Und so war es dann. Man warf mir vor, ich sei keine richtige Büezerin, keine richtige Arbeiterin aus dem Volk. Und sowieso hätte ich zu wenig Parteitreue. Ausgerechnet diese Akademikersöhne warfen mir das vor, in einem Ausschlussverfahren. Ein bisschen bedrückend war das also. Alles verändert sich. Auch die Partei veränderte sich von Grund auf, kolossal veränderte die sich. Die Sozis sind nämlich keine Pöstler und Eisenbähnler mehr, leider. Sozialvorsteherin war ich aber fürs Leben gern. Es war eine verrückte Zeit und auch eine schöne Zeit. Ich sah meine Lebensaufgabe immer im Kämpfen für das, was recht ist. Möglichst ohne zu verbiestern, man muss doch auch lachen können über sich und die anderen. Im Herzen behielt ich die Eisenbahner am Gotthard. Und wissen Sie was? Jetzt bin ich alt und wieder frei. Das ist doch super! ■ Dieser Text ist eine stark gekürzte Fassung eines Porträts aus dem Buch von Susanna Schwager «Das volle Leben» (siehe Kasten) und erscheint mit freundlicher Genehmigung des Wörterseh-Verlags. Susanna Schwager, geboren 1959, war Lektorin beim Diogenes Verlag sowie Journalistin. Die zwei nach Geschlechtern getrennten Bände «Das volle Leben» mit Lebenserinnerungen alter Menschen wurden ebenso zu Bestsellern wie jüngst «Ida. Eine Liebesgeschichte».

Buchaktion für Surprise-Leser: Susanna Schwager Das volle Leben – Frauen über achtzig erzählen, 264 Seiten, gebunden, mit Fotos von Marcel Studer, Fr. 29.90 (statt Fr. 39.90) inkl. Porto und Versandkosten. Bestellen per E-Mail bei: bestellung@woerterseh.ch SURPRISE 242/11


Integration Die Waldarbeiter Seit acht Jahren verwirklichen ein Arbeitsagoge und sein Team, was anderen unmöglich scheint: Sie verbringen den ganzen Tag mit Schwerstbehinderten im Wald und arbeiten. VON JULIA KONSTANTINIDIS (TEXT) UND CHRISTIAN FLIERL (BILDER)

Die Fahrt zum Waldplatz führt zunächst über die Landstrasse von Basel weg, Richtung Aesch im Baselbiet, und dann den Hang hinauf, durch Pfeffingen, zum Wald. Bald ist die Strasse nur noch ein schneebedeckter, schmaler Waldweg. Doch zwei Minibusse hindert das nicht daran, immer tiefer in den Wald hineinzufahren. Ihre Passagiere: Zwölf Waldarbeiter auf dem Weg zu einem weiteren Arbeitstag unter freiem Himmel – trotz Minustemperaturen und Pulverschnee. An einer Weggabelung halten die Busse an und die Männer in orangener Arbeitskleidung klettern aus den Autos. Sie laden Schaufeln, Pickel und Proviant aus und gehen einen abfallenden Weg hinunter zu einem alten Steinbruch, dessen Halbrund sie in mühe- und liebevoller Handarbeit zu ihrem Waldplatz ausgebaut haben: Um eine grosse Feuerstelle herum sind Sitzbänke aus Baumstämmen aufgebaut, ein Lehmofen ragt fast orgaSURPRISE 242/11

nisch an der Wand des alten Steinbruchs hervor, ein grüner Bauwagen dient als Materialdepot und ist der einzige wettergeschützte Ort am Platz. Zwei Tische und ein paar Stühle stehen da, unter Planen geschützt lagert Brennholz für das Feuer. Fabian, ein Brocken von Mann mit sanften blauen Augen, übernimmt heute den Küchendienst. Mit ihm bleiben Hansjörg und Rodrigo am Platz, die anderen werden sich in Kürze an einer anderen Stelle im Wald an die Arbeit machen. «Wenn es Probleme gibt, ruf an», mahnt Andreas. Beruhigende Arbeit Andreas ist der Hauptverantwortliche für die Gruppe und weiss, dass es Probleme geben kann: Seine Mitarbeiter sind schwerst mehrfachbehindert, einige hören und sprechen nicht, andere hören, sprechen aber nicht, und einige von ihnen weisen autistische Behinderungsformen auf. Andreas Fink, wie der Mann mit vollem Namen heisst, ist Sozial-

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pädagoge und Aggressionsberater und leitet das Tageszentrum Klosterfiechten, eine Einrichtung des Kantons Basel-Stadt zur Förderung und Beschäftigung von erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung. «Die Kommunikation dieser Menschen ist stark eingeschränkt, Aggressionen gegen sich selber oder gegen andere sind relativ häufig», weiss der Fachmann. Im Tageszentrum, wo sich das Programm grösstenteils in geschlossenen Räumen abspielt, gebe es deswegen immer wieder Konfliktsituationen. Zu eng sind die Räumlichkeiten für einige Benutzer, die oft viel Platz für sich brauchen und Nähe nicht gut aushalten. Schreie oder Anfälle mit Schlägen sorgen im Tageszentrum schnell für Unruhe im Betrieb. Die Aggressionen und Energien in verträgliche Bahnen ab- und umzuleiten, ist eine der anspruchsvollen Aufgaben, welche die Betreuer im Zentrum zu erledigen haben. Bei der Beschäftigung im Garten des Tageszentrums fiel Andreas Fink vor rund acht Jahren auf, dass die körperliche Arbeit draussen einigen Besuchern sehr entgegenkam, dass sie dadurch ruhiger wurden. Nach dem Vorbild der Waldkindergärten erarbeitete er deshalb ein Pilotprojekt, das vorsah, mit ausgewählten Besuchern seiner Einrichtung ganze Tage im Wald zu verbringen und zu arbeiten. Er vereinbarte mit den Förstern des Kantons Basel-Stadt und der Baselbieter Gemeinden Münchenstein und Aesch, dass er und seine Leute leichte Waldarbeiten für sie übernehmen: Fallholz einsammeln, die Regenrinnen der Wander- und Velowege frei halten, das Ausbessern der Wege, das Schneiden des Unterholzes. Mit drei Teilnehmern am Pilotprojekt fing Fink an, unterdessen ist daraus ein festes Angebot geworden, das 29 Personen in Anspruch nehmen. Dass es alles Männer sind, sei Zufall, vielleicht behage den Frauen die schwere körperliche Arbeit nicht. Am Freitag, an dem jeweils ein «Waldwahrnehmungstag» mit leichterem Programm stattfindet, sind aber zwei Frauen als Teilnehmerinnen dabei.

fünf Waldarbeiter, verteilen sich noch einmal auf die zwei Minibusse. Nach kurzer Fahrt ist das Wegstück erreicht, das an diesem Morgen bearbeitet werden muss: Unter der Schneedecke sammeln sich in den Regenabläufen Laub und kleineres Geäst. Mit Pickeln und Schaufeln müssen die Abläufe gesäubert und wieder frei gelegt werden, damit der Weg beim nächsten Regen nicht unterspült wird. Die Gruppe teilt sich auf, die einen arbeiten sich von unten den Weg hinauf, die anderen von oben herab. Andreas Fink und Praktikant Luca arbeiten zusammen mit Daniel und Peter. Daniel ist um die Vierzig, mit der Gestalt eines Buben. Er, der nicht spricht, packt seine Begleiter immer wieder mit schelmischem Lachen an den Händen und zieht sie weg, als wolle er ihnen etwas Wichtiges zeigen. Daniel ist einmal in der Woche als Waldarbeiter unterwegs: «Er arbeitet nicht so gerne im Wald, sondern hilft lieber beim Kochen», erzählt Luca, während er Daniel eine Schaufel in die Hand drückt. Daniel macht einige Schaufelversuche und reicht das Werkzeug dann wieder an Luca zurück. Dieser schaufelt noch schnell die Rinne aus, dann gehts weiter, aufwärts, wo Andreas mit Peter am Werk ist. Dieser spricht zwar, aber nur wenig. Unvermittelt

Am Waldplatz haben sie einen Unterschlupf eingerichtet. Einer Höhle nicht unähnlich.

Eine Höhle für Rodrigo Auf dem Waldplatz ist auch der letzte der Waldarbeiter angekommen. Rodrigo hat eine schlechte Phase und kann momentan nicht mit den anderen zusammen sein. Er ist gegen sich selber, aber auch gegen andere aggressiv. Um ihn zu beruhigen, steigt jeweils ein Betreuer mit ihm etwas früher aus dem Bus und geht zu Fuss weiter. Der Marsch von einer Stunde tut dem jungen Mann gut. Am Waldplatz haben sie für Rodrigo einen Rückzugsort eingerichtet. Ein Unterschlupf aus Ästen und Laub, mit einer Plane gedeckt, einer Höhle nicht unähnlich. Braucht Rodrigo Abschottung, zieht er sich dorthin zurück und der Weg wird für die anderen Waldarbeiter mit einer Barriere aus Ästen abgesperrt. An der Feuerstelle markieren zwei Baumstämme den Bereich, den die Gruppe für Rodrigo frei hält und den sonst niemand betreten sollte. So soll dem jungen Mann die Rückkehr in die Gemeinschaft erleichtert werden, ohne ihn mit zu grosser Nähe zu bedrohen. Hansjörg ist Mitte 50 und der älteste der Waldarbeiter. An diesem kalten Wintertag darf er beim Kochen helfen. Mit überschlagenen Beinen sitzt er an der Feuerstelle und wartet in sich gekehrt, scheinbar auf den Beginn der Kochvorbereitungen. Roy, mit 23 der jüngste der Gruppe, hat nach der Ankunft am Platz sofort damit begonnen, Holz auf die Feuerstelle zu schichten. Ab und zu unterbricht er seine Arbeit unvermittelt, hält sich seine Hände vor das Gesicht, lässt die Finger vor seinen Augen tanzen. Fasziniert scheint er das Spiel des Lichts zwischen seinen Fingern zu beobachten. «Das ist ein typisches Verhalten für eine Person mit Autismus», erklärt Andreas Fink. Plötzlich scheint Roy seine Umgebung wieder wahrzunehmen, die Feuerstelle, Hansjörg auf der Bank, die Holzscheite auf seinem Schoss und er fährt mit seiner Arbeit weiter. Unterdessen ist es halb elf Uhr morgens. Das Feuer ist im Gang, die Männer haben sich mit einer Tasse heissen Tees noch einmal aufgewärmt. Drei Betreuer, ein Praktikant und

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fängt er an, laut zu stöhnen, und schlägt auf Andreas ein. «Nicht schlagen, schaufeln», kommentiert dieser trocken, während er die Schläge abwehrt: «Mit dem Schlagen deutet Peter an, dass ihm etwas nicht passt, wir üben mit ihm, dass er sich zuerst meldet, bevor er anfängt zu schlagen.» Nach einer kurzen Pause ist Peter wieder bereit und den letzten Rest der verstopften Regenrinne putzen er und Andreas in Teamwork: Andreas schaufelt Peter das Laub auf seine Schaufel, mit langsamen Schritten balanciert Peter die Ladung auf die andere Seite des Weges und wirft sie den Hang hinunter. Durch den Wald sind jetzt Schreie von weiter oben am Weg zu hören: Dort sind die Betreuer Daniel und Jürgen mit den Waldarbeitern Birol, Marco und Roy am Werk. Jürgen ist studierter Förster mit arbeitsagogischer Zusatzausbildung. Mit klaren, kurzen Gesten zeigt er Marco, was er zu tun hat. Marco, ein grosser, massiger und phlegmatisch wirkender Mann fängt mit langsamen Bewegungen an zu arbeiten. Hinter ihm beginnt Roy plötzlich zu schreien. Seelenruhig ruft Jürgen zu ihm herüber: «Roy, kannst zu uns kommen, wir brauchen noch jemanden.» Der junge Mann bricht sein Geschrei ab und gesellt sich zu den anderen, wo er mit ungestümen, aber effektiven Bewegungen Schaufel für Schaufel Laub und Erde wegschafft. Im Wald sind alle gleich Fast alle Waldarbeiter nehmen Medikamente, um ihre Aggressionen unter Kontrolle zu halten. Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme oder verlangsamte Bewegungs- und Reaktionsabläufe beeinflussen allerdings ihre Lebensqualität. «Durch die körperliche Arbeit im Wald gehen die Aggressionen bei den Teilnehmern zurück und zum Teil konnte die Medikation auch eingeschränkt werden», berichtet Andreas Fink. Die Lebensqualität der Waldarbeiter wird nicht nur durch weniger Medikamente erhöht, sondern auch durch die identitätsstiftende Wirkung ihrer Arbeit: «Hier im Wald sind sie die Waldarbeiter, sie sind erkennbar an der Arbeitskleidung, auch Aussenstehende erkennen sie als solche, und sie verrichten wertvolle Arbeit, das ist für die Männer sehr wichtig.» Für alle Beteiligten habe sich das Projekt als «Win-Win-Situation», wie es Andreas Fink ausdrückt, herausgestellt: «Die Förster sind froh, dass wir die Arbeit machen, für die sie sonst jemand anderen beauftragen müssten, und wir können unseren Leuten mit dieser Aufgabe ein Stück Selbstbewusstsein und Integration vermitteln. Hier können sie so sein, wie sie sind, im Wald stört es niemanden, wenn sie schreien, überschüssige Energie können sie hier sinnvoll und ohne Schaden anzurichten ablassen.» SURPRISE 242/11


Jürgen (links) bespricht mit einem Waldarbeiter die nächsten Arbeitsschritte.

Alles selbstgemacht – von den Sitzbänken bis zum Essen aus dem Feuertopf.

Kommunikation per Piktogramm Birol – klein, stämmig, unermüdlich – ist ein echter Schaffer. Seite an Seite mit Marco schaufelt der türkischstämmige Mann Dreck aus der Regenrinne auf seine Schaufel. Er wirkt zufrieden, hält immer wieder inne, legt den Kopf etwas schief und betrachtet sein Werk. Als es Zeit für die Mittagspause ist, verlässt er als letzter die Arbeitsstelle. Birol ist seit dem Start des Angebots vor acht Jahren Waldarbeiter und jede Woche dreimal im Wald. «Unter anderem wegen ihm wurde das Projekt initiiert, Birol hatte früher im Tageszentrum Schwierigkeiten mit sich und den Betreuern», erinnert sich Andreas Fink. Heute ist Birol, der nicht spricht, generell ausgeglichener – und dies, nachdem seine Medikamente abgesetzt wurden. Als die zwei Arbeitsgruppen für die Mittagspause an den Waldplatz zurückkommen, brodelt dort in einem Kessel über dem Feuer bereits ein Bohneneintopf, und verschiedenes Gemüse ist in handliche Dip-Form zurecht geschnitten. Koch Fabian konnte heute allerdings auf wenig Hilfe zurückgreifen. Hansjörg wärmt sich am Feuer und Rodrigo schläft im grünen Bauwagen. Die Beschaulichkeit nimmt mit der Ankunft der Waldarbeiter allerdings ein schnelles Ende, die Männer haben Hunger. Einer nach dem anderen lässt sich den Teller mit Essen füllen. Doch mit einträchtiger Mittagsessen-Ruhe ist auf dem Waldplatz nichts: Roy, der etwas abseits der anderen sitzt, beginnt ohne ersichtlichen Grund zu schreien. Irgend etwas scheint ihn am Essen zu stören. Andreas versucht vergeblich herauszufinden, was es ist, Roy lässt sich nicht beruhigen. Schliesslich nimmt Jürgen Roy und entfernt sich für einen Beruhigungsspaziergang von der Gruppe. Birol ist mit dem Essen schon fertig und kommt mit einer kleinen Karte auf An-

dreas zu: Es ist eine Piktogrammkarte von der Infotafel, die vor dem grünen Bauwagen steht. Daran sind die Fotos der Betreuer und Waldarbeiter befestigt, ausserdem gibt es kleine Kärtchen mit Bildern wie etwa einem Schlüssel darauf, einer Säge oder Holzscheiten. Birol hat die Schlüssel-Karte in der Hand. «Er möchte den Schlüssel für den Materialkasten haben», weiss Andreas. Birol holt sich dort eine Säge aus dem Bauwagen – er möchte Holzscheite zersägen, was er oft tut, obwohl niemand es von ihm verlangt. Andreas stellt ihm einen Sägebock bereit und Birol beginnt sogleich mit seiner Arbeit. Derweil ist am Feuer erneut Unruhe entstanden: Hansjörg hat es nicht mehr rechtzeitig zur Toilette geschafft, Kleiderwechsel im engen Bauwagen, noch dazu mit dem schlafenden Rodrigo dazwischen, ist nun angesagt. Jürgen und Roy tauchen wieder aus dem Wald auf dem Platz auf. Der junge Mann hat sich beruhigt und setzt sich nun zu den verbleibenden Waldarbeitern ans Feuer.

«Im Wald stört es niemanden, wenn jemand schreit.»

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Die Männer brauchen konstant Betreuung. Hier muss jemandem mit den Handschuhen geholfen, da ein anderer beschwichtigt werden – die Sozial- und Arbeitsagogen und der Praktikant haben alle Hände voll zu tun und sie brauchen dafür reissfeste Geduldsfäden. Und trotzdem, von Nahem betrachtet ist die Idee so einfach wie einleuchtend: Im Wald, in der Natur, finden die Waldarbeiter näher zu sich selbst. Aus der Entfernung sieht der Betrachter: einen Bauwagen und Arbeiter, die sich nach der verdienten Pause parat machen für die nachmittägliche Arbeit. ■

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Hundeleben Ich hatte zwei Wochen lang einen Hund zu Besuch. Als ich ein Kind war, hatten wir auch lange Zeit einen Hund. Seither habe ich eher wenig mit ihnen zu tun gehabt. Lange Zeit sah ich Hunde in Begleitung von Fixern oder sonstigen heruntergekommenen Gestalten. Oder es waren gefährlich aussehende Biester, die schmächtige Jugendliche in Gangsteroutfits hinter sich her zogen. Kurzum, es gab wenig Grund, sich mit dieser Spezies zu befassen. Ich hielt es mit Johnny Cash, der gesagt hatte: «A dog is a man’s best friend – if he’s got nothing else» (Der Hund ist der beste Freund eines Menschen – wenn er sonst nichts hat). Der Hund, den ich zu Besuch hatte, hatte die gute Eigenschaft, recht faul zu sein, gern herumzuliegen und nur selten und widerwillig nach draussen zu gehen, vor allem wenn das Wetter nicht danach war. Was einem im Um-

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gang mit Hunden auffällt, ist ihr grenzenloser Optimismus. Warum soll durch ein Fenster, durch das mal ein Ball geflogen kam, nicht wieder einer kommen? Geduldig, zuversichtlich und vollkommen vergebens wird also davor gewartet, immer wieder. Und tatsächlich kommt dann irgendwann wieder einer geflogen, weil man es ja nicht mit ansehen kann, wie das Viech dasitzt und Zuversicht ausstrahlt. Hunde haben Grund zum Optimismus, sind sie doch eine der erfolgreichsten Spezies auf dem Planeten. Eins der wenigen Tiere, das vom Menschen, von individuellen Härtefällen abgesehen, halbwegs anständig behandelt wird, obwohl von eher geringem direktem Nutzen, sieht man von Hirten-, Drogen-, Lawinen- und Blindenhunden einmal ab. Oder ist es gerade der Optimismus, der die Hunde beliebt macht? Vor allem bei Kindern und älteren Leuten? Im britischen «Economist» las ich einen Artikel über die Zufriedenheitskurve des Menschen. Sie gleicht einem U. Kinder wurden verständlicherweise nicht befragt, aber bei den Erwachsenen sieht es so aus, dass mit 20 der Mensch noch voller Zuversicht ist, mit 30 kommen Zweifel auf, mit 40 macht sich anhaltende Resignation breit und dann … wird langsam alles besser. Mit 70 sind die Leute zufriedener denn je. Warum dem so ist, weiss man noch nicht. Teil der Erklärung könnte sein, dass die unglücklichen Menschen früher sterben.

Als selber die statistische Talsohle Durchschreitender (ab 46 gehts aufwärts, obwohl in der Schweiz der Tiefpunkt anscheinend schon mit 35 erreicht wird) weiss ich den Grund auch nicht, kann aber die Tendenz bestätigen. Je kleiner die Chance, an einer allfälligen Zukunft noch teilzuhaben, desto weniger düster scheint diese. Es schleicht sich mit zunehmendem Alter sogar bei militanten Pessimisten, wie ich einer bin, etwas von jenem hündischen Optimismus ein. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum man die Köter plötzlich wieder mag und versteht. Die Gegenwart von Wesen schätzt, die sich nur mit existenziellen Dingen und repetitivem Schwachsinn wie Bällen nachrennen beschäftigen. Zumal mir der Unterschied zum menschlichen Streben immer geringer erscheint und ich zusehends Mühe habe, Interesse und Verständnis für scheinbar wichtige und richtige Tätigkeiten und Lebensentwürfe vorzutäuschen. Was nicht zu meiner Beliebtheit beiträgt. Womit Johnny Cash eben doch recht hat.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 242/11


Politikerband «… weil man aufeinander hören muss» Zehn Berner Stadträtinnen und Stadträte bilden die Band FraktionsZwang. Jeden Samstag treffen sie sich im Proberaum. Was im Parlament nur selten klappt, funktioniert hier: Links und rechts spielen im Gleichtakt.

Gegründet wurde die Stadtratband im März 2009 vom damals noch parteilosen Politneuling Tinu Schneider. In den ersten Stadtratssitzungen traute er seinen Augen und Ohren nicht: Kaum einer hörte dem andern zu, Abmachungen wurden nicht eingehalten, jede und jeder schaute nur für sich, und es ging überhaupt nicht um die Sache. «Nach der dritten Sitzung habe ich gefunden, der Unterschied zwischen acht Stunden Unterricht in der Kleinklasse und einer Stadtratssitzung sei nicht riesig», berichtet der mittlerweile der BDP beigetretene Kleinklassenlehrer Schneider. Dieser Vergleich brachte ihn denn auch auf die Idee, eine Stadtratsband zu gründen: «Ich habe mit all meinen Klassen eine Band auf die Beine gestellt, weil man dort nämlich aufeinander hören muss.» In der Beiz, im Anschluss an die Stadtratssitzung, fanden sich sogleich die ersten drei, vier Leute, die mitmachen wollten. Und in den darauffolgenden Tagen fragte Schneider in allen Parteien, wer sonst noch Talent und Interesse am Musik machen habe. Zuerst empfanden es alle als Jux-Projekt, doch nun besteht FraktionsZwang seit fast zwei Jahren. «Ich bin erstaunt, dass es so lange hält», sagt Bandmitglied Simon Glauser (SVP, Gesang). «Aber wir sind alle mit der gleichen Begeisterung dabei und arbeiten daran, dass wir immer besser werden.» Besser geworden ist laut Glauser auch das Klima im gesamten Stadtrat, weil sich die Leute eher überlegen, wie sie miteinander umgehen. Und Schneider erzählt, dass bei Anlässen wie der 1.-August-Feier nicht mehr alle nach Parteien geordnet zusammenstünden, sondern vermischt. «Ich habe von langjährigen Stadträten gehört, dass auch früher miteinander gesprochen wurde, aber eher ‹fraktionell›.» Heute tauscht sich bei solchen Gelegenheiten der FDP-Drummer Mario Imhof mit der SP-Gitarristin Patrizia Mordini aus, die GFL-Sängerin Su Elsener mit dem SVP-Bassisten Peter Bühler, und Jimy Hofer (parteilos, Gitarre) plaudert mit Bernhard Eicher (FDP, Keyboard) und Aline Trede (GB, Gesang) am Stehtisch. Die Befürchtung, dass im Stadtrat nun Kuschelpolitik betrieben wird, ist jedoch unbegründet. Es wird immer noch heftig debattiert und gestritten, aber vielleicht ein wenig freundlicher, weil man doch mittlerweile weiss, «was das für einer ist, der da am Rednerpult steht», beschreibt es Bandleader Schneider. «Für mich ist klar, jeder hat seine Meinung, aber meine Hoffnung war von Anfang an, dass man sich vermehrt zuhört. Und dass man nicht einfach nur seine vorgefasste Meinung vertritt, sondern auch mal überlegt: Warum denkt die oder der so?» Nach einer happigen Stadtratssitzung ist das Proben oft nicht ganz einfach. «Aber wenn wir dann ‹Me and Bobby McGee› spielen, gehts», SURPRISE 242/11

BILD: DÄNU BIERI (WWW.GUTEFREUNDE.CH)

VON ISABEL MOSIMANN

«Rathuus Rock»: Die Politikerband um Tinu Schneider (3. v.l.) in Aktion.

bringt es Tinu Schneider schmunzelnd auf den Punkt. Spass scheinen alle zu haben, sonst würden sie nicht Ferien verschieben für Auftritte und Samstag für Samstag in den Bandraum pilgern. SP-Mann Thomas Göttin hat gar eigens für FraktionsZwang ein Saxofon gekauft und angefangen, Stunden zu nehmen, weil sein Instrument, die Klarinette, nur schwer ins Repertoire einzubauen war. Vom Stil her spielt die Band hauptsächlich Pop-Rock. Doch auch bluesige Töne sind zu hören, Rap-Teile sind eingebaut und im Stück «Dr Bär isch los» gehts in Richtung Hardrock, denn die Originalmusik stammt vom AC/DC-Song «Highway to Hell». Zu Beginn spielte FraktionsZwang vor allem Coversongs wie «Proud Mary» oder «Hit the Road Jack». Mit der Zeit entstanden eigene Texte mit eigener Musik, und heute besteht das Repertoire zu einem Grossteil aus Selbstgeschriebenem. In den Liedern soll es im weitesten Sinn um Politik gehen, wie etwa im «Rathuus Rock»: «Jede geit ga rede und seit glich nid viel/Das isch haut so wie bi jedem Spiel/Für d Press da steit me as Mikrofon/Dass öppis chasch läse i dr Zitig vo morn.» Die Texte gehen übrigens immer in die Vernehmlassung, und bei Unstimmigkeiten muss ein Konsens gefunden werden – ganz wie im Stadtrat. ■ www.fraktionszwang-online.ch

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Dieses Buch beweist: Es gibt keine

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Kulturtipps

Ein Reifen geht seine eigenen Wege.

dummen Fragen.

Buch Von durstigen Fischen und niesenden Elefanten Seit über 15 Jahren gehen bei der englischen Zeitschrift «New Scientist» ungewöhnliche und skurrile Leserfragen ein. Ein Buch listet eine Auswahl auf – und die verblüffenden Antworten. VON CHRISTOPHER ZIMMER

Zuerst sind es die Kleinen, die «Warum?» fragen, vorzugsweise als Dauerrefrain. Und dies nicht nur nach dem Krümmungsgrad von Bananen, sondern auch nach allerlei, was den Erwachsenen den Schweiss auf die Stirn treibt. Dann folgen die Grossen, die das Fragen nicht verlernt haben. Denn schliesslich ist Fragen stellen keine Sache des Alters. Diese, in den menschlichen Genen eingeschriebene, Wissbegier trifft allenthalben auf Gleichgesinnte – und auf reichlich mediale Gefässe: von «Hesch-gwüsst»-Kolumnen über «How-to-do»-Blogs bis hin zu Fernsehshows wie etwa den amerikanischen MythBusters, den Wissensjägern. Oder die sogenannte Last-Word-Gemeinde der LeserInnen der englischen Wochenzeitschrift «New Scientist». Auch dort wird mit Inbrunst diskutiert und experimentiert, werden Theorien abgeklopft, oder es wird, wenn nötig, gründlich mit Mythen aufgeräumt. Eine Auswahl der eingereichten Leserfragen und -antworten hat der «New Scientist»-Redaktor Mike O’Hare zusammengetragen. Und so finden sich in Kapiteln über Alltag, Pflanzen, Tier- und Umwelt so ergötzliche Erkundigungen wie die nach den Streifen in der Zahnpasta, dem Traum vom Jungbrunnen oder dem leidigen Speckgürtel der reiferen Jahre. Kurioser noch sind Fragen danach, ob Fische Durst haben oder Elefanten niesen. Doch ganz gleich, welche Blüten die Neugier treibt, auf alles wird in allem Ernst Antwort gegeben, spannenderweise oft mehrere, einander widersprechende – und das nicht selten von profilierten Wissenschaftlern. Dennoch kann bei aller Seriosität und Pedanterie von Bierernst nicht die Rede sein. Denn wenn etwa aufs Genaueste berechnet wird, wie lange eine Milchkuh braucht, um den Grand Canyon zu füllen, oder wie viele Hamster in ihren Rädern strampeln müssten, um ein Haus mit Energie zu versorgen … dann paart sich Wissenschaft auf unterhaltsamste Weise mit britischem Humor.

Kino Ironie mit Bodenhaftung Roadmovie, Komödie, Splatter, Film-im-Film – «Rubber» überrollt nicht nur Genre-Grenzen, sondern lässt sogar einen durchgedrehten Autoreifen menschlich erscheinen. VON THOMAS OEHLER

Im Kino ist die Leinwand die Grenze, durch die das Publikum das Geschehen verfolgen kann, ohne beteiligt zu sein. Dort läuft Sex and Crime, wir sitzen hier im Dunkeln und Sicheren. Was aber, wenn diese Wand für einmal nicht existierte? Wenn wir beispielsweise bei «Texas Chainsaw Massacre» so nahe an der Kettensäge des irren Mörders dran wären, dass wir Blutspritzer abbekämen? Oder anders: Spielen die Figuren eines Films, wenn niemand mehr zuguckt, eigentlich noch ihre Rolle? Beiden Fragen geht Drehbuchautor, Regisseur und Musikproduzent (Mr. Oizo) Quentin Dupieux in seinem dritten Langspielfilm «Rubber» nach. Im Film steht eine Zuschauergruppe mitten in der kalifornischen Wüste und folgt einem Splatterfilm der besonderen Art. Die Story: Ein ausgedienter Autoreifen erwacht zum Leben und entwickelt telekinetische Kräfte, mit denen er Gegenstände, Tiere und Menschenköpfe zum Platzen bringen kann. Der Reifen verliebt sich, wird abgewiesen und hinterlässt frustriert eine Blutspur quer durchs Land. Bis er von der Polizei gestoppt wird. Vorerst. Der Plot ist so abstrus, dass sogar die Schauspieler ihn abbrechen wollen. Nur: Da sind eben die Zuschauer und gucken zu. Der Versuch, diese zu vergiften, scheitert an einem renitenten Rollstuhlfahrer: Er widersteht dem angebotenen Essen. Er will lieber seine Show. Also muss diese weitergehen. Schon der grossartige Eingangsmonolog des Polizeisergeanten (gespielt von Stephen Spinella) über die Beliebigkeit der Dinge zeigt: «Rubber» beherrscht das ironische Spiel mit der Selbstbezüglichkeit. Und bleibt doch auf dem Boden, dank groovigem Soundtrack – eingespielt vom Regisseur selber – und besonders dank der wunderschönen Bilder. Der Film berührt nämlich. Die Einsamkeit des Reifens, seine ersten Rollversuche, seine Selbsterkenntnis vor dem Spiegel – all das gemahnt uns an nichts weniger als an die eigene Existenz. «Rubber», 85 Min., Englisch mit deutschen und französischen Untertiteln. Ab 27. Januar in den Deutschschweizer Kinos.

Mick O’Hare (Hg.): Wie lange eine Kokosnuss braucht, um aus der Karibik nach Europa zu schwimmen – und 101 neue Erkenntnisse aus der wunderbaren Welt der Wissenschaft. Fischer TB 2010. CHF 14.50.

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Beherzter Tritt aufs Fuzz-Pedal: Navel.

Musik Hoffnungsvolle Schwarzmalerei Der Abgang von Charakterköpfen kostet manche Band die Seele. So schienen auch Navel auf dem «Highway to Hell», doch nun sind sie zurück. Ihr «Back In Black» heisst «Neo Noir». VON OLIVIER JOLIAT

Klar, stinkt der Vergleich von AC/DC mit einer Basler Band. Aber bei Navel ist man die fetten Lettern gewohnt. Vergleiche mit Nirvana, ein fiktives NME-Zitat, ein Korb an die Smashing Pumpkins: Label, Management und die Presse liebten das Spiel mit Superlativen, um Wirbel um die Newcomer zu entfachen. Doch die Formation wurde den VorschussLorbeeren nicht gerecht. Mit dem Debüt-Album verliess Bassistin Eve Monnet die Band und zuletzt ging auch noch ihr Label konkurs. Enttäuschung wie Häme waren gross. Nach dem Höhenflug war es für die neue Band um das letzte Gründungsmitglied Jari Antti ein harte Landung. Aber immerhin hatten sie wieder Boden unter den Füssen und der scheint fruchtbar. Navel haben sich, die Singles mitgezählt, nach Teenager-Gebrüll und Post-Pubertärem-Blues mit «Neo Noir» zum dritten Mal neu entworfen. «Can’t Feel A Thing» singt Antti im Opener. Dabei lassen der stoische Beat und die psychedelischen Stimm-, Gitarren- und Mundharmonika-Effekte den geneigten Hörer freudig zitternd spüren: Da kommt etwas Anders, Neues. Etwa die laut dröhnende Gitarrenwalze «Speedbox», mit durchgetretenem Fuzz-Pedal unaufhaltsam geradeaus stampfend. Nur der Bass darf schnörkeln. Das macht er sehr schön. Der direkten Ideallinie bleiben Navel treu, ob im Blues getränkten «It’s The Road That Makes The Songs» oder dem mitreissenden Mantra «Black Days». Das Filet-Stück schmeckt mit jeder Wiederholung besser und man ist versucht, wieder und wieder zurückzuzappen. Anders die Lärm-Ode «Kobra The Killer». So was krachte schon überzeugender. Oder beim Neil Young-Cover «Rockin’ In The Free World» – als Statement live ok, auf Platte platt. Vor allem wirkt das eigene Stück «Free Land» daneben als Plagiat, statt als eigentlich guter Song zu gefallen. Es finden sich noch ein, zwei weitere, wohl parallel zu anderen geschriebene Songs, die man zugunsten eines kürzeren, dafür durchgehend starken Albums hätte einsparen können. Es schmälert die Freude an «Neo Noir» kaum. Geschoben von Anttis selbst aufgenommer und gemischten «Wall of Sound» und neu gestützt vom bodenständigen Label Nois-O-lution, reifen Navel für die Lorbeeren.

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bewegstatt.ch, Janine Holenstein, Frauenfeld

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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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D. Heer Geigenbau, Winterthur

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KIBAG Kies und Beton

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Weblotion Webagentur, Zürich

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OEKOLADEN Theaterpassage, Basel

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commilfo Isabelle Wanner, Baden

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atelier111.ch, Basel

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Zürcher Kantonalbank, Zürich

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Philip Maloney, Privatdetektiv

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Brother (Schweiz) AG, Baden

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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

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IBZ Industrie AG, Adliswil

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Alfacel AG, Cham

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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Coop Genossenschaft, Basel

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AnyWeb AG, Zürich

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Velo-Oase Bestgen, Baar

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Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

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Niederer, Kraft & Frey, Zürich

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Responsability Social Investments AG, Zürich

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chefs on fire GmbH, Basel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Navel «Neo Noir» (Nois-O-lution/Irascible). Konzerte: 9. Februar., Zukunft Zürich, 11. Februar, Kaserne Basel, 12. Februar, Kaff Frauenfeld, 25. Februar, Reithalle Bern, 26. Februar, L’Etage Biel. SURPRISE 242/11

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Ausgehtipps

Duo in Aquamarin: House The Fish.

Zürich Stimmungsaufheller

Pfui Spinne oder Design-Stück? Urteilen Sie selbst!

Wenn gegen Ende Januar die Winterstarre droht, gibt es in Zürich ein sicheres Mittelchen zur Stimmungsaufhellung. Rockwoche heisst der Traditionsanlass und er bietet einen bunten Stilmix in- und ausländischer Bands. Dieses Jahr bestreitet das Zürcher Urgestein Hansueli Tischhauser einen Abend. Einerseits mit House The Fish, dem gemeinsame Projekt mit Brigitta Fischer, auch bekannt als die Fischerin mit den CohenCovers. Gemeinsam spielen sie feinsinnige Songs mit entspanntem Groove und geheimnisvoll-verführerischem Gesang. Eine bezaubernde Mischung. Tischhausers zweiter Kompagnon im Ziegel ist Stefan Weber. Webtisch heisst dieses Duo und gespielt wird Hawaiigarage, Hulablues und Bolerotrash. Die Lapsteel-Gitarre scherbelt Unheil verkündend, der Rhythmus ruckelt fein dosiert, und auf einmal steigt die Temperatur und der Zürisee riecht nach Missisippi. (ash)

Winterthur Geschmackssache Was ist guter Geschmack? Der Aschenbecher in Po-Form sicher nicht – oder vielleicht doch? Und weshalb finden wir die Saftpresse, die uns an so etwas Ekliges wie Spinnenbeine erinnert, trotz allem so ästhetisch? Und zu welchem Lager gehören Sie? Zu den Geschmackstypen, die es opulent mögen oder doch eher zu den Minimalisten? Zu den Schlimmsten gehören Sie, wenn Sie sich das noch gar nie so genau überlegt haben. Dann sollten Sie sich unbedingt die Dinge der Ausstellung im Gewerbemuseum Winterthur anschauen – danach fällt das Urteil über gut oder böse vielleicht etwas leichter. (juk)

House The Fish/Webtisch, 28. Januar, 21.30 Uhr, Ziegel oh Lac, Rote Fabrik, Zürich. Infos zu den weiteren Konzerten: www.rotefabrik.ch

«Böse Dinge – Positionen des (Un)Geschmacks», Ausstellung noch bis zum 31. Juli, Gewerbemuseum,

BILD: MARK NIEDERMANN

Winterthur.

Basel Sehbehinderte ins Museum Haben Sie schon einmal einen Fuchs gestreichelt? Im Naturhistorischen Museum Basel ist das möglich. «Bitte berühren» heissen fünf Stationen, die ausdrücklich angefasst werden sollen: Vögel und Säugetiere, Mineralien, Knochen und Panzer, Schnecken und besondere Schätze des Museums dürfen befühlt werden. Konzipiert wurde die Dauerausstellung für Menschen mit einer Sehbehinderung; die erklärenden Texte sind denn auch in besonders grosser Schrift für schlecht Sehende und in Braille-Schrift für Blinde gesetzt. Allerdings dürfen auch normal Sehende gerne einen Rundgang machen und den Elefantenzahn ausgiebig anfassen. (mek) «Bitte berühren», Dauerausstellung für Blinde und Sehbehinderte im Natur-

Unübliches Vergnügen: Museumsbesuch mit Anfassen.

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historischen Museum Basel. www.nmb.bs.ch. SURPRISE 242/11


BILD: ISTOCKPHOTO

BILD: ZVG

Tösstaler Marionetten: Zum Jubiläum ein Klassiker.

Winterthur Räubergeschichte Tief im grossen Wald – vielleicht erinnern Sie sich? – steht eine Burg, auf der wilde Räuber hausen. Als eines Nachts ein fürchterliches Gewitter tobt, spaltet ein Blitz die Burg in zwei Teile. Es ist die Nacht, in der Ronja geboren wird. Bald schon erkundet die kleine Räubertochter den Wald und lernt all die seltsamen Wesen kennen, die darin wohnen: Rumpelwichte, Graugnome oder die gefährlichen Wilddruden. Eines Tages dann trifft Ronja im Wald einen Jungen: Birk Borkasohn aus der verfeindeten Borkasippe. Während sich die Väter der beiden Räuberkinder bis aufs Blut bekriegen, entwickelt sich zwischen Ronja und Birk eine innige Freundschaft … Zum 25-jährigen Bestehen der «Tösstaler Marionetten» bringt Tobias Bühlmann Ronja Räubertochter – nach dem gleichnamigen Kinderbuchklassiker von Astrid Lindgren – auf die Bühne: für Kinder ab fünf Jahren und für Erwachsene, die finden, es sei wieder einmal Zeit für eine Räubergeschichte. (mek) «Ronja Räubertochter», Schweizerdeutsch, ca. 60 Minuten. Am Mittwoch, 2., Sonntag, 6., Dienstag, 8., Mittwoch, 9. und Donnerstag, 10. Februar, jeweils um 14.30 Uhr im Winterthurer Marionettentheater. www.theaterimwaaghaus.ch

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Beim Roji-Negro-Jassturnier ist Herz sowieso Trumpf.

Zürich Charity-Jass Rennen ist die gängigste Sportart, wenn es darum geht, für einen guten Zweck Geld zu sammeln. In Zürich gibts zum Glück seit 20 Jahren eine gemütlichere Variante, Gutes zu tun und sich sportlich zu betätigen. Falls denn Jassen als Sportart durchgeht. Das Roji-Negro-Solidaritätsjassen geht zum 20. Mal über die Bühne und immer noch erscheinen die Spieler in Scharen, um die spezielle Atmosphäre dieses besonderen Jassturniers zu geniessen. Gejasst wird der Schieber, die Jasspartner werden einander zugelost. Gewinnen kann jeder und vom Reinerlös des Jassens, Trinkens und Essens werden Entwicklungsprojekte in Zentralamerika unterstützt. zum Beispiel eine Selbsthilfeorganisation von Kriegsversehrten, ein Kollektiv, das über den guatemaltekischen Guerillakrieg informiert oder eine Fairtrade-Kaffeeplantage. An diesem Jassturnier riechts bestimmt nicht nach RössliStumpen. (juk) Roji-Negro-Solidaritätsjassen, Samstag, 5. Februar, 13 bis 20 Uhr, mit Verpflegungsmöglichkeit, ab 21 Uhr Preise für alle, Kulturmarkt, Zürich; www.rojinegro-jassen.ch

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Verkäuferporträt «Die Behinderten haben meine Grenzen gesprengt» Er ist Jurist und sammelt in seinem Kopf Wörter, wenn er bei der Rudolf-Brun-Brücke in Zürich Surprise verkauft. Nicolas Gabriel (46) träumte von den Behinderten, als er in einem Wohnheim arbeitete, und sieht alte Leute als seine Beschützer.

«Ich habe Jus studiert und abgeschlossen. Danach arbeitete ich als Assistent am Seminar, doch meine Neurosen wurden zunehmend stärker, ich wurde zum psychischen Wrack. Ich hatte Angst vor Krankheiten, ich hatte Berührungsängste. Schon während der Schulzeit fühlte ich mich als Fremdkörper in der Klasse. Das prägt einen schon, wenn man acht Schuljahre lang im Abseits steht. Psychische Defekte hatte ich schon früh, aber sie waren für die Aussenwelt nicht als solche erkennbar. Krankhaft wurde es erst in der zweiten Hälfte des Studiums. Ich begann daraufhin mit geistig Behinderten in einem Wohnheim zu arbeiten. Das war ein Sprung in die Höhle des Löwen. Dort begegnete mir genau das, wovor ich Angst hatte. Behinderte haben einen sehr lockeren Umgang mit Berührungen. Die haben meine Grenzen gesprengt. Anfangs war es ein Kampf für mich, ich träumte von den Behinderten in ihrer ungestümen Art. Aber die Herzlichkeit, die ihnen eigen ist, überwog doch immer wieder. Ich arbeitete insgesamt fünfeinhalb Jahre mit Behinderten. Dann habe ich geheiratet, und die Arbeitslosigkeit hat angefangen. Verschiedene Probleme sind aufgetaucht. Einerseits habe ich Mühe mit Hierarchien in der Arbeitswelt; mir sind genossenschaftliche Organisationen lieber. Andererseits muss für mich die Arbeit an sich Sinn ergeben. Ich habe mich persönlich für soziale Ziele eingesetzt, privat stark engagiert. Das hat mich eine gute Arbeitsstelle gekostet, weil ich manchmal einfach übermüdet war. Die letzten zehn Jahre habe ich meistens temporär gearbeitet, ich war auch in der Reinigung tätig. Mir war wichtig, etwas mit den Händen zu tun, nicht nur mit dem Kopf. Manchmal habe ich Privatstunden in Deutsch erteilt. Seit fünf Jahren verkaufe ich Surprise, daneben arbeite ich oft im Besuchsdienst für alte Leute. Sie sind für mich so etwas wie Beschützer und geistige Wegweiser. Ich finde, eine Gesellschaft, in der alte Leute eine gewisse Stellung haben, ist etwas Schönes. Surprise verkaufe ich täglich vier Stunden lang, zusätzlich trage ich Zeitungen aus. Für die Zukunft habe ich vor, Privatstunden in Deutsch zu erteilen. Ausserdem möchte ich einen Lehrgang als Pflegehelfer beim Roten Kreuz absolvieren, um in der Pflege zu arbeiten. Es wirkt vielleicht manchmal so, als ob SurpriseVerkäufer etwas verloren dastünden. Aber die meisten haben sehr klare Vorstellungen, was sie in ihrem Leben noch erreichen wollen. Surprise sehe ich als sehr gute Art, sich über Wasser zu halten, wenn man gar kein Geld mehr hat. Man muss nicht betteln, und der Verkauf ist von der Gesellschaft akzeptiert. Ich kannte das Konzept von Surprise aus dem Strassenbild und habe mich selber zum Verkauf gemeldet. Meine Hobbys gehen in die künstlerische Richtung. Ich male selber, habe viel gezeichnet und kenne mich in der Kunstmalerei gut aus. Ansonsten beschäftige ich mich mit dem Volkslied und mit Gedichten. Bücher spielen für mich eine grosse Rolle. Während ich Surprise ver-

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BILD: ZVG

AUFGEZEICHNET VON DIANA FREI

kaufe, beschäftige ich mich oft mit der Sprache, achte auf Wörter, die ich vielleicht zwar kenne, aber selber aktiv nicht benutze. Ich höre im Alltag hin, suche nach ungewöhnlichen Ausdrücken. Ich finde sprachliche Zusammenhänge interessant, gehe gern den Wurzeln von Wörtern nach. Für mich persönlich ist im Leben wichtig, dass ich im sozialen Kontakt mit Menschen ihre Probleme angehen und lösen kann. Und beim Verkaufen merke ich, dass sich die Leute auch mir und meiner Situation gegenüber solidarisch zeigen. Ich bin überzeugt, dass man auch nach dem Tod an einem Ort weiterwirken kann. Ich habe in meinem Leben an vielen Orten gewirkt. Wenn man mich fragt, wer ich bin, würde ich meine Persönlichkeit in verschiedene Bereiche einteilen. Ein Stück von mir ist Jurist, ein Stück ist in der Malerei verankert, andere Teile von mir in der Biologie und in Gartenthemen, in der Reinigung, in der Pflege und Heilpädagogik und in den Sprachen Deutsch und Französisch. Für dieses Porträt habe ich nun einen von etlichen Räumen meiner Persönlichkeit aufgestossen.» ■ SURPRISE 242/11


Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und –verkäufer helfen sich

Marlies Dietiker Olten

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Programm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

Bob Ekoevi Koulekpato Basel

René Senn Zürich

Andreas Ammann, Bern Wolfgang Kreibich, Basel Marika Jonuzi, Basel Peter Gamma, Basel

Anja Uehlinger, Baden Jovanka Rogger, Zürich Kurt Brügger, Basel Marlise Haas, Basel

Ausserdem im Förderprogramm SurPlus: Jela Veraguth, Zürich Peter Hässig, Basel Fatima Keranovic, Baselland Tatjana Georgievska, Basel

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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242/11 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 242/11

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

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Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel www.strassenmagazin.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Geschäftsführung Paola Gallo, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@strassenmagazin.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden (verantwortlich), Julia Konstantinidis, Mena Kost, redaktion@strassenmagazin.ch Freie Mitarbeit Diana Frei, Christian Flierl, Olivier Joliat, Stefan Michel, Isabel Mosimann, Nandor Nagy, Thomas Oehler, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Susanna Schwager, Isabella Seemann, Marcel Studer, Priska Wenger, Christopher Zimmer Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 61 Therese Burgdorfer, t.burgdorfer@strassenmagazin.ch

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die vom gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27 Markus Hurschler, Zoë Kamermans, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@strassenmagazin.ch Chor/Kultur T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@strassenmagazin.ch Strassensport T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller l.biert@strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Gut betucht.

Dazu passend: Leichtes T-Shirt, 100%Baumwolle, für Gross und Klein.

Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Herren CHF 25.– S M

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Damen CHF 20.– XS S (auch für Kinder) Alle Preise exkl. Versandkosten.

Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch

Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.

Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50 neon-orange schwarz

Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.– rot blau schwarz

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Surprise Rucksäcke (32 x 40 cm); CHF 89.– schwarz rot

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch SURPRISE 242/11

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Von Aarberg bis Zuoz. Surprise gibt es beim Strassenhändler Ihres Vertrauens. Oder im Abo per Post.

24 Ausgaben für 189 Franken oder als Gönner-Abo für 260 Franken. Gutes lesen, Gutes tun und gleich bestellen! www.strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch, Spendenkonto PC 12-551455-3 Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99


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