Surprise Strassenmagazin 251/11

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Im Wald

Menschen im Reich der Bäume

Gezeichnet: Wenn Eltern krank werden

Alltag im Flüchtlingslager: Bei den Opfern des libyschen Bürgerkrieges

Nr. 251 | 3. bis 16. Juni 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Gut betucht.

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50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

Vorname, Name

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch Anzeige:

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Eine ZEITREISE durch 60 Jahre DEUTSCHLAND

Hier könnte Ihre Werbung stehen. Werfen Sie Ihr Werbegeld nicht auf die Strasse. Investieren Sie es dort. Surprise erreicht 120 000 Leserinnen und Leser. Und das in den grössten Städten und Agglomerationen der Deutschschweiz.* Denn dort stehen die 380 Surprise-Verkaufenden für Sie auf der Strasse. Tagtäglich. Ganze 80 Prozent der überdurchschnittlich verdienenden und ausgebildeten Käuferinnen und Käufer lesen die gesamte Ausgabe oder zumindest mehr als die Hälfte aller Artikel. Das Strassenmagazin steht für soziale Verantwortung und gelebte Integration. Mit Ihrem Inserat zeigen Sie Engagement und erzielen eine nachhaltige Wirkung. Anzeigenverkauf, T +41 76 325 10 60, anzeigen@strassenmagazin.ch

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*gemäss MACH Basic 2011-1.


Titelbild: Andrea Ganz

Editorial Geraschel im Unterholz BILD: DOMINIK PLÜSS

Mal ehrlich: Wann waren Sie zum letzten Mal im Wald? Ein sonntäglicher Spaziergang über den Zürcher Friedhof Sihlfeld gilt nicht, auch kein Picknick im Basler Kannenfeldpark oder Grillvergnügen an der Aare. Gemeint ist nicht «draussen», sondern «im Wald» – mit Bäumen, sattem Grün, schattigen Wegen und Geraschel im Unterholz. Wars zum Bärlauchsuchen im März? Oder haben Sie sich vor Weihnachten ein Tannenbäumchen in der Baumschule ausgesucht? Sollten Sie gestern Nachmittag mit ihrem Hund einen Waldspaziergang gemacht oder zwischen den Bäumen gebiket haben: Verzeihen Sie die Fragerei und viel Spass beim Lesen des Artikels von Monika Bettschen ab Seite 10. Menschen, die Ihre Freude am Wald teilen, erzählen darin, welche Rolle die grünen Lungen in ihrem MENA KOST REDAKTORIN Leben spielt und warum es so gut tut, dort zu sein. Falls Sie tatsächlich schon lange nicht mehr dort waren: Schmieren Sie sich ein Brot, füllen Sie Sirup in eine Pet-Flasche ab und brechen Sie auf. Sie werden es nicht bereuen. Über ein sehr viel ernsteres Thema berichtet Elisabeth Wiederkehr ab Seite 15: Was, wenn ein Elternteil schwer krank wird? Welche Auswirkungen haben Depressionen, Süchte oder Krankheiten wie Krebs auf eine Familie und wie kann man gemeinsam mit den Kindern einen Weg beschreiten, der vielleicht sogar mit dem Tod eines Elternteils endet? Ebenfalls in einer schwierigen Situation befinden sich Menschen aus den umkämpften libyschen Städten: Zu Zehntausenden fliehen sie nach Tunesien und Ägypten und stranden in den Grenzgebieten in Flüchtlingscamps. Der frühere Geschäftsführer von Surprise, Fred Lauener, hat diesen Frühling für Caritas eine humanitäre Nothilfeaktion begleitet. Ab Seite 18 berichtet er aus dem Alltag eines Camps in Salloum an der libyschägyptischen Grenze. Apropos ehemalige Surprisler: Ende Mai hat uns Kollegin Julia Konstantinidis verlassen. Wir möchten ihr ganz herzlich für alles danken, was sie in den knapp drei Jahren bei Surprise für das Strassenmagazin gemacht, gedacht, geschrieben und gebastelt hat. Jawoll, gebastelt! All die schönen Bastelseiten-Ideen sind nämlich ihrem kreativen Kopf entsprungen. Für die Arbeit an ihrer neuen Stelle wünschen wir Julia Konstantinidis von Herzen alles Gute! Ich wünsche Ihnen eine gute Lektüre. Herzlich Mena Kost

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 251/11

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10 Im Wald Unterm Blätterdach 2011 ist das internationale Jahr des Waldes. Der Wald produziert Sauerstoff, schützt vor Steinschlag – und ist für viele Menschen Rückzugsraum und Kraftort. Ob Jägerin oder Biker, Hundehalterin oder Kindergärtler: Der Wald ist Bühne und Kulisse für allerlei Geschichten.

15 Krankheit und Familie Auf der Intensivstation BILD: BETTINA PELLANDA

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Inhalt Editorial Ab in den Wald Basteln für eine bessere Welt Frauenstreik, Mann! Aufgelesen Wächterin des Intimraumes Zugerichtet Der Stenz, das Huhn und die Kuh Hausmitteilung Bilder vom Jubiläums-Apéro Starverkäuferin Christina Choudary Porträt Vom Findelkind zum glatten Vogel Le mot noir Ferienreif Heavy Metal Brave Monster Kulturtipps Liebesfilm noir Ausgehtipps Barbie in den 90ern Verkäuferporträt Normale Lautstärke Projekt Surplus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

BILD: ANDREA GANZ

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Paul Perez bekam vor einem Jahr die Diagnose Hirntumor. Therapie und Operationen haben nicht angesprochen, der Krebs wuchert weiter. Als Eltern dreier Söhne im Alter zwischen drei und neun Jahren quälte ihn und seine Frau damit zusätzlich die Frage, wie sie es den Kindern sagen sollen. Verheimlichen kann man Kindern nichts, sagt Jugendpsychiater Alain Di Gallo. Unterstützung finden betroffene Paare in speziellen Kinderbüchern.

BILD: FRED LAUENER

18 Krieg in Libyen Im Niemandsland

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Die Festung Europa schottet sich ab gegen Flüchtlinge aus Afrika. Die Nachbarländer von Libyen hingegen können nicht einfach die Grenzen schliessen. Zu Zehntausenden fliehen die Menschen vor dem Krieg. Und landen in Lagern wie jenem im ägyptischen Salloum. Eindrücke vom Warten auf Nahrung und Heimkehr unter der sengenden Sonne Nordafrikas.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS/WOMM

1. Helfen Sie nach dem nächsten Grillfest beim Aufräumen und sammeln Sie

2. Kreieren Sie Ihren ganz persönlichen Slogan oder nehmen Sie unsere Vorlagen,

die Bierdeckel ein. Legen Sie sie in Spülwasser ein und lassen Sie sie anschliessend

schneiden sie aus und kleben sie mit Heissleim aus der Pistole oder gelartigem

trocknen.

Sekundenleim auf den Deckel. Sprühen Sie eine Schicht farblosen Lack darüber.

3. Kleben Sie die geöffnete Sicherheitsnadel mit der spitzen Nadel nach oben

4. Lassen Sie den Leim trocknen, stecken Sie sich den Button an gut sichtbarer

ebenfalls mit Heissleim oder mit Silikon (erhältlich im Bastelshop) auf die Innenseite

Stelle an und demonstrieren Sie los.

des Bierdeckels.

Basteln für eine bessere Welt Am 14. Juni ist landesweiter Frauenstreiktag unter dem Motto «Ein Ziel: Gleich viel!» Neben der Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit werden die Frauen auch für eine gerechtere Verteilung von bezahlter und unbezahlter (Haus-)Arbeit und für mehr KrippenPlätze auf die Strasse gehen. Sie, lieber Leser, fordern wir auf, an diesem Tag Ihren Mann zu stehen. Also: Austrinken! Button basteln! Und ab auf die Strasse! Denn zur Gleichberechtigung gehören immer zwei. SURPRISE 251/11

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Über die Scham Nürnberg. «Alles, was einen heraustreibt aus der Gesellschaft, ist mit Demütigung verbunden,» sagt Psychiatrie-Oberärztin Susanne Gutberlet. Deshalb müssten arbeitslose und arme Menschen auch per se mehr Scham aushalten als andere. An sich sei das Gefühl der Scham jedoch etwas Gutes, so Guberlet, denn: «Sie ist die Wächterin des Intimraumes.» Es ist kein gutes Zeichen, wenn sie komplett fehlt: So schämen sich typischerweise Leute nie, die keine Werte haben und denen es an Einfühlungsvermögen fehlt.

Keine «Ostmafia» beim ESC Hannover. Der Eurovision-Song-Contest-Experte Irving Wolther widerspricht der sich hartnäckig haltenden «Ostmafia»-These. So sei nicht mafiöser Filz die Ursache, dass die kroatischen «points» so oft nach Serbien, Bosnien und Co. gehen, sondern es handle sich schlicht um «Geschmacksparallelen» in ähnlichen Kulturen. Eine Studie habe gezeigt, dass die deutsche und österreichische Jury vor Einführung der Publikumswertung in mehr als 43 Prozent der Fälle für die gleichen Länder gestimmt habe, danach seien es gar 55 Prozent gewesen.

Depression löscht Erinnerung Melbourne. Anouska Sweetman, scheidende Chefbuchhalterin von «The Big Issue Australia», beschreibt in einer Abschiedskolumne ihren lebenslangen Kampf gegen die Depression. Sie beschreibt unter anderem, dass ihr die Depression die Erinnerung an ihre Kindheit ausgelöscht hat. Sie sagt weiter: «Depressive können identische Symptome und dieselben auslösenden Faktoren aufweisen. Doch jeder geht durch seine persönliche Hölle.«

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Zugerichtet «Zuhälter» am Zebrastreifen Letztlich weiss man nicht viel über Zuhälter. Kaum jemand, den man kennt, kennt einen, und in den Medien werden über gesellschaftliche Randgruppen sowieso nur Klischees ausgebreitet. Zu den gängigen Vorurteilen über Zuhälter gehört, dass sie aussehen wie Harry Hasler und ausgefallene, schrillfarbene, zuweilen auch aufgemotzte Sportwagen fahren. Zum Beispiel eine Chevrolet Corvette. Mit einem kanarienvogelgelben Exemplar machten Hansruedi K.* und sein Kollege Martin Z. zum Zwecke des Renommierens eine Spritztour durch den Kreis 4. Eins vorweg: Beide sind Vertreter für Büromöbel von Beruf. Am Steuer sass Martin, der Besitzer des Autos, aber vor Gericht muss sich nun Hansruedi K. verantworten – wegen Körperverletzung. Hansruedi K. erinnert sich, wie sie mit der Corvette rechts abbiegen wollten, als die Lehrerin Susanne B. auf ihrem Velo über den Fussgängerstreifen gefahren sei. Da habe es eben einen «kleinen Huper» gegeben, um ihr zu zeigen, dass dies verboten sei, so der 53jährige Hansruedi K. Aber anstatt von der Fahrbahn zu weichen, sei die Frau mitten auf dem Zebrastreifen vom Velo gesprungen und habe «wie eine hysterische Kuh» auf die Motorhaube geschlagen und die beiden Insassen als «verdammte dreckige Zuhälter» beschimpft. Bei der Corvette funktioniert der Imagetransfer vom Fahrzeug auf den Halter eben noch. Dann sei er raus, erzählt der Angeklagte weiter, und habe, das gebe er zu, gerufen: «Du blödes Huhn, sieh zu, dass du abhaust!»

Aber Frau B. sei sofort mit den Fäusten auf ihn losgegangen. Darauf habe es – «nur zur Beruhigung, nichts Gröberes» – eben eine Ohrfeige gesetzt. Auf Rat eines befreundeten Anwalts habe er sich bei der Frau entschuldigen wollen, aber die habe darauf bestanden, dass er 5000 Franken ans Frauenhaus überweisen müsse. Und das sei ja wohl «der Gipfel der Frechheit», braust Herr K. auf. Erst schimpfe sie ihn «Zuhälter» und dann verlange sie eine Spende ans Frauenhaus, da habe sich die Frau B. doch was dabei gedacht. Also habe er nicht gezahlt. Ihm gehe es um seine Ehre. Zwar habe er schon die eine oder andere Vorstrafe wegen Körperverletzung, erklärt Hansruedi K. freimütig, aber so ein Typ sei er nicht, dass er «ohne Grund» wildfremde Frauen schlage. Dass er das auch «mit Grund» nicht tun darf, kommt ihm offenbar nicht in den Sinn. Ein schlechtes Gewissen zeigt der Angeklagte nicht, auch seine Wortwahl ist kaum geeignet, Sympathie bei der Richterin hervorzurufen. Er verlangt Freispruch «auf der ganzen Linie» und kann dies auch begründen: «Sie hat angefangen. Eigentlich sind wir quitt». Aber so läuft es nicht vor Gericht. Da wird nur verhandelt, was angezeigt wurde – nämlich die Körperverletzung. Hätte er Frau B. einfach angezeigt, anstatt ihr eine zu kleben, müsste sie vermutlich ein paar Hundert Franken für den «dreckigen Zuhälter» bezahlen. Jetzt aber muss Hansruedi alles in allem rund 10 000 Franken bezahlen für die Geldstrafe, die Busse und die Genugtuung an die Velofahrerin. *Persönliche Angaben geändert. ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 251/11


Jubiläum 250 Mal Surprise Auf der Feier anlässlich der 250. Ausgabe des Strassenmagazins Surprise in Basel wurde viel gratuliert, geschwatzt und gesungen. Einige Impressionen.

Der Basler Regierungsrat Hanspeter Wessels freut sich über das Surprise-Badetuch, das ihm Geschäftsleiterin Paola Gallo überreicht.

Der Surprise-Strassenchor legt einen flotten Auftritt hin – und bringt auch den letzten Apéro-Gast zum Mitsingen: «Get up, stand up …»

Surprisler: Personalverantwortliche Monika Oser mit Andrea Blaser, Patrick Würmli und Zoë Kamermans aus den Vertrieben Bern und Basel.

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer!

Starverkäuferin Christina Choudary

Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch

Lotti Altherr aus Zürich nominiert Christina Choudary als Starverkäuferin: «Mir scheint, ich kenne Frau Christina Choudary schon seit Jahren. Gesehen habe ich sie zuerst von Bus und Tram aus am Ende der Bahnhofbrücke. Bei jedem Wetter stand sie ruhig und zufrieden lächelnd am Geländer. Nun, da sie vor dem Coop in Wipkingen steht, kaufe ich Surprise nur noch bei ihr und freue mich bei jeder Begegnung, ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Wenn beim Einkaufen ihr Platz leer ist, bin ich immer etwas enttäuscht und hoffe, sie sei nicht krank. Es würde mich freuen, wenn mein Schreiben in der Rubrik Starverkäuferin abgedruckt würde.»

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Cool Men mit Sonnenbrillen: Redaktor Reto Aschwanden, Fotograf Andi Cortellini und Grafiker Lucas Mösch.

BILD: ZVG

Chor-Sänger und Surprise-Verkäufer Sokha Roth mit der Jubiläumsausgabe.

Paola Gallo mit Angela Bryner von «Integration Basel», die gerade die Originalausgabe des 250. Surprise ersteigert hat – signiert von Verkaufenden.

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Porträt Feuer der Ahnen Er ist ein Findelkind. Heute sorgt er für Findelkinder. Sigi Michel ist Unikum, Musikgenie und Sammler. VON EVA ROSENFELDER (TEXT) UND ESTHER MICHEL (BILD)

Ein Zettel klebt an der Tür: Bin hinter dem Haus. Ich öffne das Gartentor und gelange in ein Labyrinth, eine eigene Welt von Gehegen, Volieren und verschlungenen Wegen nach irgendwo. «Hier bin ich!», ruft es von oben. Gross, braun gebrannt von der Sonne, steht er vor mir. Sigi, Schaffhauser Original, Jahrgang 1947, fast keinem unbekannt. Der Sigi mit der Trompete, immer wieder in den Medien als treuer Fan der Schweizer Fussball-Nati. Sigi, der Unterhalter. Wir machen sogleich einen Rundgang. Gerne begrüsse ich seine Tiere. Ein Papagei kann tanzen und lacht so frech, dass ich selbst vor Lachen fast ersticke. Sigi gibt ihm eine Erdnuss. «Wie sagt man?» «Danke!», krächzt der Ara folgsam. «Krähe Jakob habe ich vor wenigen Tagen freigelassen. Er hat zu fliegen gelernt und das Gehege wurde zu eng für ihn. Wilde Vögel gehören in die Freiheit.» Pumuckl, der alte Geissbock, sei kürzlich gestorben, 21 Jahre alt sei er geworden. Jetzt tummeln sich «Heidi» und ein neuer «Pumuckl» im Gehege – dieser ist zwar ein Weibchen, und trächtig dazu. «Mit den beiden Geissen gehe ich täglich am Rhein spazieren! Nur die Strasse überqueren wir mit der Leine, sonst dürfen sie frei grasen. Sobald sie mich nicht mehr sehen, suchen sie mich, ‹Mäh! Mäh!›, obwohl sie erst seit einem Monat hier sind.» Es sind immer verlassene oder verletzte Tiere, die ihm gebracht werden, manchmal sogar von der Polizei. Unzählige Schwäne und Enten aus dem Rhein hat er gesund gepflegt. Papageien, Sittiche, Zwerghasen tummeln sich bei ihm. Elstern, Krähen und selbst einen Milan hat er aufgepäppelt und wieder ausgewildert. Einige hat er selber aufgelesen. Findelkinder. Sie alle lebten unter schlimmen Bedingungen. Auch Sigi ist ein Findelkind. «Ein Kind der Landstrasse», sagt er. Seine Mutter Agnes war eine Jenische. Als sie ein uneheliches Kind erwartete, floh sie von Arosa nach Agra ins Tessin, wo sie ihn zur Welt brachte. Im Rahmen der Aktion «Kinder der Landstrasse» wurde er als namenloser Säugling seiner Mutter weggenommen. Der Verantwortliche Dr. Siegfried gab dem Säugling seinen Namen. Zweimal nur sah Sigi seine Mutter. Lange schwarze Haare habe sie gehabt. «Sie weinte. Gelogen hat sie! Ich sei ihr einziges Kind. Aber ich habe trotzdem meine beiden Schwestern kennen gelernt.» Eine von ihnen ist Nonne geworden, hat ihm zum Andenken ein Kreuzlein geschenkt. Ein wirklicher Kontakt entstand nicht. Zu dritt waren sie am Begräbnis der Mutter. Er will seinen Vater finden, doch vielleicht ist es auch schon zu spät. Ein ungarischer Pilot soll er gewesen sein. Als Kleinkind war Sigi sehr krank. Das Ehepaar Michel wollte ihn adoptieren, trotz seiner Schwäche. Das schwarzhaarige Büblein hatte es der Frau angetan. Aber es wurde ein schweres Leben. Die Stiefmutter hatte Anfälle, prügelte den Hund, und als Sigi ihn beschützen wollte, schlug sie ihm mit den Holzschuhen den Kopf blutig. Sie fand ein schlimmes Ende, als sie im Streit mit dem Vater die Treppe hinunterstürzte und kurz darauf starb. Tiere waren schon immer Sigis Ein und Alles. Jede verletzte Kreatur fand bei ihm Zuflucht. Überlebte ein Tierchen nicht, so begrub er es im Garten und stellte ihm ein Holzkreuz auf.

Manchmal sagten die Leute zu ihm: «Geh doch dorthin, wo du herkommst, nach Afrika.» Die haben Agra mit Afrika verwechselt. Das tat weh! Als er dann auch noch die Adoptionsurkunde fand, fühlte er sich ganz und gar wertlos. Mit 14 Jahren der erste Alkoholrausch! Dann schloss er sich den Rockern in Zürich an, riss aus, brach verschiedene Lehren im Baubereich ab und war nicht mehr zu halten. Sein Geld verdiente er mit schwerster Akkordarbeit auf dem Bau. Alkohol war sein Begleiter. Was ihm Kraft gab, war die Musik: 40 Instrumente konnte er spielen, ohne je eines gelernt zu haben. Sein Instrument aber wurde die Trompete. Bekannt sind spätestens seit der Fussball-WM in den USA 1994 seine anfeuernden Trompetenstösse, begleitet vom leidenschaftlichen Ausruf: «Attacke!» An manch schönem Tag hört man am Rhein von weit her eine kurze, kecke Melodie und weiss: «Aha! Sigi!» Vom Alkohol kam er weg. Dabei hat ihm ein inneres Feuer geholfen, aber auch die Angst: «Ich habe Freunde wegsterben sehen, die mit mir soffen.« Halt gab ihm auch Freundin Patrizia, mit der er seit 30 Jahren zusammen ist. Nach zwei Jahren Beziehung hat er aufgehört zu trinken. Über die Jahre hat er einen riesigen Schatz an Raritäten angehäuft. «Nichts davon wird verkauft!», sagt er fast beschwörend. Er will diese Dinge der Nachwelt erhalten: alte Rheinscheinwerfer, Velosolex, Radios aus diversen Zeiten, seltene Sackmesser, alte Werkzeuge ... Jedes Ding ist liebevoll poliert, gepflegt und funktionstüchtig. Unzählige Geschichten sind mit jedem Gegenstand verbunden, Leben quillt aus jeder Ritze. Symbolisch dafür steht die Sonnenblume, die vor sieben Jahren an der viel befahrenen Strasse ganz von selbst vor seinem Haus wuchs: «Sieben Meter hoch wurde sie, trug etwa 170 Knospen, entsprossen wahrscheinlich aus Samen des Vogelfutters. Selbst die Zeitung hat darüber berichtet», sagt er. «Mein Traum ist es, ein Museum zu eröffnen, in dem ich all diese Schätze zeigen und selber Führungen machen kann. Die Tiere würden dazugehören in einem Aussenteil, wo man noch einen kleinen Imbiss nehmen könnte.» Doch leider fehlen geeignete Räumlichkeiten und finanzielle Mittel.

An manch schönem Tag hört man am Rhein eine kecke Melodie und weiss: «Aha! Sigi!»

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Mit seinen Kabarett-Auftritten, die er mit drei wechselnden Partnern an Vereinsanlässen, Geburtstagen und Hochzeiten darbietet, reicht es ihm nicht für grosse Sprünge. «Das Wichtigste sind mir meine Tiere!» Manchmal bekommt er Spenden für Futter, was ihn sehr freut. «Du glaubst nicht, was das alles kostet!», sagt er nachdenklich. Doch schon antwortet er pfeifend der Amsel im Gebüsch, täuschend echt. «Ach, fast vergessen – der Schweizer Meister im Pfeifen wird ja demnächst gesucht!» Natürlich wird Sigi seine Pfeifkunst unter Beweis stellen. Sein Amselkonzert jedenfalls lässt gute Chancen erahnen. Die Wachheit und Lebendigkeit, die vielseitigen Begabungen, seine Tiere, die Musik, das alles hält sein inneres Feuer warm. Der Friede hat gesiegt! Doch die Funken in seinen Augen erzählen schon vom nächsten Ziel. Die Reise geht weiter. Sie ist unendlich. ■ www.trompetensigi.ch

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Alles im Gr端nen

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2011 ist das internationale Jahr des Waldes. Die «grünen Lungen» üben von jeher eine grosse Faszination auf die Menschen aus. Wir haben Leute ins Unterholz begleitet, in deren Leben der Wald eine wichtige Rolle spielt – ob als Spiel-, Sport-, oder Arbeitsplatz. VON MONIKA BETTSCHEN (TEXT) BILDER: ANNETTE BOUTEILLER (HUNDEHALTERIN UND SPORTLER) UND ANDREA GANZ (KINDER UND JÄGERIN)

Heidi Ruckli, Waldkindergarten «troll» «Das beste Spielzeug ist die Fantasie» In der Nacht hat es geregnet. Die Luft im Uetlibergwald ist gesättigt fen die zwei- bis sechsjährigen Kinder in Sichtweite von Ruckli und zwei mit Feuchtigkeit. Blühender Bärlauch bedeckt den Waldboden wie ein Praktikanten frei spielen. Natürlich gibt es dabei auch Regeln. So dürfen hochfloriger Teppich. Weit weg von der geschäftigen Zürcher Innenstadt Pflanzen weder ausgerissen noch gegessen werden. Nicht dass noch ein beginnt für den Waldkindergarten «troll« ein Tag voller Abenteuer. Kind eine Vergiftung oder eine Infektion mit dem Fuchsbandwurm auf«Schau!», rufen einige Mädchen aufgeregt und halten Krippenleiterin liest. Zudem lernen die Kinder dadurch, Respekt vor der Natur zu haben. Heidi Ruckli eine Schnecke entgegen. Das Tier windet sich nach allen Heidi Ruckli hat Sozialpädagogik in Luzern studiert und war vor ihSeiten. «Seid ganz vorsichtig und setzt es an einen Ort, wo man nicht mit rem Stellenantritt beim Waldkindergarten in der Frauenarbeit tätig. Enden Füssen drauf tritt», ermahnt sie die Kleinen. Sie fassen das Tier behutsam am HäusDie Kinder fassen die Schnecke behutsam am Häuschen und chen und entlassen es nahe eines Baumentlassen sie bei einem Baumstamm in die Freiheit. stamms in die Freiheit. Nach dem Znüni dürde der 1950er-Jahre ist sie als Bauerntochter mit fünf Geschwistern im Luzernischen aufgewachsen. «Auf unserem Hof am Waldrand lebten wir mit den Jahreszeiten. Im Winter füllten wir die Futterkrippe für die Rehe und im Sommer zogen wir mit Wurst und Sirup im Gepäck los ins Grüne», erinnert sie sich. Es sei ihr deshalb ein Anliegen, dass nun auch ihre Waldkinder diese grossen Zusammenhänge in der Natur erleben könnten. «Die Kinder leben hier völlig im Augenblick. Spielzeug nehmen wir bewusst keines mit, denn ihr bestes Spielzeug ist die Fantasie», sagt Ruckli, die den Waldkindergarten seit über neun Jahren leitet. Etwas abseits sammeln einige Buben Steine für eine Feuerstelle. Heidi Ruckli beobachtet die Gruppe versonnen. «Als Kind war ich auch eine leidenschaftliche Sammlerin«. Sie habe Unmengen an Federn, Steinen und essbaren Kräutern mit nach Hause gebracht. «Auch heute noch gehe ich gerne alleine, ohne ein bestimmtes Ziel, spazieren, sammle Kräuter und geniesse die Stille im Wald.» Es ist Mittagszeit. Über der Feuerstelle wird die von den Eltern mitgegebene Lasagne aufgewärmt. Vom Zmittag frisch gestärkt, tauchen die Kinder noch einmal ins Waldleben ein, bevor sie von ihren Eltern am Nachmittag abgeholt werden: ausgetobt, mit schmutzigen Kleidern – und glücklich.

Mit dem internationalen Jahr des Waldes will die UNO 2011 auf die Bedeutung der Wälder für Mensch und Natur aufmerksam machen. Die Schweiz ist zu einem Drittel von Wald bedeckt. Hier leben über 20 000 Tier- und Pflanzenarten. Über ein Drittel der Schweizer Waldgebiete dient dem Schutz vor Lawinen, Steinschlag und Erdrutschen. Wälder binden das Treibhausgas CO2 und tragen so dazu bei, den Klimawandel einzudämmen. Zudem bilden die hiesigen Wälder für viele Menschen einen wertvollen Naherholungsraum. Quelle: Bundesamt für Umwelt BAFU SURPRISE 251/11

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Elisabeth Heini, Hundehalterin Bei jedem Wetter draussen «Unsere Hündin Fina ist eine Flat-Golden Retriever. Sie stammt aus regelrecht an. Zum Glück hat sie ein helles Fell, da sieht man die Blutseinem grossen Wurf mit zehn Welpen. Sie ist erst fünf Monate alt und auger schnell. hat dementsprechend viele Flausen im Kopf. Darum haben wir sie in der Fina hat ein freundliches und offenes Gemüt. Sie hat zwar noch eiersten Woche nach ihrer Ankunft in die Welpenspielgruppe einer guten nigen Respekt vor Pferden, Kühen oder Traktoren, aber auf ArtgenosHundeschule gebracht. Dort erlernen junge Hunde auf spielerische Art sen und Menschen geht sie aufgeschlossen zu. Diese Eigenschaften den Umgang mit Artgenossen. Das stärkt ihren Charakter schon von machen aus ihr einen idealen Familienhund. Unser zehnjähriger Sohn klein auf. Einen jungen Vierbeiner sollte man konsequent und liebevoll Luca und Fina sind ein unzertrennliches Team. Am Morgen wartet sie zugleich erziehen. Nach und nach konfrontiert man ihn mit verschiedevor seiner Zimmertür, um ihn zu begrüssen, und freut sich, wenn Lunen Alltagssituationen und Umgebungen und bringt ihm die ersten ca Zeit mit ihr verbringt. Kommandos wie Sitz, Platz oder Bleib bei. Dieses Engagement lohnt sich auf jeden Fall, denn «Das zarte Grün bestaunen und den Vögeln zuhören – für die Zeit, die man mit dem Tier verbringt, das ist für mich Lebensqualität pur.» bekommt man viel Dankbarkeit und Zuneigung von ihm zurück. Abwechslung ist bei der Planung der Spaziergänge mit einem Welpen wie Fina wichtig. Mal geSeit 1995 wohnen wir in Niederscherli schön im Grünen. Ich komhen wir übers Feld, mal in den Wald hinein. Wir Menschen wollen ja me ursprünglich aus Schwamendingen bei Zürich und geniesse daher auch nicht immer nur das Gleiche von der Welt sehen. das Landleben umso mehr. In die Stadt gehe ich nur für das Nötigste. Als Hundehalter hat man die Pflicht, in jeder Situation vorausIch ‹lädele› zwar gern, aber die Hektik und die vielen Menschen auf enschauend zu denken. Viele Menschen haben Angst vor Hunden, darauf gem Raum sind nichts für mich. Die Spaziergänge mit Fina sind mein muss man Rücksicht nehmen. Wenn ich mit Fina zum Beispiel hier im täglicher Sport. Ich bin jeden Tag draussen, bei jedem Wetter. Im WinKönizbergwald nahe Bern unterwegs bin, muss ich stets aufmerksam ter gefällt mir die besondere Ästhetik der kahlen Äste. Und gerade jetzt sein, weil hier Wildtiere leben. Ausserdem ist unsere Kleine ein echter im Frühling das zarte neue Grün zu bestaunen, ist für mich LebensZeckenmagnet. Bei warmem, trockenem Wetter zieht sie die Insekten qualität pur.»

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Iris Scholl, Jägerin und Biologin Der Artenvielfalt Sorge tragen «Ich bin nahe bei einem Wald aufgewachsen und hatte daher immer schon eine sehr enge Beziehung zu diesem Lebensraum. Am Anfang meines Wunsches, Jägerin zu werden, stand ein Buch, das ich als Elfjährige von meiner Mutter bekommen habe», erzählt die Jägerin und Biologin Iris Scholl während eines Rundgangs durch das Waldgebiet «Rägätsch» nahe Uster. Eine milde Nachmittagssonne leuchtet durch die Baumkronen. «Wild wie die Füchse» habe dieses Buch geheissen und handelte vom Inuit-Mädchen Alea, das mit den Männern auf die Jagd mitgehen durfte und so selber zu einer guten Jägerin wurde. «Diese Geschichte hat mich geprägt und begleitet.» Ihrer fünfjährigen Jagdhündin hat Scholl denn auch den Namen Alea gegeben. «Leider werden Jäger von der Öffentlichkeit oft als herzlose ‹Bambimörder› wahrgenommen.» Dabei seien doch gerade sie der Natur so nahe wie kaum eine andere Berufsgattung. Meistens bleibe es ohnehin beim Beobachten, geschossen werde selten. «Es sind bereichernde Momente, wenn ich auf einem Hochsitz ausharre und das Warten mit dem Anblick einer Rehfamilie belohnt wird.» Sie esse übrigens fast kein Fleisch, ausser es stamme von einem Tier, das sie selbst geschossen hat. «Da habe ich die Gewähr, dass das Tier wirklich ein artgerechtes Leben hatte.» Iris Scholl ist im Vorstand des Vereins Jagd Zürich. Als eine der ersten Frauen hat sie 1984 beim Kanton Zürich die Jagdprüfung abgelegt. «Ein-

fach war es am Anfang nicht, sich in einer Männerdomäne zu behaupten», erinnert sich die zierliche Frau mit den leuchtend blauen Augen. Doch es habe auch viele aufgeschlossene Kollegen gegeben, von deren Wissen sie profitieren durfte. Seit dem Abschluss ihres Studiums in Psychologie und Zoologie setzt sich die 54-Jährige für den Artenschutz ein und führt in ihrer Wohngemeinde Uster ein Büro für Verhalten und Ökologie. Aufklärung tue Not, denn «bevor man etwas als schützenswert erachtet, muss man es verstehen». Iris Scholl bleibt vor einem Baum mit gefurchter Borke stehen. «Eine Eiche. Kein anderer Baum der Schweiz bietet so vielen verschiedenen Arten Unterschlupf und Nahrung.» Beim Stichwort Biodiversität wird die engagierte Biologin nachdenklich. «Die zunehmende Mobilität der Menschen und der Siedlungsdruck machen Flora und Fauna zu

Die Jägerin isst fast kein Fleisch, ausser sie hat das Tier selbst geschossen.

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schaffen. Jede neue Strasse zerschneidet die Lebensräume von Feldhasen, Rehen und anderen Wildtieren.» Solch massive Eingriffe würden vielen Arten schlichtweg ihre Lebensgrundlage entziehen. Wie zum Trotz zieht hoch über den Wipfeln ein Rotmilan seine Kreise. Es besteht noch Hoffnung.

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Fritz Blattmann, Sportler Gedanken im freien Lauf «Im nächsten Leben wäre ich ganz gerne Polarforscher, Förster oder Geologe. Ich habe einen grossen Bewegungsdrang und bin viel an der frischen Luft. Ich finde, diese Kombination ist gut für Geist und Körper. Abenteuerlust und ein gewisser Ehrgeiz kommen dabei ebenfalls nicht zu kurz. Heute morgen war ich bereits mit dem ‹Lauftreff› unterwegs und bin mit dem Bike von zu Hause in Bern Neufeld hierher, Richtung Gurten, gefahren. Langlaufen, Bergtouren, Biken, Krafttraining und – seit meiner Pensionierung – der ‹Lauftreff› sind zu wichtigen Teilen meines Lebens geworden. Auch meinen beiden Töchtern habe ich mitgegeben, aktiv und vielseitig interessiert zu sein. Es braucht einfach ‹e chli vo auem›. Ich bin sehr dankbar, bei guter Gesundheit sein zu dürfen. Immerhin gehe ich mit grossen Schritten auf die 70 zu. Im Mai bin ich mit meinen langjährigen Velofreunden nach Italien gefahren und Ende Juni reise ich zum Biken nach Armenien. Das Velofahren am Gurten ist dafür eine gute Vorbereitung. Ich war schon einige Male im Ausland unterwegs, zum Beispiel in Israel, Jordanien und Marokko. Das Licht, die Weite und die Farbenvielfalt machen die Wüste zu einem faszinierenden Erlebnis. Meine Freude am Sport hat in der Jugendriege in Steffisburg begonnen und ist im Laufe der Jahre immer grösser geworden. Bei aller Ak-

tivität schätze ich aber auch das bewusste Innehalten. Mein Umfeld glaubt mir das oftmals nicht so recht. Manchmal lege ich mich im Wald auf den Rücken, döse, schaue in die Blätter hinauf und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Im Wald kann ich jederzeit Kraft schöpfen.

«Im Wald kann ich jederzeit Kraft schöpfen.»

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Ich bin eher ein traditioneller Mensch. Werte, Rücksichtnahme und gegenseitiger Respekt bedeuten mir viel. Wenn alle aufeinander achten, kommen auch im Wald Spaziergänger, Biker und Reiter problemlos aneinander vorbei. Unsere Wege können sich mehrmals kreuzen, deshalb sollte man sich so verhalten, dass man sich bei einem Wiedersehen in die Augen schauen kann. Man sollte einfach so sein, wie man ist, natürlich und echt. Werde ich nach meiner Lebensphilosophie gefragt, zitiere ich gerne Gustav Mahler: ‹Tradition ist die Bewahrung des Feuers, nicht die Anbetung der Asche.› Dieser Spruch gilt für mich beim Sport ebenso wie bei den Menschen und der Umwelt. Unser sorgloser Umgang mit der Natur gibt mir seit langem zu denken. Alle reden von Globalisierung. Doch wenn wir nicht einmal zu unserem eigenen Gärtli schauen können, wie sollen wir da schon bereit sein für grössere Aufgaben?» ■ SURPRISE 251/11


Krankheit und Familie Wenn Papa Krebs hat Wie sagen wirs den Kindern? Wenn Vater oder Mutter unheilbar krank ist, stehen die Eltern vor schwierigen Fragen. Ausweichen ist keine Option, denn es macht alles nur schlimmer. Helfen können spezielle Kinderbücher. VON ELISABETH WIEDERKEHR (TEXT) UND BETTINA PELLANDA (BILDER)

Die Diagnose, die Paul Perez vor etwas mehr als einem Jahr erhielt, veränderte nicht nur sein Leben schlagartig. Auch das seiner Frau Liliana und dasjenige seiner drei Buben verläuft seither nicht mehr in den gewohnt turbulenten Bahnen. Bevor die Computertomografie das Unfassbare ans Licht brachte, ahnte niemand, dass ein Hirntumor für die Kopfschmerzen des Familienvaters verantwortlich ist. Trotz Operationen und Chemotherapie wuchs der Tumor weiter. Da waren Worte gefragt, die den Kindern die Situation «deutlich, klar und kurz» erklären,

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wie Liliana Perez es ausdrückt. Während sich ihr Mann, besonders am Anfang, Freunden und Bekannten gegenüber oftmals über die Krankheit ausschwieg, rang sie immer von Neuem um angemessene Erklärungen. «Das ist sehr schwierig», erzählt sie, «denn wir stehen bis heute eigentlich unter Schock.» Gegen die Angst: altersgerechte Aufklärung Alain Di Gallo, Chefarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes Basel-Landschaft, kennt viele ähnliche Situationen und Konstellationen. Er hat die Erfahrung gemacht, dass Kinder rasch spüren,

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wenn ein Elternteil erkrankt. «Sie nehmen Stimmungen sensibel auf. Auch wenn die Erwachsenen, meist im Bestreben, die Kinder zu schonen, sich möglichst nichts anmerken lassen», sagt er. Daher weiss Di Gallo auch, dass Verschweigen, Überspielen oder schlicht Ignorieren auf Dauer nicht weiterhelfen. Das Zurückgehaltene präge dann oftmals subtil das Leben von Eltern und Kindern oder breche mit derartiger Wucht in dieses hinein, dass alle Beteiligten unweigerlich überfordert seien, meint er. Besonders wenn Kinder ihre Fragen nicht loswerden können, macht sich bei ihnen schnell Ratlosigkeit, Verunsicherung und Angst bemerkbar. Hinzu kommt, dass sie in solchen Situationen oft Scham, Schuld und Verantwortungsgefühle entwickeln. Daher setzt Di Gallo, wenn immer möglich, auf eine frühe und altersgerechte «Aufklärung» der Kinder. Wie jedoch die richtigen Worte finden? Dies ist sowohl für unmittelbar Betroffene als auch für Fachleute, die tagtäglich Kinder über Krankheiten ins Bild setzen oder Eltern dabei unterstützen müssen, eine echsche», eine Geschichte, die das Krankheitsbild Alkoholismus in kindte Herausforderung. Sollen die Erklärungen nicht ins Leere laufen oder gerechten Sprachbildern erläutert. Weitere Geschichten folgten, verseneue Missverständnisse schaffen, müssen sie dem Gegenüber angehen mit Bildern, die die Künstlerin Bettina Pellanda in wochenlanger passt werden. Kinder haben diesbezüglich besondere Bedürfnisse, können und wollen sie doch medizinische Fakten und Abwägungen nur ihrem eigenen EntwickWenn Kinder ihre Fragen nicht loswerden können, führt lungsstand entsprechend nachvollziehen. Desdas zu Ratlosigkeit, Verunsicherung und Angst. wegen brauchen sie einen «Raum zwischen Realität und Fantasie», den sie möglichst gemeinsam mit den Erwachsenen betreten können, sagt Di Gallo. «Bilder Arbeit gestaltet. Neben den bereits erschienenen Bänden zu Alkoholisund Geschichten verschaffen in hervorragender Weise Zutritt zu einer mus, Essstörungen, Krebs und Demenz hat die mittlerweile diplomiersolchen Sphäre», erklärt er. te Ärztin weitere Geschichten in ihrer Schreibtischschublade liegen. Die Ärztin Anja Jeger war noch im Studium, als sie sich eines Tages Wegen des riesigen Arbeitsaufwandes für die Illustrationen wurden sie hinsetzte und eine Erzählung schrieb, «Onkel Otto hängt an der Flajedoch bisher zurückbehalten. Damit alle Zugang zu den Büchlein haben, arbeiten Jeger und Pellanda ehrenamtlich, der Druck wurde mit Spendengeldern bezahlt. AnAnzeige: trieb war für Jeger und Pellanda nicht nur der Wunsch, Krankheiten für Kinder verstehbar zu machen, wie Jeger sagt: «Wir wollen auch zur Entstigmatisierung der von Krankheit Betroffenen beitragen.»

Wir sind die Pioniere Renate Kurze Sachbearbeiterin Anlagen

Papa kommt in den Himmel Die Familie Perez hat gute Erfahrungen mit einem anderen Buch gemacht. «Eugen oder der freche Wicht» von Michael Grotzer und Anna Sommer greift vieles auf, was Paul Perez am eigenen Leib erfahren hat. «Wir konnten zusammen das Buch anschauen, das gab uns etwas Halt und die Jungs hatten dadurch die Möglichkeit, Fragen zu stellen, die ihren Vater unmittelbar betreffen», erzählt Liliana Perez. Erzählt hat sie all ihren Buben praktisch das Gleiche. Im Umgang mit der Situation zeigen die drei Brüder grosse Unterschiede. Der Jüngste, der gerade mal drei Jahre alt war, als sein Vater erkrankte, sprach schon früh vom Tod. «Für ihn kommt der Papa einfach in den Himmel», erzählt sie. Der älteste Sohn, heute zehn Jahre alt, leidet sehr. Obwohl vieles darauf hindeutet, dass der Tag, an dem er sich von Vater Paul verabschieden muss, nicht fern ist, weist er nur schon das Wort «Tod» weit von sich. Therapien, welche Liliana Perez für jeden ihrer Söhne gezielt ausgewählt hat, sowie die Unterstützung durch Freunde und die Krebsliga helfen der Familie, den Halt nicht komplett zu verlieren. Während des Gesprächs ringt Liliana Perez immer wieder um Fassung, die Krankheit ihres Mannes hat auch sie sichtbar mitgenommen. Gerade jetzt für die Kinder da zu sein, das ist ihr grösstes Anliegen.

die ökologisch- ethische Pensionskasse

«Mit unseren Hypotheken fördern wir Wohnbauprojekte für neue Lebensformen. Da merke ich, dass sich etwas bewegt. Mit Kapital, das in eine gute Richtung arbeitet.»

Die Bilder von Bettina Pellanda stammen aus den Büchlein, die sie zusammen mit

Darin sind wir Pioniere – seit 25 Jahren.

Basel kostenlos bezogen werden:

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www.nest-info.ch

Anja Jeger herausgibt. Alle vier Bände können einzeln oder zusammen bei der Pro Juventute beider

Pro Juvenute beider Basel, Schlüsselberg 15, 4001 Basel, www.projuventute-bb.ch SURPRISE 251/11


Krankheit und Familie «Den Schmerz zeigen» Anja Jeger und Bettina Pellanda, die Autorin und die Illustratorin der Pro-Juventute-Broschüren, über ihre Krankengeschichten für Kinder. zum Ausdruck. Auf der ersten Seite jedes Büchleins habe ich das jeweilige Kind im Umfeld der anderen Protagonisten dargestellt. Wie sind Sie damit umgegangen, dass Krankheiten sehr unterschiedlich verlaufen? Anja Jeger: Die Geschichten enden offen. Gerade bei Krebs sind ja besonders viele Krankheitsverläufe möglich. Diesem Umstand tragen die Geschichten Rechnung, indem sie grossen Spielraum für individuelle Ausführungen der Erzählenden lassen. Wichtig war uns aber bei allen so etwas wie ein «tröstender Unterton». Zudem steckt in Texten und Bildern auch eine Portion Humor. Die Geschichten erlauben den Kindern verschiedene Deutungsmöglichkeiten ihrer Erfahrung und können auch immer wieder neu erzählt werden. INTERVIEW: ELISABETH WIEDERKEHR

Wie können illustrierte Erzählungen Kindern helfen, die Krankheit eines Familienmitglieds zu verstehen? Anja Jeger: Uns ist sehr wichtig, dass die Erzählungen die Kinder ganz direkt ansprechen. Deshalb wird eine Identifikation mit den Protagonisten, die in allen Geschichten selbst Kinder sind, angestrebt. Unser primäres Ziel ist es, bei den Kindern Verständnis für Krankheiten und deren Konsequenzen zu fördern, medizinisches Wissen spielt dabei nur am Rand eine Rolle. Bettina Pellanda: Die direkte Identifikation kommt auch in den Bildern SURPRISE 251/11

Apropos Bilder: Die sind teilweise ziemlich extrem. In der Geschichte zu den Essstörungen haben Sie etwa das Reinstopfen von Nahrungsmitteln und das anschliessende Erbrechen sehr drastisch dargestellt. Weshalb? Bettina Pellanda: Beim Zeichnen habe ich mir selbst oft die Frage gestellt: Wie weit soll ich gehen? Die Gespräche mit Anja Jeger haben dann mein eigenes Empfinden bestärkt, nichts geschönt darzustellen. Wir wollen den Kindern bewusst auch die schmerzhaften und extremen Seiten einer Krankheit zeigen, denn so ist die Realität. Wenn die Büchlein wirklich glaubwürdig sein und das Verständnis der Kinder für die Krankheit fördern sollen, müssen auch die schwierigen Seiten deutlich werden. ■

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Krieg in Libyen Im Flüchtlingslager Zu Tausenden strömen Vertriebene aus den umkämpften libyschen Städten nach Tunesien und Ägypten. Die meisten sind Migrationsarbeiter aus schwarzafrikanischen Ländern. Der frühere Geschäftsführer von Surprise, Fred Lauener, hat diesen Frühling als Konsulent für Caritas Schweiz die humanitären Nothilfeaktionen begleitet. Eindrücke aus einem Arbeitstag im Flüchtlingscamp an der ägyptischen Grenze.

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VON FRED LAUENER (TEXT UND BILDER)

Unsere Unterkunft ist ein kleines, einfaches Motel, direkt an der Strasse, gut 100 Kilometer von der libyschen Grenze entfernt. Die Strasse ist in gutem Zustand. Den täglichen Arbeitsweg schaffen wir in etwas mehr als einer Stunde pro Fahrt. Wir sind ein kleines Team von sieben Leuten. Vollzählig sitzen im Auto: Drei Ägypter, zwei Libanesinnen, ein Ire und mit mir auch ein Schweizer. Wir alle wurden von unserer nationalen Caritas-Organisation hierher geschickt. Der gemeinsame Auftrag: Die Erstversorgung der Kriegsvertriebenen aus Libyen mit Mahlzeiten, Trinkwasser und wichtigen Artikeln für Hygiene und Gesundheit. Der letzte Posten vor dem Zoll heisst Salloum; ein unscheinbarer Ort an einer lauschigen Meeresbucht. Salloum hat einen kleinen Hafen, einen Bahnhof, zwei Moscheen, eine Militärkaserne, einen Markt, eine Apotheke, eine Pension, ein Kaffeehaus und einen britischen Soldatenfriedhof aus dem Zweiten Weltkrieg. Sonst gibt es hier nur Sand. Den schmalen Streifen Ackerland zwischen dem menschenleeren Strand und der einzigen asphaltierten Strasse müssen die Bewohner immer wieder von Neuem der Wüste abringen. Hinter dem verschlafenen Städtchen windet sich die Strasse den Berg hinauf zur einzigen Zollstation nach Libyen, dem Salloum Land Port. In friedlichen Zeiten werden hier schwere Trucks abgefertigt, Geschäftsleute in modernen Limousinen und hin und wieder auch ein paar Touristen. Wanderarbeiter unter Generalverdacht Seit März ist alles anders. Die grünbraunen Tanks und Mannschaftswagen des ägyptischen Militärs und die weissen Offroader der internationalen Organisationen dominieren die Szenerie. Die Reisecars auf dem Parkplatz sind nicht die aus dem Ferienkatalog, sondern von der Internationalen Organisation für Migration IOM hierher bestellt worden. Es gibt auch Taxis, die auf Kundschaft lauern. An dieser würde es weiss Gott nicht mangeln. Zu Hunderten, manche Nacht zu Tausenden, erreichen erschöpfte Seelen die Grenze. Vertrieben vom Krieg und dem Elend hinter dem Schlagbaum. Dann sitzen und liegen sie hier auf ihrem spärlichen Gepäck und warten auf die Erlaubnis der Grenzbeamten zur Weiterreise in einem der Cars auf dem Parkplatz zum nächsten Flughafen. Die meisten Flüchtlinge stammen aus Ländern, für die es zur Einreise nach Ägypten ein Visum braucht. Viele haben jedoch keine Papiere und sitzen hier schon seit Wochen fest. Tag und Nacht unter freiem Himmel, weil die ägyptische Regierung keine langfristige Lagersituation schaffen möchte und deshalb Zelte auf dem Zollgelände nicht zulässt. Einzig für Familien mit Kindern sowie für Alte und Kranke wurde eine Halle freigegeben. Tagsüber brennt die Sonne in Salloum mit 35 Grad Celsius, nachts sinkt die Temperatur bis nur wenig über Null. Nach einer Reihe Checkpoints von Polizei und Militär sind wir da. Der erste Job ist immer die Ausgabe des Frühstücks. Die Pakete mit Brot, Käse, Thunfisch, Saft und Fruchtriegeln haben wir schon am Abend zuvor bereitgestellt. Etwas ist heute anders als sonst. Vor dem «Distribution-Point», der kleinen Bude mit Wasser und Strom, die uns die Grenzbehörden als Magazin und Essensausgabestelle zur Verfügung gestellt haben, sitzt eine grössere Gruppe junger Männer aus dem Tschad und versperrt den Eingang. Sie befänden sich seit letzter Nacht im Hungerstreik, sagt einer, den sie zu ihrem Sprecher gewählt haben. Die Aktion werde erst abgebrochen, wenn sich ihr Botschafter hier einfinde und dafür sorge, dass sie endlich von hier fortkämen. «Bringt den Botschafter her», skandiert die Gruppe und klatscht dabei mit den Händen auf den Boden. Die Tschader sind die mit Abstand grösste Gruppe am Salloum Land Port. Junge Männer, manche noch fast Kinder, die von Libyen als billige Wan-

derarbeiter ins Land geholt wurden und nun um Leib und Leben fürchten müssen. Weil jeder der männlich, jung und schwarz ist, im Verdacht steht, ein Söldner des Gaddafi-Regimes zu sein. Die Frühstücksausgabe ist durch die Hungerstreikenden vorerst blockiert. Das gefällt einer anderen Gruppe Männer nicht, die nun mit Stöcken auf den Distribution Point zukommt. Es bahnt sich Unheil an. Ein paar Soldaten eilen herbei, einer schiesst zur Warnung in die Luft. Die Streithähne werden auseinandergetrieben. Wegen dem Vorfall haben wir zwei Camions mit Lebensmitteln auf dem Weg hierher avisiert, eine Stunde später einzutreffen, damit wir die Ladung ohne Gefahr löschen können. Der Vormittag ist fast vorbei. Um halb zwölf erfahren wir im Coordination-Meeting, dass seit gestern erneut weit über 1000 Menschen im Camp eingetroffen sind. Ein eben aus Libyen zurückgekehrter Arzt erzählt, dass noch Abertausende unterwegs seien, darunter aber nur wenige Libyer. Viele einheimische Bewohner der beschossenen Städte hätten diese zwar verlassen, fänden aber Schutz in Dörfern der Umgebung.

Viele haben keine Papiere und sitzen hier schon seit Wochen fest.

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In Schulhäusern oder auch bei wildfremden Familien, die sie vorübergehend aufnehmen. Diese Informationen decken sich mit unseren eigenen Beobachtungen. Die Libyer wollen nicht weg. Zwar sehen wir auch in Salloum viele Fahrzeuge mit libyschen Nummernschildern ankommen. Einige fahren zu Verwandten in Ägypten weiter und wollen später wieder zurück. Ein Grossteil kehrt aber schon an der Grenze um. Nach ein paar Stunden Schlaf im Auto, der sie wieder sicher oder vielleicht auch nur mutiger macht. Erleichtert sind wir, als wir vernehmen, dass endlich ein Vertreter der tschadischen Botschaft auf dem Weg hierher sei und nun Bewegung in die Evakuierung der Tschader komme. Viele der fast zweitausendköpfigen Gruppe sind bereits zwei Wochen und länger hier. Die Unzufriedenheit steigt. Zwischenfälle wie bei der Frühstücksausgabe heute morgen häufen sich. Ein Hundeleben Jeanne von Caritas Libanon und unsere beiden Mohammeds, der eine ist für die Logistik zuständig, der andere unser Fahrer, warten schon im Auto, als ich aus der Sitzung komme. Wir wollen die beiden einzigen Palästinenser besuchen, die sich auf dem Gelände aufhalten. Der Weg zu ihnen ist weit, deshalb fahren wir. Palästinenser sind in Ägyp-

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truppen umzingelt sein würde. Seine Tochter Maryam begleitete ihn. Die beiden Söhne blieben zurück. Einer in Tripolis. Einer in Bengasi. Vor einer Woche erreichten Samer und Maryam Salloum und sitzen seither hier fest. Der zugewiesene Platz ist harter Stein. Es hat einen Schuppen, doch hinein dürfen sie nicht. Auch nicht nachts oder bei Regen. Ein Hundeleben. Wir versorgen Samer und Maryam täglich zweimal mit Lebensmitteln, beobachten ihre Gesundheit und bleiben dann immer ein bisschen länger. Reden mit ihnen und hören ihnen zu. Samer ist ein gebildeter Mann und spricht gut Englisch. Mit meinem Handy versucht er, seine Söhne zu erreichen. Nach Tripolis kommen die Anrufe immer durch. Und dauern dann meist ziemlich lange. Seinen Sohn in Bengasi kann Samer nicht mehr erreichen, das Mobilfunknetz ist zusammengebrochen. Gestern hatte uns das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR mitgeteilt, dass man endlich eine Lösung mit den Behörden gefunden habe. Samer und Maryam können sich bald auf das letzte Stück Weg nach Hause machen. Nun hoffen wir jedes Mal, wenn wir den beiden Palästinensern das Frühstück bringen, dass sie nicht mehr da sind. ten nicht willkommen. Die Grenzer verwehren den beiden sogar den Zutritt zum Zollgelände und haben ihnen einen Platz weit weg im ausgedehnten Niemandsland zugewiesen. Die beiden heissen Samer und Maryam. Samer ist der Vater von Maryam. Seine alte Heimat ist der Gaza-Streifen. 36 Jahre lebte und arbeitete er in Libyen. Die drei Kinder, zwei Söhne, eine Tochter, sind dort aufgewachsen. Samers Frau lebt nicht mehr. Der Nachwuchs ist längst erwachsen. Vor zehn Tagen machte sich der 70-Jährige auf den Weg. Von Bengasi Richtung Ägypten. Samer ist nicht mehr so gut zu Fuss. Er wollte weg, solange noch Zeit war. Bevor die Stadt von Regierungs-

Das Heftpflaster als Sonnenschutz In unserem Magazin geht es zu wie in einem Bienenhaus. Als wir eintreffen, kommt uns Donel, der Ire in unserer Gruppe, entgegen. Eben erst sei eine Ladung mit Tausenden Hygienesets geliefert worden, und nun müsse auch noch ein Camion mit Bananen und Orangen entladen werden. Beide Lieferungen waren nicht geplant und wurden uns auch nicht angekündigt. Die Früchte sind eine Spende von Exil-Libyern

Die Libyer wollen nicht weg. Viele kehren schon an der Grenze wieder um.

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Zählung der anwesenden Personen. Um richtig planen zu können, müsaus den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Hygienesets hat uns eine sen wir wissen, mit wie vielen Essern wir jeweils zu rechnen haben. internationale Organisation zur Verteilung überlassen. Wie viele Personen halten sich aktuell im Camp auf und werden am Logistiker Mohammed mobilisiert ein paar Freiwillige des ÄgyptiMorgen in der Schlange für das Frühstück stehen? Wie viele Frauen, Kinschen Roten Halbmondes und eine Handvoll tschadischer Flüchtlinge, der, Kranke oder alte Menschen sind da? Denen wollen wir das Anstedie nichts gegen eine Beschäftigung haben. Sie beginnen mit dem Abpacken der Früchte in Portionensäcke. Derweil kümmere ich mich mit Donel um die HygieJedes Mal, wenn wir den Palästinensern das Frühstück nesets. Bei den nach Geschlecht sortierten Arbringen, hoffen wir, dass sie nicht mehr da sind. tikeln handelt es sich um Zahnbürsten, desinfizierende Seife, Socken, Binden für Frauen, hen in der Kolonne nicht zumuten, sondern bringen das Essen an ihre Rasierzeug für Männer und so weiter. Ein prima Necessaire – für EuroLiegeplätze. Hat es Diabetiker, die kein Weissbrot essen dürfen? päerinnen und Europäer. Allerdings zweifeln wir, ob es das auch für die Die statistischen Angaben, die wir täglich vom Zoll bekommen, sind vielen Afrikaner im Camp ist. Sie sehen diese Art von Toilettenartikeln ungenau. Einen Vorwurf können wir deswegen niemandem machen. vermutlich zum ersten Mal in ihrem Leben und sind auch nicht in der Wie sollen die Beamten eine vernünftige Statistik erstellen, wenn sich Lage, die englischen Beipackzettel zu lesen. die Flüchtlinge zweimal, dreimal oder sogar viermal registrieren lasWir schreiten zum Test und schnappen uns einen unserer tschadisen? Mit jeweils einem anderen ihrer vielen Vornamen. Aus Verzweifschen Helfer. Wir zeigen ihm jedes einzelne Produkt und fragen, wozu lung und in der Hoffnung, damit ihre Chance zu verbessern, für den er es benutzen würde. Folgendes Resultat: In der Flasche mit dem Desnächsten Bus ausgewählt zu werden. Denn alle wollen nur eines: weg infektionsmittel vermutet er ein Parfum, schnüffelt daran und weiss, hier. dass er wohl falsch liegt. Aber er hat keine Ahnung, wofür es wirklich ■ ist. Die Rasiercreme hält er für Zahnpasta, die andere Tube rät er richtig: diesmal ist es Zahnpasta. Die zwei Rollen WC-Papier würde der junge Mann zum Händetrocknen verwenden und das Shampoo als Deo. Zu guter Letzt vermutet er im Kartonpaket mit Heftpflastern eine Kopfbedeckung gegen die Sonne. Wir werden die Hygienekits morgen verteilen. Aber nicht ohne Begleitinformationen. Das wird ziemlich aufwendig, aber anders geht es nicht. Mittlerweile steht die Sonne tief. In spätestens einer Stunde müssen wir zurück in unsere Unterkunft. Aus Sicherheitsgründen fahren wir nur bei Tageslicht. Vorher reicht es aber noch für einen «head-count», eine SURPRISE 251/11

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BILD: ANDREA GANZ

Le mot noir Ferienreif Kürzlich abends in der Strandbar. «Ich bin vielleicht ferienreif!», falle ich neben meine Freundin Maggie in einen Sitzsack. Aber Maggie tippt ungerührt in ihr Handy. «Mein Bruder ist jetzt in Shanghai. Und er schreibt, du verpasst was.» «Warum denn Shanghai?» «Das liegt in China.» «Er ist in China?» «Sieht so aus.» «Man sollte Motorboote verbieten», schaue ich auf den See und strecke die Beine aus. «Die machen Krach und verschmutzen die Umwelt.» «Markus und ich nehmen eine Auszeit», starrt Maggie in ihr leeres Glas. «Eigentlich nimmt er eine Auszeit und ich sitze solange hier. Oder sonst wo … Also hab ich ihm gesagt, kein Problem, ich amüsiere mich. Daran ist ja nichts Falsches, und wenn die Auszeit vorbei ist, bin ich wieder in Form … Oder

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meinst du, ich gehe da vielleicht falsch ran?» Die Kellnerin bringt mir einen CampariOrange. «Ich nehme auch einen», redet Maggie weiter. «Und du?» «Das wäre dann der dritte», zählt die Kellnerin zusammen. «Ich brauche die Vitamine.» «Dann lassen Sie doch den Campari weg.» «Der verarbeitet die Vitamine», ist Maggie frustriert. «Warum nehmen die keine Kanus?», schaue ich weiter auf den See. «Ist doch viel schöner.» «Vielleicht hast du recht», fischt Maggie eine Orangenschale aus ihrem leeren Glas. «Vielleicht hat sich Markus weiterentwickelt … Vielleicht braucht er eine Frau, die weiter entwickelt ist …? Ich könnte mich auch weiterentwickeln, wenn ich wollte. Hab ich auch. Ich habe einen neuen Bikini gekauft von Bottega Veneta. In Hot Orange! So nennen sie die Farbe … Ein neues Orange, also entwickle ich mich weiter … Ich weiss nicht, was er hat. Meinst du, ich mache einen Fehler?» «Rechts … links … rechts … links. Mal ehrlich, Rudern ist doch nicht so schwer, oder?» «Ich könnte mich auch tätowieren lassen … eine Schildkröte … er steht nicht auf Schildkröten, aber ich finde sie süss. Eine kleine Schildkröte, da wo man sie nicht gleich entdeckt. Ist gar nicht so teuer, ausser dass man sich nachher schonen muss. Und ich weiss nicht, ob sich das mit Hot Orange verträgt», schaut Maggie auf den See. «Oder ich könnte auch einen Leguan nehmen. Den mögen wir

beide, und wenn die Auszeit vorbei ist, haben wir – puff – einen Leguan!» «Okay, wenn ich kurz schwimmen gehe?», sage ich und stehe auf. Eine halbe Stunde später summt Maggies Handy erneut. «Mein Bruder. Er sagt, du verpasst was!» «Wie geht es ihm?» «Er ist in China.» «China?», drehe ich mein Glas in der Hand. «Da fällt mir ein, dein Bruder wollte mit mir nach China reisen. Die Chinesen kennen lernen oder so. Meinst du, ich sollte mit ihm da hin?» «Ich glaube, dieses Schiff ist losgesegelt.» «Ich könnte auch in die Ferien», überlegt Maggie weiter. «Das wäre dann eine Auszeit, in der ich weg wäre. Psychologisch wertvoll, meinst du nicht? Aber China? Vielleicht lieber Italien. Ans Mittelmeer. Oder Dubai. Weit weg von hier. Wo es keine Auszeit gibt.» Maggie winkt nach der Kellnerin und streckt die Beine aus. «Motorboote machen zu viel Krach», schaut sie auf den See. «Ich finde, die sollte man verbieten.»

DELIA LENOIR LENOIR@HAPPYSHRIMP.CH ILLUSTRATION: IRENE MEIER (IRENEMEI@GMX.CH) SURPRISE 251/11


Heavy Metal Sensibelchen im Satan-Shirt Teufelsmusik für Höhlenbewohner: Dieses Image klebt am Heavy Metal wie Pech und Schwefel. Die Fans schrecken mit ihrem Aussehen Eltern und brave Bürger – sind aber meist friedlicher als Grümpelturnierbesucher. Teil drei der Surprise-Serie über Subkulturen.

Der Raum dampft von Bier und Männerschweiss. Verzerrte Riffs fräsen sich in die Gehörgänge. Das Publikum trägt Band-Shirts und Bierbäuche, Tattoos und Bock-Bärtchen und wer noch Haare hat, schwingt sie im Takt, der gerade in seine Sechzehntel zerlegt wird. Der typische Heavy sieht nicht sonderlich vertrauenerweckend aus. Doch laut Daniel Hilfiker, Leiter des Zürcher Jugendkulturhauses Dynamo, wo regelmässig Metalkonzerte stattfinden, verbirgt sich hinter dem «martialisch-männlichen Auftreten» nicht selten eine sensible Seele: «Sie möchten böse Jungs sein, doch die meisten sind ausgesprochen friedliche Leute, die ihre Introvertiertheit mit einem harten Outfit kompensieren.» Der Bierkonsum sei zwar hoch, aber: «Schlägereien erleben wir bei Metalkonzerten – im Gegensatz zu Reggae- oder Hip-Hop-Veranstaltungen – praktisch nie.» Begründet wurde der Heavy Metal gemäss landläufiger Einschätzung von Black Sabbath. 1970 veröffentlichte das englische Quartett um Gitarrist Tony Iommi und Sänger Ozzy Osbourne sein Debüt und definierte damit das Genre: schwere, verzerrte Riffs, donnernde Drums und Texte über Tod und Teufel. Das schockte seinerzeit die Hippies und seither Generationen von Teenager-Eltern. In den 80er Jahren lieferte Metal den Soundtrack zur jugendlichen Auflehnung. Schwermetall wurde zu Gold. Iron Maiden führten ihr Band-Maskottchen – ein Monster namens Eddie – in Stadien spazieren. Parallel verästelte sich die Szene in eine Vielzahl von Subgenres. Die Poser-Fraktion um Bon Jovi und Poison (später auch die Schweizer Gotthard) machte harten Rock für kleine Mädchen erträglich. Das zwang die bösen Buben zur Abgrenzung durch immer krassere Klänge. Metallica und Slayer setzten neue Massstäbe in Sachen Tempo und Härte. Die Bilderwelt füllte sich mit gepfählten Päpsten, geschändeten Lederludern und jeder vorstellbaren Grauslichkeit. «Dieses T-Shirt trägst du nicht für die Schule», sprachen Mütter zu ihren Söhnen, und manches Textil verschwand beim Waschen spurlos. Neben Speed, Thrash, Death und Black Metal entstand parallel auch der White Metal, der sich nicht musikalisch definierte, sondern über religiöse Inhalte. So sang die christliche Band Stryper «To Hell With The Devil» und kippte kistenweise Bibeln ins Publikum. Gegen Ende der 80er wurde die Szene offener: Anthrax mischten Thrash-Metal mit Rap und hüpften in neonfarbenen, kurzen Hosen über die Bühne – eine Revolution in einem Umfeld von schwarzen Jeans- und Lederjacken. Heavy Metal gehört zu den langlebigsten und lebendigsten Subkulturen. Laurent Giovanoli moderiert auf Radio X seit 1999 die Sendung Metal X und kennt die heutige Szene: «Fast jeder Fan ist auch selber aktiv: in einer Band, als Veranstalter, Labelbetreiber oder als Blogger und Fanzine-Schreiber. Der Do-it-yourself-Gedanke ist weit verbreitet.» Derzeit entdeckt eine neue Generation von Bands und Fans den traditionellen Metal neu. «Es ist eine spannende Zeit», sagt Giovanoli: «Der Untergrund ist weit lebendiger als noch vor zehn Jahren.» SURPRISE 251/11

BILD: ZVG

VON RETO ASCHWANDEN

Kämpft gegen seine Introvertiertheit: Iron-Maiden-Maskottchen Eddie.

Verdiente Veteranen spielen regelmässig vor mitgealterten Fans im Z7 in Pratteln BL. Kleinere Bands touren durch halb Europa und treten dabei in städtischen Kulturzentren, besetzten Häusern oder in Baracken abgelegener Dörfer auf – oder gleich komplett im Chrachen: In Muotathal SZ findet alljährlich das Festival Mountains of Death statt. Vor 1500 Fans spielen Extremmetaller mit Namen wie Rectal Smegma, Oral Fistfuck oder Human Parasite. Doch selbst die Härtesten der Harten zeigen sich zivilisiert, wie Bauer Remigi Heinzer, der jeweils sein Land zur Verfügung stellt, der Lokalzeitung berichtete: «An Grümpelturnieren habe ich mehr Ärger mit Einheimischen, als mit diesen Festivalleuten.» ■ www.metal-x.radiox.ch Dienstags von 21 bis 22 Uhr, im Internet und auf UKW 94,5 in der Region Basel. Infernal War, Christ Agony u.a. 10. Juni, Dynamo, Zürich. Stryper 20. Juni, 20, Z7, Pratteln. Sonisphere mit Iron Maiden, Judas Priest, Alice Cooper uvm. 23./24. Juni, St. Jakob, Basel. Anthrax 5. Juli, 20 Uhr, Schüür, Luzern. Mountains of Death 18. bis 20. August, Muotathal.

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Würdest du mit ihm schlafen? –

BILD: ZVG

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Kulturtipps

Mutter Kate und ihr schlechtes Gewissen: Teure Jeans gibts nicht.

Bunnys auf Zeitreise.

Comic Die nackte Wahrheit?

DVD Quälende Schuldgefühle in der City

In «Coney Island Baby» wirft die französische Comic-Autorin Nine Antico einen nüchternen Blick hinter die schillernde Fassade der amerikanischen Porno-Industrie.

«Please Give» hinterfragt auf tragikomische Weise die Motive spendewilliger New Yorker. Regisseurin Holofceners Studie zu Grossstadtneurotikerinnen trifft dank Situationsgespür den zeitgeistigen Nerv.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON NILS KELLER

Ausgerechnet Playboy-Verleger Hugh Hefner! Ausgerechnet das im Viagra-Rausch ergraute Urgestein aller Entblätterungsmagazine tritt in Nine Anticos zweiter Graphic Novel als väterlicher Warner auf. Wie ein wohlwollender Cicerone nimmt er zwei hasenohrgeschmückte Möchtegern-Bunnys mit auf eine Zeitreise in die Vergangenheit – vorgeblich, um ihnen die Gefahren des Sexbusiness vor Augen zu führen. Nahtlos hin- und herswitchend, spult er die Biografien von zwei der berühmtesten amerikanischen Sex-Ikonen des 20. Jahrhunderts ab: von Bettie Page, der Pin-up-Legende der Fünfzigerjahre, und Linda Lovelace, die in den Siebzigern mit «Deep Throat» den Pornofilm salonfähig machte. Ihre Lebensläufe weisen traurige Gemeinsamkeiten auf. Beide feierten einen kometenhaften Aufstieg und nicht weniger rasanten Abstieg, und beide bekamen nur wenig bis nichts von den Millionen zu sehen, die sie mit ihren Reizen in die Kassen der Halbwelt spülten. Der Oral-Blockbuster «Deep Throat« etwa, für nur 25 000 Dollar produziert, soll 600 Millionen Dollar eingespielt haben. Linda Lovelace erhielt nicht einmal das Honorar von 1200 Dollar. Weder für Bettie Page noch für Linda Lovelace gab es nach der letzten Klappe ein Happyend. Während sich Page – die in der Achtzigern wiederentdeckt und seitdem vielfach kopiert wurde – in die Religion flüchtete, engagierte sich Lovelace in der Frauenbewegung. Beide klagten ihre ehemaligen Macher an, verstrickten sich aber in Widersprüche, die Zweifel an der Glaubwürdigkeit ihrer Vorwürfe schürten. Anhand dieser exemplarischen Biografien gelingt es Nine Antico, die Geschichte der amerikanischen Porno-Industrie lebendig werden zu lassen. Ihr nüchterner Strich entlarvt die schillernde Scheinwelt und zeigt sie als das, was sie ist: ein knallhartes Geschäft. Dass sie Hugh Hefner zum Erzähler macht, erweist sich dabei als geschickter Kunstgriff. Denn durch die Fragwürdigkeit dieser Optik bleibt die nackte Wahrheit in der Schwebe – trotz aller unzweideutigen Eindeutigkeiten. Es bleibt der Leserschaft überlassen, sich eine Meinung zu bilden – und den eigenen Befangenheiten und Vorurteilen auf die Schliche zu kommen.

Im Zentrum des Ensemblefilms von Nicole Holofcener steht Kate, gespielt von Arthouse-Darling Catherine Keener. Zusammen mit ihrem Mann Alex (Oliver Platt) führt sie ein erfolgreiches New Yorker Antiquitätengeschäft. Sie findet die Designklassiker bei den Erben frisch Verstorbener, in deren Wohnungen sie die Schmuckstücke zu Spottpreisen erstehen kann. Doch ihr Erfolg liegt Kate schwer auf dem Magen: Sie verteilt in demütigem Eifer Fünf-Dollar-Scheine an Obdachlose und bietet auf dem Heimweg vom Restaurant ihren eingepackten Hauptgang vermeintlich Bedürftigen an. All dies zum Entsetzen ihrer 15-jährigen Tochter Abby, die von ihrer Mutter keine neuen, 200 Dollar teuren Jeans erhält, weil, wie Kate klarmacht: «Solange in unserem Quartier 45 Obdachlose leben, gebe ich sicher nicht 200 Dollar für eine neue Hose aus!» Das schlechte Gewissen von Kate führt auch dazu, dass sie ihre greise Nachbarin Andra und deren Enkelinnen Rebecca (Rebecca Hall) and Mary (Amanda Peet) kennen lernen möchte. Da jedoch Alex und Kate bereits die Nachbarwohnung gekauft haben, kommt diese Geste den weniger gut gestellten Geschwistern äusserst verdächtig vor und führt erst zu verstörendem Small Talk, dann zu einer leeren Affäre und am Ende zu schweigsam geteiltem Leid. «Please Give» spannt ein loses Netz zwischen diesen Frauen aus drei Generationen. Regisseurin und Autorin Holofcener schafft fast zu glaubwürdige Figuren: Die gelungenen Szenen erinnern an den bissigen Humor aus Woody Allens Stadtkomödien. Oft jedoch tritt ein inneres Kopfschütteln anstelle des Lachens, da man den Figuren – ähnlich wie in den Filmen von Todd Solondz («Happiness») – angewidert zuguckt, wie sie durch ihre kläglichen Existenzen stolpern. So bleiben einem die Frauen am Ende leider zu fern, um ihnen die fehlende Komplexität und das zu kleine Entwicklungspotenzial zu verzeihen. Der Charakter von «Please Give» lässt sich am ehesten mit dem Geburtstagskuchen vergleichen, den die Greisin Andra von Kate und Alex erhält. Auf Alexs Frage hin, wie denn der Kuchen schmecke – antwortet sie: «Trocken.»

Nine Antico: Coney Island Baby. Edition Moderne 2011. CHF 36.00.

PLEASE GIVE (USA 2010), 87 Min., Englisch, Deutsch; deutsche, englische und türkische Untertitel. Extras: Behind the Scenes, Outtakes. www.sonyclassics.com/pleasegive

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Am Unfallort: Aasgeier trifft morphiumsüchtige Notfallärztin.

Kino Leben auf Kollisionskurs Steht die Ampel auf Rot, bedeutet das «Stopp!». Der Film «Carancho« des argentinischen Regisseurs Pablo Trapero spielt in einer Gesellschaft, die diese einfache Verkehrsregel fatal missachtet. VON THOMAS OEHLER

8000 Menschen sterben pro Jahr in Argentinien bei Verkehrsunfällen. Das hält nicht nur Polizei und Ambulanz auf Trab, sondern auch die Unfallversicherungsgesellschaften: Beträchtliche Summen an Entschädigungsgeldern werden ausgezahlt. Dubiose Anwaltskanzleien bieten den Unfallopfern ihre Hilfe im administrativen Chaos an und stecken dabei das meiste Geld selber ein. Inszenierte Unfälle und künstlich verschlimmerte Verletzungen sind dabei makabrer Alltag. Die Anwälte dieser Kanzleien lauern am Unfallort und im Krankenhaus und versuchen, die Opfer einzuspannen – sie sind «Caranchos», auf deutsch: «Aasgeier». Sosa, gespielt vom argentinischen Filmstar Ricardo Darin («El Secreto De Sus Ojos»), ist ein solcher «Aasgeier». Gern macht er das nicht, aber er hat keine gültige Anwaltslizenz mehr und ist zudem hoch verschuldet. Sosa ist erschöpft. Das schlechte Gewissen und Einsätze zu Unzeiten machen ihm zu schaffen. Seine Versuche, der Abhängigkeit von den mafiösen Strukturen seiner Kanzlei zu entkommen, treiben ihn aber nur tiefer in ihre Fängen. Auch die junge Luján (Martina Gusman) ist müde. Als Notfall- und Ambulanzärztin hetzt sie rund um die Uhr vom notorisch unterbelegten Spital zu den Unfällen und zurück. Wie auf Autopilot, kämpft sie sich durch die langen Nächte. Einziger Kraftstoff, mit dessen Hilfe sie dem ständigen Stress standhält, ist Morphium. Eines Nachts treffen Sosa und Luján aufeinander. Trotz Erschöpfung und Verzweiflung entsteht eine zarte und angesichts der Umstände stets unfallgefährdete Beziehung: «Beim vierten Auto, das bei Rot über die Kreuzung fährt, küsse ich dich.» «Carancho» ist ein Liebesfilm im Kleid eines Film Noirs. Regennasse Strassen, neonerhellte Nächte und ungemütliche Räume schaffen ein Klima diffuser Ruhelosigkeit. Niemand behält den Durchblick. Vorwärts getrieben, bleiben alle für sich. Regisseur Pablo erschafft so das beklemmende Sittengemälde einer Gesellschaft auf Kollisionskurs: ohne Regeln, ohne Stopp – es sei denn in der Havarie. Am Ende des Films ist Sosa schwer verletzt und Luján zittert vor Angst und Entzug. Immerhin: Sie sind zusammen, sie haben ein Auto, sie versuchen zu fliehen. Rotlicht. 8002.

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Augusta-Raurica-Loge Druidenorden Basel

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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Stellenwerk AG, Zürich

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www.bauernschlau.ch, Hof, Web, Kultur

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Axpo Holding AG, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

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Niederer, Kraft & Frey, Zürich

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Knackeboul Entertainment, Bern

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Locher Schwittay Gebäudetechnik GmbH, Basel

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Responsability Social Investments AG, Zürich

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Lions Club Zürich-Seefeld

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TYDAC AG, Bern

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bewegstatt.ch, Janine Holenstein, Frauenfeld

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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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D. Heer Geigenbau, Winterthur

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KIBAG Kies und Beton

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Weblotion Webagentur, Zürich

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OEKOLADEN Theaterpassage, Basel

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commilfo Isabelle Wanner, Baden

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atelier111.ch, Basel

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Zürcher Kantonalbank, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Carancho. 107 Minuten. Spanisch mit deutschen und französischen Untertiteln. Ab 26. Mai 2011 in den Deutschschweizer Kinos. SURPRISE 251/11

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BILD: ZVG

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Ausgehtipps

Melancholiker: One Of The Kind.

Konkrete Kunst: Ölbild von Mette Tommerup.

Tanz global am Flüchtlingsfest.

Basel Strassenchor am Flüchtlingstag

Basel Anders-Art-ig

14 bis 22 Uhr, Theaterplatz; Detailprogramm unter:

Kunst inspiriert bestenfalls zu weiterer Kunst. So ist es glücklicherweise mit der Art Basel. Während der weltgrössten Kunstmesse wird das Rheinknie zur Galerie und Happeningmeile. Liste, Scope, und Volta sind im Pflichtenheft Kunstbegeisterter bereits dick angestrichen. Ping Pong und Artachment gehören da auch rein. Ping Pong hüpft mit der Art schon zum fünften Mal nach Miami und zurück. Sinngemäss wird hier Kunst aus der Schweiz (u.a. Lori Hersberger, Dirk Bonsma, Sue Irion) mit den Werken von Amerikanern (u.a. Robert Chambers, Gavin Perry, Mette Tommerup) kombiniert. Darüber schwebt ein Hauch von Rock’n’Roll, weshalb zur Vernissage Bands spielen und Bier statt Schampus ausgeschenkt wird. Musik ist ebenso steter Begleiter des «Art Entertainment & Desire»-Festivals, welches Artachment dieses Jahr präsentiert. Gespielt und ausgestellt wird in und auf (!) verschiedenen Lokalen, alle in Bummel-Distanz. (ojo)

www.sah-bs.ch

Art Basel, 15.–19. Juni, www.artbasel.com

Der Flüchtlingstag wird auch in anderen Schweizer

Ping Pong Basel, 15.–19. Juni, www.ping-pong-basel.ch

Städten und Gemeinden mit Festen gefeiert,

Artachment, 13.–19. Juni,

weitere Informationen: www.fluechtlingshilfe.ch

www.artentertainmentanddesire.com

In Basel wird der Schweizerische Flüchtlingstag auf dem Theaterplatz mit Musik, Essen und Trinken – und auch einigen Reden gefeiert. Den Auftakt auf der Bühne macht der Surprise Strassenchor mit einem Mitsingkonzert. Beim anschliessenden Auftritt der tamilischen Tanzschule Kalanikethan ist dann wohl eher Staunen als Mittanzen angesagt. Der Aktionstag, der die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen in Beruf und Gesellschaft zum Thema macht, geht in Basel unter anderem mit albanischem Tanz, Americana-, World- und Reggae-Musik weiter. Zur leiblichen Stärkung bietet sich indonesisches Essen und bosnisches Dessert an. (juk) Nationaler Flüchtlingstag, 18. Mai; Fest in Basel:

Zürich / Aarau Freundliche Rumpler Manchmal dringt ungefragt ein Lied ins Ohr und geht nicht mehr raus. So wie das schmissig-beschwingte «I Woke Up» von One Of The Kind, eine Zürcher Band, von der bis vor einem Jahr nur Insider wussten. Dann aber entdeckte DRS3 das Quartett um Sänger Allessandro D’Aulerio. «I Woke Up» eroberte den Äther, derweil One Of The Kind ihr Debütalbum «Smalltown Heroes» fertig stellten. Die neuen Songs rumpeln freundlich, doch manchmal dringt auch Weltschmerz aus den Liedern, die bestimmt sind von einer akustischen Gitarre und der warmen Melancholie des Rhodes-Pianos. Zur Veröffentlichung gibts zwei Auftritte im überschaubaren Rahmen. (ash) Donnerstag, 9. Juni, 19.30 Uhr, Dezibelle Recordstore, Aarau; Samstag, 11. Juni, 21.21 Uhr, El Lokal, Zürich.

Anzeigen:

— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 — 26

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BILD: ANNETTE BOUTEILLER

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Barbie Trash suchen das Lebensgefühl der 90er.

Bern Neulich in den Neunzigern Diese verflixten 90er Jahre – hatten die überhaupt einen Charakter? Fragten sich eines Tages Julia Katharina Maurer und Sibel Hartmann, Abgängerinnen der Schauspielschule Bern und Kinder der 90er. Gehört man zur Generation, deren Jugend sich in besagtem Jahrzehnt abspielte, so wirft das Fragen auf. Die früheren Generationen hatten Beat, Hippierock, Punk und Abba; 60er-, 70er- und 80er-Parties sind längst feste Bestandteile des Ausgangskalenders geworden. Maurer und Hartmann jedoch blickten auf ihre Jugendzeit und fragten sich: Was soll man denn da reviven? DJ Bobo etwa, oder Dr. Alban? Sie gründeten das Duo Barbie Trash und machten sich auf die Suche nach dem Lebensgefühl eines etwas wirren Jahrzehnts. Das Ergebnis präsentieren sie in einer Mischung aus Theater und Konzert, gemeinsam mit dem Pianisten Cyrill Mamin. Und wer sich danach so richtig von den 90ern erfasst fühlt, darf dies am Freitag in der anschliessenden Party auch gleich ausleben. (fer)

Singender Fiesling: Andri Schenardi in «Murder Ballads».

Bern Blutiges Singspiel Ein Mädchen vom Land landet in einer schäbigen Bar namens «Bluteimer». Dort trifft es auf eine Horde räudiger Säufer, läufiger Schlampen und Schlägertypen. Jeder hat eine Geschichte zu erzählen und immer handelt sie von Mord und Totschlag. Und weil das gesprochene Wort nur halb so eindrücklich wirkt wie das gesungene, hockt in der Ecke hinten eine Band, bereit, die Moritaten der Barsänger zu begleiten. «Murder Ballads» ist ein Singspiel, basierend auf dem gleichnamigen Album von Nick Cave. Die Uraufführung am Stadttheater Bern überzeugt mit einem schaurig schönen Bühnenbild, starkem Ensemble und toller Band. Und Andri Schenardi ist als singender Macho-Fiesling hinter der Theke eine echte Entdeckung. (ash)

«Wir Kinder der 90er», 14.6. und 17.6., 20.30 Uhr, am 17.6. mit 90er-Party bis 3 Uhr, Kellertheater Ono, Kramgasse 6, Bern. Reservation: www.onobern.ch.

«Murder Ballads», 7., 9., 16., 17., 22., 23. Juni, jeweils 19.30 Uhr, Vidmar 1, Bern.

Anzeige:

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Verkäuferporträt «Sogar die Hunde bellen leise» Tesfai Ghirmai (59) hat schon oft in seinem Leben neu angefangen – letztes Jahr in der Region Thun, wo er mit seiner Familie wohnt. Und wo er auch gerne für immer bleiben und arbeiten möchte.

«Ich habe meine Heimat Eritrea – damals und bis 1993 eine Provinz von Äthiopien – als Gefangener verlassen. Als junger Mann ging ich zuerst an die nautische Hochschule, danach trat ich der Marine bei. 1974 wurde ich zusammen mit anderen aus Eritrea stammenden Marinesoldaten von der Regierung festgenommen. Das Regime befürchtete, dass wir es von innen bekämpfen oder uns der ‹Eritrean Liberation Front› anschliessen würden. Begnadigt und freigelassen wurden wir sieben Jahre später im Rahmen einer internationalen Amnestie. Nach der Entlassung wurde mir eine Arbeit beim staatlichen äthiopischen Wasserkraftwerk in der Administration zugewiesen. Daneben führte ich mein Studium fort und besuchte abends an der Universität von Addis Abeba Vorlesungen in Rechnungswesen. In den neun Jahren im Staatsbetrieb wurde ich ständig überwacht und kontrolliert. Als Eritreer war ich meines Lebens nicht mehr sicher und sah mich 1991 gezwungen, mir ein Visum für die USA zu besorgen und das Land zu verlassen. Meine Frau und meine Kinder wollte ich baldmöglichst nachholen. Auf dem Weg nach New York machte ich in Italien einen Zwischenhalt bei meiner Mutter und meinen Schwestern, die das Land bereits früher verlassen hatten. Ich hatte eine Aufenthaltsbewilligung für 40 Tage in der Tasche. In dieser Zeit gelang es meiner Mutter, mich zum Bleiben zu überreden. So landete ich unverhofft in Italien. Meine Frau und die Kinder folgten mir später und wir fingen in Süditalien ein neues Leben an. Ich fand Arbeit, putzte unter anderem Büros und Restaurants. Auch als ‹Magazziniere› habe ich gearbeitet und Waren in einem Lager verwaltet. Vor ein paar Jahren verloren wir unsere Aufenthaltsbewilligung in Italien, weil der Staat Eritrea unsere Pässe nicht mehr erneuern wollte. Der Grund dafür liegt vor allem in unserer Religion: Als Protestanten unterstützen wir den Krieg in unserer ehemaligen Heimat nicht. Das entspricht nicht unserem Glauben, deshalb bezahlen wir auch nicht dafür. So beschlossen wir, in die Schweiz zu reisen und hier Asyl zu beantragen. Mittlerweile wohnen wir in Seftigen bei Thun. Das friedliche, sichere Leben hier schätze ich sehr. Aufgefallen ist mir bei meiner Ankunft, wie leise alles ist. In Italien ist es überall viel lauter. Wenn man dort jemanden auf der anderen Strassenseite sieht, schreit man hinüber. Hier überquert man zuerst die Strasse und spricht dann in einer normalen Lautstärke mit dem andern. Ich fand am Anfang: Hier bellen sogar die Hunde leise! Weil ich sehr gerne arbeiten und meinen Lebensunterhalt möglichst selber verdienen wollte, habe ich mich von Anfang an nach Arbeit umgehört. Dabei erfuhr ich vom Strassenmagazin Surprise. Glücklicherweise konnte ich sehr bald mit dem Verkauf in Thun anfangen. Zudem helfe ich, wann immer ich Zeit habe, bei der Waldarbeit. In diesem Projekt gehen wir in die Wälder in der Region Thun und sammeln den Abfall zusammen.

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AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

Der Verdienst aus dem Heftverkauf ist unterschiedlich, manchmal verkaufe ich kein einziges Heft, manchmal in wenigen Stunden ganz viele – es gibt dafür keine Formel, keine Regel. Aber das ist auch nicht so wichtig wie die Möglichkeit, mit den Leuten in Kontakt zu kommen. Der Heftverkauf bietet mir Gelegenheit, das gelernte Deutsch anzuwenden. Wenn ich nicht sagen kann, was ich will, versuche ich es mit Englisch oder Italienisch. Beide Sprachen spreche ich fliessend, was mir auch beim Deutschlernen hilft. Ich setze mich häufig in eine Bibliothek oder in einen Bücherladen und lese Deutschbücher für Englischsprachige. So verstehe ich die Grammatik besser. Früher, in Italien, ging ich ebenfalls oft in Buchläden, doch dort las ich jeweils in wissenschaftlichen Büchern, zum Beispiel in Mathematikbüchern über Analysis. Ich möchte nicht vergessen, was ich einmal gelernt habe. Ich weiss, ‹the future is not ours› – die Zukunft liegt nicht in unseren Händen, trotzdem wünsche ich mir, dass wir hier bleiben dürfen und ich genügend Arbeit finde, um das Leben selber zu bestreiten.» ■

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Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

Josiane Graner Basel

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Programm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

Wolfgang Kreibich Basel

Andreas Ammann Bern

Jela Veraguth, Zürich Kurt Brügger, Basel Anja Uehlinger, Baden Peter Hässig, Basel

Marlies Dietiker, Olten Tatjana Georgievska, Basel Peter Gamma, Basel René Senn, Zürich

Ausserdem im Förderprogramm SurPlus: Marika Jonuzi, Basel Fatima Keranovic, Baselland Bob Ekoevi Koulekpato, Basel Jovanka Rogger, Zürich

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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1 Monat: 500 Franken

251/11 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 251/11

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

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Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

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Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel www.strassenmagazin.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Geschäftsführung Paola Gallo, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@strassenmagazin.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer, Olivier Joliat, Mena Kost (Nummernverantwortliche) redaktion@strassenmagazin.ch Ständige Mitarbeit Alexander Jungo (Korrektorat), Delia Lenoir, Irene Meier, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Annette Boutellier, Andrea Ganz, Nils Keller, Fred Lauener, Esther Michel, Isabel Mosimann, Thomas Oehler, Eva Rosenfelder, Elisabeth Wiederkehr, Christopher Zimmer Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 61 Theres Burgdorfer, t.burgdorfer@strassenmagazin.ch

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die vom gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27 Markus Hurschler, Zoë Kamermans, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@strassenmagazin.ch Chor/Kultur T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@strassenmagazin.ch Strassensport T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller l.biert@strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Macht stark.

www.strassenmagazin.ch ❘ www.strassensport.ch ❘ Spendenkonto PC 12-551455-3 Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99 SURPRISE 251/11

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Von Aarberg bis Zuoz. Surprise gibt es beim Strassenhändler Ihres Vertrauens. Oder im Abo per Post.

24 Ausgaben für 189 Franken oder als Gönner-Abo für 260 Franken. Gutes lesen, Gutes tun und gleich bestellen! www.strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch, Spendenkonto PC 12-551455-3 Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99


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