Surprise Strassenmagazin 253/11

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Nr. 253 | 1. bis 14. Juli 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Nah – eine Lese-Nummer Mit Texten von Nele Blank und Lukas Hartmann, Alex Capus, Ina Bruchlos, Arno Camenisch, Susanne Heinrich, Guy Krneta, Timm Krohn und Roger Willemsen


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*gemäss MACH Basic 2011-1.


Titelbild: Priska Wenger

Da befinden wir uns mitten im Sommer – und alles läuft weiter wie eh und je: Man ist dauernd in Eile, alles soll schnell gehen und praktisch sein. Am Morgen gibts per Smoothie ein schlankes 30-Sekunden-Frühstück. News sind nach wie vor 20-Sekunden-Häppchen, die man auf dem Weg zur Arbeit konsumiert. Zwischendurch werden SMS geschrieben; schnell zum Geburtstag gratuliert, das Feierabendbier verschoben. Mittags gönnt man sich vielleicht – oh Höchstes der Gefühle – einen Power-Nap. Das geht auch anders! Finden wir. Wie wärs zum Beispiel mit einem schlichten Apfel (unpüriert) zum Frühstück? Was halten Sie davon, im Tram oder Zug einfach mal wieder aus dem Fenster zu schauen? Eine richtige Zeitung zu lesen? Den Geburtstagsbrief wieder einzuführen? Oder gar den Mittagsschlaf?! Das klingt jetzt etwas altmodisch und, ja, langweilig. Macht nichts, liebe Leserin und lieber Leser! Im Gegenteil, genau das wünschen wir Ihnen für diesen Sommer: Ein bisschen Langeweile. Vorsätzlich und gepflegt. Oder anders: Musse.

BILD: DOMINIK PLÜSS

Editorial Auf die Langeweile

MENA KOST REDAKTORIN

Sie halten die erste von zwei «Sommer-Lese-Nummern» in den Händen: Zwei Surprise-Ausgaben voller Kurzgeschichten von Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus der Schweiz, aus Deutschland und Österreich, viele exklusiv für Surprise verfasst. Alle Autorinnen und Autoren haben uns ihre Geschichte honorarfrei zur Verfügung gestellt. Dafür danken wir ihnen allen ganz herzlich! Die Sommernummern sind im Rahmen eines Gemeinschaftsprojekts deutschsprachiger Strassenmagazine entstanden. Zusammen mit Redaktorinnen aus Deutschland und Österreich haben wir Schriftstellergrössen um ein Geschichtengeschenk gebeten – und sind mit unserem Anliegen auf viel Wohlwollen gestossen. Es sind so viele Geschichten zusammengekommen, dass wir uns dazu entschlossen haben, gleich zwei Lesenummern zusammenzustellen. In diesem ersten Literatur-Surprise finden Sie Geschichten von Alex Capus, Roger Willemsen, Lukas Hartmann und Nele Blank, Ina Bruchlos, Arno Camenisch, Susanne Heinrich, Guy Krneta und Timm Krohn. Sie handeln von Nähe und Zwischenmenschlichem – von Verwandtschafts- und Liebesbeziehungen, einer sterbenden Frau, fremden und eigenen alternden Körperteilen, Erotik und Stammtischfreundschaften. Und damit zurück zur Musse. Die Surprise-Sommerausgabe eignet sich hervorragend dazu, fachmännisch zelebrierte Langeweile, etwa die Mittagspause oder das Warten darauf, dass die selbst gemachte Glace gefriert, zu bereichern. Lesen Sie immer mal wieder eine Geschichte – aber bitte in aller Ruhe. Die nächste Surprise-Literatur-Ausgabe sorgt dann ab dem 15. Juli wieder für Aufregung. Darin sind Kurzgeschichten über Verschwörung, Mord und andere Verbrechen versammelt. Wir wünschen Ihnen eine entspannte Lektüre. Herzlich Mena Kost

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 253/11

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Inhalt Editorial Mussestunden Basteln für eine bessere Welt Tonträger als Buchstützen Porträt Stimme im Ohr Buchtipps Lebenswege Verkäuferporträt Schritte zur Selbstständigkeit Projekt Surplus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

08 Zimmer mit Arara VON NELE BLANK UND LUKAS HARTMANN

11 Wo Träume wachsen VON TIM KROHN

12 Todesfälle VON ROGER WILLEMSEN

14 Madame Jacqueline VON GUY KRNETA

15 An der Quell VON ARNO CAMENISCH

18 Die Welle VON INA BRUCHLOS

21 Die ersten Amerikaner VON SUSANNE HEINRICH

25 Diese verfluchte Schwerkraft VON ALEX CAPUS

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BILD: ZVG

Die Bilder zu den Kurzgeschichten in diesem Heft stammen von Priska Wenger. Die freischaffende Illustratorin beliefert Surprise seit vielen Jahren mit Bildern für die Kolumne «Zugerichtet». Priska Wenger studierte Visuelle Kommunikation und Illustration an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in New York, wo sie 2009 den Master in Fine Arts ablegte.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

1. Kochen sie Wasser und leeren Sie es in den zugestöpselten Schüttstein.

2. Tauchen Sie die Platte bis zum unteren Ende des Labels (bedruckter innerer Teil) ins Wasser.

3. Sobald die Platte weich geworden ist: Biegen Sie sie gemäss Abbildung (schönere Seite des Labels nach aussen). Wenn sich die Platte am Rand zu wellen beginnt, streichen Sie sie mit einem Schneidbrett oder einem anderen Hilfsmittel wieder glatt.

4. Nehmen Sie die Platte aus dem Wasser und stellen Sie sicher, dass sie schön regelmässig in einem rechten Winkel gebogen ist.

5. Kleben Sie je ein Filzstück auf die Unterseite.

6. Jetzt noch trocken lassen und dann ist bald soweit:

Sie brauchen: - Zwei Schallplatten, zum Beispiel von Modern Talking, Peach Weber oder Phil Collins. - Zwei Stückchen Filz - Sekundenkleber oder Heissleim - Ein Schneidbrett - Schutzhandschuhe (für eher Ängstliche oder Ungeschickte)

Ihre zwei Verbrechen auf Schallplatte sind nun unschädlich gemacht und bereit für ein neues, stilles Leben im Dienste der Literatur.

Basteln für eine bessere Welt Dass eines klar ist: Wir wollen NICHT zur mutwilligen Zerstörung von Schallplatten animieren. Denn die sind nach wie vor die bestklingenden Tonträger. Gerade in der Hochzeit der Platte, den 70-er und 80-er Jahren, gab es jedoch so den einen oder anderen Interpreten, der heute von Musikliebhabern als «Verbrecher» bezeichnet wird. Sollten Sie also noch im Besitz von Verbrechen auf Schallplatte sein: Fassen Sie sich ein Herz. SURPRISE 253/11

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Porträt Die Stimme, die nach Hause kommt Ute Sengebusch liest Hörbücher für Blinde. Sie kommt ihren Hörern damit sehr nahe. Und lässt ihnen trotzdem Raum genug, den Text für sich selbst zu entdecken. VON DIANA FREI (TEXT) UND DOMINIK PLÜSS (BILD)

Tags zuvor am Telefon hat sie noch Schweizerdeutsch gesprochen. Für das Gespräch am Küchentisch wechselt Ute Sengebusch nun ins Hochdeutsche: «Weil das mehr mit mir zu tun hat.» Ursprünglich kommt sie aus Wiesbaden, aber die Eltern sprachen als Zugezogene keinen Dialekt. Das Hessische hat sie sich angeeignet, genauso wie das Schweizerdeutsche. Den Dialekt zu lernen, «den Mythos Schweizerdeutsch aufzubrechen», das war für sie auch ein Spiel. Wenn sie arbeitet, kommt sie den Menschen sehr nahe, als Stimme im Ohr. Seit ihrem Abschluss an der Schauspielschule Zürich vor vier Jahren liest die freischaffende Schauspielerin für die Blindenbibliothek. So wird sie zum Gast in Hunderten von fremden Alltagen, in Hunderten von Lebenswelten. Physisch abwesend zwar, und dennoch sehr präsent für die Hörenden. «Vor oder nach dem Lesen denke ich da manchmal dran», sagt sie, «aber während des Lesens tauche ich ganz in den Text ein.» Für die Blindenbibliothek zu lesen, bedeutet vermitteln, übersetzen. «Aufsprechen» heisst das im Fachjargon und aufgesprochen werden Wahlvorlagen, Abstimmungsergebnisse, Tageszeitungen, Kochrezepte, Gebrauchsanleitungen, wissenschaftliche Bücher und Belletristik: «Tag für Tag wird ein ständig wachsender Bibliotheksschatz für blinde Leute geschaffen.» Gelesen wird prima vista, und die Sprecherinnen und Sprecher bekommen knappe Angaben über den Ton des Textes. Da steht zum Beispiel auf dem Merkblatt: «Jugendlich und unmittelbar». Oder: «Abgeklärte Haltung». «Unsere Vorgabe ist, dass wir dem Buch die Stimme leihen, es aber nicht zu stark gestalten», sagt Ute Sengebusch. Der blinde Mensch soll dem Text selbst eine Interpretation geben können. «Je besser es mir gelingt, meinen Kopf von anderen Dingen frei zu machen, desto mehr steht der Text im Zentrum. Und nicht ich, die ihn vorträgt.» Melinda Nadj Abonjis «Tauben fliegen auf» hat sie aufgesprochen, aus eigenem Interesse an der Balkanliteratur. Ein Satz ist ihr davon besonders geblieben. In einer Szene, in der das Kind mit seinem Vater aus der Schweiz nach Serbien zurückfährt, in die alte Heimat, heisst es: «Dann habe ich meinen Vater gefragt, ob er noch ein Eingeklemmtes will.» Sengebusch findet: «Wenn ein Schweizer Autor so was wie ‹ein Eingeklemmtes› schreibt, würde ich vielleicht denken: Schlecht lektoriert. Wenn das aber eine Migrantin schreibt, ist das ein wunderbares Beispiel dafür, wie sich Kulturen vermischen, Identitäten verschieben. In welchem Moment bin ich das Kind, das in der Schweiz aufgewachsen ist, wann eher das Kind, das seine Wurzeln in Serbien hat?» Der Kaffee, den sie auftischt, ist stark, süss. Bosnisch. Ein Mitbringsel aus dem Balkan. «Das war meine interessanteste Reise in den letzten Jahren. Man hörte immer nur vom Krieg, aber ich wollte wissen: Wie sieht es dort eigentlich aus, was macht die Literatur, was erzählt das Kino dort?» Zurück in der Schweiz begann sie, sich in einem interkultu-

rellen Verein zu engagieren, der in bosnischen Kleinstädten Camps für Jugendliche durchführt. Während sie erzählt, drehen sich auf dem Balkon CDs im Wind. Sie wären zur Vogelabwehr gedacht, aber in einem alten Turnschuh hat trotzdem eine Taube genistet. Die Altbauwohnung ist mit einem Wandgemälde geschmückt, Dschungeltiere scheinen die Küche vereinnahmt zu haben: Giraffe, Koala, Kolibri. Im Basler Hinterhof nahe der französischen Grenze ist eine vereinsamte Rutschbahn einer geschlossenen Kinderkrippe zu sehen, gegenüber überragt der Neubau der Novartis die Umgebung. Als Ute Sengebusch vor gut eineinhalb Jahren mit ihren Zwillingen schwanger war, zog sie von Zürich zu ihrem Freund nach Basel. Allerdings gleich in zwei Wohnungen: «Wir wohnen als Familie an beiden Orten. Das kam aus dem Bedürfnis heraus, Platz für sich allein zu haben. Möglichkeiten zum Rückzug.» Die Giraffenwohnung ist tendenziell die ihres Freundes. In der eigenen sind zur Zeit Gäste einquartiert. Getrennte Wohnungen sorgen für Abstand. «Es hat aber auch etwas total Schönes, sich immer wieder zu überlegen: Gehen wir zu dir oder zu mir? Oder: Sehen wir uns morgen wieder?» Wichtig ist, Nähe finden zu können. Auch auf der Bühne. Wenn die Kunst etwas mit dem Leben der Zuschauer zu tun hat, ist sie Auseinandersetzung mit sich selbst: «Das ist vielleicht nicht immer angenehm, aber eine Chance.» Bei «Krabat» nach dem Jugendbuch von Otfried Preussler ging es um den Umgang mit

«Ich beneide manchmal Musiker. Die haben ihr Instrument. Wir sind selbst unser Instrument.»

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Macht: Wie kann ich Widerstand lernen und mich selber positionieren? «Theater für junges Publikum finde ich super», sagt Sengebusch, «ich finde es toll, herauszufinden, was in der Alltagswelt von Jugendlichen aktuell ist und mit den Mitteln der Kunst auch was dazu zu sagen.» Auch Erwachsene kann es herausfordern, wenn die Fiktion sie auf eigene Realitäten zurückwirft. Die Provokation kann sein, dass sich Leute oben auf der Bühne nackt ausziehen und mit Blut überschütten. Die Provokation, dass einem eine Geschichte nahegeht, ist vielleicht stärker. Die Schauspielerin mag den Rhythmus, den Texte haben können. Lyrik im Speziellen. Die stark verdichtete Sprache. Die Art und Weise, über Formulierungen Bilder entstehen zu lassen: «Es gibt Autoren, die virtuos mit Sprache umgehen können. Es ist schön, dem eine Stimme geben zu dürfen.» Beim Aufsprechen versucht sie, mit der Stimme Bilder zu erzeugen. «Es hat immer mit mir zu tun, wenn ich lese», sagt sie. «Ich beneide manchmal Musiker. Die haben ihr Instrument. Wir sind selbst unser Instrument. Das kann man nicht einfach weglegen, wenn man mal eine Blockade hat. Es ist natürlich aber auch das Tolle, dass wir das sind.» ■

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Zimmer mit Arara VON NELE BLANK UND LUKAS HARTMANN

Günstig unterzuvermieten: möbliertes Zimmer (24m2) mit angrenzendem Wintergarten und Gartenzugang in altem Haus, sehr ruhig gelegen, bewohnt von noch rüstiger Dame. Breites Bett, Einbau-Kleiderschrank (teilw. benutzbar), Herrendiener, Bücherregal (fast voll), Schreibtisch, zwei Stühle, ein Sessel, Chaiselongue. Eigene Dusche mit Toilette im 2. Stock. Küche zur Mitbenutzung. Ethnographische Objekte im Zimmer, ebenso ausgestopfter Arara. Anfragen mit Angaben zu Ihrer Person und Tätigkeit bitte an Chiffre NB510H44C71R829 Sehr geehrte Frau Vermieterin, that’s it!, dachte ich, als ich dieses Inserat las. Ich liebe nämlich Museen, Gärten, breite Betten usw., ich mag auch rüstige Damen, die viel zu erzählen haben. Beim Herrendiener dachte ich erst an einen Butler, aber Wikipedia sagte mir, worum es sich handelt, und da muss ich Sie gleich enttäuschen, ich habe keinen Anzug, den ich dort ablegen könnte. Das Bücherregal würde ich hingegen sehr gerne mit meinen Kochbüchern und einigen Gedichtbänden auffüllen. Und damit gleich zu meiner Person: Ich bin 24, gelernter Koch, leider ziemlich lang geraten (1 m 90), gegenwärtig Saucier in einem sogenannten Edellokal. Meine Einzimmerwohnung wurde mir eben gekündigt, weil ich zu jeder Tages- und Nachtzeit dusche. Und auf gründliches Duschen kann ich, wenn ich penetrant nach Kohl usw. rieche, leider nicht verzichten. Dafür haben Sie gewiss Verständnis. In Ihrer Beschreibung passen mir nur die ethnografischen Objekte nicht ganz. Sind das etwa afrikanische Masken mit bleckenden Zähnen? Davor habe ich mich als Kind schrecklich gefürchtet, bei meinem Onkel hingen solche Masken im Arbeitszimmer. Aber mit dem Arara würde ich mich bestimmt anfreunden. Muss man ihn regelmässig abstauben? Und überhaupt: Sind Sie sehr ordnungsliebend? Zuletzt natürlich das Allerwichtigste: Wie viel würde mich das Zimmer monatlich kosten? Mehr als 700 im Monat kann ich mir nicht leisten, mein Motorrad ist mit allem Drum und Dran leider ziemlich kostspielig. Könnte ich durch Gartenarbeit usw. womöglich den Preis reduzieren? Auf jeden Fall freue ich mich auf eine ausführliche Besichtigung und einen Schwatz mit Ihnen (ich kann notfalls sehr laut sprechen). Mit erwartungsvollen Grüssen Max Hiltbrunner Sehr geehrter Herr Hiltbrunner Vorneweg: Ich höre noch sehr gut! Nun aber zur Sache. Einen Koch im Haus zu haben, das kann nicht schaden. Im Garten arbeite ich selber noch so viel, wie es halt geht, und mein alter Freund – er war früher Physikprofessor – hilft mir dabei. Sie können sich für die anstrengenden Arbeiten gerne dazugesellen. Aber fast noch lieber würde ich Ihre Dien-

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ste in der Küche in Anspruch nehmen. Dann könnten Sie uns zu einem Glas Wein auch ein einfaches Menu aufstellen. Sie lieben offenbar den Fahrtwind im Gesicht. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie Ihren Töff im Schuppen neben den meines verstorbenen Bruders stellen. Sie würden ohnehin in sein Zimmer einziehen. Ich habe mich ja jetzt dazu entschieden, es mit einem Untermieter zu versuchen. Vor den ethnographischen Objekten brauchen Sie sich nicht zu fürchten. Mein Bruder reiste wiederholt nach Indonesien und beschäftigte sich intensiv mit dem dortigen Figurentheater. Seine Sammlung umfasst kostbare Handpuppen und Kostüme. Sie werden sich mitunter fühlen wie im bunten Bali. Ihre Kochbücher und Ihre Gedichte (lesen Sie wirklich Gedichte?) werden wir schon unterbringen, da ist ja noch etwas Platz im Regal. Kurz und gut, wenn Sie also im Garten Hand anlegen und ab und zu für mich und meinen Physiker kochen, überlasse ich Ihnen das Zimmer für 500 Franken monatlich, alles inklusive. Zum Glück mögen Sie den Arara. Das war die Fangfrage. Von dem Arara kann ich mich nicht ganz trennen, halte ihn, ausgestopft wie er nun ist, nicht mehr in meinem Zimmer aus. Das geht mir zu nahe. Weggeben kann ich ihn aber auch nicht, wie Sie gewiss verstehen werden. Wenn Ihr Interesse nach wie vor gross ist, kommen Sie doch nächsten Montag zu einer Besichtigung an die Dufourstrasse 44. Wann würde es Ihnen denn passen? Beste Grüsse, Alice Corpataux Verehrte Frau Corpataux, jetzt haut es mich fast von den Socken. Ich bin schon jetzt mit allem 150prozentig einverstanden, vor allem auch mit der Höhe der Miete. Sie können mir Ihre Lieblingsmenus und die des Professors auflisten, und ich tische sie Ihnen auf, ganz gediegen. Nun aber die heiklen Punkte: Die Gedichte sind von mir, ich dichte Kochrezepte und trage sie in Notizbücher ein: «Für nen gestürzten Apfelkuchen muss man nicht lange suchen. Genügend Butter, das sagte schon Herr Luther usw.» Macht echt Spass. Und manchmal streu ich was von Sven Regener dazwischen, den mag ich sehr. Und nun das Allerheikelste: Ich bin gepierct, das heisst ich trage Ohrringe und einen am Nasenflügel. Meine Freundin sagt, das sehe Klasse aus, aber die Senioren erschreckt es, ist mir klar. Darf ich trotzdem kommen? Ach ja, und ein Tattoo an der Schulter hab ich auch, eine Schlange, die sieht man aber nur im Sommer, wenn ich ärmellos herumlaufe. Apropos Sommer: Könnte ich da vielleicht auch Kräuter aus Ihrem Garten pflücken? Wächst bei Ihnen denn auch Kerbel und Pimpernell? Am Montag ginge es mir zu jeder Tages- und Nachtzeit, da haben wir Wirtesonntag. Nun ja, lieber nicht vor 11 Uhr morgens. In frohester Erwartung, Ihr jetzt schon dankbarer Max Hiltbrunner SURPRISE 253/11


sehr. Ein bisschen dunkel zwar, aber sehr wohnlich. Und die MarionetLieber Herr Hiltbrunner, ten aus Bali sind doch richtig göttlich. Dann aber, als ich mich dem Hergerne erwarte ich Sie also am nächsten Montag, punkt 16 Uhr, zu einer rendiener widmete, prallte mein Kopf auf ein Hindernis. Es war der von Besichtigung. Mit Piercing und Tattoos habe ich keine Probleme, ich bin der Decke hängende Käfig mit dem Arara. Der Aufprall war so heftig, von den Reisephotographien meines Bruders einiges gewohnt. Reinlich dass ich 1. aufschrie, 2. der Käfig auf den Boden fiel und 3. dem Papasind Sie ja, und eine feine Nase werden Sie als Koch auch haben. – Schauen Sie sich also das Zimmer an, natürlich auch die Küche und den Kräutergarten, Ich habe nichts dagegen, wenn Sie Ihren Töff im Schuppen den ich in letzter Zeit arg vernachlässigt habe. Ich schaue mir dafür Sie an, «mit allem Drum neben den meines verstorbenen Bruders stellen. Sie würund Dran». Und was Pimpernell ist, werden Sie den ohnehin in sein Zimmer einziehen. mir erklären müssen. Gedichtete Rezepte … ich weiss nicht. Aber gei eine Schwanzfeder geknickt wurde. Ich suche nun im Internet, wie es gibt ja inzwischen auch gerappte Gebete, wie man liest. Dichten ist ich es Ihnen versprochen habe, ziemlich verzweifelt nach der Adresse eine stille Tätigkeit, nicht? Oder gehören Sie zu denen, die jeden kleinen eines Tierpräparators, der den Arara fachgerecht repariert. Text, den Sie schreiben, laut vortragen? Und dafür eine Flasche Whisky Sie schienen zwar für einen Moment verstimmt, luden mich aber beanspruchen? trotzdem zu Tee und Torte ein. Ich brachte Sie mit der Rezitation meines Wie auch immer: Lernen wir uns kennen. Ich grüsse Sie bis dahin neuesten Gedichts zum Schmunzeln («Eine Torte braucht nicht viele freundlich. Worte …»). Aber dann kam es zum Eclat. Der Kater, mein NamensvetIhre Alice Corpataux ter, hüpfte schwerfällig auf meinen Schoss, um sich kraulen zu lassen oder mir aus der Hand zu fressen, und ich begrüsste ihn mit einem Liebe Frau Corpataux, «Hallo, Dickerchen, wie geht’s?» Sie erstarrten förmlich, und plötzlich das war nun sozusagen eine Katastrophe. Und es tut mir schrecklich leid. schrien Sie los: «Was unterstehen Sie sich, meinen Max so zu nennen!? Dass Sie so klein sind und schon 87, dass Sie noch so gut hören und Er ist nicht dick, er ist höchstens stattlich, wie es sich für einen Kater so schön lächeln – darauf war ich echt nicht gefasst. Und für die kleine gehört!» Ich erstarrte meinerseits, versuchte mich zu entschuldigen, Sachertorte, die ich für Sie und Ihren Physiker mitbrachte, haben Sie und Sie unterbrachen mein Gestammel mit weiteren Vorwürfen: wie sich richtig überschwänglich bedankt. Sie haben mir gleich mal Ihren ungerecht es sei, sich über einen bejahrten Kater lustig zu machen usw. bisher unerwähnten, kugelrunden Kater vorgestellt, der dummerweise Und dann wiesen Sie mich hinaus mit den Worten: «Das war’s dann, auch Max heisst. Aber gerade darum, das weiss ich nun, stand ich zuHerr Hiltbrunner.» oberst auf der Liste der 143 Bewerber. Das Zimmer beeindruckte mich SURPRISE 253/11

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Mein Gott, könnte ich doch diesen einen Satz rückgängig machen. Mir hat alles bei Ihnen gefallen, Sie mit eingeschlossen. Ich würde Sie auf Händen tragen, geschätzte Alice Corpataux. Sogar den ratternden Kühlschrank aus den sechziger Jahren in Ihrer Küche würde ich akzeptieren, genauso wie den Kater, der, genau besehen, eine wahre Schönheit ist. Dies ist ein Wiedererwägungsgesuch, verehrte Frau Corpataux. Dieses D… verbanne ich aus meinem Wortschatz. Ich führe den stattlichen Max sogar spazieren, er darf auf meinem Bett dösen und meine Hosen zerkratzen. Nur bitte, bitte, geben Sie mir eine Chance, Sie stürzen mich ins tiefste Elend, wenn ich das Zimmer nicht bekomme! Ihr Max der Zweite

Sie wundern sich wohl, dass ich Ihnen das alles schreibe. Ich wundere mich auch.

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Lukas Hartmann und Nele Blank Lukas Hartmann, 1944 in Bern geboren, studierte Musik, Germanistik und Psychologie. Tätigkeiten als Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als Autor in Spiegel bei Bern. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher für Erwachsene und für Kinder («Finsteres Glück», «All die verschwundenen Dinge», beide bei Diogenes). Durch eine fehlgeleitete Mail entstand die Internet-Bekanntschaft mit Nele Blank, einer 1971 geborenen Flämin, die dank deutscher Eltern mehrsprachig aufwuchs und sich in Bochum zur Schauspielerin ausbilden liess. Sie ist Verfasserin von alternativer Reiseliteratur und Radio-Features. Momentan schreiben die beiden in ständigem Hin und Her erste gemeinsame Texte, die im Chat, Mailverkehr oder über Skype entstehen. In Planung ist ein zweisprachiger Roman mit dem Arbeitstitel «Das Mädchen mit der roten Katze»/«Het meisje met de rode kat». SURPRISE 253/11

BILDER: ZVG

Lieber Herr Max Hiltbrunner Sie können sich nicht vorstellen, wie mich Ihr Brief, ja, dieser ganze unglückselige Vorfall in Verlegenheit bringt. Und noch weniger, wie schwer es mir fällt, Ihnen zu schreiben. Der Vorfall hat mich völlig aus der Bahn geworfen. Es ist leider eine alte Charakterschwäche von mir, Dinge lange in mir gären zu lassen. Und dann geht es mir oft wie der unbeaufsichtigten Holunderlimonade in der Flasche: Ich gäre vor mich hin, und plötzlich zerberste ich. Und mit dieser unerwarteten Explosion versetze ich alle um mich in bestürztes Nicht-Verstehen. So hat mich nun auch Ihr leicht und heiter dahin gesagter Zuruf «Dickerchen» völlig aus der Fassung gebracht. Warum? Das will ich Ihnen zu erklären versuchen. Frédéric, so hiess mein verstorbener Bruder, hat den Kater abgöttisch geliebt. Und da er, im Unterschied zu mir, ein sehr undisziplinierter Mensch war, steckte er dem guten Tier immer auch den einen oder andern Leckerbissen zu, wenn er selbst am Naschen war. So kam Max zu dieser doch etwas unnatürlichen Figur (ich meine natürlich meinen Max, Kater Max). Sie werden einwenden, dass seit dem Tod meines Bruders doch schon drei Jahre vergangen sind. Wieso das Tier denn noch immer so dick sei? – Ach, es war nicht zum Aushalten. Ich trauerte um Frédéric, der Kater miaute herzerweichend, ich konnte seiner Bettelei nicht widerstehen und fütterte ihn weiterhin viel zu üppig. – Das Leben ohne Frédéric ist mir öde geworden. Er war zwar, seiner ethnographischen Forschungen wegen, oft auf ausgedehnten Reisen, während ich zu Hause französische Literatur ins Deutsche übertrug. So lebten wir beide in unseren eigenen Welten. Doch wenn er da war, redeten wir oft über unsere Arbeit und die Schwierigkeiten, vor die wir uns gestellt sahen. Diese Gespräche fanden meist beim gemeinsamen Abendessen statt, um dann im Wintergarten bei einem kleinen Cognac auszuklingen. Bevor wir uns nach solchen Abenden gute Nacht wünschten, streichelte Frédéric dem schnurrenden Kater auf seinem Schoss nochmals übers Fell

und sagte dazu: «Na, Dickerchen. Nun ist aber Schluss für heute.» Sehen Sie, er, er allein, nannte Max «Dickerchen». Oder auch: «mein Dickerchen». Und wie Max, der Sie offenbar gleich ins Herz geschlossen hatte, Ihnen auf den Schoss sprang und wie Sie eben dieses «Dickerchen» sagten, da … Sie wissen ja, da verlor ich jede Contenance – Sie wundern sich wohl, dass ich Ihnen das alles schreibe. Ich wundere mich auch. Ich habe mir all die letzten Jahre verboten, über den Verlust meines Bruders zu sprechen, und den Kummer in mir vergraben. Verzeihen Sie also, wenn ich Ihnen mit all dem, was ich mir da von der Seele geschrieben habe, zu nahe trete. Und vor allem: Verzeihen Sie meine Entgleisung Ihnen gegenüber. Rufen Sie, Max der Zweite, mich bitte an, damit wir Ihren Einzug planen können. Mein Max, unser Dickerchen, würde sich auch sehr darüber freuen – dessen bin ich mir ganz sicher. Ihre Alice Corpataux


Wo Träume wachsen VON TIM KROHN

In unserer ersten Nacht, in einem jener unwirklichen Momente zwischen Schlafen und Lieben, erzählte Marlene mir von ihrer Zeit als Villenwächterin, die noch nicht lange zurücklag. Eine reiche Bekannte ihrer Mutter, die öfters reiste, zahlte Marlene einen kleinen Lohn dafür, dass sie während ihrer Abwesenheiten ein Auge auf das vornehme, für Einbrecher verlockende Haus hatte. Einige Nachbarn schlossen sich bald an, und so verdiente Marlene sich ihr Studium damit, verlassene Villen zu hüten. Täglich – zu immer anderer Zeit – streifte sie durch Gemächer und Gärten «Jedes Haus schenkte mir seine eigenen Träume, Fantasien, der Paläste, drehte hier einen Fernseher, dort eine Sprenkleranlage an, tobte im Jungenzimdie ich nie zuvor gehabt hatte und die nirgendwo anders mer auf dem Schlagzeug, liess nachlässig ein hätten wachsen können.» Badetuch über die Balustrade eines Schlafzimmerbalkons oder zog sich aus, um sich wie unschenkte mir seine eigenen Träume, Fantasien, die ich nie zuvor gehabt beabsichtigt nackt an einem Fenster sehen zu lassen – kurz, sie tat alhatte und die nirgendwo anders hätten wachsen können.» les, um bei allfälligen Dieben den Eindruck zu erwecken, in der Villa Ich wollte mehr davon hören, stattdessen ergab ich mich der unherrsche ganz alltäglicher Betrieb. widerstehlichen Hitze ihres Atems, schloss die Lider und träumte uns War das Leben in den Villen erst in Gang gebracht, die Lichter brannhoch in die Kronen turmschwerer Mangroven, deren fleischige Blätter ten, und der Wind wehte die Gardinen aus den offenen Fenstern, so gefährlich und erregend wie fremde Fingernägel unsere Haut ritzten. Im suchte Marlene sich eines der Häuser aus, zog sich darin an den wärmMorast schlugen Alligatoren mit brechendem Geräusch die Kiefer ineinsten Ort zurück und hing ihren Träumen nach. Das hatte sie schon als ander, und Stösse schwerer feuchter Luft wallten empor, süss duftend Mädchen getan: In der kalten, stets zugigen Wohnung ihrer Kindheit nach Aas und wild wuchernden Orchideen. war es ein hartes, borstiges flechtengrünes Sofa, in das sie sich verkroch, um sich in ihren Fantasien zu verlieren. Das Gesicht in den Spalt zwischen Lehne und Sitzfläche gepresst, die kratzige nachtblaue Lesedecke über sich gezogen, lauschte sie dem leisen Klicken der PolsterfeTim Krohn derung und dem fernen, matten Rauschen des Bügeleisens ihrer Mutter, Tim Krohn kam 1965 in Deutschland zur Welt sog den aufregenden Duft von Salz und Staub ein und malte sich aus, und wuchs in Glarus auf. Er studierte Philosonachts in der Einsamkeit des wilden Westens an die heisse, sehnig pulphie, Germanistik und Politologie. Tim Krohn sierende Flanke ihres Mustangs gepresst zu liegen, während die letzte schreibt Theaterstücke, Hörspiele, ErzählunGlut des Lagerfeuers tickte und der dünne Rauch sich mit dem dampgen sowie Romane und verfasst Beiträge für fenden Schweiss des unruhigen, von Mücken und den tausend fernen Zeitungen und Zeitschriften. Sein bisher letzGeräuschen der Prärie gereizten Hengstes vereinte. ter Roman, «Ans Meer», erschien 2009. Tim Im vornehmen Herrenhaus jener reiselustigen Bekannten verliebte Krohn ist Dozent am Literaturinstitut Biel und Marlene sich sofort in die breiten Simse hinter gewölbten, vom Alter lebt meist in Zürich. SURPRISE 253/11

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BILD: YVONNE BÖ H LER

verworfenen und mit Tränenspuren gezeichneten Sprossenscheiben, unter denen bullige Heizkörper kochten. Halbe Nächte lang träumte sie in dem verzauberten Räumchen zwischen geschlossenen Vorhängen aus roher Seide und nach altem Lack duftenden Fenstern vor sich hin; das heisse Gitter, dessen kleine quadratische Löcher durch die vielen Farbschichten alle Schärfe verloren hatten, zwangen die Haut ihres nackten, bald geröteten Hinterns in ein strammes Muster von hundert ordentlichen Wölbungen. Die Wange an das kühlende Glas gelegt sah sie zu, wie über schwarzen mächtigen Tannen matt die Sterne aufstiegen, und träumte von Winternächten in finsteren deutschen Wäldern: Schneewechten hielten sie in einem Blockhaus gefangen, gemeinsam mit einem wortkargen vierschrötigen Kerl, dessen schwarzer Bart wucherte und dem sie sich auf dem grob gehauenen Tisch, auf einem karierten Tischtuch hingab, als werfe sie sich einem Bären zum Frass vor. In der neu erbauten kantigen Villa eines noch unvermählten Paares liebte sie es, sich auf den geheizten schlohweissen Kacheln des Bads zu spreizen, das nicht wie ein Bad war, sondern weit wie ein Dorfplatz, Licht strömte von allen Seiten, und wenn sie sich erhob nach einem Mittag voller hitziger Träume – auf einer andalusischen Finca verbrachte sie paradiesische Tage mit Horden von Männern und Frauen, die jung waren wie sie, mandeläugig und voller Begehren, und die sie der Reihe nach beschliefen –, liess ihre nackte Haut glänzende Seen von Schweiss und Lust auf den glasierten Platten zurück. In jeder der Villen fand Marlene eine geheime Stelle, an der ihre Träume sich entzündeten, hier einen Backofen, da ein Stövchen, vielleicht auch nur einen vergessenen sonnenwarmen Winkel auf dem Dachboden, den sie mit einer stoischen Hausspinne teilte. «Jedes Haus», verriet sie mir flüsternd – gleichzeitig begann sie mich wieder zu küssen, meine Augenbrauen, die Wimpern, dann die Schläfen –, «jedes Haus


Todesfälle VON ROGER WILLEMSEN

Manchmal kam eine Freundin zu mir, in der Armeehose, mit schweren Stiefeln, ihre Augen schmal und aufmerksam, ihre Haare kurz in blonden Strähnen, die ins Gesicht fallen wollten. Das Gesicht war manchmal einfach erwartungsvoll freundlich, manchmal bedürftig, auf diese verrückt-machende, nicht zu beantwortende Art bedürftig. Manchmal brachte sie einen Hund mit, der sich hinlegte, furzte und schlief. Ihr Gesicht änderte sich bei jedem Besuch. Mich hat das erstaunt, nicht beunruhigt. Als triebe sie ihren Ausdruck immer wieder über die eigenen Grenzen hinaus. Manchmal ins Schöne. Manchmal ins Herbe. Etwas Instabiles lag über ihr. Sie sprach gerne über Kierkegaard, über den «Sprung», über das Paradoxon des Glaubens, über ästhetische Lebensführung. Früher hatten wir zusammen gearbeitet, dann wechselte sie zu einer anderen Redaktion, war dort für Pornographie und Wrestling zuständig und fand immer gute Gedanken, die man mit dem einen oder dem anderen in Verbindung bringen konnte. Einmal bat ich sie, mir Rohmaterial eines Beitrags mitzubringen. In einer Einstellung sah man sie im Anschnitt an der linken Bildseite mit einer pampigen italienischen Pornodarstellerin sprechen – war dies ein Interview? –, während diese von hinten penetriert wurde und zwischen den missvergnügt abgesonderten Antworten den Mann anherrschte, der sich an ihrem Hintern abarbeitete. Sie fand das interessant, fühlte sich

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in diesem Milieu gut aufgenommen und konnte rasch fachsimpeln. Dann ging sie mit Atembeschwerden zum Arzt, der sagte: «Jetzt nehmen wir erst mal einen Lungenflügel raus.» Es war November. «Ich würde zu Weihnachten nach Hause gehen», sagte der Arzt auch, «denn das ist das letzte Weihnachten, das Sie erleben werden.» Sie weinte über den Ausdruck «nach Hause». Ihre Freunde zogen sich zurück. Wer wochenlang jeden Abend bei ihr gegessen hatte, tauchte ab, als sei ihre Krankheit ansteckend. Ihre Redaktion schickte nach zwei Monaten einen Strauß gelber Tulpen. Sie aber lag mal in der Klinik, dann daheim bei den Eltern unter den schrägen Wänden ihres Kinderzimmers, dann wieder in der Klinik. Eines Tages rief sie den Chirurgen vor der OP zu sich: «Darf ich einen Augenblick Ihre Hand halten?» «Warum?» «Immerhin ist es die Hand, in die ich mein Leben lege.» Der Arzt blickt selbst auf seine Hände, als habe er es lange nicht getan. «Glauben Sie an Gott?», fragt sie. Er sieht aus dem Fenster. «Warum operieren Sie, wenn Sie nicht an Gott glauben? Warum dieser Beruf?» Er braucht lange bis zur Antwort: SURPRISE 253/11


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BILD: ZVG

andererseits. Aus dem Wechsel der Sphären speiste sie ihr Leben, und «Ich liebe meine Patienten.» deshalb war es zweitrangig, auf welchem Feld sie gerade arbeitete, Sie sagt: «Ich liebe Sie auch.» nichts war unter ihren Augen banal, alles vielsagend. Manchmal musste Ihre Schwester erkennt die Sterbende in diesem Satz und flüstert man sie daran erinnern zu essen, manchmal tat ihr Arbeit gut, einfach mir zu: weil diese sie in die Gesellschaft von Menschen warf, und manchmal «Siehst du, da hat sie von ‹Liebe› gesprochen und sie wirklich gemeint.» konnte man mit ihr zusammensitzen und zusehen, wie sie eine Reise Im Gegensatz zu Pornographie? Sie starb unübersehbar. aus der Selbstverschlossenheit in die Hingabe antrat. In der Freiburger Klinik konnte sie in die Bäume blicken. Ja ja, schön, Manchmal hat sie abends bei mir gesessen, wir sind in vielen Stunschön, sagte sie. Aber sie sah diese so wenig, wie sie die Reproduktioden nicht einmal aufgestanden und haben bis in die frühen Morgennen von Caspar David Friedrichs Bildern ansah, die ich mitgebracht hatstunden geredet. Sie ließ ihren Wagen dann stehen, fuhr im Taxi heim, te, oder «Siesta» von Miles Davis hörte. Ich dachte, das spräche noch, und wenn ich morgens aus dem Fenster sah, war sie gerade dabei, ihr das sei geeignet. War es aber nicht. Auto abzuholen, gekleidet in eine Art Kamelhaarmantel und von einer Krankheit: etwas nistet sich in einem Menschen ein. Nichts wird er so großen schwarzen Sonnenbrille geschützt, dass sie aussah wie ein davon gewahr. Er geht ins Kino oder steht am Wegrand und pisst, und gerade jetzt kippt etwas und wird bösartig. Ein Virus findet seinen Weg, durch die Haut tritt Dann ging sie mit Atembeschwerden zum Arzt, der sagte: etwas, um sich auszubreiten, den Organismus anzugreifen. «Jetzt nehmen wir erst mal einen Lungenflü gel raus.» Jetzt ist auch der Mensch die Krankheit, er schleppt sie mit sich durch seine Enttäuschunexilierter Filmstar. Dann winkte sie so ein bisschen schüchtern oder vergen und seine Freuden, er macht Hausbesuche mit ihr und fragt sich, legen zum Fenster hinauf und lächelte, und es tat fast weh, weil ihr was sie mag und was kaum erträgt. Sie sieht ihn an. Sie mag ihn nicht. Herz, ihre Unsicherheit, ihre Hingabe an das Schwache in dieser Geste «Wenn ich der Krebs wäre», sagte ich der Freundin, «ich wollte dich so manifest war; einmal bin ich sogar, lange vor ihrer Erkrankung, henicht zur Gegnerin haben.» runtergelaufen und habe sie umarmt, nur weil mich ihre Existenz so Sie strahlte, ich hob das Glas und grüsste: Vivat! In den nächsten Worührte. chen glaubte ich, sie immer noch auf der Straße zu sehen, und bin dann Zuletzt hat sie sich mit all ihrer Intelligenz dem Spirituellen weiter immer wieder zurückgefallen in diesen Zustand des Verlusts, in die Gegenähert als zuvor, hat erkannt, dass das Leben mehr Metamorphosen wissheit, dass dies nicht sie sein könne, weil sie doch irgendwo in eidurchmacht als der Alltagsverstand sich träumen lässt, und wäre wohl nem Bett, unter Geräten, einen Kampf kämpfte, der zuletzt nur noch aus einverstanden gewesen mit der lapidaren Wendung, in die Buddha das Atmen bestand. Sterben kleidet: «Was aber ist das Sterben? Was da bei diesem oder jeIn Freiburg verabschiedeten wir uns vor dem Bahnhof. Ihre Schwesnem Wesen das Abscheiden ist aus dieser oder jener Wesensgattung, ter saß am Steuer des Wagens, ich stand schon draußen, wir hatten uns Hinscheiden, Auflösung, Hinschwinden, Tod, Sterben, Ableben, Auflöschon einmal auf Wiedersehen gesagt und taten es wieder. Sie blickte sung der Daseinsgruppen. Das Zurücklassen des Körpers, das nennt vom Beifahrersitz zu mir hoch, und in unseren Augen war der gleiche man das Sterben.» Gedanke: Denk nicht, dass dies unsere letzte Begegnung ist, denk es nicht, zweifle keine Sekunde! So sahen wir uns inständig an, den letzMichel de Montaigne schrieb: «Denken heißt Sterben lernen.» Man ten gemeinsamen Gedanken teilend. Es war zugleich das letzte Mal, hat dies so verstanden, als sei der gute Gedanke immer auch eine Vordass unsere Augen sich trafen. bereitung auf den Tod. Didaktisch gedacht: der Gedanke ist behilflich im In der Kirche, wo ihr Sarg aufgebahrt war, begegnete ich den meisten Enden. Bereitwilliger geht, wer nur tief genug reflektiert hat. ihrer Freunde und Angehörigen zum ersten Mal. Wir tauchten aus Monaten der Tränen, des Mangels und der Angst auf und blickten uns immer noch ungläubig an, in der Hoffnung, der Wirklichkeit doch noch für eine Zeitlang ausweichen zu können. Wir hatten in der letzten Zeit zusammengelebt, auch wenn wir uns nicht kannten, als Hinterbliebene. Der Schmerz bleibt ein besonderer, zumal wenn jemand im Zustand der Unerschöpflichkeit geht. In jedem von uns lebte diese Freundin ein eigenes Leben, so blieben wir zurück, vereint, doch nicht mehr vereinbar, da sie fehlte. Sie war einer Erfahrung begegnet, die größer war als sie und deren Wucht sie manchmal bestaunte, als sei dies eher eine Naturerscheinung als ihr persönliches Verhängnis. Sie hatte über ihre Krankheit manchmal wie von einer Dimension gesprochen, die dem Leben eigentlich erst Größe und Bedeutung gibt, hatte in dieser Zeit ihr Leben auf einen einzigen Punkt zusammengezogen, gereinigt vom Unwesentlichen, ganz auf das Elementare konzentriert, sodass ihre Intensität Leuchtkraft entRoger Willemsen wickelte. Sie hatte diese Krankheit nicht nur behandeln lassen, sie hatDer Bonner Roger Willemsen studierte Germate sie durchdacht, durchfühlt, durcharbeitet, hatte sich in unablässigem nistik, Kunstgeschichte und Philosophie in geistigen Stellungswechsel zu ihr verhalten, hatte eine persönliche KrankBonn, Florenz, München und Wien. 1991 kam heit gehabt und war, wie es bei Rilke heißt, einen persönlichen Tod geer zum Fernsehen, wo er vor allem Interviewstorben. Dabei war sie schön, dass es einen verlegen machen konnte, und Kultursendungen moderierte und Dokuauf sich selbst zurückgekommen und mit sich im Reinen. Durch ihren mentarfilme produzierte. Die Bücher des 55Frieden lief der Knacks, der die Krankheit war, die in ihr altern wollte. Jährigen, zuletzt «Die Enden der Welt» (2010 So brannte sie an beiden Enden: Fasziniert vom einfachen, physibei Fischer erschienen), wurden fast ausnahmsschen Leben einerseits, aufgesogen von den Freuden der Abstraktion los zu Bestsellern.


VON GUY KRNETA

Wer gehört schon zu denen, die sich im Theater oder im Zirkus freiwillig in die erste Reihe setzen? Wer hat nicht schlechte Erfahrungen gemacht mit der ersten Reihe, wo die Löwen nach einem schnappen und die Elefanten einen anpinkeln. Wo man den Schweiss der Artisten riecht und ihre Schminke das Gesicht runterlaufen sieht. Und auf einmal kommt jemand auf einen zu. Zieht einen gegen seinen Willen auf die Bühne oder in die Arena. Verwickelt einen in ein Gespräch. Und nachher, wenn man zurückgeht auf seinen Platz in der ersten Reihe, hat man keine Hose mehr an und eine abgeschnittene Krawatte. Es gibt Gründe, warum man sich nicht in die erste Reihe setzt. Aber diesmal ist alles anders. Diesmal hat man sich mit Absicht in die erste Reihe gesetzt, weil Madame Jacqueline, die hier auftritt, einem persönlich im Park einen Flyer in die Hand gedrückt hat. Und man hat ihr persönlich versprochen, dass man sich die Vorstellung anschauen komme, ihre Vorstellung. Dabei hat man ihr in die Augen geschaut, in die Augen, die einen angeschaut haben, messerscharf, und die auch vorne auf dem Flyer drauf waren. Und riesengross auf ihrem Zelt, über dem Schriftzug: «Madame Jacqueline, die Messerwerferin». Die soll ruhig sehen, denkt man sich, dass man seine Versprechen hält. Dass man sich auf einen verlassen kann. Und setzt sich selbstbewusst in die erste Reihe. Was gar nicht nötig wäre, in dem kleinen Zelt, mit den vier Reihen. Und Leuten, die man an einer Hand abzählen kann. So dass man sich fragt, ob die wohl von ihrer Show leben kann, die Madame Jacqueline. Mit ihren messerscharfen Augen und ihrem kleinen Zelt und den vier Reihen und kaum Leuten. In dem Moment aber geht ein Trommeln los und eine Musik: Sphärische Klänge. Und das Licht geht aus im Zuschauerraum. Und eine Silberkugel fängt an sich zu drehen im Zeltdach oben. In dem Moment wird es hell auf der Bühne. Madame Jacqueline erscheint, schwarze Netzstrümpfe, mit einem Zylinder auf dem Kopf, einer verlängerten Zigarette im Mund und einem schwarzen Aktenkoffer unterm Arm. Und während eine Männerstimme aus den Lautsprechern ruft: «Begrüssen Sie bitte, meine Damen und Herren, Madame Jacqueline, die Messerwerferin mit den scharfen Augen!», macht Madame Jacqueline einen scharfen Knicks. Ein eingeblendeter Applaus erschüttert das Zelt. Madame Jacqueline stellt ihren Aktenkoffer auf ein Tischchen, das extra bereit steht. Und sie fängt an, ihre Messer auszupacken, eins nach dem andern, eins schärfer als das andere. Ab und zu hält sie eins kurz in den Scheinwerfer, blendet damit uns, ihr Publikum. Und als alle Messer ausgepackt sind, blendet die Musik aus. Es wird still im Zelt. Madame Jacqueline sagt, mit einer Mädchenstimme, die gar nicht zu ihren Augen passt, sie brauche einen Assistenten. Ob sich jemand freiwillig melde oder ob sie jemanden bestimmen müsse. Dann guckt sie im Zelt rum, Reihe um Reihe und landet am Schluss mit ihren Augen in der ersten Reihe. Und noch bevor man was sagen kann, sagt sie: Du bist’s, stimmts? Bist extra gekommen? Komm auf die Bühne. Wie heisst du? Und ein heisser Applaus für unseren Adrian! Dann geht ein Tosen los aus den Lautsprechern von tausend Händen. Madame Jacqueline sagt: Es ist ganz einfach, Adrian, musst gar nichts machen. Breite deine Arme aus. Dann binde ich dich mit deinen ausgebreiteten Armen an die Wand. Wenn du was dabei hast, was kaputtgehen kann, eine Uhr oder so, leg es hier auf den Tisch. Und nachdem sie das gesagt hat, die Madame Jacqueline, mit ihren scharfen Augen, bindet sie einen an Händen und Füssen, mit Gurt um Bauch und Stirne an die Wand, die völlig durchlöchert ist. Dann nimmt sie Abstand. Bist du bereit, Adrian? Sagt sie. In dem Moment geht ein Trommeln los aus den Lautsprechern. Und Madame Jacqueline wirft ihr erstes Messer. Hoppla, denkt man, das geht ins Auge. Aber das Messer bleibt knapp unter der Hand in der Wand stecken. Und die Leute fangen an zu klatschen. Madame Jacque-

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line sagt: Und jetzt die andere Seite. Adrian, bist du bereit? Es trommelt aus den Lautsprechern, wieder wirft sie ihr Messer. Und wieder denkt man, man kommt nicht ungeschoren davon. Aber das Messer bleibt knapp unter der Hand in der Wand stecken. Die Leute klatschen. Für wen mach ich das, fragt man sich. Und Madame Jacqueline sagt: Schau mich an, Adrian. Jetzt machen wir’s mit zwei Messern gleichzeitig. Bist du bereit? Und wieder geht ein Trommeln los aus den Lautsprechern. Ein Messer rechts und links in beiden Händen, Madame Jacqueline wirft. Und die Messer bleiben rechts und links von einem auf der Höhe der Brust im Brett stecken. Applaus. Das machst du sehr gut, Adrian, sagt Madame Jacqueline. Die nächsten zwei machen wir überkreuz. Bist du bereit? Und wieder Trommeln. Sie wirft ihre Messer, die Messer bleiben links und rechts, auf der Höhe des Beckens im Brett stecken. Die Leute klatschen. Jetzt noch oben und unten, sagt Madame Jaqueline. Dann bist du genagelt. Adrian, dann entkommst du mir nicht mehr. Bist du bereit? Es trommelt aus den Lautsprechern heraus, länger als die anderen Male. Madame Jaqueline unterbricht. Präpariert ihre Messer, fängt noch mal an und wirft. Man spürt wie das eine Messer über dem Kopf ein Büschel Haare mitreisst. Das andere Messer schneidet gleichzeitig zwischen den Beinen von unten her die Hose auf. Riesenapplaus. Adrian, du bist ein Mann. Wie fühlst du dich? Sagt Madame Jacqueline. Man kann nicht mehr antworten. Man kann nicht mehr denken. Zählt seine Zehen und Finger und Glieder in Gedanken. Versucht rauszufinden, was alles noch dran ist. Ob irgendwo Blut fliesst. Dann sind wir jetzt bereit für das Schlussbouquet, sagt Madame Jacqueline mit ihrer unpassenden Stimme. Jetzt musst du mir blind vertrauen, Adrian, ja? Machst du das? Machst am besten die Augen zu. Und während sie das sagt, fängt es an zu trommeln aus den Lautsprechern raus. Dann rattern die Messer los. Man spürt, wie sie neben einem ins Holz donnern. Man hat nicht den Mut, die Augen aufzumachen oder sonst irgend eine falsche Bewegung. Verliert für einen Moment das Bewusstsein. Bis man plötzlich geweckt wird von Madame Jacqueline und ihrer Mädchenstimme: Das war’s, Adrian, kannst die Augen wieder aufmachen. Und einen Riesenapplaus für unseren Adrian. Aus den Lautsprechern hört man: «Meine Damen und Herren, das war Madame Jacqueline, die Messerwerferin. Wenn es Ihnen gefallen hat, empfehlen Sie uns weiter oder besuchen Sie uns ein zweites Mal.» Und als sie einen befreit hat und man sich mit ihr zusammen ein paar Mal verbeugt hat. Und die Leute gegangen sind. Die Leute, die man an einer Hand abzählen konnte. Sitzt man auf einmal in der ersten Reihe. Nach einer Weile kommt Madame Jacqueline aufräumen. Sieht einen da in der ersten Reihe. Fragt, ob man nicht nach Hause wolle? Ob man noch mal zuschauen wolle. Beim zweiten Mal koste es nur die Hälfte. In einer halben Stunde fange die nächste Show an. Und ob man wieder der Assistent sein wolle. Und während sie einen anschaut, die Madame Jacqueline, mit ihren scharfen Augen, sitzt man da, wie angenagelt, schaut ihr in die Augen und sagt: Ja. Aus dem Berndeutschen von Ursina Greuel.

Guy Krneta Guy Krneta ist 1964 geboren und wuchs in Bern auf. Er studierte Musik- und Theaterwissenschaften in Wien sowie Medizin in Bern. Guy Krneta arbeitete als Regie- und Dramaturgieassistent sowie als Dramaturg an verschiedenen Theatern in der Schweiz und in Deutschland. Von 1996 bis 1999 war er Co-Leiter des Theaters Tuchlaube in Aarau und von 1999 bis 2001 künstlerischer Co-Leiter des Aarauer Theater Marie. Seit 2002 arbeitet er als freier Autor. Guy Krneta lebt in Basel. SURPRISE 253/11

BILD: SEBASTIAN HOPPE

Madame Jacqueline


An der Quell VON ARNO CAMENISCH

Was, Wasser, fragt die Tante am Stammtisch in der Helvezia und schaut den Alexi an, spinnst du jetzt denn ganz. Sie schüttelt den Kopf und steckt sich eine Mary Long zwischen die Lippen, Wasser hole ich dir nicht, kannst selber, wenn du unbedingt willst, wo die Gläser sind, weisst du ja, sie nimmt ein Streichholz aus der Schachtel auf dem Tisch und zündet ihre Mary Long an. Der Alexi will aufstehen, der Luis packt ihn am Unterarm, du bleibst sitzen, sagt der Luis zum Alexi, hier trinkt niemand Wasser, so weit sind wir denn noch nicht, ein paar auf den Deckel kannst du haben, wenn du willst, dann kommst du vielleicht wieder zu Verstand. Ideas da Coifförs, sagt der Otto und streicht sich über den Bart. Er hat einen Bart wie eine Schaufel. So weit hat es denn noch nicht heruntergeschneit, den Kopf in einen Blecheimer tauchen, dann kühlt er ab und die Geister ziehen furt, coffertori. Die Tante klemmt ihre Mary Long in den Aschenbecher mit dem Calanda-Schrift-

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zug und steht auf und geht hinter das Buffet. Sie stellt dem Alexi einen Kübel hin, viva, sagt sie und nimmt ihre Mary Long vom Aschenbecher, hast dein Leben lang nur Bier getrunken und nichts anderes, und jetzt will er Wasser, willst du dich denn umbringen, sie setzt sich hin. Schnapsideen, solange ich lebe trinkt hier drin niemand Wasser, sagt der Luis, hier wird nur Gold getrunken, und jetzt trink. Um den Hals hat er einen Feldstecher und auf dem linken Ärmel seiner blauen Skijacke ist ein Steinbock. Das Radio mit der geknickten Antenne auf der Ablage rauscht. Also grad Wasser in den Rhein tragen wir nicht, sagt die Tante und schmunzelt. Ich will nur wissen, wer dir diesen Esel aufgebunden hat, sagt der Otto, nur weil du schief geschlafen hast, musst du dich doch nicht grad zugrunde richten, denk auch mal an die anderen, und in einem halben Jahr sind wir alle eingewachsen, dass wir nicht mehr zu

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den Augen raus sehen. Er holt die Brisagos aus seiner Jackentasche, Jesusmaria, jetzt ist der Frisör farruct geworden, er zündet sich seine Krumme an, oh isch doch wohr. Trink jetzt, sagt der Luis, wird noch warm, oder müssen wir dir zuerst die Heilige Consolaziun vorsingen, trinkst doch sonst auch wie ein Ross. Der Alexi schiebt den Kübel von sich weg und flüstert, huara Cleppers. Er will aufstehen, der Otto packt ihn an der Schulter und drückt ihn zurück auf den Stuhl. Der Luis schiebt den Kübel zum Alexi hin. Boschuur, sagt die Silvia, als sie in die Helvezia kommt. In der Hand hat sie ihr Zigarettenetui und die Schachtel mit den Zündhölzchen. Habt ihr eure Revolvers abgegeben, fragt sie, nicht dass es noch Tote gibt, so wie das hier drin riecht, so viele sind wir ja nicht mehr. Sie setzt sich hin und zündet sich eine Select an. Es ist still. Die Tante steht auf und geht hinter das Buffet und holt einen Caffeefertig für die Silvia. Sie schüttet Zucker rein und rührt. Die Uhr an der Wand geht verkehrt. Die Tante drückt ihre Mary Long aus. Der Alexi streicht sich über die Frisur. Der Luis schaut auf den Aschenbecher in der Mitte des Tisches und schielt zum Alexi. Der Otto kramt in seiner Jackentasche. Die Tante nimmt sich eine neue Mary Long aus dem Päckchen. Sie nimmt den Aschenbecher vom Tisch und geht damit hinter das Buffet, leert den Aschenbecher aus und putzt ihn mit der kleinen Bürste, die brennende Mary Long zwischen den Lippen. Sie stellt den Aschenbecher zurück in die Tischmitte und holt eine neue Flasche für den Otto, viva, sagt sie. Der Otto nickt. Der Hund kommt unter dem Stammtisch hervor. Es regnet wieder, sagt die Silvia, und das mitten im Januar, wenn es wenigstens schneien würde. Der Otto setzt sich seinen Hut auf. Macht uns allen noch die Knochen weich, sagt er, und das Hirn, sagt der Luis, will nicht wissen, wie das endet. Gestern war der Ludivic hier, der Wetterstudiosi aus Patnasa, sagt die Tante, meinte, der Ochlifelsen erwache aus seinem Winterschlaf, in der Nacht höre man ihn, wie er sich strecke. Nicht genug, dass wir wegen ihm schon drei Monate lang im Schatten sitzen, sagt der Otto, jetzt will er uns auch noch erschlagen, lebendig begraben, er nimmt einen Schluck und streicht sich mit dem Handrücken über den Mund, nicht dass sich das Malöhr von anno fünfundzwanzig wiederholt. Siebenundzwanzig, sagt die Silvia, die Tante bringt ihr einen neuen Caffeefertig. Fünfundzwanzig, sagt der Otto, stimmt nicht, siebenundzwanzig, sagt die Tante, fünfundzwanzig wurde das Automobil zugelassen, siebenundzwanzig war der Steinschlag, ich habe im Schrank noch einen Artikel aus der Zeitung, gerade kürzlich erschienen zum Achtzigsten in der Gasetta Romontscha, über den Steinschlag im Nachbardorf, über unseren kein Wort, als wäre der nie geschehen, Ignorants, sagt der Luis, war ja am gleichen Tag wie der im Nachbardorf, an einem Sonntagvormittag, nur eine halbe Stunde später. Sie klemmt ihre Mary Long in den Aschenbecher, steht auf und geht zum Schrank, der neben der Türe zur Küche steht.

Schade lebt der dicke Pancraz nicht mehr, jetzt, wo wir ihn brauchten, der wusste das alles, hat einiges an Geschichten mit sich ins Grab genommen, gell, sagt die Silvia, Pancraz steh uns bei, wenn die Heiden toben, flüstert der Otto, lies vor, sagt der Luis zur Tante und gibt ihr den Artikel zurück, ich kann nicht, habe heute kalte Augen, er nimmt einen Schluck von seinem Quintin, und bring mir dann noch einen, da ist in letzter Zeit so wenig drin. Die Tante hält den Zeitungsbericht in beiden Händen, also, hier steht’s, sieben Tage hat es ununterbrochen geregnet, und dann ist der Felsen oberhalb vom Nachbardorf gebrochen und hat Steine gross wie Kühe aufs Dorf hinuntergeworfen, neunzehnsiebenundzwanzig, achtzehnter Oktober, begrub das ganze Dorf, nur der Kirchturm blieb stehen, nicht mal das Kirchschiff hielt stand, nur der Turm. Denn Gott hockt im Turm, sagt der Luis. Ist nicht auch der Benedict, dein Grossvater seelig, vom Ochli begraben worden, fragt die Silvia die Tante, wowohl, die ganze Familie war auf dem Weg in die Kirche, als der Grossvater umkehrte vor der Brücke, weil er seine Pfeife vergessen hatte und etwas Münz für das Sonntagsbier, sie drückt ihre Mary Long im Aschenbecher aus, und als er wieder zurückeilte und über den Rhein, die Glocken läuteten bereits zum zweiten Mal und wir waren schon in der Kirche, krachte es durchs Tal, der Ochli brach und erschlug sieben Häuser, drei Heuställe, sieben Menschen und die Brücke mit dem Benedict drauf. Auf den Benedict, sagt der Otto und hebt sein Bierglas. Der Rhein hat dann aufgeräumt, hat den ganzen Plunder weggeschafft, sagt der Luis, das weiss ich noch genau, ein Bengel war ich, und noch nicht ganz so stark wie heute, weggetragen die ganze Miseria, nur noch der grosse Stein, ein Stein wie ein Haus, stand den Sonntag darauf noch da im Rhein, wo er auch heute steht, un-

Trink jetzt, sagt der Luis, wird noch warm, oder müssen wir dir zuerst die Heilige Consolaziun vorsingen.

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ter der neuen Brücke, alles andere furt, war alles schon nach wenigen Tagen weg. Die Tante fährt mit dem Waschlappen über den Stammtisch und bringt eine neue Flasche für den Otto und schenkt ein. Der Otto hebt den Hut und klopft die Asche ab, der Rhein, die alte Kuh, hat schon viele Traktoren gefressen. Und was für eine Andacht das war, der alte Josefi trug eine Kutte schwarz wie die vom Teufel, sagt der Otto, er zündet sich seine Krumme nach, und in der Kirche, die brätschvoll war bis zum letzten Bankrand, und wo noch gestanden werden musste hinten, zählten die Leute die Steine an ihren Rosenkränzen und beteten und das Geflüster im Kirchschiff glich dem Rauschen des Rheins, und dann setzte Pancraz, der dicke Glöckner, hinter der Orgel an und spielte mit seinen verkrüppelten Fingern, dass es einem derart bös für alle Ewigkeit in die Knochen fuhr.

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BILD: YVONNE BÖ H LER

Es regnet seit Tagen, dass wir noch den Ochli fürchten müssen, und der Alexi will Wasser trinken, sagt die Tante, was will er, fragt die Silvia, wenn es doch schon regnet, dann auch noch Wasser trinken, das ist aber was Neues, hat er sich denn verliebt. Irgend so etwas muss es sein, anders kann ich mir das auch nicht erklären, sagt die Tante, aber reden will er nicht, schau ihn an, er sagt nichts, wo er sonst doch plappert wie ein Bächlein, als sei der Boden unter seinen Füssen weggeschwemmt worden bei dem Sauwetter. So schlimm war es ja nicht mal, nachdem sich seine Frau erhängt hatte auf dem Dachboden, sagt die Silvia. Was denn reden, sagt der Luis, da gibt es nichts zu reden, ein paar hinter die Löffel, das hat noch immer genützt. Habt ihr den Rhein gesehen, fragt der Otto, jetzt ist dann mal gut, gell, der grosse Stein ist zur Hälfte im Wasser, und regnet es so weiter, dann Grüssgott, er trinkt. Im Fünfundachtzig, sagt der Luis, der grosse Stein war fast ganz unter Wasser, Gopfertammi, und hier drin sassen wir mit dem Wasser bis zu den Knien, im Siebenundachtzig war das, sagt die Tante, man hätAuf der Türschwelle steht die Grossmutter. In der Hand hat sie ihr te Gold waschen können am Stammtisch, sagt Güterli mit Weihwasser und im Mund hat sie eine Zigarette. der Otto, wären sicher noch ein paar Gebisse mit Goldzähnen im Sieb hängen geblieben, schen, sagt der Otto, so verschlagen sind wir denn auch. Wer nicht nachdem Gott die Hänge gewässert hatte und das Wasser über den trinkt, der muss auch nicht saichen, sagt der Luis. Jetzt lass ihn, sagt die Friedhof zog, weil die Friedhofmauer nachgab und die Hälfte der GräTante, muss ja nur Wasser lassen, nicht dass er mir in die Hosen macht ber aushob und mit hinunter ins Dorf schwemmte. Ja, das Vermögen, wie der Guido, ist auch schon Jahre tot, wer ist gestorben, fragt die das die Filomena im Mund herumtrug, sagt der Luis, das hätte ich gut Grossmutter, niemand, sagt die Tante und steckt sich eine neue Mary gebrauchen können dann, die Hälfte meiner Kälber ertrank im HochLong zwischen die Lippen, ich habe geträumt, sagt die Grossmutter, das wasser, dass ich das Bauern gleich habe sein lassen müssen danach, geRoss sei im grünen Gras am jungen Rhein gestorben, es lag da ganz mügen die Posaunen Gottes kommt man halt nicht an, sagt der Otto, der de und tot, die Tante bläst den Rauch aus, der Guido also, sagt die TanLuis holt den Schnupftabak aus der Hosentasche, und auf der Brücke te, der sass jeweils da auf dem Bänkli, immer auf dem gleichen Platz, standen die Leute und schauten wie Japaner, er zieht den Schnupftabak ganze Nachmittage sass er da und sagte nichts, und wenn er genug inhoch, buah, willst du auch, der Otto streckt seinen Handrücken hin, tus hatte, zog er den Kopf in die Schultern, und gestorben ist er auf der schauen heisst nicht, dass man auch sieht, er steckt die Büchse in die Toilette, sagt die Silvia und hält das brennende Zündhölzchen der TanHosentasche, auch meine Grossmutter hatte es mitgeschwemmt, sagt er, te hin, hatten ja auch alle gestaunt, dass er plötzlich auf die Toilette haben wir aber erst zu spät gemerkt. Oha, sagt der Otto und holt den wollte, wo er doch nie ging, sie zündet ihre Select an, nur dass er nicht Schnudderlumpen aus der Hosentasche. mehr zurückkam. Dann gib noch einen Quintin, sagt der Luis zur TanDie Tante legt den Zeitungsbericht vom Steinschlag zurück in den te. Ist denn heute niemand gestorben, fragt die Grossmutter. Noch ist Schrank. Die Türe zur Küche geht auf und auf der Türschwelle steht die niemand gestorben heute, sagt die Tante, willst du noch einen Schnaps, Grossmutter. In der Hand hat sie ihr Güterli mit Weihwasser und im ha, fragt die Grossmutter, ich bringe dir noch einen und wir stossen auf Mund hat sie eine Zigarette. Lass den Saich, sagt die Tante und nimmt den Heiligen Antonius an. Wo habe ich nur meine Hostien hingelegt, ihr die Zigarette aus dem Mund. Die Grossmutter hinkt hinüber zum fragt die Grossmutter, und die Tante steht auf. Stammtisch, die Tante stützt sie dabei, wer ist denn heute gestorben, fragt die Grossmutter und bekreuzigt sich. Niemand, sagt die Tante, setz Mit freundlicher Genehmigung von Arno Camenisch. Der Text wurde dich jetzt. Die Tante holt ihr einen Schnaps. Siehst du, sagt der Otto, bald zum ersten Mal im Ausstellungskatalog der Ausstellung «Hochwasser – hundert, und warum denk, er klopft auf den Stammtisch und zeigt auf Trink oh Herz vom Überfluss der Zeit!» von Steiner&Lenzlinger veröfden Alexi, zur Vesper einen Kirsch, und du bleibst frisch wie ein Pantoffentlicht (Arp Museum Rolandseck/De, Frühling 2011). fel. Kannst ja auch einen Tropfen Weihwasser reinschütten, wenn es dir denn um den Orapronobis geht, aber nur das Wasser reicht nicht, wo denkst du denn hin, wenn die Grossmutter nur Weihwasser trinken würde, sagt der Otto, ich sag’s dir, dann wäre sie durchsichtig wie Glas. Die Grossmutter steckt ihr Güterli in die Tasche ihrer Strickjacke und setzt das Schnäpsli an. Meine Urgrossmutter ist hundertdrei geworden, und den Schnaps hat sie bis zuletzt in Ehren gehalten, sagt die Silvia und bläst den Rauch aus, sie konnte nicht mehr stehen, nicht mehr gehen, Arno Camenisch nicht reden, nicht sehen, und hören konnte sie am Schluss auch nichts Arno Camenisch wurde 1978 in Tavanasa in mehr, aber dem Schnäpsli blieb sie treu, bis zum Seeligabend, und verGraubünden geboren. Er schreibt auf Deutsch mutlich lässt sie sich den Schnaps auch im Himmel nicht nehmen. Alt und Romanisch (Sursilvan) Gedichte, Prosa wie Brot und Milch wäre sie wohl kaum geworden sonst, sagt der Luis. und für die Bühne. Im Mai 2009 erschien sein Als sie hundert war, sagt die Silvia, hat der Pfarrer, der alte Josefi noch, Prosabuch «Sez Ner» (Prosa deutsch und roeine Mess für sie gehalten, um Gott zu bitten und die Heilige Maria und manisch) bei Urs Engeler Editor. Im Juli 2010 ihre ganze Onturasch, dass sie sterben dürfe. Aber kasch tenka, grad legte Camenisch seinen Zweitling «Hinter dem noch drei Jahre drauf gelegt hat sie, für die Heilige Dreifaltigkeit und aus Bahnhof» vor (Engeler-Verlag). Auf Romanisch Trotz, hundertdrei, halb tot halb Stein. Ha, fragt die Grossmutter. erschien 2005 der Roman «ernesto ed autras manzegnas» (Ed. RomaDer Alexi will aufstehen, nichts da, sagt der Luis, oh darf ich nicht nia). Camenisch studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, mal mehr schiffen gehen. Der Cleveri, ist halt mit allen Wassern gewawo er auch lebt. SURPRISE 253/11

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Die Welle VON INA BRUCHLOS

Frau (72) stranguliert sich am Frankfurter Hauptbahnhof ... Besorgt lese ich diese Zeilen in der Tagespresse. Mein erster Impuls ist es, meine Eltern anzurufen, ob alles in Ordnung ist, mein zweiter, erst einmal den Artikel zu Ende zu lesen, um meine Eltern auszuschließen, mein dritter, nicht mehr anzurufen, nachdem ich den Artikel gelesen habe, alles in Ordnung scheint, zumindest aus meiner Sicht und nicht in den Augen des Opfers. Im Artikel war von einem Rollkoffer die Rede, den das Opfer bei sich hatte, und einem langen Schal, der sich so unglücklich in der Rolltreppe verhedderte, dass sich die Frau (72) am Frankfurter Hauptbahnhof das Genick brach. Meine Eltern wohnen tatsächlich direkt neben dem Bahnhof, meine Mutter ist auch 72, weshalb sich eine gewisse Übereinstimmung mit Frau (72) nicht leugnen lässt. Aber nachdem im Grunde beide Elternteile keine Reisepläne mehr hegen und ich mich auch an keinen Schal meiner Mutter erinnere, der mehr als einen Meter misst, wähnte ich sie irrtümlich sicher. Irrtümlich, da meine Eltern sehr wohl immer einen Rollkoffer bei sich haben, in dem sie ihre Einkäufe horten, was ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, meine Tante meiner Mutter tatsächlich einen dreimeterlangen Kaschmirschal schenkte, ein Designerstück, das sich mit unter fünf Metern gar nicht erst abgab, wallend musste es sein, was meiner Mutter gefiel und ihr, wie sie hoffte, etwas

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Divenhaftes verlieh. Auch wenn meine Mutter mehr Petra Roth als Maria Callas glich, einem Kind der Stadt, das sehr wohl mit Rollkoffer und verheddertem Schal an einer Frankfurter Rolltreppe scheitern konnte – Scheitern wurde in unserer Familie schließlich großgeschrieben. Ich scheiterte zunächst am Führerschein, dann an unzähligen Auslandsstipendien, selbst amerikanische Kaffeemaschinen erschlossen sich nicht meinem technischen Verständnis. Fremdländische Duschen waren mir ein Gräuel, italienische Busfahrpläne zwangen mich zum Gehen, was sich alles ganz gut tarnen ließ mit Argumenten wie: Man muss sich eine Stadt erlaufen, man brauche ausländische Kaffeemaschinen nicht zu verstehen, weil man das dazugehörige Stipendium nicht gewonnen hat – die fremdländische Dusche: ebenfalls Bestandteil des Arguments zwei – und selbst der Führerschein: Sollte doch der fahren, der zu den glücklichen Gewinnern zählte. Weder aus meinem Bruder noch aus mir wurden großartige Ärzte, die die Praxis meines Vaters übernahmen, auch keine großartigen Künstler, die es nicht nötig hatten, die großartige Praxis des Vaters zu übernehmen und herablassend auf die Welt der Arbeitenden blickten, die in einem Dasein voller Allergien und Grippewellen gefangen waren, unheilbaren Krankheiten, die wir zum Glück nie bekämpfen mussten. Das Oberhaupt des Scheiterns war dagegen seit jeher meine Mutter. Manchmal habe ich das Gefühl, meine Mutter beginnt und wir ziehen SURPRISE 253/11


nach. Wir sind wie Erdmännchen, die ihre Familie kopieren und sich gegenseitig die Käfer aus dem Mund ziehen. Egal welche. Du hast das Bein gebrochen? Emsig erklimmen wir die Anhöhe und versuchen, beim Herunterspringen besonders unglücklich einen scharfkantigen Stein zu erwischen. Meine Mutter überquerte kürzlich die Straße und brach sich tatsächlich den Arm. Sie lag in der Uniklinik. Ich versuchte, sie anzurufen, konnte mich aber nicht entscheiden, welche der vielen Telefonnummern, die ich unter Mama (Krankenhaus) notiert hatte, die richtige war. Ich rief vergeblich meinen Vater an, denn der hatte sich, kurz nachdem sich meine Mutter den Arm brach, an der gleichen Kreuzung den Fuß gebrochen, auf dem Weg ins Krankenhaus, als er meine Mutter besuchen wollte, was er so dann auch tat. Ich wählte eine beliebige Telefonnummer und hatte sofort meine Mutter in der Leitung. Du glaubst nicht, wer neben mir liegt, lachte sie in die Muschel. Ich wusste es. Ich musste nicht raten. Zu lange schwimme ich schon am obersten Rand des Mahlstroms und warte auf den Moment, in dem er mich in die Tiefe reißt. Vielleicht bin ich deshalb so ängstlich. Ich weigere mich, über hohe Brücken oder frei schwebende Treppen zu gehen. Meine Mitmenschen vermuten: Höhenangst. Ich sage, sie können Höhen weglassen. Mich ängstigen schon Minigolfplätze, weil mir einmal der Schläger zerbrach und der vordere Teil irgendwohin flog. Seitdem habe ich Respekt vor der Bahn mit dem Netz. Ich hole kaum aus und habe grundsätzlich eine 7. Die Wände beim Squash erscheinen mir weniger wie ein Spielfeld als vielmehr wie eine seltsam anmutende Edgar-Wallace-Kulisse mit sich bewegenden Wänden. Ich: Gert Fröbe, meine Mutter: Gudrun. Letzten Endes war es deshalb mutig, mit meiner Mutter ein Wellenbad aufzusuchen, auch wenn wir nicht wussten, dass es sich um ein Wellenbad handelte, und auch der Name Die Welle uns nicht weiter misstrauisch machte. Froh war ich, als ich die angenehme Neigung sah, die in das Wasser führte. Diesmal würde sie sich nichts brechen. Meine Mutter hielt sich am Rand fest und lachte. Ein lachender Kopf unter Blümchen aus Gummi. Ich schwamm in die Mitte und entdeckte ein Schild mit der Aufschrift: Bei Wellengang bitte einen Meter Abstand halten. Sofort schwamm ich zurück zum mütterlichen Blumenbeet. Das ist ein Wellenbad, rief ich über ozeanische Weiten. Ich fühlte mich wie Käpten Ahab, der den Wal auftauchen sah. Ein Erlebniswal, gefangen im Spaßbad. Oh Gott, rief meine Mutter und hangelte sich im Eilschritt am Beckenrand Richtung Festland. Eine Sirene tutete und der Sturm begann. Es war die denkbar schlechteste Idee, sich am Rand festzuhalten. Meine Mutter ist immer offen für die denkbar schlechtesten Ideen. Die erste Welle riss ihr zunächst nur das Käppchen vom Kopf.

Bei der zweiten sah ich, wie sich ihre Gliedmaßen unkontrolliert über Wasser verhedderten und wieder untergingen, als kämpfe sie mit einer Riesenkrake. Die Kappe schwamm irgendwo in der Mitte und hielt sich besser über Wasser als ihre Besitzerin. Meine Mutter war verschwunden. Mein erster Gedanke: Wie erkläre ich das meinem Vater. Oder den Bademeistern, die heraneilten und meine Mutter aus dem Wasser fischten. Leider konnten sie auch mich sofort zuordnen, da meine Mutter pausenlos Ina, Hilfe! zu mir herüber rief und mit ihrem heilen Arm wedelte. Vernichtend sahen sie in meine Richtung. Ich tat so, als rettete ich die Kappe. Langt ja, wenn zwei sich um Mama kümmern. Sie lenkten meine Mutter zu den Liegestühlen. Ich wartete, bis die Bademeister weg waren und kam mit der Badekappe, die ich wie ein Blumensträußchen hielt, froh, dass sich meine Mutter nichts getan hatte, Genesungsblümchen aus Plastik. Da hab ich beim Klassentreffen wieder Gesprächsstoff, sagte meine Mutter und lachte, als sei nichts gewesen. Wir wollten nicht mehr ins Wellenbad. Wahrscheinlich hatten wir da ohnehin Hausverbot. Ich müsse unbedingt darüber schreiben, sagte meine Mutter. Ich fragte, an welchen Titel sie gedacht habe. Meine Mutter betrachtete verklärt die Schwimmbadkacheln:

Es war die denkbar schlechteste Idee, sich am Rand festzuhalten. Meine Mutter ist immer offen für die denkbar schlechtesten Ideen.

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Wie wär’s mit: Der Tag, als ich meine Mutter ertränkte. Ich sagte: Na, wir wollen mal die Kirche im Dorf lassen. Der Tag, an dem ich fast meine Mutter ertränkte? Ich sagte: Ich nenne es: Die Welle. Wie langweilig. Mein Vater fragte sofort, in welchem Wellenbad wir waren. Wahrscheinlich hatte er schon seine Schwimmsachen unterm Arm. Mein Bruder wollte dagegen nur wissen, welches Becken das mit den heimtückischen Wellen sei. Die Nachfolgegeneration ist eben alles in allem ein wenig vorsichtiger. Mit freundlicher Genehmigung von Ina Bruchlos, aus: Tragbare Texte #3; Minimal Trash Art 2011.

BILD: ZVG

Ina Bruchlos Ina Bruchlos wurde 1966 in Aschaffenburg geboren und studierte Freie Kunst in Offenbach, Rotterdam und Hamburg, wo sie seit 1997 lebt. Sie arbeitet in den Bereichen Malerei und Literatur. 2002 erhielt sie den Förderpreis für Literatur der Freien und Hansestadt Hamburg sowie 2004 den Publikumspreis zur Erscheinung des Jahrbuchs «Hamburger Ziegel».

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Die ersten Amerikaner VON SUSANNE HEINRICH

Mit dem Mann-Frau-Ding hatten wir gerechnet, aber nicht damit, Warum ausgerechnet wir, sagte ich. Wir haben noch nie ein Paar gedass uns die Nächte nach so kurzer Zeit nicht mehr genügen würden. spielt. Und ich habe nicht das Geringste mit Maggie gemeinsam. Peer Dass uns mehr aneinander lag, hatten wir gemerkt, als wir begannen, zog seine Unterhose aus. Seit ich ihn kannte, trug er zum Schlafen nur uns anzulügen. Es waren nie entscheidende Dinge, über die wir die Unein T-Shirt. Ein einziges Mal hatte ich ihn darauf angesprochen, und am wahrheit sagten, nur kosmetische Korrekturen, leichte Übertreibungen, nächsten Morgen hatte ein Zettel auf meiner Seite des Küchentischs gewinzige Leerstellen. Wir spürten es gleichzeitig (wir waren betroffen), legen: Freiheit für die Schwänze. Aber du kannst Maggie sein, wenn du aber wir sprachen lange nicht darüber. Wir waren treu und unehrlich willst, sagte Peer, sieh die Besetzung als Anerkennung deiner Wandgeworden, und einmal sagte Peer: Ich weiß nicht, was es ist, ich weiß lungsfähigkeit. Und überhaupt, sagte ich, wer spielt noch Tennessee nicht, ob es mir gefällt, aber ich bin eifersüchtig, und ich antwortete: Williams? Der letzte Hype ist ewig her. Peer lachte und schüttelte sein Vielleicht ist es einfach nur der Wunsch, eine Sache im Leben zu haben, Kissen auf. Er schaltete erst das große Licht aus, dann das kleine am an die man sich halten kann. Kopfende des Bettes (bekannte Reihenfolge, bekannte Gesten). Bevor er Plötzlich hatten wir viele Dinge, an die wir uns hielten. Wir hatten uns damit den Schlaf befahl, sagte er noch: Wir haben uns das alle aneine gemeinsame Stadtwohnung, feste Essenszeiten und dieselben Verders vorgestellt. lustängste. Wir hatten den gleichen Humor, ein gemeinsames Konto und Wir hatten uns das alle anders vorgestellt. Berlin, München, mindesjede Menge Sätze, die mit »Wir« begannen. Wir hatten das, was man eitens Leipzig. Nur zwei aus meinem Jahrgang waren übernommen worden, einer war nach Dessau gegangen, einer nach Bochum. Hannover war auch dabei, und Zwei Wochen später hatte Peer sich von meinem Körper gerollt, dann nur noch kleine Städte: Thale, Lauingen, aus meinem Blick, von meinem Bett und in seine Sachen. Warendorf. Das Theater in Coburg hatte einen guten Ruf, und mir hatten die Emporen gleich ne klassische Beziehung nennt (wir mieden den Begriff hartnäckig). gefallen, das Gold und der Stuck, dieser enge, überschmückte Raum, Am nächsten Morgen machte Peer die beiden Lichter an (das kleine und die Coburger mit ihren harmlosen Gesichtern und ihren tadellosen am Kopfende des Bettes, das große) und schüttelte sein Kissen auf. Ich Frisuren auch. Peer war schon da gewesen, Peer hatte die Hauptrollen deckte den Tisch und stellte das Textbuch zwischen die Marmeladenbekommen, Peer hatte, wenn er in der Stadt war, eine Sonnenbrille gegläser. Peer tat so, als würde er es nicht bemerken, aber als er sich zum tragen (als könnte man Glamour einfach so erzeugen). Aber niemand zweiten Mal Kaffee nachgoss, sagte ich: Hör dir das mal an. Ich las ihm hatte ihn angesprochen, wenn er mit seinem Hund unterwegs war, diese Stelle vom Anfang vor, aus dem langen Streit zwischen Maggie höchstens mal ein Kind, das den Hund streicheln wollte. Und ich, einen und Brick, wo sie sagt: Weißt du, was ich tun würde, wenn ich wüsste, Tag nach meiner Ankunft. Ich habe dein Gesicht auf einem der Schaudass du mich nie wieder lieben würdest? Nie, nie mehr! Dann würde ich spielerfotos in der Theaterklause gesehen, hatte ich gesagt, ich bin die in die Küche hinuntergehen und mir das längste und schärfste Messer Neue im Ensemble. Peer hatte seine Sonnenbrille nicht abgenommen (er hatte seine Lippen aufeinandergepresst). Niemand geht in die Theaterklause, hatte er gesagt. Zwei Wochen später hatte Peer sich von meinem Körper gerollt, aus meinem Blick, von meinem Bett und in seine Sachen. Wir müssen uns nichts vormachen, hatte er gesagt und sich ans Fenster gestellt (er konnte alles Mögliche damit meinen). Ich war aufgestanden und an das zweite Fenster getreten, den Pullover vor den Körper gepresst, den Blick auf dieselbe Straße gerichtet, die auch unter Peers Fenster lag. Ich habe beim Frisör in einer Frauenzeitschrift einen Artikel über Casual Sex gelesen, hatte ich gesagt. Ich glaube, wir sind davon betroffen. Es war von Anfang an schön gewesen, mit Peer zu schlafen (wir lachten dabei, als erzählten wir uns Witze). Manchmal hatte ich ihn nachgemacht, seine Gesten, die ungenau und ziellos wurden nach dem Sex. Wir hatten auf unserer Freiheit bestanden, aber keiner von uns hatte sie in Anspruch genommen, und in meiner Wohnung sammelte sich Peers Geruch in den Ecken (ich wollte nicht lüften, bis er wiederkam). SURPRISE 253/11

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holen und es mir mitten ins Herz stoßen, das schwör ich dir! Peer guckte mich fragend an (von seinem Messer tropfte Honig), und ich warf das Textbuch auf den Tisch. Ich verstehe Tennessee Williams nicht. Ich verstehe Amerika nicht. Die Art, wie sie reden, weißt du, diese Kosenamen, diese Zügellosigkeit im Umgang mit großen Wörtern. Ich will so nicht sein. Peer lächelte. Vielleicht hilft es, wenn ich dich Baby nenne, sagte er. Wenn du willst, nenne ich dich ab jetzt nur noch Baby. Bei der ersten Probe sagte der Regisseur: Da muss mehr Verletzung in deiner Stimme liegen. Du bist hart geworden über Bricks Ablehnung, aber du verzehrst dich nach ihm. Verstanden? Ich nickte. Ich schlug das Textbuch auf und las die Anweisung noch einmal: Margarets Stimme ist sowohl hektisch als auch schleppend. Bei ihren langen Reden spricht sie wie ein Priester, der einen liturgischen Gesang anstimmt. Das ergibt keinen Sinn, dachte ich. Der Regisseur setzte sich, Peer nahm seinen Platz auf der Couch ein (er hatte einen fremden Zug um den Mund). Ich sagte noch einmal: So wie du mich gerade angesehen hast, bevor ich deinen Blick im Spiegel gesehen habe. Und dann hast du zu pfeifen begonnen! Ich weiß nicht, wie ich’s beschreiben soll, aber da ist mir das Blut in den Adern gefroren! Peer lächelte. Das habe ich gar nicht bemerkt, dass ich dich ansehe, Maggie. Der Regisseur ließ uns diesmal weiterspielen. Peer schenkte sich nach und trank. Ich zog mich aus und wieder an. Peer humpelte. Ich betrachtete mich im Spiegel. An einer Stelle hörte ich deutlich Krocketgeräusche (ein Hammer, der gegen eine Kugel schlägt). Dann kam die Stelle, an der Peer seine Krücke fallen lassen musste. Mir ist die Krücke runtergefallen. – Stütz dich auf mich. – Nein, gib mir bloß die Krücke. – Stütz dich auf meine Die würde dir Schulter! – Ich will mich nicht auf deine SchulMeine Tränen ter stützen, ich will meine Krücke! Beim Aufheben der Krücke versuchte ich, Brick zu denken, aber ich dachte Peer. Ich hielt sie kurz in beiden Händen und presste sie gegen meinen Bauch. Brick, dachte ich, Brick, Brick, Brick. Dann zielte ich. Ich sah zu, wie die Krücke flog und Peer an der Schulter traf (ich sah, wie sein Blick kurz flackerte). Nach der Probe hielt ich meinen Kopf unter den Wasserhahn, bis mir schlecht war. Es klopfte, und ich drehte den Wasserhahn zu. Peer lehnte im Türrahmen (er sah genau so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte). Warum sind deine Haare nass?, fragte er. Ich ging ihm entgegen. Eine Armlänge vor ihm blieb ich stehen. Ich habe Angst, sagte ich leise, ich will nicht Maggie sein (die Art, wie Peer mich ansah). Bei der nächsten Probe stand das Bett zwischen Peer und mir und schien zu leuchten (aber das waren nur die Scheinwerfer). Ich sprach in Peers Rücken. Ich fühle mich die ganze Zeit wie eine Katze auf einem heißen Blechdach!, sagte ich. Dann spring doch runter, sagte Peer, spring runter. Katzen springen vom Dach und landen unverletzt auf ihren vier Pfoten! O ja! Dann tu’s! Verdammt noch mal, tu’s doch … – Was tun? Peer drehte sich langsam um, und alles an ihm war so auf den

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Punkt (der schnurgerade Blick, der müde Mund). Nimm dir einen Liebhaber! Auf dem Weg nach Hause schlug sein Handgelenk gegen meines. Wir überquerten den Marktplatz, wo am Brunnen Kinder spielten und in den Cafés schöne Frauen saßen (Inseln, auf denen sich das Licht sammelte). Vor einem Wäschegeschäft blieb Peer stehen. Die würde dir stehen, sagte er und zeigte auf eine rote Korsage. Meine Tränen wiesen mich darauf hin, dass ich weinte. Ich setzte Peers Sonnenbrille auf und lehnte mich gegen die Hauswand. Was ist los mit dir?, fragte Peer. Ich weiß es nicht, sagte ich. Ich zitterte wie als Kind, wenn ich Schüttelfrost gehabt hatte. Peer legte mir sein Jackett um die Schultern. Wird es besser?, fragte er. Ist es so besser? Als Peer einmal nicht da war, probte ich die Szene, in der Maggie in Unterwäsche vor dem Spiegel steht und um Brick wirbt. Andere Männer wollen mich noch, sagte ich und legte mir die Hände auf die Brüste. Vor einer Woche in Memphis, da haben mir überall die Blicke der Männer Löcher ins Kleid gebrannt, im Golfclub und im Restaurant und im Kaufhaus, da haben mich alle Männer mit den Augen verschlungen, wenn ich vorbeigegangen bin, und haben sich nach mir umgedreht. Ich zog mir die Unterwäsche aus und schob mir die Hand zwischen die Beine, probeweise. Es dämmerte schon, als ich aufwachte. Peer saß am Kopfende des Bettes und hatte mir eine Hand auf den Unterarm gelegt. Er musste mir zugesehen haben beim Schlafen (sein Lächeln war sorgenvoll). Er ließ die Lampen ausgeschaltet und brachte mir Tee, als wäre ich krank. Als ich sagte: Es ist dieses Stück, es ist dieses unablässige Streiten!, sagte Peer: Lass uns ein Zeichen ausmachen. Wenn ich in der letzten Szene so mache (er fuhr sich mit dem Daumen über die Lippen wie Jean-Paul Belmondo in Außer Atem), weißt du Bescheid. Was?, fragte ich. Was weiß ich dann? Dass ich dich liebe, sagte Peer. Dass alles gut ist. Die restlichen Probewochen vergingen wie im Flug, aber sie hinterließen Spuren: an uns, in der Wohnung, in der Stadt. Schon zwei Wochen vor der Premiere waren die Frisöre ausgebucht, ich ließ die Jalousien geschlossen und träumte immer wieder diesen einen Traum: wie ich nackt in der Küche herumlief und Peer meine Nacktheit gar nicht bemerkte. Es waren die ersten Wochen, in denen wir kein einziges Mal miteinander schliefen, und manchmal stellte ich mir vor, wie Peer auf dem Bett lag und sich selbst befriedigte, während ich duschte. Alle Dinge waren irgendwie aufgeladen und deuteten über sich hinaus (sogar die Bäume draußen rochen, seit es wärmer wurde, nach Sperma). Seit neuestem fielen mir im Spiegel Zeichen des Verfalls an mir

stehen, sagte er und zeigte auf eine rote Korsage. wiesen mich darauf hin, dass ich weinte. auf, die knittrige Haut unter meinen Achseln zum Beispiel. Einmal kam Peer in die Küche, als ich die dritte Flasche Wein in den Ausguss entleerte. Was machst du da, um Himmels willen, drehst du jetzt durch?, fuhr er mich an. Ich bin nicht Brick, hörst du mich? Ich bin nicht Brick! Drei Tage später konnten wir darüber lachen (aber wir mussten uns anstrengen dafür). Bei den Proben konnte ich die Schlussszene kaum erwarten, den Moment, in dem ich sagte: Ich liebe dich wirklich, Brick, wirklich!, und er antwortete: Wäre schon komisch, wenn’s wahr wäre!?, bevor er die Zigarette ausdrückte und sich über die Lippen fuhr (alles war gut). Einmal machten Peer und ich einen Nachtspaziergang durch die Stadt. Wir liefen lautlos, als wären wir Diebe, und für ein Gefühl von Verschwörung genügte das Flackern einer Straßenlaterne. Peer zog seine rechte Hand aus der Tasche und ließ sie baumeln. Ich wusste, dass er darauf wartete, dass ich sie nahm, aber ich tat es nicht. Wir gingen an den Apotheken vorbei, an den Schildern für die alljährlichen zwei Sommerkonzerte, an unserer Wäscherei, unserem Zahnarzt, unserer SURPRISE 253/11


Steuerberatung. An der Stelle, wo sonst die indianischen Straßenmusiker mit ihren Panflöten und Kassettenrekordern standen, hielten wir an. In der Ferne fuhr ein Auto sehr langsam eine Straße entlang (wie in einem schlechten Film), und Peer sagte: Die Art, wie du dich verwandelst. Kurz vor der Generalprobe nahm der Regisseur mich zur Seite. Ich würde mir wünschen, du hättest eine professionellere Arbeitseinstellung, sagte er (seine Hand wurde immer schwerer auf meiner Schulter). Als er mich wieder gehen lassen hatte, setzte ich mich auf eine der Bänke am Theaterplatz und dachte nach. Darüber, wie ich einmal zu Peer gesagt hatte: Ich glaube, ich habe keinen Kern. Daraufhin hatte Peer gelacht und gesagt: Du bist nur ein bisschen empfindlich. Das legt sich. Auch für dich wird die Arbeit irgendwann Routine. Ich senkte den Blick, denn die schrillen Farben der Stiefmütterchen in dem Beet auf dem Platz stachen mir in den Augen. Ein Mann setzte sich neben mich. Ich wusste sofort, dass er nicht von hier war. Er bot mir wortlos eine Zigarette an und zückte sein Feuerzeug, als ich nickte. Er musste Amerikaner sein (sein Blick suchte zielstrebig die hohen Gebäude, die Weite über den niedrigen Stadthäusern). Im Stadtführer hatte ich gelesen, dass die Amerikaner Coburg liebten. Der Mann rauchte und schnippte seine Asche auf den Boden zwischen uns. Einmal sagte er: German women, und lächelte freundlich, und als wir fertig geraucht hatten, stand er auf, verbeugte sich und verschwand. Es war beinahe zehn Jahre her, dass der Theaterjugendclub mein Lebensmittelpunkt gewesen war. In dieser Zeit hatte ich kaum geschlafen und oft Fieber gehabt. Wenn jemand mich gefragt hätte, wie es mir ginge, hätte ich geantwortet: Ich bin vielleicht nicht glücklich, aber erfüllt. Ich hatte sehnsüchtig auf den Freitag gewartet, die Treffen in der Probebühne I, die Sprechchöre (Tritt dort die Türe durch!), die immer gleichen Improvisationsübungen (Drei Menschen bleiben im Aufzug stecken), die langen Nächte in der Theaterkantine, wo wir auf die Rückkehr der SURPRISE 253/11

noch halb kostümierten Schauspieler warteten, auf ihre zynischen Gespräche, ihre halbherzigen Flirts. Damals hätten wir für drei Vorstellungen im Jahr unser Leben gegeben (damals hatten wir noch nicht gewusst, was unser Leben wert war), wir hatten in den Umkleideräumen des Theaters stolz die großen Pudertiegel geplündert, die Aufkleber mit den Namen der Schauspieler von den Spiegeln gekratzt und in unsere Tagebücher geklebt, und manchmal hatten wir von einer geheimen Nische hinter den Scheinwerfern aus die Generalproben beobachtet. Wir waren zu Theatertreffen in Bochum und Berlin gefahren und hatten uns ernsthaft in andere Schauspieler aus anderen Theaterjugendclubs verliebt, wir hatten mit den Schauspielstudenten angebandelt, in der Hoffnung, einer von ihnen würde uns mitnehmen und das Geheimnis verraten, uns mit dem Zauber anstecken, uns einweihen (oder uns wenigstens vögeln). Wir waren zynisch geworden, wir hatten gerufen: Don’t fuck the company! Don’t fuck the company!, nur um es dann doch zu tun. Damals hatte der Pförtner jeden von uns mit Namen gekannt. Mit dem Studium war es dann ernst geworden. Die Bewerbungen und Enttäuschungen, das erste Gehalt, das mir zu hoch vorkam dafür, dass ich mit etwas Geld verdiente, das ich nie als legitimen Beruf empfunden hatte. Ich war nach Coburg gezogen und hatte Peer kennengelernt, und er hatte gesagt: Du lässt dich zu sehr mitnehmen, du darfst nicht so sensibel sein in diesem Beruf. Aber das war es nicht. Ich hatte versucht, es ihm zu erklären: Es ist, als hätte ich ein paar Schichten Haut weniger als der Rest der Welt, verstehst du? Als wäre ich überhaupt weniger, als wäre mein Ich kleiner als das der anderen. Es kommt mir vor, als könnte ich jeder sein und wäre niemand wirklich ganz, als wäre ich etwas Weiches, das seine Form ändert. Aber Peer hatte immer nur abgewinkt und gesagt: Die Routine wird sich schon noch einstellen. Es waren noch drei Tage bis zur Premiere, morgen war Generalprobe. Peer hatte den Tisch gedeckt (das konnte nur ein schlechtes Zeichen

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BILD: RABEA EDEL

sein). Im Blumenstrauß blieb sein Lächeln hängen, und ich erinnerte er nur einen Gedanken fortsetzen: Es kommt mir vor, als wäre Sex für mich daran, wie er einmal gesagt hatte: Niemand kann uns schaden – dich eine Art Währung. Diese Unterwürfigkeit steckt einfach tief in euch nur wir selbst. Aber das war lange her, eine Ewigkeit, vielleicht zwei. Frauen drin. Noch einmal hatte ich Peer nicht wegschicken können, alNach dem Essen kam Peer um den Tisch herum, als wäre das Frühstück so hatte ich sofort wieder mit ihm geschlafen. Kurz bevor er so weit war, nur ein Vorwand gewesen, und fing an, mich zu küssen. Er küsste meihatte ich ihn von mir gestoßen und mich vor seinen Augen selbst bene Stirn und die Fingerspitzen, die Schultern und die Ohren, und als ich friedigt (ich hatte Peer noch nie so verstört gesehen). Es war mir so vorhochfuhr, fiel der Stuhl um (er schlug mit einem übertrieben lauten Gegekommen, als hätten wir zum ersten Mal etwas in Frage gestellt, etwas, räusch auf). Peer hob ihn auf und stellte ihn zurück an seinen Platz, so das uns verband, etwas, ohne dass es uns vielleicht nicht gab. langsam, als täte er etwas von großer Bedeutung. Er kam näher. Bitte, sagte ich, bitte nicht. Er ließ seine Arme fallen. Was denkst du denn, sagte er leise, Er ließ seine Arme fallen. Was denkst du denn, was denkst du denn, wer ich bin. sagte er leise, was denkst du denn, wer ich bin. Bis zur Generalprobe am nächsten Abend war Peer verschwunden, wir sahen uns erst auf der Bühne wieder. Wir Ich hielt mir den Wecker nah vors Gesicht (06:34:47), ich wusste, das spielten das Stück ohne Unterbrechung durch. Peer saß auf dem Bett, heute der Tag der Premiere war. Es dauerte ein paar Sekunden, bis meidas Handtuch um die Hüfte gebunden. Hast du was gesagt?, fragte er, ne Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten. Da, wo sonst Peer lag, ohne den Blick zu heben. Ich wollte was sagen!, sagte ich. Ich bin einlag seine Bettdecke, ausgebreitet und glattgestrichen. Ich zog mich an sam. Sehr einsam! – Das geht allen so … – Wenn man mit jemandem und lief die Judengasse hinauf in Richtung Markt. Noch immer wunzusammenlebt, den man liebt, kann man noch einsamer sein, als wenn derte ich mich über die Stille (noch immer vermisste ich den Lärm). Ich man ganz allein lebt! Wenn man nicht wieder geliebt wird … Peer stand erinnerte mich an ein Gespräch mit einem Kommilitonen während des auf, nahm seine Krücke und humpelte über den Bühnenrand. Willst du Studiums. Wir hatten in der Kantine gesessen, und er hatte nach meilieber allein leben, Maggie? nen Händen gegriffen und gesagt: Künstler sein heißt, sich immer wieEs waren nur noch ein paar Sätze, Peer stand am Bühnenrand wie der begeistern zu lassen, sich nicht entscheiden zu müssen. Nicht für aus Buntpapier ausgeschnitten. Alles an ihm war scharf und gerade, bis ein Leben, nicht für eine Schönheit, nicht für eine Liebe. auf diese eine Locke über seinem linken Ohr (er musste geschwitzt haSo früh gehörte der Marktplatz den Tauben. Später, wenn die Sonne ben heute Nacht). die Fensterbretter erreichte, würden die Angestellten kommen und wieIn der Schlussszene warf ich die Krücke aus dem Fenster und schalder verschwinden, und nach ihnen würden die Busse die Rentner in die tete das Licht aus. Peers Gesicht glomm auf, als er sich die Zigarette anStadt bringen. Ich lief herum, bis das Stadtcafé aufmachte, dort kaufte zündete. Ich wollte meine Hand ausstrecken und ihn an der Schulter beich mir ein Croissant. Dann setzte ich mich an den Brunnen und warterühren, aber es ging nicht. Standen Maggie und Brick zwischen Peer te auf die ersten Amerikaner. und mir oder standen Peer und ich zwischen Maggie und Brick? Ich hielt mich am hölzernen Bettgestell fest und sagte den vorletzten Satz: Ich Mit freundlicher Genehmigung von Susanne Heinrich, aus: «Amerikaniliebe dich wirklich, Peer, wirklich. Peer fuhr herum. Sein Schweigen sche Gefühle», Dumont Buchverlag, Köln 2011. kam mir lang vor, ehe er endlich den Mund öffnete, um seinen Satz auszusprechen. Dann ging er hinüber zur Bar, drückte die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und ging ab. Einmal, am Anfang, als noch alles gut gewesen war, als wir uns noch nicht hatten verlassen können, weil wir genau genommen nicht zuSusanne Heinrich sammen waren, da hatten wir nebeneinandergelegen und waren nichts Die gebürtige Leipzigerin Susanne Heinrich gewesen als zwei voneinander erschöpfte Körper. Peer hatte sich zu mir schreibt und singt – seit 2008 für die Wavegedreht und gesagt: Dein Problem ist, dass du beim Sex mehr an mich rock-Band «watching me fall». 2005 erschien denkst als an dich. Im ersten Moment des Schrecks und der Überraihr Debüt «In den Farben der Nacht». «Amerischung hatte ich Peer aus dem Bett gezerrt und ihn vor die Tür gesetzt, kanische Gefühle» ist ihr viertes Buch. Die 26nackt, samt Kissen und Decke. Peer hatte drei Tage auf sich warten lasJährige lebt in Berlin. sen (das Bettzeug fand ich im Hausflur neben dem Treppengeländer). Aber bei unserem nächsten Treffen hatte Peer weitergeredet, als würde


Diese verfluchte Schwerkraft VON ALEX CAPUS

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Gedanken, dass er eines Tages auch auf der nächstunteren Stufe aufliegen würde. O heilige Maria Mutter Gottes! Mein lieber, schöner, praller. Hodensack, Quelle ungezählter himmlischer Freuden, würde spätestens in weiteren 10 000 Tagen 25 Zentimeter lang sein, haarlos und schlaff und ohne erkennbaren Nutzen. Das würde so sicher eintreffen wie die Klimakatastrophe, und ich wusste, wer daran schuld war: die Schwerkraft. Ich wusste Bescheid, ich hatte in einer medizinischen Fachzeitschrift einen Artikel darüber gelesen. Es war die Schwerkraft, die mich heimtückisch und schleichend in jahrzehntelanger Kleinarbeit kastrierte, indem sie meine Hoden kraft deren Gewicht Tag und Nacht unablässig nach unten zog. Die Schwerkraft zog und zerrte an meinen Hoden, und ich konnte es meinem Sack nicht verübeln, dass er diesen Kampf nach ein paar Jahrzehnten aufgeben und sich dem Boden zudehnen würde. Ärgerlich war nur, dass meine Hoden diesen Weg nach unten nicht in einer geraden Bewegung zurücklegen würden, sondern sich unterwegs um sich selbst drehten. Ich hatte es in dem Artikel gelesen: Dadurch verdrehten und verhedderten sich die Samenstränge hoffnungslos, an denen die Eier hingen, und für meine Spermien und Hormone und all die anderen Säfte gab es nicht die geringste Möglichkeit mehr, den Weg ihrer Bestimmung weiterzugehen. Ich war verloren. Ein Kastrat auf Raten, unausweichlich zum Eunuchendasein verdammt. Alles eine Frage der Zeit. Mit allen zehn Fingern meiner Hände bildete ich um meinen Sack einen Korb gegen diese verfluchte Schwerkraft. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie meine Hoden aussehen würden, wenn ich in spätestens 20 000 Tagen zweieinhalb Meter tief und halbverwest im Boden läge. Und dann dachte ich an all die Zeit, die schon vergangen war. Ich dachte an Elvis, Ingrid, Sandra, Wolfgang, Tobi, Gina und alle anderen. Mir fielen die grossen und kleinen Streitereien, Grausamkeiten und Gleichgültigkeiten ein, und ich dachte, mein Gott, welche Zeitverschwendung. Dann umarmte ich sie alle der Reihe nach (den alten Müller aber nicht). »Warum habe ich euch nicht mehr geliebt?« fragte ich laut in die neblige Nacht hinaus, und dann weinte ich und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen, bis ich einschlief. Mit freundlicher Genehmigung von Alex Capus, aus: Eigermönchundjungfrau, dtv 2004.

BILD: ANDRÉ ALBRECHT

Es war zwei Uhr in der Nacht, draussen legte sich dicker Nebel über die Stadt, und ich lag endlich im Bett. Die Schritte später Heimkehrer hallten von der Gasse zu meinem dunklen Zimmer herauf, die Scheinwerfer eines parkenden Autos zeichneten beruhigende weisse Schlieren an die Zimmerdecke. Ich lag nackt und lang ausgestreckt da und war froh, allein zu sein. Ich fühlte mein Herz schlagen; gutes Herz, dreissig Jahre alt, einwandfreier Zustand, arbeitete seit etwas mehr als 10 000 Tagen und Nächten störungsfrei durch, manchmal schneller, manchmal langsamer, je nach Bedarf, und hatte sich noch nie darüber beklagt, dass ich zuweilen zu viel trank und rauchte und an heissen Julitagen ohne Dusche in den kalten Fluss sprang. Ich lauschte dem Rhythmus meines wunderbaren Herzens und war voller Dankbarkeit. Weiter unten hing mein Geschlecht ruhig und schlaff zwischen den Beinen der Matratze entgegen. Guter Pimmel, lieber Sack. Andere hatten in meinem Alter schon Hodenkrebs oder waren impotent, oder der Schwanz war zu gross oder zu klein oder übersät mit grässlichen Geschwüren und Pilzen und Geflechten und Ungeziefer, von schlimmeren Krankheiten gar nicht zu reden, Jesus Maria im Himmel. Ich aber war jung und schön und ganz normal, und jeden Tag hatte ich den herrlichsten harten Morgenständer wie jeder gesunde junge Mann. Heisse Schauer der Dankbarkeit wogten mir über den Rücken. Pötzlich beunruhigte mich etwas: Meine Hoden hingen ein ganzes Stück zwischen den Beinen hinunter. War das normal und der Zimmertemperatur angemessen und immer schon so gewesen, oder hingen sie etwa weiter hinunter als vor fünf oder zehn Jahren? Ein Bild stieg in mir hoch: das Bild meines Lateinlehrers, des bösen alten Werner Müller, dieses zähneknirschenden, stiernackigen Sadisten, Schrecken aller Schüler und Monster meiner Alpträume, das mich nach dem Schulabschluss noch jahrelang nachts heimsuchte, bis auch dieser Schrecken im namenlosen Dunkel der Vergangenheit verschwand. Dort blieb er über zehn Jahre, und ich hatte meinen Schwur schon längst vergessen, dem alten Müller aufs Grab zu pissen, sobald er nur endlich unter dem Boden wäre. Aber dann haben sich unsere Wege noch einmal gekreuzt. Es war letzten Winter in der städtischen Sauna und sehr peinlich. Als ich an einem Mittwochnachmittag die Garderobe betrat, war da der alte Müller und stieg aus seiner schlabberigen Unterhose – und dann stand der alte Quälgeist, die Geissel meiner Jugend, mit nichts als zwei schwarzen Strümpfen an den Füssen vor mir. Es war wirklich sehr peinlich. Der alte Müller und ich retteten die Situation, indem wir einander in stillschweigender Übereinkunft nicht wiedererkannten. Ich zog mich ebenfalls aus. Bis der alte Müller seine Schuhe unter der Bank verstaut und das Portemonnaie in Sicherheit gebracht und seine Lateinlehrerhose sorgfältig gefaltet hatte, sass ich schon längst nackt im Schwitzraum. Dann ging die Tür auf, und der böse Müller, vor dem im Lauf der Jahrzehnte Tausende von Schülern gezittert hatten, trat in seiner ganzen Nacktheit ein. Wir waren allein. Müller nahm neben mir Platz. Eine Weile zwang ich mich, nicht hinzuschauen, aber dann tat ich es doch. Da sass, eine Stufe höher als ich, der alte Müller mit seinem schlaffen, haarlosen Lehrerkörper, dem grauen Bürstenschnitt und dem runden, schwitzenden Kleinkinderbäuchlein. Erst fiel mir gar nichts auf, aber dann sah ich es: Seine Hoden hingen von der oberen Stufe bis auf meine Sitzhöhe herunter. Sie lagen gleich neben meinem Frottiertuch auf dem Lärchenholz, absurd in die Länge gezogen wie ein viel zu grosser Kaugummi. Ich hätte beinahe laut aufgeschrien. Das Bild von Müllers Hodensack marterte mich jetzt im Bett. Ich nahm meinen Sack schützend in beide Hände und ergab mich in den

Alex Capus Alex Capus wurde 1961 als Sohn eines Franzosen und einer Schweizerin in der Normandie geboren. 1966 zog er mit seiner Mutter in die Schweiz, wo er in Olten die Schulen besuchte. Er studierte Geschichte, Philosophie und Ethnologie in Basel, arbeitete während des Studiums bei diversen Tageszeitungen als Journalist und war danach vier Jahre lang Inlandredaktor bei der Schweizerischen Depeschenagentur in Bern. 1994 veröffentlichte Alex Capus seinen ersten Erzählband («Diese verfluchte Schwerkraft»), dem seit dem weitere Bücher mit Kurzgeschichten, Romane und historische Reportagen folgten. Zuletzt erschien im Februar 2011 sein Roman «Léon und Louise» (Hanser Verlag). Heute lebt Alex Capus als freier Schriftsteller mit seiner Familie in Olten.

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Buchtipps

Gut durchgespült: Schweizer Autoren schreiben Der Mensch am Limit: Geschichten aus

über helvetische Mentalitäten.

dem Grenzbereich.

Wandergeschichten Bergdrama und Fussarbeit Statt auf Pegasus, dem geflügelten Streitross der Dichterfürsten, haben viele Schreibende die Schweizer Bergwelt auf Schusters Rappen erobert.

Kulturkompass Schweizer Seelenlandschaften Ein Sammelband leuchtet die hintersten Winkel der Schweiz aus und scheucht dabei allerlei kurlige Bewohner aus den Ecken hervor. Töfffahrer, SVP-Mitglieder, Freizeitindianer. VON DIANA FREI

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Über alle Berge. Geschichten vom Wandern. Emil Zopfi (Hrsg.). Unionsverlag 2011.

Wenn Margrit Sprecher eine Parteiversammlung der SVP besucht, kommt dabei keine neutrale Berichterstattung heraus. Die Schweizer Journalismus-Koryphäe beschreibt die Veranstaltung als kabarettistische Darbietung und tischt dabei alle bekannten Klischees auf. Aber wenn Sprecher sie serviert, schmecken sie so gut wie Rollschinkli mit Kartoffelsalat, Lieblingsmenü eines jeden rechten SVPlers. So wird etwa das problematische Verhältnis von Partei und Medien folgendermassen auf den Punkt gebracht: «Aus SVP-Mund klingt ‹Journalischt› wie ‹Mischt›.» Erwähnenswert auch Blochers traditionelle Einlage als Gastdirigent, indem er «zwei, drei Armschwünge hin zum Blech der Trompeten und Posaunen» tätigt, um danach mit dem Stock im Publikum zu rühren «wie der Koch im Brei». Dieser und 25 andere Texte kommentieren den Sonderfall Schweiz und versuchen der helvetischen Mentalität auf die Spur zu kommen. Die Anthologie versammelt Texte der üblichen Verdächtigen – Dürrenmatt, Glauser, Bichsel, Muschg, Meienberg, Frisch, Loetscher –, die mit scharfer Beobachtungsgabe, analytischem Geist und historischem Blick das Land betrachten. Was das Buch auch als leichte Gartenbadlektüre lohnenswert macht, ist der Blick aufs Schweizerische Jetzt. So beschreibt Beat Sterchi das «Knorzen und Murksen beim Hosenlupf» so anschaulich, dass Uneingeweihte am liebsten schwingen lernen würden, und hornussen gleich noch dazu. Joachim Rittmeyer beisst sich derweil an einem schweizerischen «Unding von Wort» fest: Dem Vernehmlassungsverfahren. Dafür erklärt er den Begriff recht anschaulich: «Wäre die Demokratie eine Waschmaschine, so stünde auf der Ablaufanzeige der Bedienungsblende statt Einweichen – Vorkochen – Waschen – Spülstopp – Pumpen – Zwischenschleudern unter anderem auch die Rubrik Vernehmlassungsverfahren.» Das trockene Wort gibt, gut durchgespült, Anlass zu allerlei spritzigen Betrachtungen. Die «Bücher fürs Handgepäck» erscheinen als Reihe im Unionsverlag und sind als Ergänzung zum klassischen Reiseführer gedacht. Die «Reise in die Schweiz» dürfte wegen des Wiedererkennungseffekts vieler Eigenarten aber gerade für die heimischen Hiergebliebenen spannend sein – vielleicht mehr noch als für Touristen.

CHF 19.90. Winterwandern. Geschichten von Schnee und Eis. Emil Zopfi (Hrsg.).

Franziska Schläpfer (Hrsg.): Reise in die Schweiz. Kulturkompass fürs Handgepäck.

Unionsverlag Sept. 2011. CHF 19.90.

Unionsverlag 2008. CHF 18.90.

«Wandern ist eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration», meint Emil Zopfi, studierter Elektrotechniker, geübter Bergsteiger und freischaffender Schriftsteller – und Herausgeber einer Anthologie mit Texten von Schreibenden, für die das Reisen vor allem eines bedeutete: Fussarbeit. Ob Goethe oder Inglin, Mark Twain oder Thomas Mann, Annemarie Schwarzenbach oder Max Frisch – alle haben sie die Wege, von denen sie schrieben, und die sie zu ihren Geschichten anregten, unter die Füsse genommen. Die Erlebnisse in der Alpenregion überwältigten, beglückten oder erschreckten sie. Wind und Wetter ausgesetzt, in steter Gefahr und angesichts des oftmals Unbekannten schrieben sie Texte, die eine grosse Bandbreite von sangesfreudiger Wanderlust bis hin zum tödlichen Bergdrama abdecken. Jodler und Sonnenaufgänge etwa geben Mark Twain Anlass zu allerlei launigen Betrachtungen. Alfred Graber schildert die romantisch-unglückliche Wahl zwischen Liebe und Berg. Und bei Meinrad Inglin schliesslich geht es gar schauerlich zu, wenn ein Mann die Entscheidung treffen muss, welchen seiner verunglückten Kameraden er retten und wen von beiden er damit unweigerlich zum Tod verurteilen soll. Der Herausgeber selbst, von dem demnächst auch eine Anthologie über das Wandern im Winter erscheinen wird, greift ein ganz anderes Drama auf: das Neben- und Gegeneinander von Natur und Technik, von Berghütte und Hochspannungsleitung. Als Wissenschaftler und Schriftsteller zugleich hält er fest, wie selten unberührte Natur geworden ist. Dennoch bleibt Zopfi dieser verbunden, denn «Literatur und Wandern haben vieles gemeinsam: Sie öffnen die Augen und die Seele für die Welt.» Eine besondere Überraschung schliesslich bietet ein Text von Jürg Weiss. Aus diesem erfahren wir, dass die Entdeckung Amerikas und die Geburtsstunde der Bergkletterei in dasselbe Jahr, 1492, fallen. Was doch eigentlich nicht verwundern sollte, denn beide, der Kontinent am Rande der damaligen Welt und die Gipfel über der Wolkengrenze, waren lange Zeit terra incognita, ein unbekanntes Land, in das nur die Wagemutigsten aufbrachen.

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Franz Hohler als Wanderer im Wochenrhythmus. 01

Odd Fellows, St. Gallen

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Coop

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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Velo-Oase Bestgen, Baar

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Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

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Augusta-Raurica-Loge Druidenorden Basel

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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Stellenwerk AG, Zürich

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www.bauernschlau.ch, Hof, Web, Kultur

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Axpo Holding AG, Zürich

Als er seinen runden Geburtstag kommen sieht, beschliesst der Kabarettist und Erzähler Franz Hohler, gute Vorsätze ein Jahr lang nicht nur Vorsätze bleiben zu lassen. All die Wanderungen zu machen, die er endlich oder wieder einmal unternehmen wollte, spontan und von nichts abhängig als den Launen des Wetters. Am Ende dieses Jahres, das von März 2003 bis Februar 2004 reicht, sind es 52 Wanderungen, die er zurückgelegt und aufgeschrieben hat. Daraus entsteht ein Wochentagebuch der besonderen Art: Beobachtungen, Begegnungen, Gespräche, Gedanken, Erinnerungen, Assoziationen, die alle, buchstäblich, ein Stück Lebensweg festhalten. Dabei hat Hohler, der Unterhalter, auch ein waches Auge für die vielen kleinen Geschichten, die am Wegrand liegen. Langeweile ist ein Fremdwort, wenn Körper und Geist in Bewegung sind. Wegweiser, Merktafeln, Hinweisschilder, Gedenksteine markieren die abgewanderten Strecken. Die Schweiz ist ein durchorganisiertes Land. Und auch, trotz aller Berg-, Tal- und Waldespracht, keine heile Welt. Die Realität begleitet den Autor. In Gedanken, wie der Irakkrieg, oder weil sie ihm die Sicht verstellt, wie die AKWs. Auch findet er sich allzu oft in «durch und durch zivilisierten Landschaften» wieder, wo «der Lärm der täglichen Verkehrskatastrophe» ihn verfolgt. Oder die Politik, als er, erschreckt vom Wahlsieg der Rechten, wie ein Flüchtling die deutsche Grenze überschreitet. Aber es findet sich, zum Glück, auch noch viel an Schönheit und Stille. Viel Natur in allen nur denkbaren Wetterlagen. Und immer wieder Berge, die es über steile Hänge, Grate und unsichere Pfade zu erklimmen lockt. Oben belohnt die Aussicht, und der Eintrag ins Gipfelbuch hält das Erreichte für Gleichgesinnte fest. Allein ist man an den wenigsten Orten, dazu ist die Schweiz zu engräumig und die Bergwelt zu touristisch erschlossen. Meist ist Hohler solo unterwegs und fast immer in der Schweiz. Nur manchmal verschlägt es ihn ausser Landes. Mit seiner Frau nach Italien und Wales etwa, oder mit dem Sohn nach Lichtenstein. Doch immer wieder zieht es ihn in heimische Gefilde, so begeistert, unermüdlich und ansteckend, dass man es ihm so bald wie möglich nachmachen möchte.

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AnyWeb AG, Zürich

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Niederer, Kraft & Frey, Zürich

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Knackeboul Entertainment, Bern

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Locher Schwittay Gebäudetechnik GmbH, Basel

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Responsability Social Investments AG, Zürich

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Lions Club Zürich-Seefeld

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TYDAC AG, Bern

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bewegstatt.ch, Janine Holenstein, Frauenfeld

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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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D. Heer Geigenbau, Winterthur

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KIBAG Kies und Beton

Franz Hohler: 52 Wanderungen. Luchterhand 2005. CHF 29.90.

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Landschaftsbilder Geschichten am Wegrand Zu seinem Sechzigsten machte sich Franz Hohler ein besonderes Geschenk – und setzt es, wortwörtlich, Schritt für Schritt in die Tat um. VON CHRISTOPHER ZIMMER

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Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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Verkäuferporträt Mit Rasseln und Glocken Fabian Schläfli (24) steht ein grosser Schritt bevor: der Umzug in die erste eigene Wohnung. Er arbeitet gern und viel, denn er findet: «Dadurch werde ich unabhängiger.»

«In meinem Leben habe ich schon sehr viele Arbeiten verrichtet und dabei die unterschiedlichsten Institutionen kennen gelernt. Nachdem ich in den ersten Monaten meines Lebens an einer Hirnhautentzündung erkrankt bin, lebte ich bei einer Pflegefamilie. Heute habe ich aber viel Kontakt zu meiner Herkunftsfamilie. Ich besuche sie oft am Wochenende und auch mit meinen Geschwistern und Halbgeschwistern plaudere ich oft. Zudem bin ich schon drei Mal Onkel geworden. Unter anderen Menschen zu sein, ist mir sehr wichtig. Ich bin ein ausgesprochen fröhlicher und geselliger Mensch. Einer meiner Freunde ist ein angefressener Chilbi-Gänger, da kann es schon vorkommen, dass wir gemeinsam ziemlich weit zu den entsprechenden Festen fahren. Bald wollen wir nach Lausanne, denn dort soll ein besonders toller Anlass stattfinden. Normalerweise gehe ich mit meinen Freunden aber nicht so weit weg. Wir treffen uns eher in einem Restaurant in der Stadt. Ab und zu bin ich auch mit meinen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern unterwegs. Daheim bin ich zur Zeit im Haus «Wohnschule». Hier leben wir zu siebt. Doch bald steht der vielleicht grösste Schritt meines Lebens bevor: Aller Voraussicht nach werde ich noch diesen Herbst eine eigene Wohnung beziehen. Darauf freue ich mich natürlich riesig. Trotzdem habe ich auch ziemlichen Respekt vor diesem Schritt. Damit es nicht zu hart wird und ich gut zurechtkomme, absolviere ich in der Wohnschule eine Ausbildung in Hauswirtschaft. Da lerne ich gemeinsam mit andern, wie man mit Putzmitteln umgeht und wie viel Geld man ungefähr für was braucht. Für mich sind diese Dinge nicht ganz leicht, da ich aufgrund meiner Krankheit nie Lesen und Schreiben gelernt habe. Einzelne Worte kann ich schon erkennen, Zusammenhänge auszumachen fällt mir jedoch schwer. Ich habe immer wieder Versuche unternommen, mir diese wichtigen Fertigkeiten anzueignen. Bis jetzt war es aber nicht möglich und ich habe ehrlich gesagt die Hoffnung auch etwas aufgegeben, dass ich es noch lernen werde. Jetzt sollen die Leute aber nicht denken, dass ich wichtige Dinge nicht konzentriert durchdenken kann. Wäre das Handicap mit dem Lesen und Schreiben nicht, würde ich sicher von der IV loskommen. Das ist mein grösster Wunsch. Ich arbeite viel, weil es mir Spass macht und weil ich dadurch unabhängiger werde. Momentan bin ich jeden Morgen in der Werkstatt anzutreffen, wo ich zusammen mit anderen IV-Bezügern sehr unterschiedliche Arbeiten ausführe – je nach Auftrag. Manchmal haben wir da richtig viel zu tun, dann wieder sehr wenig. Im Moment versehen wir gerade verschiedene Ölflaschen mit schönen Etiketten.

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AUFGEZEICHNET VON ELISABETH WIEDERKEHR

Der Heftverkauf verhilft mir zu Extraeinkünften, das finde ich richtig toll. Doch auch der Kontakt mit den Leuten gefällt mir gut. Momentan bin ich vor allem am späteren Abend am Basler Bahnhof anzutreffen. Ginge es nach mir, könnte ich bis in die Nacht hinein dort stehen, denn im Verlauf des Abends kommen immer wieder Leute vorbei, die mir ein Heft abnehmen. Wenn die Geschäfte schliessen, muss ich mich aber auch auf den Heimweg machen, so sind eben die Regeln und eigentlich ist das auch gar nicht so schlecht, denn mein Wecker klingelt jeden Morgen um sechs Uhr. Kurz nach sieben fahre ich dann in die Werkstatt. Nach dem Mittagessen folgt wieder Hauswirtschaftsunterricht in der Wohnschule. Das einzige, was mir beim Verkauf von Surprise manchmal echt Mühe macht, sind die Alkis am Bahnhof. Die reklamieren regelmässig, wenn ich mit meinen Rasseln und kleinen Glocken auf mich aufmerksam mache. Unterdessen habe ich aber ein paar Sprüche drauf, die dem Gezänke ein Ende bereiten.» ■

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Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

Tatjana Georgievska Basel

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Programm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

Peter Gamma Basel

Andreas Ammann Bern

René Senn, Zürich Wolfgang Kreibich, Basel Anja Uehlinger, Baden Peter Hässig, Basel

Marlies Dietiker, Olten Kurt Brügger, Basel Jela Veraguth, Zürich

Ausserdem im Förderprogramm SurPlus: Marika Jonuzi, Basel Fatima Keranovic, Baselland Bob Ekoevi Koulekpato, Basel Jovanka Rogger, Zürich

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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1 Monat: 500 Franken

253/11 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 253/11

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

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Datum, Unterschrift 253/11 Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch

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Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel www.strassenmagazin.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Geschäftsführung Paola Gallo, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@strassenmagazin.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost (Nummernverantwortliche) redaktion@strassenmagazin.ch Ständige Mitarbeit Alexander Jungo (Korrektorat), Delia Lenoir, Irene Meier, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Dominik Plüss, Elisabeth Wiederkehr sowie Nele Blank, Ina Bruchlos, Arno Camenisch, Alex Capus, Lukas Hartmann, Susanne Heinrich, Guy Krneta, Timm Krohn, Roger Willemsen Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 61 Theres Burgdorfer, t.burgdorfer@strassenmagazin.ch

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die vom gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27 Zoë Kamermans, Patrick Würmli, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@strassenmagazin.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@strassenmagazin.ch Strassensport T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller l.biert@strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Dazu passend: Leichtes T-Shirt, 100%Baumwolle, für Gross und Klein.

Endlich wieder Sommer! Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Herren CHF 25.– S (schmal geschnitten) Kinder CHF 20.– XS S Alle Preise exkl. Versandkosten.

Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch

Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.

Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50 neon-orange schwarz

Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.– rot blau schwarz

Vorname, Name

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Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

Surprise Rucksäcke (32 x 40 cm); CHF 89.– schwarz rot

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch SURPRISE 253/11

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Von Aarberg bis Zuoz. Surprise gibt es beim Strassenhändler Ihres Vertrauens. Oder im Abo per Post.

24 Ausgaben für 189 Franken oder als Gönner-Abo für 260 Franken. Gutes lesen, Gutes tun und gleich bestellen! www.strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch, Spendenkonto PC 12-551455-3 Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99


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