Surprise Strassenmagazin 254/11

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Nr. 254 | 15. bis 28. Juli 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.

Fern – die zweite Lese-Nummer Mit Texten von Ingeborg Kaiser, Stephan Pörtner, Ingrid Noll, Clemens Setz, Lukas Bärfuss, Kristin T. Schnider, Melinda Nadj Abonji und Milena Moser


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Hier könnte Ihre Werbung stehen. Werfen Sie Ihr Werbegeld nicht auf die Strasse. Investieren Sie es dort. Surprise erreicht 120 000 Leserinnen und Leser. Und das in den grössten Städten und Agglomerationen der Deutschschweiz.* Denn dort stehen die 380 Surprise-Verkaufenden für Sie auf der Strasse. Tagtäglich. Ganze 80 Prozent der überdurchschnittlich verdienenden und ausgebildeten Käuferinnen und Käufer lesen die gesamte Ausgabe oder zumindest mehr als die Hälfte aller Artikel. Das Strassenmagazin steht für soziale Verantwortung und gelebte Integration. Mit Ihrem Inserat zeigen Sie Engagement und erzielen eine nachhaltige Wirkung. Anzeigenverkauf, T +41 76 325 10 60, anzeigen@strassenmagazin.ch

*gemäss MACH Basic 2011-1.


Titelbild: Priska Wenger

Editorial Der erste Satz BILD: DOMINIK PLÜSS

«Onkel Piri bereitet sich aufs Zeitungslesen vor.» So beginnt die Kurzgeschichte der Buchpreisträgerin Melinda Nadj Abonji in dieser Ausgabe. Der erste Satz ist immer ein besonderer. Besonders auffällig. Besonders wichtig. Und besonders schwierig. Denn nur wenn er einladend wirkt, Atmosphäre vermittelt und Spannung schafft, wird ein Text gelesen. Es lastet viel Druck auf dem ersten Satz, besser gesagt auf dem, der ihn verfasst. Da geht es Schriftstellern und Journalisten gleich – manchmal verzweifelt unsereiner schier beim Ringen um den passenden Einstieg. Melinda Nadj Abonji ist ein toller erster Satz gelungen. Sie führt uns nahe an eine Figur ihrer Geschichte heran und macht uns neugierig: Wer ist Onkel Piri? Warum trägt er einen seltsamen Namen? Und warum muss er sich aufs Zeitungslesen vorbereiten? RETO ASCHWANDEN

Antworten finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, ab Seite 24 dieser Ausgabe. Sie REDAKTOR halten unsere zweite Lese-Nummer in den Händen. Nachdem das erste Literaturheft unter dem Titel «Nah» allerlei (Zwischen-)Menschlichem von Familie über Erotik bis zu Krankheit und Tod gewidmet war, folgt nun eine Geschichtensammlung unter der Überschrift «Fern». Manche Geschichten spielen an entfernten Orten, andere erkunden Entfremdung und Distanz. Zudem haben wir auch zwei Kurzkrimis für Sie. Sollten Sie nach der Lektüre Lust auf mehr bekommen, fragen Sie Ihre Verkäuferin, Ihren Verkäufer: Vielleicht hat sie oder er ja noch ein Exemplar der vorherigen Ausgabe in petto. Oder bestellen Sie das Heft 253 mit Geschichten von Lukas Hartmann, Tim Krohn, Ina Bruchlos und weiteren Autoren für sechs Franken plus Versandkosten direkt bei uns: info@strassenmagazin.ch oder: 061 564 90 61. Konzipiert hat die beiden Lese-Nummern Redaktorin Mena Kost. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen von Strassenmagazinen aus Deutschland und Österreich hat sie eine Vielzahl von Kurzgeschichten zusammengetragen, die uns namhafte Autorinnen und Autoren kostenlos zur Verfügung gestellt haben. Mittlerweile hat Kollegin Kost ihren Mutterschaftsurlaub angetreten. Wir wünschen ihr für die kommende Zeit viel Kraft und Freude. Und wir begrüssen Diana Frei im Team. Die erfahrene Journalistin wird Mena Kost bis Ende Jahr in der Redaktion vertreten. Ich hoffe, Sie sind bereit zum Zeitungslesen, und wünsche Ihnen eine spannende Lektüre. Reto Aschwanden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 254/11

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Inhalt Editorial Ein idealer Einstieg Basteln für eine bessere Welt Leselampe für Krimifans Porträt Die Verlegerin Buchtipps Im Rock auf Kamelrücken Verkäuferporträt Fasziniert von Fossilien Projekt Surplus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

08 Blaue Liebe VON STEPHAN PÖRTNER

12 Das Händchen VON INGRID NOLL

13 Stil und Moral VON LUKAS BÄRFUSS

16 Stadtgeschichten VON MILENA MOSER

18 Ende Gut VON INGEBORG KAISER

19 Kamele VON KRISTIN T. SCHNIDER

22 Software VON CLEMENS SETZ

24 Aus einem Hund wird kein Speck VON MELINDA NADJ ABONJI

Korrigendum In der letzten Ausgabe ging leider eine Quellenangabe vergessen. Der Text «Todesfälle» erschien mit freundlicher Genehmigung von Roger Willemsen, aus: Der Knacks, S. Fischer, München 2008.

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BILD: ZVG

Die Bilder zu den Kurzgeschichten in diesem Heft stammen von Priska Wenger. Die freischaffende Illustratorin beliefert Surprise seit vielen Jahren mit Bildern für die Kolumne «Zugerichtet». Priska Wenger studierte Visuelle Kommunikation und Illustration an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Luzern. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in New York, wo sie 2009 den Master in Fine Arts ablegte.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

2. Biegen Sie die zwei Enden nach vorne und überprüfen Sie den Stand.

1. Befreien Sie einen Drahtkleiderbügel von Hemd oder Mantel.

3. Kaufen Sie eine Glühbirnenfassung mit Kabel, Stecker und Schalter (im Hobby-, resp. Do-it-yourself-

5. Drehen Sie eine Glühbirne in die Fassung.

Laden erhältlich) und warten Sie, wenn Ihnen Ihr

4. Drehen Sie den Haken so um die Plastikfassung,

Selbstverständlich kommt für den seriösen Recycling-

Leben lieb ist, mit dem Einstecken, bis die Glühbirne

dass er diese stabil hält.

Bastler nur eine Energiesparlampe in Frage –

eingeschraubt ist.

die es noch dazu in vielen originellen Formen gibt.

7. Und sollten Sie einen zweiten Kleiderbügel entbehren können: Wiederholen Sie Schritte 1 bis 2, kippen Sie den Bügel und legen Sie, kurz bevor Ihnen die Augen zuklappen, das Surprise 6. Kippen Sie den Schalter und lesen Sie los.

elegant in Ihren neuen Magazinständer.

Basteln für eine bessere Welt Lieber Krimifan: Wenn Sie auf der Suche nach dem Mörder im Dunkeln tappen (nein, es ist NICHT immer der Gärtner) – vielleicht hilft eine selbst gebastelte Leselampe? SURPRISE 254/11

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Porträt Ferner und doch näher Als erfolgreiche Buchautorin wurde Gabriella Baumann-von Arx eher zufällig und widerwillig zur Verlegerin – ein Schritt, den sie nicht zu bereuen hat. VON FLORIAN BLUMER (TEXT) UND DAVIDE CAENARO (BILD)

«Du musst schreiben.» Diese drei Wörter lösten eine Wende aus im Leben von Gabriella von Arx. Gelernt hatte sie Arztgehilfin, beschäftigt war sie zu dieser Zeit, Mitte der 80er-Jahre, als Flight-Attendant bei der Swissair. Heute landet sie mit ihrem Kleinverlag einen Grosserfolg nach dem anderen – jüngst mit «Das volle Leben – Frauen» von Susanna Schwager, das sich sensationelle 55 000 Mal verkaufte. Die Aufforderung zum Schreiben kam nicht von irgendwem. Sondern ausgerechnet von Frank Baumann, in der Öffentlichkeit nicht gerade bekannt für freundliche Komplimente: Ende der 90er-Jahre wurde er als Moderator der Publikums(beschimpfungs)sendung «Ventil» schweizweit gehasst, inklusive Morddrohungen und handfestem Prügel. Seine Empfehlung hatte allerdings einen Hintergrund: Heute längst ein glücklich verheiratetes Paar, schrieben sich die Stewardess und der Medienprofi damals glühende Liebesbriefe. Gabriella Baumann-von Arx holte das Deutschdiplom der Deutschen Handelskammer nach – sie hatte keine Matura – und wurde Journalistin. Sie schrieb für «Annabelle» und «Wir Eltern», später auch für die «Sonntagszeitung» und den «Sonntagsblick». So steil ihre Karriere verlief, so schnell waren auch die Neider zur Stelle, die abschätzig meinten, dass natürlich alles ihrem berühmten Mann zu verdanken sei. Baumann-von Arx’ Antwort darauf: «Franks Frau zu sein hat mir sicher die eine oder andere Tür aufgemacht. Offen halten musste ich sie aber selber.» «Schon als Journalistin bin ich in erster Linie an Menschen und ihren Schicksalen interessiert gewesen», erklärt Baumann-von Arx bei einem Glas Apfelschorle im Café des noblen Hotel Storchen in Zürich, «doch irgendwann wurde mir die Länge eines Zeitungsartikels dafür zu knapp. Also begann ich, Bücher zu schreiben.» Das erste war eine Biografie der Schlagersängerin und Stimmungskanone Nella Martinetti, das zweite schrieb sie über die Extrem-Bergsteigerin Evelyne Binsack. Mit dem dritten über die damals noch weitgehend unbekannte Slum-Helferin Lotti Latrous landete sie direkt auf Platz eins der Schweizer Bestsellerliste. Die Geschichte der Frau eines Nestlé-Direktors, die das luxuriöse Heim, Mann und Kinder in der Schweiz zurückliess, um den Menschen im Slum von Abidjan in der Elfenbeinküste zu helfen, ging Baumann-von Arx so nahe, dass sie gleich ein weiteres Buch über sie verfassen wollte. Der Verlag befand jedoch, es sei dazu noch viel zu früh. Also nahm Baumannvon Arx das Heft selbst in die Hand, das finanzielle Risiko auf sich und brachte die Fortsetzung im Eigenverlag heraus. Die Newcomerin bewies ein besseres Gespür als die erfahrenen Verleger: Die Fortsetzung, beflügelt durch Latrous’ Wahl zur «Schweizerin des Jahres» 2004, erreichte eine Auflage von 30 000 Stück – zehn Mal mehr als in der Schweiz erforderlich, um ein Buch zum Bestseller zu machen. Baumann-von Arx fühlte sich in ihrem Tun bestätigt und wollte sich gleich wieder ans Schreiben machen. Da reiste ein befreundeter Buch-

vertriebsfachmann eigens aus Deutschland an, um sie von etwas anderem zu überzeugen: Sie müsse weitermachen, auf jeden Fall. Aber nicht als Autorin, sondern als Verlegerin. Baumann-von Arx sträubte sich: «Ich verspürte überhaupt keine Lust, das Schreiben aufzugeben.» Schweren Herzens tat sie es dann doch. Seither produziert ihr Kleinverlag Wörterseh, bestehend aus ihr, einem festen und einer Handvoll freier Mitarbeiter, Bestseller in Serie. Sie sei nun zwar ein Stück weiter entfernt von den Menschen und ihren Geschichten, räumt Baumann-von Arx ein. «Dennoch ermöglicht mir die Tätigkeit als Verlegerin, noch mehr Nähe zu erleben», erklärt sie, «da ich nun ja gleichzeitig fünf bis sechs Projekte betreue. Darauf möchte ich nicht mehr verzichten.» Überhaupt scheint Baumann keine Mühe mit grosser Nähe zu ihren Protagonisten zu haben: Zu Lotti Latrous zum Beispiel habe sich eine enge Freundschaft entwickelt, mit dem gestürzten Lotto-König Werner Bruni, dessen Geschichte im November 2010 bei Wörterseh erschien, hält sie immer noch hin und wieder einen Schwatz am Telefon. Gabriella Baumann-von Arx legt Wert auf einen sorgsamen Umgang mit der Nähe zu den Porträtierten mit ihren Schicksalen: «Öfter musste ich zu einem Protagonisten sagen: Das ist zwar eine berührende Geschichte, aber sie gehört nicht ins Buch.» Sie hebt die Stimme und sagt: «Nur weil über jemanden ein Buch erscheint, muss er sich nicht füdliblutt ausziehen.» Genau das aber, auch im übertragenen Sinn, war schon immer wichtiger Teil der Erfolgsstrategie der Boulevardpresse. Woher also kommt der Erfolg von Wörterseh? Die Verlegerin führt ein Beispiel an: «Von mehreren Seiten ist an mich herangetragen worden, ein Buch über Shawne Fielding zu verlegen», erzählt sie. Doch die Geschichte über die Ex-Miss-Texas, die sich mit ihrem Gatten, Ex-Botschafter Thomas Borer, verkracht hat, sei nichts für Wörterseh: «Das würde ich nie machen», sagt Baumann-von Arx und verdreht zur Bekräftigung die Augen, «da ist viel zu viel negative Energie drin. Wenn sich die beiden eines Tages wieder zusammenraufen würden, ja, dann wärs vielleicht eine gute Geschichte. Aber ein Rosen-

«Nur weil über jemanden ein Buch erscheint, muss er sich nicht füdliblutt ausziehen.»

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krieg ohne Happy End? Lieber nicht.» Baumann-von Arx’ Prinzip: «Es muss Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein, das zeigt den Lesern und Leserinnen, dass es immer eine Lösung gibt.» Zusätzlich müsse man etwas lernen können und die Geschichte müsse Details enthalten, an welche man anknüpfen kann, «und natürlich muss das beschriebene Leben Höhen und Tiefen enthalten und aussergewöhnlich sein.» Sich selber in der Rolle der Protagonistin eines ihrer Bücher kann sich Baumann-von Arx nicht vorstellen. Lachend meint sie: «Ein Buch über mich? Nie im Leben. Warum auch? Für meine Geschichte reicht die Länge eines Zeitungsartikels absolut.» ■

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Blaue Liebe VON STEPHAN PÖRTNER

Charlie Amok war ein Punkrocker. Seit über dreißig Jahren. Seine Band spielte im Vorprogramm von wiedervereinigten Punklegenden, in besetzten Häusern und Jugendzentren weit draußen auf dem Land. Die Gagen bewegten sich zwischen Münzen, Freibier und Garnix. Punkrock eben. Charlie liebte es, genau so musste es sein. Er würde weitermachen, bis er tot umfiel. Was er dann auch tat. Von einer Kugel in die Stirn getroffen. In seiner Wohnung. Er muss dem Mörder die Tür geöffnet haben. Wenn am Tag seiner Beerdigung auf dem Friedhof eine Bombe explodiert wäre, hätte sie die gesamte Punkerpopulation unserer Stadt ausgelöscht. Alle hatten Charlie gern gehabt und fragten sich, wer ihn erschossen haben könnte. Charlie hatte keine Feinde gehabt. «Wir müssen den Mörder finden!», sagte der dünne Zimmermann beim anschliessenden Leichenmahl. Darauf stießen wir an, worauf ich, angefeuert von ein paar Chrüterlutz aufstand und in die Runde rief: «Wir finden ihn! Wir schwören es!» Einen Moment lang war es still. Der dicke Wiener und Heinz Hartholz, Schlagzeuger von Charlies ungefähr zwölfter Band, sprangen ebenfalls auf, wie einst die drei Eidgenossen am Rütli hoben wir unsere Schwurfinger zusammen, und es sah ziemlich gut aus, wie man sagt, weil irgend so ein Arsch natürlich mit dem Handy ein Foto gemacht und es auf Facebook gestellt hat, aber weil ich nicht bei Facebook bin, weiß ich nicht, ob das stimmt.

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Wir schworen vor versammelter Meute, nicht zu ruhen oder zu rasten, bis dass wir ihn dingfest gemacht hätten, den Lumpenhund. Danach wird die Sache unklar An den Schwur erinnerte ich mich erst wieder, als Hartholz vor der Türe stand. «Wo fangen wir an?», fragte er. Es war eine gute Frage. Wir wälzten sie zusammen mit dem Wiener in einer gemütlichen Beiz. Hier hatten wir vor einem Vierteljahrhundert oft gesessen, jung, durstig und voller Elan. Der Durst war geblieben. Zwei Stunden später läuteten wir an der Wohnung von Charlie Amok. Die Tür war mit einem Polizeisiegel versehen. Wir öffneten trotzdem, wir wussten wo der Schlüssel lag. Die Wohnung war nicht groß. Auf dem Boden des Wohnzimmers war noch immer eingetrocknetes Blut zu sehen. Es war von oben bis unten mit Platten vollgestopft. Ich stand, im schwarz gestrichenen Schlafzimmer, als ich Stimmen hörte. «Wir sind von der Polizei, und Sie?» «Wir nicht», sagte der Wiener. Wir wurden verhaftet. Ich war seit Jahrzehnten nicht mehr verhaftet worden. Früher wurde man ständig verhaftet. Ein Punker auf einem Mofa, das war für die Bullen so etwas wie ein Freispiel. Da war immer etwas. Ein Klumpen Hasch, eine Spraydose, ein Flugblatt, kein Ausweis, Mofa frisiert. Oder geklaut. Oder beides. Und wenn nicht, auch egal: «Was heißt das hier auf deiner Jacke: Bullenschweine?» SURPRISE 254/11


«Das ist eine Band.» «Soso, und hier: Schweizerland verrecke?» «Hm, ich weiß auch nicht. Die Jacke gehört meinem Bruder.» Diesmal behandelten sie uns ganz anständig. Weil das Türschloss nicht beschädigt war, hatten sie nichts in der Hand. «Und das Siegel?», fragte einer der Bullen, der aussah, als sei er früher mal ein Ted gewesen. «Welches Siegel?» Sie glaubten uns nichts, aber was sollten sie machen? Wir redeten miteinander. Sie wussten so wenig wie wir. Sie ließen uns schließlich laufen. Aber zwei Tage später rief mich der Teddybulle wieder an. «Sie waren doch ein Freund des Toten. Er hat keine Verwandten. Wir müssen die Wohnung räumen lassen. Vielleicht könnten Sie und Ihre Kumpels das übernehmen? Mal etwas tun für den Staat. Statt immer nur reklamieren.» Ich seufzte. «Also gut», sagte ich. «Den Schlüssel können Sie bei mir abholen.» Ich traf den Wiener und Hartholz um halb zwei bei der Wohnung von Charlie Amok. Es war natürlich nicht die Staatstreue gewesen, die uns hergelockt hatte. Erstens, der Schwur. Zweitens, die Platten. Amoks Sammlung war legendär. L-E-G-E-N-D-Ä-R. Es war die Höhle Ali Babas für Punker. Der Wiener hatte Bier mitgebracht, wir schwelgten in den alten Scherben, hörten Single um Single, und es war fast wie ganz früher, als man die neuen Platten im Beisein von Freunden hörte, weil nicht alle dasselbe kauften, für was auch? Wir stapelten um, wir staunten, wir wussten gar nicht so genau, was wir suchten. Einen Mörder schlussendlich. «Schau hier!», rief der eine. «Das gibt es nicht», der andere. «Wahnsinn!», der Dritte. «Eine Goldene!» Das war der Wiener. «Goldene Pressung? Goldene Zitronen?», fragte Hartholz. «Nein, eine echte. Der Amok hatte ja schon einen Zacken ab.» Er reichte uns die Goldene Schallplatte. Eine Single. Ein volkstümlicher Schlager, von dem es später mal eine erfolgreiche Techno-Version gegeben hat. Wir fanden noch ein paar Goldene und Silberne. Offenbar hatte Charlie Amok auch Goldene Schallplatten gesammelt. Wenn einer tot ist, dann kommen die Geheimnisse ans Licht. Es fand sich aber kein Hinweis auf einen Mörder oder ein Motiv. Später saß ich allein in meinem Zimmer und dachte nach. Es fruchtete wenig, und darum wollte ich mit einem gepflegten Flaschenbier nachhelfen. Auf dem Weg in die Küche stolperte ich über eine der Goldenen. Ich zerbrach die Glasscheibe, mit der sie geschützt war, und hätte mir fast die große Zehe abgesäbelt, wäre verblutet und elend gestorben. Fast. Beim Wegräumen des gemeingefährlichen Gegenstands schaute ich ihn mir genauer an. «Blaue Liebe» von Julie September, Musik P. Gründgers/Text K. Ammon. Wieso sammelt Charlie Amok so einen Scheißdreck?, dachte ich, während ich humpelnd mein wohlverdientes Bier aus dem Kühlschrank holte. Ich setzte mich an den Küchentisch, trank einen Schluck, schaute auf die Unterlagen, die dort herumlagen. Adressiert an Karl Ammon. Scheiße. Ich schaute zwischen Goldener und Briefumschlag hin und her. Charlie Amok hieß mit richtigem Namen Karl Ammon.

Ich wagte es nicht, den Wiener und Hartholz über meine Erkenntnisse zu informieren. Ich rief bei der Plattenfirma an. «Hier spricht die Anwaltskanzlei Hartholz und Wiener», improvisierte ich. «Wir vertreten die Nachkommen von Karl Ammon.» Ich wurde ein paarmal weiterverbunden. «Herr Ammon? Ja, haben Sie sich jetzt endlich entschieden? Seit einer Woche warten wir auf den Vertrag. Nur Ihre Unterschrift fehlt noch, dann sind die digitalen Rechte geregelt.» Ich hängte auf, durchwühlte Charlies Papiere und fand den Vertrag. Es ging um die digitalen Rechte von volkstümlichen Schlagern. Die von den Goldenen Schallplatten. «Ach du Scheiße», entfuhr es mir, als ich den Betrag las, der für die Rechte geboten wurde. Charlie hatte nicht unterschrieben. Aber Peter Gründgers, der Komponist, hatte unterschrieben. Seine Adresse stand oben im Vertrag. Ich schellte am Tor, das den Zugang zu der Terrassensiedlung versperrte. «Wir kaufen nichts!», schnarrte der kleine Lautsprecher unter dem Fischauge in der Torsäule. «Herr Gründgers, ich muss Sie sprechen.» «Was wollen Sie?»

Ein braun gebrannter Mann mit blonden Haaren öffnete die Tür. Er sah aus wie Hansi Hinterseer. «Es geht um Charlie Amok?« «Um wen?« «Karl Ammon. Den Texter Ihrer Hits.» Das Tor öffnete sich wie von Geisterhand. Ich ging die Einfahrt und die Treppe zur Wohnung hinauf. Ein braun gebrannter Mann mit blonden Haaren öffnete die Tür. Er sah aus wie Hansi Hinterseer. Wenn Hansi Hinterseer in seiner Jugend nicht Ski gefahren wäre, sondern professionell Speed geschnupft hätte. «Was ist mit Karl?», fragte der Mann. «Er ist tot», sagte ich. «Kommen Sie herein», sagt er. Er führte mich durch eine Art Salon, der weiß war. Weißer Marmor, weißes Sofa, weiße Teppiche, weiße Leuchten, weiß, weiß, alles weiß. Es blendete. Gründgers führte mich auf die Terrasse. Ein Betonplatz mit Teakholzmöbeln. In einem Liegestuhl eine Blondine. Ich hätte beinahe gefragt, ob es hier oben Rabatt gebe fürs KlischeeErfüllen. Es wirkte alles teuer, lieblos und etwas heruntergekommen. Dieter Bohlen für Arme halt.

Nach einigem Blättern in den Unterlagen, etwas Googeln stand fest: Karl Ammon alias Charlie Amok hatte Texte für volkstümliche Schlager geschrieben. Aber deswegen wurde man doch nicht umgebracht. Leider. SURPRISE 254/11

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«Was ist passiert?», fragte Gründgers. «Karl wurde am vorletzten Mittwochabend erschossen.» Gründgers schwieg. «Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?» «Den Karl? Nie. Wir haben uns nie gesehen. Er hat mir die Texte immer geschickt.» Gründgers seufzte. «In den letzten zwanzig Jahren kam nicht mehr viel, aber in den Achtzigern, da waren wir die Stock, Aitken und Dingsbums des volkstümlichen Schlagers. Die Größten. Die Hit-Lieferanten. Bum Tschak!» Die Blonde auf dem Liegestuhl hatte die Sonnenbrille abgenommen und schielte mit dem linken Auge träge herüber. «Ich hatte ganz früh einen kleinen Hit, und eines Tages hab ich einen Text dazu bekommen, per Post. Der Text war super. Ich hab das Stück umgeschrieben, auf den Text. Es wurde unser erster Hit: ‹Blaue Liebe›. Danach fand ich regelmäßig Texte in meinem Briefkasten, wir telefonierten und besprachen die Sachen, die Plattenfirma schickte ihm die Honorare. Wir lebten gut.» «Sie leben immer noch gut», sagte ich. Gründgers lachte bitter, und die Blondine zog die Mundwinkel verächtlich nach unten. «Sie wollten die digitalen Rechte verkaufen.« «Ja, der Vertrag stand vor dem Abschluss. Das schenkt noch einmal ein.» Er rieb sich die Hände. Unbewusst wahrscheinlich. «Charlie wollte nicht.» «Doch, doch, er wollte den Vertrag zurückschicken. Alles kein Problem», sagte er. «Und jetzt?» «Fallen die Rechte wohl an mich. So steht es im Vertrag.» «Aha», sagte ich. «Ich habe ihn nicht umgebracht. Ich hab ein Alibi. Ich war an einer Talentshow auf dem Land, steht in der Zeitung. Im Lokalblatt», sagte Gründgers und brachte mich zur Tür.

Der Wiener weinte. «Ein echter Punk», schluchzte er. «Ich wusste es doch. Einer von uns.» Zwei Tage später, nach der Abgabe von Charlies Wohnung, ging im ersten Stock die Tür auf. Ein älterer Herr trat heraus. «Sie waren sein Freund, nicht wahr? Der arme Mann. So ein netter. Er hat mir immer das Altglas entsorgt.» «Ja», sagte ich, «es ist eine Schande.»

Er war ein … ein Schlagerfuzzi, der den Punker macht. Ich könnte kotzen.

Ich traf mich mit dem Wiener und Hartholz. Es war eine schwere Stunde. Ich zeigte ihnen den Vertrag. Sie mussten mir glauben. «In dem Fall können wir aufhören», sagte der Wiener bitter. «Warum?», fragte Hartholz. «Weil Charlie Amok gar nie gelebt hat. Er war ein … ein Schlagerfuzzi, der den Punker macht. Ich könnte kotzen.» «Jetzt sei aber nicht so. Charlie Amok war einer uns. Von irgendwas musste er ja leben. Außerdem ist ‹Blaue Liebe› kein so schlechtes Lied. Textlich meine ich», wandte Hartholz ein. Wir sahen ihn stumm an. «Auf Charlie», sagte ich und bestellte eine Runde. Wir stießen an. Am nächsten Morgen meldete ich mich bei der Plattenfirma. «Was war denn das Problem mit dem Vertrag?», fragte ich ihn, nachdem ich mich fadenscheinig als Nachlassverwalter ausgegeben hatte. «Er wollte nicht. Können Sie sich das vorstellen? So viel Kohle für diesen alten Kram, und er will nicht.» «Wieso denn nicht?» «Weil er gegen digitale Musik war.» «Sogar bei dem Scheiß?», «Genau. Aus Prinzip. So hat er es gesagt, aus Prinzip. Er habe schon CDs gehasst, aber mit diesem Mp3-Pipapo, da wolle er nichts zu tun haben, nur über seine Leiche.» «So ist es ja auch gekommen.» «Tragisch, so etwas.» Ich hängte auf und rief den Wiener an. «Charlie Amok ist als Held gestorben», sagte ich und erklärte ihm, wie der Vinylfan Amok sich geweigert hatte, sein zweifelhaftes Werk digital zu rezyklieren.

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«Was wird nun aus seiner Freundin? Sie war doch auch so eine liebe?» Ich runzelte die Stirn. Soviel ich mitbekommen hatte, war Charlie Amok mit seiner Musik verheiratet gewesen. «Ja. Man hat sie nicht oft gesehen. Nie eigentlich. Aber einmal war sie hier. Sie hatte ihren Schlüssel vergessen und hat auf ihn gewartet. Ich habe ihr einen Tee gekocht.» Er beugte sich vertrauensvoll zu mir hinüber. «Eine Rassige war das, und wissen Sie was, ich glaube, die war mal berühmt. Eine Schlagersängerin.» «Wann war das?» «Warten Sie, am Mittwoch vor einer Woche, würde ich sagen.» «Der Tag, an dem er umgebracht wurde?» «Jetzt, wo Sie es sagen, stimmt.» «Haben Sie denn nichts gehört? Nachdem sie weggegangen war?» Er schüttelte den Kopf und wandte mir sein Ohr zu. Darin steckte ein winziges Gerät. «Wenn ich das abschalte, bin ich mehr oder weniger taub. Wissen Sie, darum schätzte mich Charlie so als Nachbarn. Ich höre nichts. Da konnte er lärmen, wie er wollte.» «Aber einen Schuss hätten Sie schon gehört?» Er zuckte mit den Schultern. «Wie hieß Sie denn, die Schlagersängerin?» «Julie September. Ihr erster Hit war ‹Blaue Liebe› gewesen.» Zuhause klemmte ich mich an den Computer. Natürlich kannte ich keine Julie September. Aber ich fand bald heraus, wer sie war. Nicht die Frau von Charlie Amok. Sondern die Frau von Peter Gründgers. Die aufgetakelte Blonde. Ihre Karriere war schon lange dahin. Ich rief meine Verschwörer zusammen, und wir machten uns auf zu Gründgers. «Sie schon wieder?», fragte er. «Ist Julie September hier?» «Was wollen Sie von meiner Frau?» «Der Herr hier», ich deutete auf den Wiener, «ist Festival-Veranstalter. Es geht um ihre Comeback-Tournee. Jetzt, wo ihre Hits digital herauskommen. Eine interaktive Tour, übers Internet, mit Facebook und Twitter, voll iPad-kompatibel und alles», improvisierte ich. Der Wiener sah mich böse an. Wir wurden hereingelassen. «Meine Frau kommt gleich.» Als sie endlich kam, hatte sie sich in einen roten Pailletten-Overall gezwängt, um die Taille einen Gürtel mit einer goldenen Schnalle, so groß wie ein Sportlenkrad. Dazu Plateaustiefel von schwindelerregender Höhe. Wahrscheinlich ein altes Bühnenoutfit, das zu eng geworden war. Sie konnte sich nicht setzen. «Sie wollten mich sprechen?» «Genau, ich möchte wissen, warum Sie Charlie Amok umgebracht haben.» Ich trat entschlossen vor sie hin. SURPRISE 254/11


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Schreien. Dann ein Röcheln. Dann ein Splittern. Der Teddybulle stand mit gezogener Waffe in der weißen Stube. «Wo ist sie?» Vier Köpfe drehten sich zur Terrasse. Der Bulle stürzte hinaus. Wir hörten ihn fluchen und eilten ihm nach. Er stand am Rand des Pools, der sich unterhalb der Terrasse befand. Julie September lag am Boden des Pools. Ihr schweres Paillettenoutfit und der Goldgürtel hatten sie nach unten gezogen. Sie war ertrunken. «Wo kommen Sie auf einmal her?», fragte ich den Bullen. «Der Nachbar des Opfers hat mich angerufen. Er hat sich an etwas erinnert. Die Frau, die in der Mordnacht bei ihm Kaffee getrunken hat.» «Tee», sagte ich. An diesem Abend saßen wir lange unter Charlie Amoks Lederjacke in unserer Stammkneipe. Er konnte nun in Frieden ruhen. Wir würden sein Geheimnis bewahren. Wir schworen es. Dann sangen Hartholz und der Wiener «Blaue Liebe», und man warf uns alle hinaus. Mit freundlicher Genehmigung von Stephan Pörtner. Gekürzte Fassung aus Pörtners Beitrag für «He shot me down – Rock’n’Crime Stories», Rotbuch Krimi 2011.

BILD: GUIDO SÜESS

«Sie waren am Mittwoch in seinem Haus und haben bei seinem Nachbarn Kaffee getrunken.» «Tee», sagte sie. «Ha», sagte ich. «Sie geben es also zu.» Sie sah Gründgers an. »Lässt du es zu, dass man so mit mir umgeht? In meinen eigenen vier Wänden?» Gründgers schaute weg. «Du bist ein Feigling!», schrie sie und trat nach ihm. Auf ihren Plateauschuhen verlor sie das Gleichgewicht und krachte auf ihn. Er flog vom Sofa, sie rappelte sich auf und trat weiter nach ihm. «Alles muss ich selber machen. Du feige Sau. Du hättest natürlich zugeschaut, wie dieser sture Bock unsere Zukunft verdirbt. Weißt du, wie viele Schulden wir haben?» Gründgers brachte sich unter dem Salontisch in Sicherheit. «Sie waren das!», schrie Hartholz . «Sie, die Charlie alles verdanken. ‹Blaue Liebe›, verdammte Scheiße, ich hab den Song jahrelang heimlich gehört. Wenn ich besoffen heimgekommen bin. Allein. Wie der Mann im Lied.» Julie September hatte sich erstaunlich behände aufgerappelt. «Wir rufen jetzt die Polizei», sagte ich ruhig. «Nein! Pfoten hoch!» Sie hatte sich in den Ausschnitt gefasst und einen Revolver hervorgezogen. Der Wiener stürzte sich auf sie. Sie schoss. Die Kugel riss ihm ein Stück des linken Ohrs ab. Wir warfen uns alle auf den Boden. «Elende Memmen. Ich werde euch alle umlegen. Es ist kein Verlust für die Menschheit. Setzt euch aufs Sofa. Schön in eine Reihe.» Wir gehorchten. Da hämmerte es gegen die Haustür. «Aufmachen! Polizei!», jemand warf sich gegen die Tür. «Machen Sie auf! Das Spiel ist aus.» Julie September lachte. Dann hechtete sie zur Terrassentür und schwang sich über das Geländer. Wir hörten ein Platschen. Dann ein

Stephan Pörtner Stephan Pörtner, geboren 1965, lebt in Zürich, wo seine vier Krimis um Köbi Robert, den Detektiv wider Willen, spielen. Im Frühling 2011 erschien der fünfte Band «Stirb, schöner Engel». Pörtner schreibt zudem Fortsetzungskrimis, Hörspiele sowie Kolumnen für Surprise und die WoZ.

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VON INGRID NOLL

So müsste man wohnen, sage ich mir, wenn ich bei anderen Leuten in weite leere Räume trete: Lichtdurchflutet, von hohen Fenstern wehende weiße Gardinen, nur wenig Farben in Naturtönen und null Nippes. Bei uns ist alles voller Sachen, was Wunder, wenn man seit über vierzig Jahren verheiratet ist und seitdem oft und gern im In- und Ausland Flohmärkte besucht hat. Also wäre es nicht schwer, irgendeinen halbantiken Gegenstand aus unserem vollgestopften Haus zu selektieren und über Herkunft und Werdegang zu berichten. Uhren, Dosen, Kästchen, Vasen, Kunst und Kitsch – alles da. Suchend wandern meine Augen über Schätze, die für Puristen wahrscheinlich unsäglicher Plunder sind, und entdecke dabei einmal wieder das Händchen. Niemand mag es, trotzdem fristet es schon lange sein beklagenswertes Dasein zwischen Hüten und Mützen auf dem Dielenschrank. Als ich vor Jahren durch die Fußgängerzone einer fremden Stadt schlenderte und keine Auch mein Mann wurde kreativ, ließ die gelblichen Finger passenden Schuhe fand, wurde meine Frustraunter meiner Bettdecke herausgucken. tion durch ein lustiges kleines Mädchen gemildert, das vor einem Laden stand und mit großer Energie immer wieder auf eine Fußmatte sprang. Auf der Matte war Der Rasen war naß, die Blätter schmutzig, die Erde ausgekühlt, der ein Pferdekopf abgebildet, und bei jedem Hopser ertönte aus einem unarme Mann dauerte mich. Als mir die Erleuchtung kam, waren alle zusichtbaren Lautsprecher ein vitales Wiehern. Erst auf den dritten Blick frieden: Pars pro toto. Das Händchen ragte täuschend echt unterm Bläterkannte ich, daß es ein Geschäft für Scherzartikel war. In meiner Juterhaufen hervor, und ich ließ es dort liegen. Der Frühlingswind brachte gend wurde ich einmal auf eine Party eingeladen, wo man mit Senf oder es leider wie neugeboren wieder an die Oberfläche, denn es gibt Dinge Salz gefüllte Pralinen herumreichte. Ich biß herzhaft hinein und hasse im Leben, die trotzen dem natürlichen Verfall und werden niemals der seitdem Objekte dieser Art. Erde gleich. Eigentlich wollte ich damals auf der Stelle weitergehen, aber der Inhaber kam heraus und lockte wie eine Knusperhexe. «Gleich gibt es ReMit freundlicher Genehmigung von Ingrid Noll, aus: «Falsche Zungen» (Diogenes), gen, treten Sie doch unverbindlich ein! Sie werden sich wundern, was Zürich 2005. man alles bei mir kaufen kann!» Tatsächlich fing es an zu tröpfeln, und ich stolperte ergeben in den kleinen Laden. Da gab es Gartenzwerge, die exhibitionistisch den Mantel aufhielten Ingrid Noll oder mit dem Dolch im Rücken am Boden lagen; ich erinnere mich an Ingrid Noll kam 1935 in Shanghai zur Welt und Aschenbecher, die gräßlich zu husten anfingen, sobald jemand daran studierte in Bonn Germanistik und Kunstgedie Zigarette abstreifte, und sehe vor allem die vielen Händchen vor mir, schichte. Sie ist dreifache Mutter und Großdie an einer Leine baumelten. Er habe beim Einkauf falsch kalkuliert, mutter. Mit 55 Jahren begann sie, Kriminalgesagte der unglückliche Verkäufer, und bei weitem zu viele Hände aus schichten zu schreiben, die allesamt sofort zu Weichplastik geordert; jetzt müsse er sie unter Wert verramschen. Um Bestsellern wurden. «Die Häupter meiner Liedie Sache auf den Punkt zu bringen: Zur Überraschung meines Mannes ben» wurde mit dem Glauser-Preis ausgezeichkam ich nicht mit neuen Schuhen, sondern mit einer ekligen und völlig net und, wie andere ihrer Romane, erfolgreich überflüssigen Gummihand nach Hause. verfilmt.

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BILD: REGINE MOSIMANN / DIOGENES VERLAG

Das Händchen

Wer mochte Modell dafür gestanden haben? Die Hand sieht so echt aus, daß man wegen ihrer mangelnden Wärme zusammenzuckt. Ich ordne sie einem taiwanischen Programmierer oder einem japanischen Pianisten zu, denn es ist sicherlich eine Männerhand, allerdings eine sehr feine, elfenbeinfarbene, mit langen Fingern. Am Tag nach diesem peinlichen Einkauf konnte ich es nicht lassen, das Händchen im Ärmel eines aufgehängten Mantels zu fixieren und damit eine Besucherin zu erschrecken. Auch mein Mann wurde kreativ, ließ die gelblichen Finger unter meiner Bettdecke herausgucken, von draußen ins Klofenster greifen oder, zwischen die Schiebetür geklemmt, eine Zigarette rauchen. Allerdings gelobten wir, das Händchen niemals unter ein Auto zu legen. Freunde baten darum, die Hand mit in den Skiurlaub nehmen zu dürfen, um dort Schabernack damit zu treiben. Nach einer Weile geriet mein Händchen in Vergessenheit. Aber eines Tages ist es wieder zu Ehren gekommen, weil es vielleicht eine Lungenentzündung verhindert hat. Als ein Fernsehteam einen kleinen Film bei uns drehte, wollte man mich im herbstlichen Garten Blätter zusammenharken lassen, um ganz nonchalant eine Leiche damit abzudecken. Redakteurin und Kameramann sagten einstimmig zum Tontechniker: «Und du machst jetzt die Leiche!»


Stil und Moral VON LUKAS BÄRFUSS

Dies, verehrte Lesende, hätte ein gescheiter, stilistisch fein ziselierter kleiner Essay werden sollen, eine kulturkritische Erörterung mit wenigen, ausgewählten und überraschenden Zitaten aus der Literaturgeschichte, ohne den üblichen Bildungsballast, den man leider in dieser Gattung sehr oft findet. Es wäre hier um die Frage gegangen, wie der Stil mit der Moral zusammenhängt, und ich hatte bereits eine These, noch nicht sehr tragfähig, aber ausbaubar; ich hatte recherchiert, hatte mich umgehört, und es war alles vorbereitet, um Ihnen etwas zu bieten, das man allgemein als geistreich bezeichnet. Aber dann tat ich etwas, was man in einer solchen Phase besser nicht tun sollte. Ich ging nämlich Ski laufen. Es war der erste Sonnentag nach dem großen Schneefall; die äußerliche Erscheinung der versammelten Wintersportler quer durch die Altersgruppen ziemlich homogen. Die meisten trugen Helme, dazu dunkle oder verspiegelte Skibrillen, eher weite Hosen und Jacken in getragenen Farben. Die aktuelle Mode, nicht etwa die Funktionalität, diktierte die Garderobe. Dann aber, mitten im Gedränge, eine junge Frau von vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahren, in einer Ausrüstung, wie ich sie seit vielen Jah-

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ren nicht gesehen hatte. Ihre Skier waren Modelle von vor zwanzig Jahren, lang, nicht tailliert, mit schmaler Spitze; ihre Hosen enganliegend, dazu trug sie einen crèmefarbenen, taillierten Anorak, alles sehr weiblich und äußerst stilvoll. Dies war ein sehr schönes Beispiel für jene These, die auszubreiten ich mir zur Aufgabe gemacht hatte. Den individuellen Stil kann man nämlich definieren als das Erkennen der Ansprüche einer bestimmten Situation, verbunden mit dem Willen und der Fähigkeit, eben diese Ansprüche zu ignorieren. Stil ist nie pragmatisch. Trotz der vollständigen praktischen Unterlegenheit auf die Verwendung von Taschentüchern aus Stoff zu bestehen, zeugt von Stil. Wer in einem Kochbuch ein Hautkarzinom abbildet, oder umgekehrt in einem anatomischen Atlas ein Kuchenrezept abdruckt, beweist ebenfalls Stil, einfach einen etwas seltsamen. Allerdings, das war das Seltsame an der Sache, die Garderobe, so sehr sie auch aus der Mode war, erschien neu und ungebraucht. Die Skier wiesen keine Kratzer und die Hosen weder abgescheuerte Stellen noch Flecken auf, was mich irritierte, zumal ihre etwas ältere Begleiterin die üblichen weiten Hosen und die kurzen bulligen Skier mit stumpfer Spit-

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ze trug. Ich schaute mich um. Gab es vielleicht noch mehr von diesen entzückenden Zeitreisenden? War dies ein neuer Trend auf den Pisten, eine Verweigerung des modischen Diktates? Nein, sie war die Einzige, was mich nun vollständig für sie einnahm. Ich fühlte mich auf der Stelle wieder siebzehn, verliebte mich in dieses aparte Wesen, das sich keinen Deut um den modischen Zwang kümmerte und stattdessen ihren Stil lebte, und wie damals in der Schule überlegte ich mir, an wem ich mich vorbeidrücken müsste, um den Platz neben ihr auf dem Sessellift zu ergattern. Kurzum, ich regredierte, der stilistische Ausdruck dieser Frau betörte und verzauberte mich, und ich war plötzlich nicht mehr der vernünftige Familienvater im besten Alter, der seinen Sohn in die Penibilitäten der schweizerischen Tourismusindustrie einführte. Ein verkeilter Skistock war dann der Grund, weshalb ich das Mädchen aus den Augen verlor. Doch als ob ein gütiger Gott uns geleitet hätte, kam ich tatsächlich neben der geheimnisvollen Frau zu sitzen, und mein zweites, etwas zweifelhafteres Glück war, dass ihre Begleiterin ebenfalls mit uns im Vierersessel saß und ich nun also in den nächsten Minuten die Gründe für ihre entzückende Garderobe erfuhr, da nämlich die junge Frau alsbald begann, der Begleiterin, die sich als ihre Betreuerin entpuppte, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Früh sei ihr Vater gestorben. Die Mutter habe sich darauf einen neuen Freund genommen, dem sie in eine andere Stadt gefolgt sei. Der Mann trank. Die Mutter verließ ihn, fand einen Neuen, der die Kinder schlug. Worauf sie wiederum in eine andere Stadt gezogen, krank und arbeitslos geworden sei. Sie selbst, die junge Frau, habe vier Geschwister, und es sei das erste Mal, dass sie einen Skiurlaub machen könne. Ein traurige Geschichte, so unpassend zu diesem blauen Tag, den gleißenden Schneekristallen in der Luft, den verschneiten Tannen, dem Gedudel aus den Alphütten, dass keiner auf dem Sessellift irgendein Wort sagte, die Begleiterin bloß bei jeder geschilderten Scheußlichkeit mit der Zunge schnalzte und wir alle die Bergstation herbeisehnten. Die Erklärung für die aparte Garderobe war also nichts anderes als Armut. Die junge Frau trug die altmodischen Kleider nicht freiwillig, sondern weil sie keine andere Wahl hatte. Sie war mit ihrer Klasse in einem Skilager, und Wintersport, ich kann es Ihnen als Familienvater versichern, ist eine geradezu unanständig teure Angelegenheit. Ihre Mutter musste vor vielen Jahren, wahrscheinlich noch vor dem Tod ihres Gatten, in eine Skiausrüstung investiert haben, in die Hoffnung, an den gesellschaftlichen Vergnügungen teilnehmen zu können, doch der Tod machte ihr einen Strich durch die Rechnung. Die Ausrüstung ist der kleinste Teil der Auslagen. Die Anreise, die Fahrkarten für die Skilifte, die Petitessen, die sich summieren, das geht nicht, wenn man kleine

Kinder und keinen Ernährer hat, und so blieb die Ausrüstung über Jahre im Keller stehen, bis die Tochter alt genug war, um sie tragen zu können, oder, besser gesagt, um sie tragen zu müssen. Denn warum soll man eine neue Skiausrüstung kaufen, wenn eine ungebrauchte im Keller steht, zwanzig Jahre alt, natürlich, aber tadellos in Schuss? Ich war froh, als wir an der Bergstation ankamen. Das Mädchen hatte mein Mitleid gewonnen, aber meine Bewunderung verloren. Es muss schrecklich sein, in einer aus der Mode gekommenen Ausrüstung zum ersten Mal auf den Skiern zu stehen, und ich verfolge gewiss nicht die Absicht, hier auf die Tränendrüse zu drücken, aber ich muss Ihnen leider gestehen, dass mich dieses Erlebnis zum Umdenken gezwungen hat. Das Elend wird niemals zum Stil, und Opfer sind jeder Verfeinerung

Ich war froh, als wir an der Bergstation ankamen. Das Mädchen hatte mein Mitleid gewonnen, aber meine Bewunderung verloren.

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enthoben, und ich habe mich nach diesem Erlebnis gefragt, wie man sich in dieser scheußlichen Welt überhaupt noch mit Nebensächlichkeiten wie Stilfragen aufhalten kann, die einem dazu noch eine verlogene, geschönte Ansicht der Welt vermitteln, eine Schönheit in der Verweigerung sehen lassen, wo nichts anderes ist als Not und Lächerlichkeit. Denn die Weltlage, verehrte Lesende, also alles, was in diesem Augenblick geschieht, oder nicht geschieht, ist, man kann es leider nicht anders sagen, zum Kotzen, und ich weiß natürlich, dass in der verfeinerten Umgebung eines kulturkritischen Essays die Begriffe Emesis und Vomitus angebrachter wären, weil sie nämlich einerseits meine Bildung unterstreichen würden, andererseits die Grenze zu jenen zöge, die sich einen Dreck für Fremdwörter interessieren und auch für Synonyme nichts übrighaben. Aber ich hoffe, dass Sie mittlerweile verstanden haben, worum es mir hier tatsächlich geht, um das unangepasste Verhalten nämlich, um Stil und Unmoral eben. Wie nicht wenige unter Ihnen war auch ich bisher der unausgesprochenen Ansicht, die Lektüre eines kulturkritischen Essays sei dem Weltfrieden zumindest nicht abträglich, aber ich habe eben die Seite gewechselt. In der Zeit, die Sie jetzt gerade mit Lesen vergeuden, nimmt das Elend in der Welt zu, während Sie nicht das Geringste dagegen tun und sich an der Gespreiztheit der Sätze delektieren. Manche werden nun vielleicht argumentieren: Alles zu seiner Zeit. Es war niemals meine Absicht, gerade jetzt die Weltlage zu verbessern. Jetzt lese ich, und ohne Zweifel haben die gescheiten, gebildeten, feinsinnigen Texte dieses gescheiten, gebildeten und feinsinnigen Schriftstellers zur Folge, dass auch ich gescheiter und feinsinniger werde. Die

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BILD: TINA RUISINGER

Auseinandersetzung mit einer komplizierten Thematik wie dieser verringert meine naturgegebene Ignoranz, vertieft meine Einsicht in den wahren Kern der menschlichen Existenz, in meine eigene Geworfenheit, und ein geschärftes Bewusstsein ist doch ohne Frage die Voraussetzung, um diese Welt ein bisschen besser zu hinterlassen, als man sie vorgefunden hat. Das ist klug argumentiert, aber leider ignoriert dieser Gedankengang die Zeit. Das Elend ist in erster Linie eine zeitliche Erscheinung, das heißt, es misst sich in Stunden, Tagen, Wochen, Jahren. Je länger ein Mensch im Elend lebt, umso kürzer fällt sein Glück aus. Und deshalb ist der Kampf gegen die Ungerechtigkeit ein Rennen gegen die Zeit. Jede Minute, die Sie mit der Lektüre von feinsinnigen, die Geworfenheit der menschlichen Existenz beleuchtenden Essays verbringen, tun sie nicht nur nichts gegen das Elend, in Wahrheit lassen Sie es sich vergrößern, einem Menschen in Not wertvolle Lebenszeit rauben. Aber, höre ich nun schon den Einwand aus den hinteren Reihen, wir Provinz geschaffen, und es ist ein großer Unterschied, ob man ein Bebrauchen doch eine Initialzündung, einen Auslöser, ein Signal, das uns wusstsein schafft oder es verändert. aus der Lethargie reißt, und was, wenn nicht die Literatur, kann uns auf Aber muss man nicht zuerst ein Bewusstsein haben, bevor man es die Aktion vorbereiten? Unsinn, liebe Freunde, Sie lügen sich damit verändern kann? Ja, das mag sein, aber die Betrachtung von Goyas Raselbst in die Tasche, und natürlich wissen Sie das auch. dierungen «Die Schrecken des Krieges» schafft im Betrachter erst in Gemäß Brockhaus ist Apathie definiert als «ein bis zur völligen Unzweiter Linie ein Bewusstsein für die Gräuel eines bewaffneten Konflikansprechbarkeit reichender Zustand der Gleichgültigkeit gegenüber eites. Zuallererst schaffen Kunstwerke ein Bewusstsein für die Möglichgenen Belangen und der Umwelt», und ich finde, diese Beschreibung keiten der Kunst. Kunst ruft zur Kunst auf, und wer einen Roman zu Entrifft ziemlich genau den Zustand, in dem Sie sich in diesem Augenblick de gelesen hat, fragt sich nicht, wie er die Welt verändern kann, sondern befinden. In Ihre Lektüre vertieft, kaum ansprechbar, bemerken Sie welches Buch er als nächstes lesen soll. nicht, was links und rechts vor sich geht. Man kann sagen: Je größer der Falls Sie jetzt noch immer nicht eingesehen haben, welche moraliKunstgenuss, umso tiefer die Apathie, umso größer die Absonderung sche Sauerei Ihre Lektüre darstellt, dann stellen Sie sich bitte folgende von den Bedürfnissen Ihrer Umwelt. Situation vor. Eine gutgenährte, wohlhabende Person, Ihnen gar nicht Doch, winseln Sie jetzt vielleicht, wie steht es denn um die Produkunähnlich, verschlägt es in ein, sagen wir, afrikanisches Flüchtlingslation der Werke? Das ist eine Tat, eine schöpferische Tat, und ist es nicht ger, wo gerade die Cholera ausgebrochen ist. Menschen schreien, sterdieses Schöpferische, das die Welt verändert, und, da ich lese, habe ich nicht teil an diesem Akt eines Demiurgen? Nun, die Verfassung eines Textes ist tatDie Entfernung macht das Elend bloß perspektivisch kleiner. sächlich eine Tat, aber keine, die etwas verändert. Es ist ja nun gerade nicht so, dass ein ben, doch statt zu helfen, sucht sich unser fiktives Ich eine einigermaSchriftsteller die bestehenden Werke überarbeitet, im Sinne von: «Die ßen ruhige Ecke und beginnt, sich an der Lektüre von Rilkes «Sonette an Buddenbrooks» – jetzt ohne die langweiligen Passagen! Oder: «Anna KaOrpheus» zu erfreuen. Sie müssen zugeben, dass dieses Verhalten morenina» – endlich mit Happy End! Oder: «Ulysses» – korrigiert und für ralisch zumindest fragwürdig ist, und Sie müssen auch zugeben, dass alle verständlich! Gottfried Keller hat Goethe nicht widerlegt, und obim Grunde wir alle in einer etwas ruhigen Ecke eines Flüchtlingslagers wohl Sophokles den dritten Schauspieler in das Drama einführte, beleben. Die Entfernung macht das Elend bloß perspektivisch kleiner, und halten die Stücke von Aischylos, der mit zwei Mimen auskam, ihren nur Idioten glauben, das sich entfernende Auto werde tatsächlich zum Wert. Wer ein Bild von Tizian übermalt, den nennen wir einen BarbaPunkt. ren und stecken ihn ins Gefängnis, und es ist ganz egal, ob dieser Sie sehen, die Lektüre literarischer Essays ist in dieser Zeit moralisch Mensch Picasso oder Müller heißt. nicht zu rechtfertigen, und deshalb gehe ich mit gutem Beispiel voran, So etwas wie Fortschritt ist der Kunst unbekannt, und man muss einund höre hier nun auf. gestehen, dass die Gesetze der Literatur in der Politik eine äußerst schädliche Wirkung entfalten. Nehmen wir den Satz: «So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht. Ich kenne nur Individuen.» Zwei MenErstveröffentlichung in der Anthologie «Zur Zeit», Wallstein Verlag 2010. schen haben sich zu ihm bekannt, ein Schriftsteller namens Vladimir Nabokov und eine britische Politikerin mit Namen Margaret Thatcher. Für ihn bedeutete diese Absage, sich dem Kern der Persönlichkeit zu nähern, unabhängig vom System, in dem diese lebt, und ob man seine PoLukas Bärfuss etik nun mag oder nicht, Nabokovs Figuren – Pnin, Humbert Humbert, Lukas Bärfuss ist 1971 in Thun geboren und arSebastian Knight – bleiben unvergessen. Er sah in ihre Herzen, zeichbeitet seit 1997 als Schriftsteller in Zürich. Er nete ihre Seelen und gab ihnen, in ihrer ganzen Verworfenheit, eine schreibt Prosatexte («Hundert Tage», 2008), Würde. Und sie, die Politikerin? Ihr diente der Satz dazu, die gesellHörspiele und vor allem Theaterstücke («Die schaftliche Solidarität zu zerstören, die Gewerkschaften zu schwächen, sexuellen Neurosen unserer Eltern», «Der das Individuum aus der gesellschaftlichen Einbettung zu lösen und es Bus», «Die Probe», «Öl» u.a.). Seit der Spielzeit als loses Teilchen den Bewegungen des Marktes schutzlos auszusetzen. 2009/10 arbeitet Lukas Bärfuss als Autor und Aber, werden die Letzten jetzt noch einwenden, es ist doch unbeDramaturg am Schauspielhaus Zürich. Dort orstritten, dass gewisse Werke unser Bewusstsein verändert haben. Doch, ganisiert und moderiert er auch die Gesprächsreihe «Weisse Flecken» sodas wird bestritten, und zwar von mir. Flauberts «Madame Bovary» etwie, gemeinsam mit Peer Teuwsen («DIE ZEIT»), die monatlichen Streitwa hat das Bewusstsein für die menschenverachtende Trostlosigkeit der gespräche «Wer hat das Sagen? Zum Stand der Demokratie». SURPRISE 254/11

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Stadtgeschichten VON MILENA MOSER

«Bitte einsteigen und Türen schliessen, der Zug fährt ab.» Corinne steht vor dem letzten Wagen zweiter Klasse, ganz am Ende des Zuges, schon nicht mehr im Bahnhofsgebäude, sondern sozusagen auf freier Wildbahn. Mitten in der Stadt. Der Schaffner pfeift einmal, den Blick fragend auf Corinne gerichtet, Corinne gibt den Blick an ihre Füsse weiter. Die Füsse rühren sich nicht. Der Schaffner pfeift ein letztes Mal. Die Zugtür seufzt theatralisch und schliesst sich dann automatisch. «Nimm den 16 Uhr 48 ab HB», hat ihre Mutter gesagt, «dann hol ich dich ab.» «Ja, jetzt», sagt der Schaffner, der nicht mitgefahren ist, der auf den nächsten Zug wartet. «Ja, jetzt aber!» Corinne trägt fünf oder sechs Papiertüten mit Proviant in den Armen. Seit sie Paris verlassen hat, hat sie nicht aufgehört zu essen. Eine der Tüten fällt ihr jetzt herunter und ein halb gegessenes Schinkensandwich rollt auf den Boden. Ihre Füsse reagieren immer noch nicht. Der Schaffner hebt das Brot auf, dreht es in der Hand, schaut es von allen Seiten an und wirft es dann weg. Corinne drückt die restlichen Tüten an sich. Sie hat damals nichts nach Paris mitgenommen und jetzt nichts dort zurückgelassen. Die Agentur hat sie ohne Umstände entlassen, von einer Geldstrafe würde man absehen. Corinnes Karriere ist zu Ende, da besteht kein Zweifel. Bevor sie überhaupt angefangen hat. Siebzehn und am Ende, denkt Corinne, der Film zum Buch. Ein Nervenzusammenbruch, auf diesen Begriff hatte man sich geeinigt, ein Nervenzusammenbruch macht sich nun mal nie gut. «Ach was, Humbug», hat ihre Mutter gesagt, «Kate Moss war doch auch schon in der Klinik! Naomi Campbell!» Corinne nimmt einen Nussgip-

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fel aus einer anderen Tüte und beisst ab. Nie mehr hungern, denkt sie. Egal, was sonst kommt. «Kommt ja jede Stunde einer», sagt der Schaffner und erst versteht sie nicht, was er meint. Hat sie laut gedacht? Jede Stunde was? Ein Nussgipfel? Ein Zug natürlich. «17.48 der nächste», sagt der Schaffner etwas lauter. Das löst die Starre. Corinnes Füsse setzen sich in Bewegung. Tragen sie aus dem Bahnhofsgebäude hinaus und auf die Strasse. Da ist ein Fluss. Eine Brücke. Corinne kennt Zürich nicht. Nur Paris und das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist. Vielleicht ist das das Problem, denkt sie. Dass ich Zürich nicht kenne. Und sie heftet ihren Blick auf den schmutzigen Gehsteig, als bildeten die Flecken der ausgespuckten, flachgetretenen Kaugummis eine Karte. Eine Karte für ihre Zukunft. Er geht quer über den Platz auf den Hauptbahnhof zu, sie schaut ihm nach. Sie möchte sich aus dem Fenster lehnen, ihm nachwinken, rufen, alle sollen es sehen. Es ist kurz nach fünf, er reiht sich in die Masse der Pendler ein, die Aktentasche in der einen, die ungelesene Zeitung in der anderen Hand. Als käme er von der Arbeit. Ganz normal. Wenn da nicht im dritten Fenster von links in der obersten Etage des Hotels Steigerhof eine nackte Frau wäre, eine nackte Frau, die da nicht hingehört. Das Fenster des Hotelzimmers lässt sich nicht öffnen. Er bleibt am Kiosk stehen, kauft eine Flasche Wasser, eine Schachtel Zigaretten, einen Plüschelefanten. Elefanten liebe ich am meisten, hat sie gesagt. Andere Männer bringen ihren Frauen Blumen, wenn sie sie SURPRISE 254/11


betrogen haben, oder Pralinen, er bringt seiner Tochter Elefanten. Meist schläft sie schon, wenn er nach Hause kommt, er beugt sich über sie, atmet ihr Haar, legt das Tier neben sie, das Zimmer füllt sich, auf dem Bett ist längst kein Platz mehr, die Regale, der Fussboden, das ganze Kinderzimmer ist voll grauem Plüsch und rosa Ohren. Als ob er sich freikaufen könnte. Als ob der Elefant sie auslöschen würde. Sie schaut ihm nach aus dem Hotelzimmer, er geht quer über den Platz, nicht über den Fussgängerstreifen, auf den Hauptbahnhof zu und sie schaut ihm nach, verzerrt durch die Fensterscheibe, die sich nicht öffnen lässt. Sie wünschte, sie hätte ein Gewehr und könnte ihn von hinten erschiessen. Ein roter Fleck breitet sich auf seinem Rücken aus, die Mappe fällt aus seiner Hand, der Plüschelefant rollt auf die Strasse, vielleicht fährt ein Taxi drüber. Über den Elefanten. Stattdessen tritt sie zurück ins Zimmer, der Fernseher ist an und zeigt immer noch die automatische Anzeige, Willkommen im Hotel Steigerhof, Herr und Frau Dr. Fankhauser. Sie setzt sich auf den Bettrand, greift nach der Fernbedienung, schaltet um, sie hat ja Zeit, sie wird nirgends erwartet. «Nutz’ doch das Zimmer», hat er gesagt, «teuer genug war es ja.» Auf dem Nachttisch noch ein halbvolles Glas, im Zweiten beginnt der Krimi. Das muss aufhören, denkt er. Das mit den Elefanten. Das war das letzte Mal, morgen mach ich Schluss, gleich als Erstes morgen früh. Keine Elefanten mehr, ich schwör’s. Vielleicht noch einen. Ganz kleinen.

verstehen Sie.» Sie geniesst diese perfiden, exakt gesetzten Stiche wie ein Mann den Peitschenhieb seiner Domina geniesst. Sie spürt, wie der Druck aus ihr entweicht, mit einem leisen Zischen, wie das der Lifttür, die sich wieder schliesst. Und sie drückt den Knopf: Erdgeschoss. Die Tür zum Atelier ist verschlossen und über dem Schloss klebt das Siegel des Betreibungsamtes. Darauf ist er vorbereitet. Trotzdem. Was nun? Der Hund zerrt an seinem Knöchel. Genauer, am Hosenbein, die scharfen Zähne in dem sauteuren japanischen Kunststoff verbissen, der wie Leder aussieht, aber maschinenwaschbar sein soll. Nichts für scharfe Hundezähne. Er bückt sich und dabei rutscht die Hose und er denkt an sein Rheuma, er denkt nicht an den Anblick, den er allenfalls bietet,

Sie geniesst diese perfiden, exakt gesetzten Stiche wie ein Mann den Peitschenhieb seiner Domina geniesst.

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Milena Moser Milena Moser, 1963 in Zürich geboren, veröffentlichte 1990 ihre erste Kurzgeschichtensammlung, «Gebrochene Herzen oder Mein erster bis elfter Mord». Mit «Die Putzfraueninsel» landete sie 1991 ihren ersten Bestseller. Es folgten weitere erfolgreiche Romane und Erzählungen sowie Sachbücher. Milena Moser lebt nun mit ihrer Familie, nachdem sie acht Jahre in San Francisco gewohnt hat, wieder in der Schweiz. Ihr aktueller Roman heisst «Möchtegern», erschienen im Februar 2010 beim Verlag Nagel & Kimche. Neben ihrer Tätigkeit als Autorin schreibt Milena Moser regelmässig Kolumnen und hat zusammen mit der Autorin Sibylle Berg und der Agentin Anne Wieser eine Schreibschule gegründet: www.die-schreibschule.com

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BILD: NINA SÜSSTRUNK

Der Lift hält in der 28. Etage, die Türe öffnet sich mit einem leisen Zischen, noch im Gehen wirft sie einen letzten Blick zurück, in den Spiegel, einen Kontrollblick, glänzt die Nase, sitzen die Haare, hat sie Spinat auf den Zähnen. Da sieht sie es erst: Das Rot ihrer neuen Jacke beisst sich mit dem Rot ihrer Tasche. Warum sie das nicht vorher gemerkt hat? Es muss am Licht liegen. Die Lifttür schliesst sich zögernd wieder, als wolle sie ihr noch eine Chance geben. Sonja reagiert nicht. Sie wird zu spät zur Sitzung kommen, was ihr in zehn Jahren nicht einmal passiert ist, nicht, seit sie die Firma übernommen hat. Am Tag nach der Beerdigung. So hat sie um ihren Vater getrauert: Jeder, der auch nur eine Minute zu spät kam, wurde entlassen. «Es herrscht ein neuer Wind», hat sie damals gesagt und ihre Manager haben genickt. Haben sich geduckt. Ducken sich heute noch. Seit zehn Jahren. Die rote Tasche ist seit diesem ersten Tag ihr Markenzeichen. Damals hat sie sich keine Aktentasche kaufen können, keine Zeit gehabt, kein Geld, damals hat sie eine Strandtasche genommen, heute ist es ein teures Modell aus Leder. Fröhlich, arglos, baumelt sie an ihrer Schulter, als wolle sie nur eben mal ins Strandbad oder zum Stadtbummel. Dabei birgt sie sämtliche Akten, die Sonja gerade bearbeitet, das Schicksal jeder kleineren Firma in der Umgebung, das Leben ihrer Angestellten. Die Tasche jagt Angst ein. Ebenso wie ihr Name, Sonja Huber, ein an sich harmloser, hübscher, weiblicher Name. Synonym für Entlassungen, Nervenzusammenbrüche, skrupellose Firmenübernahmen. Sonja Huber drückt auf den Knopf, die Lifttür öffnet sich wieder. Doch Sonja rührt sich nicht. Die Jacke ist neu. Sie kann sie nicht ausziehen. Japanisches Kunstleder, direkt auf der Haut zu tragen. «Ja keine Bluse drunter», hatte ihr der Designer eingeschärft, «das gibt nur wieder Rümpfe!» Als mache sie absichtlich Rümpfe. Als ruiniere sie das Modell nur dadurch, dass sie es trug. Modeschöpfer und Verkäuferinnen in teuren Boutiquen sind die einzigen Menschen, von denen Sonja sich Befehle erteilen lässt. Männer, die zu viel Macht haben, lassen sich von Prostituierten demütigen. Sonja besucht teure Boutiquen, probiert Kleider an, die ihr nicht passen und lässt sich von gehobenen Brauen, von Kopfschütteln und bedauerndem Zungenschnalzen klein und kleiner machen. «Naja, man könnte die Hose eventuell noch etwas auslassen, aber Ihre Schuhe verderben natürlich alles. – Rot? Sie wollen rot? Wirklich? – Unsere Entwürfe richten sich nun mal an die zierliche Kundin,

den oberen Teil seines weissen Hinterns der Stadtluft ausgesetzt, nein, er denkt an sein Rheuma und er seufzt. Der Hund heisst Yves. Nach Yves Saint Laurent. Der genau so einen Hund gehabt hat, eine französische Bulldogge, oder auch zwei, das Bild aus der französischen Vogue hat ihn inspiriert, ein Bild aus den siebziger Jahren, der Meister am Boden kauernd über überlebensgrossen Skizzen, die Hunde respektlos darüber hinweg tapsend, Fussspuren hinterlassend. Er hat den Hund. Er hat die Zigarettenspitze. Die getönte Brille. Was er nicht hat, sind überlebensgrosse Skizzen. Oder einen Atelierboden, auf dem er die Skizzen hätte ausbreiten können. «Komm schon, Yve-i», sagt er und klickt die Leine an das Nietenhalsband des kleinen Hundes, der diese Geschmacklosigkeit mit Fassung trägt. «Gehen wir halt.» Unterwegs kauft er eine gekühlte Flasche Champagner und eine Rose in Zellophan. Er öffnet die Flasche auf der Strasse und nimmt gleich einen Schluck und dann noch einen.Yves zerrt an der Leine und zieht ihn weiter. Als sie ankommen, ist die Flasche beinahe leer. Das stört sie nicht. «Liebling! Du hast es nicht vergessen!» «Vergessen?» Da hat Yves ihn schon in die Küche gezerrt, wo ihre Freundinnen sitzen, um den Tisch herum, auf dem leere Flaschen stehen und ein angeschnittener Kuchen. «Happy Birthday, Mama!» Die Damen rutschen, und er lässt sich auf den Hocker sinken, Frau Zuberbühler von oben hat ihm schon den Hinterkopf zugewandt, er beginnt ihr Haar zu kämmen, wie er es früher immer getan hat, als es noch lang und dunkelbraun war. Frau Messaui von gegenüber fährt in ihrer Erzählung fort – «ich hätte es ja wissen müssen, ein Mann in seinem Alter» – seine Mutter füllt die Gläser auf und schaut ihn über den Tisch hinweg an. «Bleibst ein bisschen?» Er nickt. Er ist zu Hause.


VON INGEBORG KAISER

Die Künstlergarderobe, über eine Wendeltreppe zu erklettern, schien ihr ein sicherer Horst vor der Lesung auf der Provinzbühne. Am Schminktisch ein freundliches Stillleben, widergespiegelt wie ihre Person und der schlauchartige Raum, rasch zu erkunden. Rechtsseitig die tiefgezogene Fensterfront, die an ein Aquarium erinnerte, sie wäre der Fisch und im Kunstlicht zu beäugen, aber dem Fisch nicht verwehrt dasselbe zu tun. Ihr gefiel die Sicht auf Geleisstränge, den Bahnsteig, auf die Reisenden im Nahzug, zu beobachten, bis die Wagen in Bewegung kamen, die Köpfe, Körper mit zunehmender Geschwindigkeit zu verfliessen schienen. Das Donnern eines Fernzugs im Raum, rasende Lichtpfeile in der frühen Nacht, dann das Nachbeben. Plötzlich der Vierkantmensch auf dem Bahnsteig, wie aus dem Boden gestampft, angewachsen, starrte auf das lichthelle Fensterbild mit der Frau am Tisch, holte sie mit dem Fernglas näher. Sie drehte den Kopf und sah den ruhigen Beobachter, eine Szene, die ihr bekannt vorkam, ohne weiter nachzurätseln. Doch sass er in der letzten Reihe des Theaters, ein Schattenriese, der die Lesende im Bühnenlicht unbemerkt fixierte. Eine Geschichte über Opfer und Täter, die Austauschbarkeit ihrer Rollen, Gewalt wie Gegengewalt die gleiche Münze, und keine der Seiten ein Glückswurf. Der Text im Wechsel mit der artistischen Flöte, tönende Haikus, ein Tanz um den Tod, ein Requiem?, periodisch vom Rollen der Fernzüge unterlegt. Eine lähmende Ruhe lag über dem Raum und war von der Lesenden nicht aufzuheben, als würde ihre Stimme von Schatten aufgesaugt. Endlich das lockere Fortplaudern bei Zopf, Wein und Käse, vielleicht ein Leichenschmaus, wo man sein Überleben feiert, vielleicht auch nichts dergleichen. Während sie auf den letzten Bummler wartete, ihr Gedanke, den Abgang verpasst zu haben, der Vorhang gefallen, und ihre Person ohne Stichwort, nur die Bilder des Abends hinter den Augen, auch ihr Beobachter vom leeren Bahnsteig. Es schien ihr, dass sie als Einzige noch unterwegs sei, als der Mann breit wie gross ihr gegenüber Platz nahm. Das geschwärzte Fenster zeigte sie als gemeinsam Reisende, dazwischen die hellen Stationen, ein kurzer Halt, der fremde Blick auf rasche Passanten, rasch zerstreut. Und ihr alter Schrecken, sobald der Zug in den Tunnel tauchte, angespannt horchte sie hinaus, und erwartete das Ausklicken, Auftauchen, aber der Zug verlangsamte und blieb stehen. Stecken, dachte sie, in dieser Betonröhre stecken, ihr Horror war diesmal Wirklichkeit. Sie habe wohl Angst, sagte der Mann in die Leere, bestens, das habe er ihr gewünscht, denn sie sei auch nicht gerade zimperlich mit ihren Mordgeschichten, grabe aus, was längst vermodert sei, und wecke die

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Nachtrag: Kurz vor meiner Lesung aus meinem Roman «Mord der Angst», der mit einer fiktiven Täterfigur den Schweizer Mordfall Seewen thematisiert, wurde nach 20 Jahren die Mordwaffe, eine Winchester, vom viel bemühten Kommissar Zufall aufgespürt. Schlagartig war der verjährte Mordfall wieder Mediengegenwart, hatte meine Fiktion als scheinbare Rivalin die Realität. Und ich wurde gefragt, ob ich nicht Angst vor dem Täter hätte, denn es gab überraschend viele Übereinstimmungen zwischen meiner Figur DOLL und dem nun international gesuchten, vermutlichen Täter DOSER. Daraus wurde ein Kurzkrimi, der das Thema der möglichen Begegnung aufgreift. Ingeborg Kaiser

Ingeborg Kaiser Ingeborg Kaiser wurde 1930 in Neuburg an der Donau geboren, studierte und arbeitete in Augsburg. 1960 übersiedelte sie in die Schweiz, nach Basel, wo sie heute lebt. Ab 1968 veröffentlichte sie dramaturgische Texte, Prosa und Lyrik. Ihr bisher letzter Roman «Alvas Gesichter» erschien 2008. Ingeborg Kaisers Arbeit wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet.

BILD: ZVG

Ende Gut

Gespenster. Aber was sie sich da aus den Fingern gesogen habe, sei einfach daneben. Der Täter erschlagen, gelyncht? Das wisse er besser, denn er lebe in ihrer Stadt und schätze seinen Ruhestand. Seine Hände zwischen den gegrätschten Schenkeln ständig am Reiben, Kneten, als wolle er sie einüben, geschmeidig machen, Mordwerkzeuge, dachte sie, und dass ihr Gegenüber vielleicht ein Spinner sei, dachte an die seltsamen Anrufe, seltsamen Nachgeschichten, seit das Buch in einem Massenblatt vorgestellt worden war, an die Verquickung von Fiktion und Wirklichkeit. Wer als Putzer im Aufzugskorb an den Glasfassaden von Bankhäusern und Versicherungen lebenslang raufrunterrauf fahre, sagte er dann, sei näher dran, habe den Einblick in die Chefetagen und lerne von denen im Massanzug das Killen ohne Risiko, und was ihn angehe, habe es sich gelohnt. Sie habe ja auch keine Skrupel, aus einer Bluttat Kapital zu schlagen, sie seien also Partner, aber diesmal wolle er nicht abkassieren. Der Fernzug auf dem Nachbargeleise überdröhnte seine Stimme, sekundenlang meinte sie, der Wagen bewege sich mit, spürte die wachsende Kälte, knöpfte sich ein. «Ein Schaden an der Lok», sagte der Zugschaffner im Eilschritt, «alles sitzen bleiben», und verschwand. Verjährt und vorbei, sagte der Mann, kapiert? Er wolle nicht wieder das verdammte Zeitungsgeschmier und jede Nacht den Fahnder am Bett. Kurzum, ihr Buch müsse vom Tisch, alles in den Reisswolf, aus dem Verkehr. Und bis dann würden sie und ihr schöner Verlag massiv viel Terror erleben, sie habe keine Chance gegen den Profi, er sei nicht umzubringen. Auch das Buch nicht, sagte sie, aber er müsse womöglich aus dem Verkehr. Sie ging zur Abteiltür, die sich nicht mehr selbsttätig öffnete, zog sie auf. Die Reisenden im Nachbarwaggon ferne Inseln für sie. Seine Hände verschlossen ihren Mund, der losschreien wollte, seine Arme wie Klammern. Keine Panik, sagte er. Sie meinte zu ersticken, wand sich, schlug aus. Er liess los, ein Katzemausspiel, lehnte sich locker gegen die Tür, Arme verschränkt, aber sein Blick hielt sie fest, auch noch, als die entsicherte Wagentür aufging und er wuchtig in die Schwärze fiel. Sekundengleich der Ruck, die Räder am Rollen, während sich die Türseiten mechanisch schlossen. Der neue abrupte Halt kam nach ihrer Notbremsung. Ins Quietschen der Räder das Donnern des Gegenzuges.

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Kamele VON KRISTIN T. SCHNIDER

ersten Tag hier unten war es still geblieben. Seit gestern wurde jedoch Wie gestern schon erwachte er mit dem Bild einer langen Reihe von pünktlich zum Einschalten der Lichter wieder Musik gespielt, bis zum Kamelen vor Augen, die eins hinter dem anderen in Richtung Horizont Lichterlöschen begleitet von Predigten oder Lesungen von Bibelsprümarschierten und aus seinem Blickfeld – das Fenster der Kantine – verchen, auf Englisch, einmal pro Tag auf Spanisch und auch in einer slaschwanden, als fielen sie aus der Welt. Noch einmal meinte er, ihr langwischen Sprache. «Russisch», hatte Sascha leicht verächtlich gesagt, gezogenes, melancholisches «Brüüüaaaa», die Rufe der Kameltreiber zu und die Augenbrauen hochgezogen. Sascha hatte in der Kantine gearhören. Doch an jenem Tag hatten das nervöse Reden der Menge, die in beitet. Es war ihnen allen dreien komisch erschienen, Chris schimpfte Zwei- oder Dreierreihen zu den als Notausgängen bezeichneten Türen über die Belästigung. Thomas verbarg seine Erleichterung. Er hoffte, es trotteten, und die Rufe der Sicherheitsleute alle anderen Geräusche hiess, dass da draussen jemand war, der Entwarnung geben würde, dass überdeckt. sie bald wieder an die Oberfläche zurückkehren könnten. Er lag auf der unteren Pritsche eines Kajütenbettes, es war stockfinsNatürlich waren die Zellen in den Bunkerabteilungen streng nach Geter, nichts wahrzunehmen ausser den Atemzügen seiner zwei Bunkerschlecht getrennt wie die Schlafeinheiten für das Personal, das ohne Fagenossen. Von draussen war – klar – nichts zu hören, das Donnern von milie hier war. Die mit Familie bewohnten die eingeschossigen HäusDüsenjets, das Krachen von Explosionen, vor allem aber die unendliche chen der hinter einer Düne knapp sichtbaren Reihensiedlung am Rande Stille davor und danach, das Schweigen der Kamele und ihrer Treiber, des weitläufigen Geländes. Er hatte gedacht, dass nur die «Oberen» ihre stellte er sich nur vor. Familien dabei hatten. Die, die er für Wissenschaftler, und die, die er für Er war furchtbar erschrocken, als plötzlich Sirenen losgeheult hatdie Bosse hielt. Er fragte sich, wo sie die Kamele untergebracht hatten. ten, hatte sich aber schnell beruhigt. Es war nichts Gefährliches zu seDie Räume im Bunker waren riesig, wie alles hier. Er hatte sich hen gewesen. Das Gelände. Weissglühender Himmel. Sand. Aus den schnell abgesetzt und eine Viererzelle am Rande des seiner Abteilung Lautsprechern, die überall angebracht waren, kam die Aufforderung – zugeteilten Raumes ausgesucht, sich hingelegt und war eingedöst. Lanauf Englisch, Spanisch und in einer ihm unbekannten slawischen Sprage war er nicht alleine geblieben. Ein untersetzter Mann, etwas jünger che –, alles liegen- und stehen zu lassen, die Befehle der Sicherheitsals er, kam herein und weckte ihn. Zu seinem Erstaunen trug er anderscrew zu befolgen. Er war aufgestanden und hatte sich eingereiht. Die farbige Kleidung, ein derbes Ensemble aus Kittel und Hose in dunklem Sicherheitsleute, die sonst nur breitbeinig herumstanden und dafür Beige, ein T-Shirt anstelle des Hemdes, das er unter dem schlicht gesorgten, dass jeder an seinem Platz und innerhalb der nach Arbeitsart schnittenen dezentgrauen Anzug trug, den er bei der Ankunft erhalten zugeteilten Areale des unüberschaubaren Geländes blieb, steuerten sie hatte. Ja, es war etwas schiefgegangen mit der sonst so strengen Zuteientsprechend sortiert zu den Notausgängen, die nicht hinaus, sondern lung und Separierung der Angestellten. Der Mann, der sich als «Chris» hinunter in Schutzräume führten. vorgestellt hatte – und ihn zu seinem Ärger Tomi nannte, obwohl er Er wusste nicht, was los war. Kein Feueralarm, Wasseralarm schon Thomas vorzog – und nun auf dem Bett oben an ihm kaum hörbar atgar nicht, keine Übung. Die Bedrohung schien, wenn auch damals und mete, hatte herausgefunden, dass die Schleusentüren zwischen den Abjetzt erst recht unsicht- und unhörbar von ausserhalb des Geländes zu teilungen gar nicht verschlossen waren. Thomas, halbwach, hatte sich kommen. Hier unten waren die Abteilungen durch ausgeklügelte Schleusentüren – neben jeder ein Dekontaminationsraum – voneinander getrennt. Was hatAus den Lautsprechern kamen erbauliche Sprüche, die stete ten die hier erwartet? Mitten in der Wüste? Berieselung mit beruhigender Musik sanft unterbrechend. Er wälzte sich unruhig auf seiner schmalen Pritsche und gestand sich ein, dass er, seitdem dazu überreden lassen, sich mit ihm etwas umzusehen. Sie waren in eier den Job hier angetreten hatte, wenig gedacht, sich für nichts interesner mehrstöckigen unterirdischen Schutzanlage. Er hätte sich gerne mit siert hatte. Aussenkontakt gab es keinen, ausserhalb des Geländes war den anderen unterhalten, vor allem denjenigen aus anderen AbteilunWüste. Keine Zeitungen, im Aufenthaltsraum seiner Arbeitseinheit gab gen – er sah dunkelbraune Uniformen, blaue, eher herkömmliche Ares nur erbauliche Literatur, Filme à la «Ben Hur» und «Die Chroniken von beitskittel, grüne, die wieder an Anzüge erinnerten. Im zweiten UnterNarnia» auf DVD, die Fernseher hatten nur US-amerikanische Sender im geschoss waren die Frauen und auf dem untersten Stockwerk standen Angebot, Internetverbindung gab es keine für die Angestellten, Laptops ein paar auffallend junge Männer in weissen Laborkitteln herum. Aber und Handys – Geräte, die er schon lange nicht mehr gehabt hatte – waChris winkte ab, bedeutete ihm, hinter ihm zu bleiben und leise den ren nicht erlaubt. Ihm war das egal gewesen. Er hatte es hingenommen. Wänden entlang zu schleichen. Sicherheitsleute waren zwar keine zu Hauptsache, er hatte, nachdem er schon eine Weile ausgesteuert gewesehen. Zurück auf «ihrem» Stockwerk liess sich Thomas am Ärmel in eisen war, endlich wieder Arbeit gefunden. Irgendwo. Irgendwas. nen etwas versteckten Raum ziehen, in dem sechs bequeme Betten stanAus den Lautsprechern kamen ab und zu erbauliche Sprüche, die steden, Tische mit verkabelten Displays, Garderobenschränke, wuchtige te Berieselung mit beruhigender Musik – meist Gesang zu Gitarrengeverschlossene Kästen. Atemgeräte hingen hinter Glas. Sie setzten sich schrammel, ab und zu sogar Harfenklänge – sanft unterbrechend. Am SURPRISE 254/11

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und Chris zog ein Päckchen Zigaretten hervor. «Von den Kollegen», sagte er. «Und auf Vorrat habe ich noch Shishatabak und Papierchen.» «Unglaublich!», dachte Thomas. Aber Nervosität liess ihn zugreifen, er war doch Raucher gewesen, bevor ihm das Geld auch dafür gefehlt hatte. Unter dem Einfluss von Chris und nach den überaus tugendhaften Wochen hier war ihm gerade jetzt danach, etwas zu tun, das ihm sündhaft vorkam. Raucher wären gar nicht eingestellt worden. Im Anstellungsvertrag gab es auch eine Klausel, die das Fluchen verbot, erinnerte er sich plötzlich. Chris war Kamelpfleger gewesen, als einziger Europäer, und daher als Chef einer Gruppe von Einheimischen oder, das hatte er nicht herausfinden können, Arabern aus umliegenden Ländern. Trampeltiere hatte er betreut. Die zweihöckrigen. Also wurden auch die Kamele streng in Gruppen aufgeteilt. Thomas sog den Rauch gierig ein und verspürte ein Schwindelgefühl, das zu allem anderen passte. Er hatte Angst, dass der Geruch sie trotz geschlossener Türe verraten würde. Und so war es. Nach kaum fünf Minuten trat eine Frau vorsichtig in den Raum. Er war zusammengezuckt. Sie war uniformiert wie sie, Kittel, Bluse, und natürlich ein Rock, der weit bis über die Knie reichte, deutlich körperunbetont geschnitten. Sie war dem Rauchgeruch gefolgt, sagte sie, sehnsüchtig geradezu. «Ich bin Alexandra. Nennt mich Sascha.» Aus dem zweiten Stock heraufgekommen, berichtete sie, dass ein Trupp Sicherheitsleute, nachdem sie Bibeln auf die Zellen verteilt hätten, sang-, klang- und wortlos wieder verschwunden sei. «Bibeln!», sagte Chris. «So schlimm steht es! Bis auf die Musik, die Sprüche und die dummen Fragen im Einstellungsgespräch haben die sich bis jetzt ja zurückgehalten.» Thomas war verwirrt. «Ich denke, wir werden bombardiert», hatte Sascha gesagt. «Ich kenn’ das.» Jetzt schlief sie oben, auf dem anderen Kajütenbett in der Schlafzelle, die die drei seit ihrer ersten Begegnung teilten. Thomas seufzte und dachte, dass er nicht glauben konnte, dass draussen Bomben fielen. Und die Kamele? «Brüüüaaa», machte er leise ins Kissen hinein, um niemanden zu wecken. Sascha schnaufte schwer, japste. Thomas merkte, dass auch ihm das Atmen schwerer fiel, schob es auf das Rauchen, auf Bunkerstress. Ob doch etwas Illegales vor sich gegangen war in diesem, wie sollte er es nennen: «Industriekomplex?» Die Gebäude auf der anderen Seite der Kantine waren Laboratorien. Von den Kamelen hatte er nichts gewusst, bis er sie gesehen hatte. Und bei den Bestellungen, den Warenlisten, Lieferscheinen und Abrechnungen, die zu kontrollieren seine Aufgabe gewesen war, hatte er nichts Alarmierendes festgestellt. Chemikalien, elektronisches Zeugs, Sensoren, Dioden, Transistoren. Und wer experimentiert schon mit Kamelen? Einzig auffällig waren die grossen Lieferungen von Nadeln gewesen. Nähnadeln, Stricknadeln, Maschinennadeln, Nadeln aller Grösse, aller Art, aus aller Welt. Er hatte einfach nicht darüber nachgedacht. Nur – was machten die eigentlich mit all dem Zeug? Von seiner früheren Stelle als Prokurist einer kleinen Maschinenbaufirma wusste er doch, dass Wareneingänge mit Warenausgängen korrespondierten. Und, jetzt fiel es ihm ein: Nadeln. Aber keine Nadel, kein einziger spitzer Holz-, Metall-, Plastikstift ohne ein Öhr. Ihm war schwindlig, er schwitzte. «Ein paar Schritte tun», dachte er. «Dann kann ich wieder einschlafen.» Aber beim Aufstehen wurde ihm übel, er schaffte es nicht einmal bis zur Tür. Er hatte weiche Knie. Er hielt sich am anderen Bett fest und plumpste zurück auf seins. «Mist», dachte er. «Schlechte Kondition. Ob sie recht hatten, als sie mich entliessen. Einfach zu alt.» Ihm war plötzlich kalt. Er mummelte sich ein, dankbar, als er wegzudriften begann. Mit halbgeschlossenen Augen sah er deutlich, dass die Kamele tatsächlich vom Rand der Welt fielen. «Brüüüaaa …» Sie schaukelten hintereinander her, schauten mit diesem unnachahmlich hochmütigen Blick einen Moment ins Leere und fielen lautlos aus der Wüste ins Nichts. Aber, er lächelte, schlaftrunken jetzt: Da waren sie wieder, winzig klein und munter schwebten sie auf den

Mit halbgeschlossenen Augen sah er deutlich, dass die Kamele tatsächlich vom Rand der Welt fielen.

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Kristin T. Schnider Kristin T. Schnider wurde 1960 in London geboren und wuchs in Zürich auf. Nebst Texten in Literaturmagazinen, die sie seit 1982 regelmässig veröffentlichte, hat sie drei Bücher publiziert und dafür einige Auszeichnungen erhalten. Nebst verschiedenen Brotberufen arbeitete sie auch für das Deutschschweizer PEN-Zentrum als Präsidentin, ab 2010 als Geschäftsführerin. Seit 1998 lebt sie als freie Schriftstellerin in Wassen im Kanton Uri.

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BILD: FREDERIC MEYER

Klängen leiser Musik aus den Lautsprechern auf ihn herab. «Morgen. Musik. Die singen. Was heisst ‹nearer to thee› denn», dachte er, «Entwarnung … Erlösung von diesem Bunkerdasein …» Hoch oben in der verglasten Aussichtsplattform des Stratosphere Tower setzten sich nach einem delikaten Essen vier Gäste etwas abseits in die Sessel vor den Fenstern und blickten nachdenklich über Sin City. «Ein langer Flug», sagte Franklin zu Joyce. «Sogar in deinem bequemen Jet.» «Das war», sagte Reinhard, «… ungut. Wir haben eine Menge Geld wortwörtlich in den Sand gesetzt.» «Ach was», erwiderte Joyce. «Wir machen weiter. Die Gebäude waren versichert, unsere Wissenschafter haben wir rechtzeitig ausgeflogen. Neue Kamele aufzutreiben ist kein Problem. Nadeln gibt’s überall.» «Und all die Seelen, die wir zurücklassen mussten, ruhen im Herrn», fügte Franklin hinzu. «Ein gutes Werk.» «Ausserdem», sagte Warren, «ein minimer Verlust. Es ist ja so schwierig, ab einer bestimmten Vermögensgrösse sein Geld überhaupt loszuwerden.» «Stimmt», sagte Franklin. «Und wir können nichts dafür, dass uns so viel gespendet wird.» «Tja», sagte Joyce, «so ist das. ‹Gib und du wirst empfangen›. Wir haben eben die Liebe.» «Und Berge bewegen können wir auch», meinte Reinhard. «Lasst uns gehen.» Sie wurden vom Hotelsicherheitsdienst zu den Liften begleitet, die solange gesperrt waren, bis die vier in den bereitstehenden Humvee gestiegen waren. «Das passende Gelände haben wir hier gefunden», sagte Joyce. «Und die Gebäude werden ideal sein.» «Das Pentagon muss sparen», sagte Reinhard. «Und der Neue ist eh fast einer von uns.» «Ach ja», meinte Warren, als sie endlich die Strasse erreichten, die sie in die Wüste Nevadas bringen würde: «Es gibt mehr als einen Weg, in den Himmel zu kommen, aber was wir hier tun, ist einfach grossartig.»


Software VON CLEMENS SETZ

- So wie sich die Leute Gott vorstellen, sagte ich. Christian hatte die Idee gehabt, die neue SimulAged-Software, die ich Christian lachte. Er druckte das Bild aus und heftete es über seinem ihm installiert hatte, mit dem Bild eines vor mehr als achtzig Jahren verSchreibtisch an die Wand. schwundenen Kindes zu füttern. Der Junge hatte bis zum Dezember - Das könnte wirklich jeder sein, sagte er schließlich, nachdem er das 1927 in dem kleinen niederösterreichischen Städtchen Gillingen gelebt. Gesicht länger studiert hatte. Alte Leute sehen irgendwie alle gleich aus. Kurz vor seinem siebten Geburtstag war er eines Tages auf einem Tanz- Er ist einfach in eine Menschenmenge hineingegangen und verfest, bei dem auch seine Eltern anwesend waren, mitten in einer Menschwunden, sagte Paul, Christians Kollege in der Agentur. Glaubst du schenmenge einfach verschwunden. Die Eltern berichteten, dass sie ihn die Geschichte? gesehen hätten, wie er seelenruhig in die wild ineinanderwirbelnden - Na ja, das Erste ist immer die Geschichte, sagte Christian achseltanzenden Körper hineingegangen sei. Ziemlich geradlinig sei er geganzuckend. Von ihr muss man ausgehen. gen, so wie es Menschen tun, die zum ersten Mal das Meer sehen und - Hm, sagte Paul. Wenn er nicht von den Leuten zertrampelt worden wie ferngesteuert, von uraltem Magnetismus angezogen, auf die sich ist, lebt er vielleicht noch immer irgendwo, wohnt in einem Altersheim, am Ufer brechenden Wellen zumarschieren. Und wirklich gespenstisch ohne Angehörige, neunzig Jahre alt, blind, senil. sei es gewesen, mit anzusehen, wie die herumgeworfenen Gliedmaßen - Pfff, machte Christian. Auch von solchen gibt es unendlich viele ... der Tanzenden ihn immer nur ganz knapp verfehlten – und wie er dann - Ja, sagte Paul, da hast du recht. plötzlich nicht mehr da war, verdeckt von Musik und Bewegung und - Die Software funktioniert jedenfalls wunderbar, stellte ich fest. bunter Kleidung. Der Vater habe die Kapelle gebeten, für einen Augen- Hm? blick mit dem Spielen aufzuhören, sein Sohn sei da irgendwo auf der Beide Männer drehten sich gleichzeitig zu mir um. Sie sahen mich Tanzfläche. Verständnisvoll und amüsiert habe der Kapellmeister auf an, als hätte ich eine höchst ungewöhnliche Bemerkung gemacht. diese Bitte reagiert, heißt es. Man begann zu suchen, aber der Junge war - Die Software funktioniert, wiederholte ich. Und das bei einem so alnirgends, schließlich schlossen sich mehrere Menschen an, man schauten Bild. Das ist doch erstaunlich, oder? te überall nach, unter jedem Tisch, sogar die Bodenplatten untersuchte - Ach so, ja, sagte Paul. man, ob eine davon vielleicht locker war. Aber man fand nichts. Der Junge blieb verschwunden. Einige Jahre später erklärte man ihn für tot und ein leerer KinderIch weiß gar nicht genau, wie Tolstoj aussieht, sagte Chrissarg, den statt sechs nur zwei Männer trugen, tian. So wie sich die Leute Gott vorstellen, sagte ich. wurde in ein Grab gelegt. Christian hatte den Zeitungsartikel mit dem Christian sagte nichts, er nickte nur kurz und wandte sich dann wieunscharfen Porträtfoto des Jungen durch Zufall in einer Sammlung alter der dem ausgedruckten Bild an der Wand zu. Zeitungen entdeckt. Wir standen daneben, während er das Bild ein- Nach so langer Zeit, sagte er leise. scannte. Die leisen Seufzer des Scanners erinnerten an die angenehmen - Wir könnten ihm vielleicht eine Brille verpassen, meinte Paul. Oder Geräusche auseinander gleitender Lifttüren in exquisiten Hotels. Die eine Frisur so wie Einstein. Oder Beckett. Software, für die Christian fast dreitausend Euro hingeblättert hatte, um - Wer?, fragte Christian. sie den verzweifelten, nach jedem Strohhalm greifenden Kunden seiner - Samuel Beckett. Privatagentur zur Verfügung stellen zu können, brauchte nur wenige Se- Ich weiß nicht, wie der aussieht. Auch wie Gott? kunden, bis sie das Ergebnis berechnet hatte. Auf dem Bildschirm er- Nein, eher weniger, sagte ich. Er hatte irgendwie kraftvolles Haar. schien das Gesicht eines alten Mannes. Christian probierte einige FrisuDie ganze Energie seiner Erscheinung war im Haarschopf konzentriert. ren und Barttrachten aus, entschied sich schließlich für eine Art - Ts, machte Christian. Zwischenlösung, einen sehr lichten Bart, unter dem man sich das glatPaul tippte auf dem Laptop herum und zauberte auf das alte Gesicht te Kinn relativ leicht denken konnte. eine dichte Wolke ungebändigten Greisenhaars, schneeweiß und flack- Sieht aus wie Tolstoj, sagte ich. ernd. Als er sah, wie Christian herüberblickte, trat er einen Schritt zu- Ehrlich? rück und deutete auf den Bildschirm. Christian lächelte nur und blickte - Ja, irgendwie. wieder zum Bild. - Ich weiß gar nicht genau, wie Tolstoj aussieht, sagte Christian.

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Gillingen hätten ihrem Kind beim Aufwachsen zusehen können, hätten in einsamen Stunden andere Schriftsteller als Tolstoj gelesen und der Junge wäre zu einem erwachsenen Mann, später zu einem Greis geworden. Söhne, Töchter, Enkelkinder. Schließlich wäre er gestorben und in einem gewöhnlichen Grab beigesetzt worden. Und die Welt hätte die nie geschriebenen Werke von Tolstoj genauso wenig vermisst wie sie jetzt den Jungen vermisste. Verunsichert und eingeschüchtert von dieser Erkenntnis stand ich auf dem Bahnsteig herum und fing mich erst wieder ein wenig, als ein paar Männer mit großen Musikinstrumenten sich zu mir gesellten. Beim Einsteigen bat mich einer von ihnen, ihm mit dem Kontrabass zu helfen, was ich auch sofort tat, glücklich und erleichtert über das fette, satte Gewicht des großen, mit verschiedenen Reiseaufklebern verzierten Koffers in meinen Händen.

BILD: ZVG

- Weißt du, was wirklich merkwürdig ist?, sagte er nach einer Weile. Ich hab das Gefühl, dass ich ihn schon mal gesehen habe. Irgendwo. - Wo?, fragte Paul. - Weiß nicht. Aber ich könnte schwören ... Er trat ganz nahe an das alte Gesicht heran und tippte mit seinem Zeigefinger auf dessen Stirn. - Sollen wir noch einen Probelauf machen?, fragte ich. Vielleicht hat einer von euch einen Lichtbild-Ausweis mit, den wir einscannen könnten. Oder wir machen ein Webcam-Foto, oder – - Nein, sagte Christian. Nein. Paul hob die Arme, als wollte er sagen: Ich hätte ja nichts dagegen, aber er hat nun mal Nein gesagt. Er ist der Boss. - Okay, dann werde ich mal gehen, sagte ich. Mein Zug ... - Ja, wir sollten auch wieder langsam zurück an die Arbeit, sagte Paul. - Wenn überhaupt, sagte Christian, dann ... Er schien sich zu besinnen, dass das, was er sagen wollte, überhaupt nicht zu dem passte, was wir gerade gesagt hatten. Er hatte gar nicht mehr auf uns geachtet. Eine leichte Röte zog über sein Gesicht und er tat so, als räusperte er sich. - Ja, wir sollten wirklich wieder, sagte er. Also dann, komm gut nach Hause. Ich nahm meinen Mantel vom Kleiderständer, gab beiden die Hand und verabschiedete mich. Während ich durch die frühmorgendliche Stadt zum Bahnhof ging, dachte ich an Tolstoj und versuchte mir vorzustellen, wie die Welt aussehen würde, wäre er anstatt des Jungen aus Gillingen kurz vor seinem siebten Geburtstag auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Irgendwo in Russland, auf einer Tanzveranstaltung, von denen es ja zu allen Zeiten und in jedem Land der Welt genug gibt. Die Eltern des Jungen aus

Clemens Setz Noch heute lebt der 29-jährige Autor in seiner Geburtsstadt Graz. Neben dem Lehramtsstudium der Mathematik und Germanistik arbeitete er als Übersetzer, veröffentlichte Gedichte und Erzählungen. 2007 erschien sein Debütroman «Söhne und Planeten». Für seinen Erzählband «Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes» erhielt Setz 2011 den Preis der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik.

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Aus einem Hund wird kein Speck VON MELINDA NADJ ABONJI

Onkel Piri bereitet sich aufs Zeitungslesen vor. Er sagt, ich backe Kuchen für den St. Nimmerleinstag, was soviel heisst wie, diesen gedruckten Scheiss kannst du dir eigentlich schenken. Er platziert seine Brille auf der schmalen Nase, schiebt die Mütze nach hinten, sonst hat der Kopf nicht genügend Platz zum Denken, streicht die Zeitung auf dem Küchentisch glatt, damit sie mich nicht anlügt, und er blinzelt mir zu, mit Augen, die Sie noch in keinem Kusturica gesehen haben, er zieht mit dem Zeigefinger Linien, folgt also den Buchstaben, diesen verruchten Kindern, Kinder, die es faustdick hinter den Ohren haben, und zwischendurch schlürft er seinen schwarzen, türkischen Kaffee, lacht aus seinen Zahnlücken zu mir, kratzt mit seinen schweren Händen seinen Hinterkopf, lass dir nur nie sagen, dass du etwas nicht weisst, und Onkel Piri spricht mit seinen Eckzähnen, gleich werde ich dir etwas zeigen, sagt er, und das steht nirgends geschrieben, und seine Augen üben sich im Seilziehen, er weiss, dass er mich auf die Folter spannt, er weiss, dass ich ihn beobachte, er aber lässt sich durch meine Ungeduld nicht drängen, fährt mit seinem Zeigefinger weiter Linien, ruhig, aufmerksam, ausserdem muss ich die Schweine noch füttern, sagt er, und hinter ihm wartet Grossvater auf dem Sofa, liegt rücklings bereit für seinen Verdauungsschlaf, in der Küche schwitzen die Vorhänge, der Kalender, auf dem die Namenstage eingetragen sind, der hellgrüne Korb mit den Plastikfrüchten, und Opas Zähne liegen frisch im Wasserglas, und mein Onkel trägt ein kariertes Hemd, ich versteh das nicht, dass dein Grossväterchen seine Beisser zum Schlafen nicht braucht, was machst du, wenn du im Traum mal zubeissen musst, stichelt Onkel Piri ohne aufzublicken, Grossvater, der nach dem Essen logischerweise die Zeitung als Erster bekommt, der sich auf dem Sofa ausstreckt, als sei er ein Glückspilz, der sich seine Zeitung beim Kartenspiel verdient, keiner bescheisst so gut wie dein Grossvater, behauptet mein Onkel, du hättest früher damit anfangen sollen, dann würden wir jetzt im Geld schwimmen, Grossvater, der das mit dem Bescheissen nicht gern hört, pure Intelligenz, so verteidigt er sich, was aus seinem zahnlosen Mund witzig klingt, ich hätte nichts dagegen, Grossväterchen, irgendwann einmal von dir in der Zeitung zu lesen, was meinst du dazu, lass dir das mal durch den Kopf gehen, und mein Onkel schiebt seine fleischige Unterlippe nach vorn, was

er nur tut, wenn er etwas Wichtiges gesagt hat, die Ohrringe meiner Tante Icu glitzern vor Aufregung, ich hol’ gleich die grosse Fliegenklatsche, die reicht für euch beide, und ich muss auch deshalb lachen, weil die Stimme meiner Tante so durchs Zimmer saust, als hätte sie die Klatsche bereits in der Hand, doch ihr Unterrock zittert beim Abwaschtrog, ihre Hände tauchen rasch und gleichmässig ins milchige Wasser, die abgewaschenen Teller, an deren Rändern die Seife runterrutscht, ich bin mir gar nicht sicher, ob dein Mann wirklich lesen kann, sagt Grossvater und gähnt ausgiebig, lies doch vor, sagt er gelangweilt und legt seinen rechten Unterarm über die Augen, und diese Geste verrät, dass seine Gleichgültigkeit gespielt ist, dass er viel eher gierig auf ein kleines, aufregendes Spektakel lauert, und ich sitze auf dem mit einem roten Kissen gepolsterten Küchenstuhl, nippe am süssen Kaffee von Onkel Piri, und wenn Sie nun an eine Mittagshitze denken, die für einen Western typisch ist, an eine unerbittliche Sonne, deren flirrendes Licht die berühmt berüchtigten Duelle ankündigt, wenn Sie also daran denken, dann haben Sie mit Sicherheit vergessen, dass wir uns in der Küche meiner Tante befinden, in einem südosteuropäischen Kaff, Onkel Piri und Grossvater, die zwar in einem schrägen Western die herrlichsten Protagonisten abgeben würden, wenn man zumindest bereit wäre, das prototypische Duell so abzuwandeln, dass die beiden Helden sich nicht unbedingt stehend duellieren müssten. Meine Tante Icu bedeckt das abgewaschene Geschirr mit einem Küchentuch, die Fliegen haben nämlich die Vorliebe, ihre Kacke auf dem

Lies vor, sagt Tante Icu, und dann wollen wir sehen, ob unsere Leber noch was aushält!

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Porzellan zu platzieren, sagt sie, aber nicht zu den Fliegen und verschwindet dann energisch in der Speisekammer, Grossväterchen, ich werde dir eine unvergessliche Kostprobe meines Könnens geben, und Onkel Piri schiebt seine Mütze noch weiter nach hinten, so dass sich sein borstiges Haar wie kräftige Sprossen zeigt, und ich verkneife mir das Lachen, als er die Zeitung ein wenig anhebt, um sie so zu halten, wie es mein Grossvater tut, nämlich ein bisschen überheblich, ich werde dir eine dieser schönen Geschichten vorlesen, die in deiner Zeitung stehen, sagt Onkel Piri und zwinkert mir zu, und Sie müssen wissen,

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dass er zu jenen Menschen gehört, deren Augen so betörend sind, weil sie einem alles erzählen können, das Lügen hast du mit den Augen gelernt, sagt mein Grossvater, wenn er nicht mehr weiter weiss, wenn ihn die schillernden Schätze meines Onkels wieder einmal hinters Licht geführt haben. Und es ist wahr, man sollte, wenn man ein vernünftiger Mensch ist, den Augen von Onkel Piri alle nur erdenklichen Fähigkeiten zutrauen, schon allein deswegen wäre mein Onkel der ideale Held, so einen Blick, der durch den Schatten eines breitkrempigen Hutes noch durchdringender, noch verführerischer zur Geltung käme, hat die Welt bis anhin nicht gesehen, glauben Sie mir. Erinnert mich daran, dass ich die Schweine noch füttern muss, sagt Onkel Piri, ja ja, sagt mein Grossvater, lenk jetzt nicht ab, hat keinen Sinn, und er schnalzt mit der Zunge, man spricht nicht mit leerem Mund, sagt mein Onkel, hebt die Stimme an, spuckt die Wörter durch seine Zahnlücken, hast du gehört Grossväterchen?

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Melinda Nadj Abonji Melinda Nadj Abonji wurde 1968 in Becsej in der Vojvodina geboren, kam als Kind in die Schweiz und studierte in Zürich Germanistik und Geschichte. Melinda Nadj Abonji arbeitet als Autorin, Musikerin (Geige und Gesang) sowie als Textperformerin, seit 1998 zusammen mit dem Raplyriker Jurczok 1001. Sie ist Leiterin einer freien Schreibwerkstatt in Zürich. 2004 erschien ihr erster Roman «Im Schaufenster im Frühling». Der zweite Roman «Tauben fliegen auf» erschien 2010 und erhielt den Deutschen wie auch den Schweizer Buchpreis. Melinda Nadj Abonji lebt in Zürich.

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BILD: GAË TAN BALLY

Und ich liebe meine beiden Helden, der eine sitzend, der andere liegend, und natürlich meine Tante, die mit einer Hand die Tür zur Speisekammer wieder schliesst, mit der anderen die Torte balanciert, Süssspeisen, wie sie alle Leckereien nennt, die die Fähigkeit haben, erregte Gemüter etwas zu besänftigen, und wenn Tante Icu das kunstvoll geschichtete Gebilde aus Biskuit und Creme elegant beiläufig auf den Tisch stellt, dann könnten Sie sich möglicherweise an Mujeres al borde de un ataque de nervios erinnert fühlen, meine Tante Icu, die mit Sicherheit die Gabe besitzt, sowohl Grossvater wie auch Onkel Piri im Glauben zu lassen, sie hätten es allein ihrer eigenen Grosszügigkeit und Nachgiebigkeit zuzuschreiben, wenn ihre Sticheleien nicht im beschworenen Duell zwischen Mistgabel und Beil ihren Höhepunkt finden, sondern darin, dass man gemeinsam eine herrliche Torte verspeist. Lies vor, sagt Tante Icu, und dann wollen wir sehen, ob unsere Leber noch was aushält! Onkel Piri schaut sichtlich überrascht zu ihr, sagt dann aber, schenk mir vorher noch was ein, mein Herzchen, und er legt die Zeitung auf den Tisch, um seine karierten Ärmel hochzukrempeln, und Tante Icu nickt mir zu, weil ich flink auf meinen Beinen bin und weiss, wo die durchsichtige Flasche steht und Onkel Piris Lieblingsglas mit der venezianischen Gondel, und ich schenke ein, nicht zu knapp, und Onkel Piris Hals muss noch seufzen, husten, nachdem er den Schnaps geschluckt hat, und ich könnte ihn mir nicht nur in einem Film gut vorstellen, sondern auch in der Manege, als Feuerschlucker beispielsweise. Aus einem Hund wird kein Speck, flucht mein Grossvater, was soviel heisst wie, ein Taugenichts bleibt ein Taugenichts, lies endlich vor, sagt Tante Icu, während sie die Torte im Uhrzeigersinn dreht, und Onkel Piri streicht die Zeitung noch einmal glatt, bevor er schliesslich zu lesen anfängt. Und man kann sich durchaus fragen, ob die gedruckten Buchstaben die Fähigkeit haben, Onkel Piri zu beschreiben, wie sein Gesicht faltenlos wird, seine Stimme sich zu einer Grösse aufschwingt, die mögli-

cherweise mit den ausgestreckten Flügeln eines Riesenvogels vergleichbar ist, seine Sätze, die wie Sahne schmecken, die man morgens fett aufs Brot streicht und die Lippen so angenehm kühlt, und wenn Sie sich nun fragen, was dieser Analphabet tut, dass auch die schönsten Vergleiche nicht gelingen wollen, dann gibt es darauf eine einfache Antwort: In regelmässigen Abständen senkt und hebt sich Onkel Piris Kopf, er schaut in die Zeitung, um zu sehen, was sie ihm preisgibt, man habe von einem raffinierten Betrüger gehört, so fängt Onkel Piri an, und Tante Icu dreht weiter an ihrer Torte, schneidet mit dem scharfen Messer perfekte Stücke, und Onkel Piri erzählt, erzählt so, dass er Ihnen, könnten Sie ihn hören, den Kopf verdrehen würde, und Grossvater liegt mit seiner abgewetzten Hose auf dem Sofa, Onkel Piri sei ein Hund, sagt er nochmals und lächelt, und bald wird Grossvater mit einem seligen Gesicht einschlafen, zufrieden schnarchen und Onkel Piri, dieser versoffene Analphabet, wird ihm seine Träume versüssen, Grossväterchen wird von einem zahnlosen Helden träumen, der mit seinen raffinierten Tricks im Pensionistenheim allen das Ersparte abknöpft, und manchmal könnte man wirklich daran verzweifeln, dass die Buchstaben zum Leben erweckt werden müssen, möglicherweise von einem Analphabeten, der so schön zwischen den Zeilen liest, dass man sich fragen muss, woher Onkel Piri seine Buchstaben hernimmt, wo seine Geschichten versteckt sind, aber auch jede noch so feinfühlige Kameraführung müsste am Nacheinander der Bilder scheitern, kein noch so ausgeklügelter Schnitt könnte die aussergewöhnliche, alltägliche Choreographie des Lebens wiedergeben, vier Menschen, die plötzlich in einer schwebenden Ruhe miteinander verbunden sind, Grossvater, der leise vor sich hinpfeift, Tante Icu, ich und die Torte, die zuhören, wie Onkel Piri in der Mittagshitze in einer unbegreiflich schönen Leichtigkeit über sich hinauswächst.


BILD: ZVG

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Buchtipps

Die Sphinx oder nackte «Wilde»: Reisenden

Der Idiot und der Russe on the road –

Frauen blieb nichts verborgen.

unterwegs ins Erwachsenwerden.

Genderstorys Weltenbummlerinnen

Reiseroman Durch die wilde Walachei

Reisen war lange Zeit Männersache. Doch gab es auch Frauen, die die Ferne eroberten und sich dabei von gesellschaftlichen Rollenzwängen befreiten.

In seinem Roman «Tschick» erzählt Wolfgang Herrndorf von einer schrägen Odyssee durch den Osten Deutschlands – und einer wunderbaren Freundschaft.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON CHRISTOPHER ZIMMER

1839 erschien der erste Baedeker. 1841 eröffnete Thomas Cook sein erstes Reisebüro. Nach 1900 entwickelte sich der Tourismus schliesslich sprunghaft, bis zum heutigen Zerrbild von Last-Minute, Ballermann und Co. In früheren Jahrhunderten aber war jede Reise ein Wagnis. Wer in die Fremde aufbrach, tat gut daran, sein Testament zu machen. Das galt für das rechtsunsichere, krisengeschüttelte Europa der Kleinstaaten nicht weniger als für die neu entdeckten und kolonialisierten fernen Länder. Wegelagerer, korrupte Zöllner, betrügerische Wirte, Piraten markierten die Reiserouten, Flöhe, Wanzen und Kakerlaken bevölkerten selbst Luxushotels, und die Liste der Krankheiten liest sich wie der Pschyrembel (der medizinische Lexikon-Klassiker). Lebend zurückzukehren, grenzte an ein Wunder. Dass sich damals aber nur Männer diesem russischen Reiseroulette aussetzten, ist ein blosses Vorurteil. Dem widersprechen allzu viele Reiseberichte, die von Frauen verfasst wurden. Die Gründe weiblicher Reiselust sind vielfältig. Manche flohen vor Männern, andere begleiteten sie. Einige waren politisch Vertriebene, andere Spioninnen. Nicht wenige aber waren auch Wissenschaftlerinnen oder reisten um des Reisens willen. Mal waren es reiche Erbinnen, die allein für ihr Gepäck eine Karawane benötigten. Dann wieder Wissbegierige, die sich mit ihren Berichten die Reisen finanzierten. Manche legten einen kolonialen Hochmut an den Tag, andere wagten den Sprung in die fremde Kultur. Die Palette ist bunt und reicht von der Hochstaplerin und Tänzerin Lola Montez bis zur Pflanzen- und Insektenmalerin Maria Sibylla Merian. Die Männerwelt reagierte mit Abscheu und Lüsternheit auf diese weiblichen Auf- und Ausbrüche. Waren es doch nur Frauen, die so begehrte Orte wie einen Harem betreten durften. Nicht wenige von ihnen kleideten sich zudem wie ein Mann und sahen – wie schockierend – nackte Männer bei den «Wilden». Das machte sie so interessant wie verdächtig. Die Schicksale und Beweggründe dieser Wegbereiterinnen der Gleichberechtigung hat die Autorin Barbara Hodgson in einem geographisch gegliederten Buch versammelt. Viel Stoff für so manchen Abenteuerinnenroman!

Gegen den 14-jährigen Maik Klingenberg scheint sich alles verschworen zu haben: Die Mutter, eine Alkoholikerin, ist wieder mal im Entzug. Der Vater mit der Assistentin auf «Geschäftsreise». Und vor allem lädt die angehimmelte Tatjana Maik nicht zu ihrer Geburtstagsparty ein, weil Russen, Nazis und Idioten nicht in Frage kommen. Maik, die Schlaftablette, gehört eindeutig zu den letzteren. So wie Tschick, der eigentlich Alexander Tschichatschow heisst, Schlitzaugen hat und des Öfteren hackevoll in die Schule kommt, eben der Russe ist. Schlimmer können Sommerferien nicht beginnen. Doch dann kommt alles anders. Weil Tschick plötzlich mit einem gestohlenen Lada vor der Tür steht und Maik zu einem Trip in die Walachei überredet. Und weil damit eine karten- und planlose Fahrt kreuz und quer durch den wilden Osten Deutschlands beginnt, wie sie abenteuerlicher kaum sein könnte. Jederzeit in Gefahr, als Minderjährige am Steuer ertappt zu werden, schlagen sie sich durch das deutsche Hinterland, zum Soundtrack einer im Lada gefundenen Richard-ClaydermanKassette. Auf ihrer Odyssee begegnen sie verschrobenen, aber auch unerwartet hilfsbereiten Menschen. Zum Beispiel Isa, die sie auf einer Müllkippe kennen lernen und die ihre Superfigur so ungeniert enthüllt, dass Maiks Blut in Wallung gerät, Tatjana hin oder her. Zu guter Letzt bauen die beiden Anti-Helden zwei Unfälle, die sie Kopf und Kragen hätten kosten können. Wenn sie nicht, buchstäblich, Schwein hätten. Zwar ist der Wagen Schrott, für Maik hagelt es zu Hause Schläge, Tschick landet im Heim und beide vor dem Kadi, doch niemand kann ihnen das nehmen, was ihnen dieser Sommer geschenkt hat: neues Selbstbewusstsein und eine aussergewöhnliche Freundschaft. Wolfgang Herrndorf erzählt diese moderne Tom-Sawyer-und-Huckleberry-Finn-Geschichte einfühlsam und klug, ohne zu moralisieren, humorvoll und ganz aus der Sicht und in der Sprache der Protagonisten. Damit ist ihm ein Buch gelungen, das fesselt und berührt, und das man von der ersten bis zur letzten Seite nur ungern aus der Hand legt. Wolfgang Herrndorf: Tschick. Roman. Rowohlt 2010. Fr. 25.90.

Barbara Hodgson: Die Krinoline bleibt in Kairo. Reisende Frauen 1650 bis 1900. Gerstenberg 2007. CHF 23.50.

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Lebenslustig und poetisch: Reiseschriftsteller Nicolas Bouvier. 01

VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

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KIBAG Bauleistungen

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responsAbility, Zürich

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Odd Fellows, St. Gallen

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Coop

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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Velo-Oase Bestgen, Baar

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Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

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Augusta-Raurica-Loge Druidenorden Basel

Kennen Sie das Gefühl, wenn das Reisefieber in einem hochsteigt? Und alsbald die Vernunft kühlend eingreift, indem sie nach dem Warum einer aufwendigen Unternehmung fragt? In seinem Reisebericht «Die Erfahrung der Welt» hält Nicolas Bouvier gleich zu Beginn fest: «Eine Reise braucht keine Beweggründe. Sie beweist sehr rasch, dass sie sich selbst genug ist.» Was er damit meint, wird schnell klar: Von der ersten Zeile an spürt man die Lust am Entdecken, mit welcher sich der damals 23-jährige Genfer in die Reise stürzte. Sein Bericht sprüht vor Lebensfreude, Poesie und Sprachwitz. Die mit wenigen Strichen gezeichneten Beschreibungen von Menschen und Orten sind unverblümt bis unverschämt und dennoch immer liebevoll; seine Erzählungen sind temporeich und äusserst kurzweilig. Das Schmunzeln wird einem zum Dauerbegleiter durch die Lektüre. Vor der Reise war mit seinen Jugendfreund Thierry Vernet ausgemacht, dass sie mit seinem Fiat Topolino in Richtung Indien fahren werden. Gedanken an die Rückkehr machten sie sich laut Bouvier keine: «Wir sagten uns: Vielleicht endet die Reise in Kalifornien, wir hören auf, wenn wir genug haben.» Dazu wollten sie auf dem Weg Musikaufnahmen machen und versuchen, Texte, Fotos und Zeichnungen zu verkaufen. Letzteres war keine Spielerei, sondern pure Notwendigkeit. Denn Geld hatten die zwei gerade mal für die ersten vier Monate. Dies bot ihnen die Chance, Armut am eigenen Leib zu erleben: Zum Beispiel im eisigen Winter von Tabriz im Nordiran, den sie mit einigen wenigen Toman am Tag überstehen mussten. Dafür fand Bouvier auf der Reise seine Bestimmung. Im französischsprachigen Raum wurde er zum Kultautor einer ganzen Generation von Reisenden und Reiseschriftstellern. «L’Usage du Monde», «Der Gebrauch der Welt», nannte Bouvier seinen Bericht im Original. Der Ausdruck deutet auf eine Gebrauchsanweisung hin – eine grobe Untertreibung und Tiefstapelei, was Stil wie Inhalt des Werks anbelangt. Als eine Anleitung zum Reisen lässt sich sein Bericht dennoch lesen: Als Aufforderung, das nächste Mal auf den «Lonely Planet» mit seinen Geheimtipps für die Massen zu verzichten. Und sich stattdessen von Bouvier verführen zu lassen, abseits der ausgetretenen Pfade die Poesie des Reisens zu entdecken.

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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Stellenwerk AG, Zürich

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www.bauernschlau.ch, Hof, Web, Kultur

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Axpo Holding AG, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

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Niederer, Kraft & Frey, Zürich

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Knackeboul Entertainment, Bern

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Locher Schwittay Gebäudetechnik GmbH, Basel

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Responsability Social Investments AG, Zürich

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Lions Club Zürich-Seefeld

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TYDAC AG, Bern

Nicolas Bouvier: Die Erfahrung der Welt. Lenos Verlag 2010. CHF 18.00.

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Klassiker Reisen, um die Welt zu erfahren Seine erste ausgedehnte Reise von Genf nach Afghanistan 1953/ 54 verarbeitete Nicolas Bouvier zu einem grossartigen Bericht, der Fernweh und Lesehunger ebenso stillt wie nährt. VON FLORIAN BLUMER

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Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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Verkäuferporträt Mit Hammer und Meissel Daniel Stutz (38) nimmt die Kundschaft auf der Zürcher Gemüsebrücke mit seinem Lachen für sich ein. Seine Leidenschaft gehört nicht den aktuellen Themen, sondern Fossilien aus uralten Zeiten.

«Ich stehe um etwa halb neun auf. Dafür brauche ich den Wecker. Entweder erwache ich in meinem Zimmer beim Betreuten Wohnen oder bei meiner Freundin. Wir sind seit letztem Jahr zusammen und diese Liebe gab mir neuen Schub. Wenn man sich gut fühlt, mag man auch eher arbeiten. Diese Beziehung hat mir geholfen, wieder bei Surprise einzusteigen. Ich habe schon vor ein paar Jahren eine Zeit lang Hefte verkauft, dann aber wieder aufgehört. Nach dem Zmorge gehe ich ins Vertriebsbüro und so gegen halb elf beginne ich mit dem Verkauf. Momentan mache ich Stellvertretung vor der Migros am Limmatplatz, aber eigentlich liegt mein Verkaufsplatz beim Rathaus an der Gemüsebrücke. Dort stehe ich seit letztem Dezember. Am Anfang lief es ein wenig harzig. Es verkehren viele Touristen dort, die kaufen kaum mal ein Heft. Unterdessen aber verkaufe ich je länger, je besser und habe einige Stammkunden gewinnen können. Freundlichkeit ist das Wichtigste beim Verkaufen. Eine gute Ausstrahlung hilft enorm. Ich habe auch schon von Kunden gehört: ‹Bei Ihrem Lachen kann ich nicht widerstehen.› Um drei mache ich Mittag, danach biete ich noch mal ein paar Stunden das Magazin an. Nach dem Feierabend gehe ich jetzt im Som-

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AUFGEZEICHNET VON RETO ASCHWANDEN

mer gern im See baden. Dann mit dem Velo zur Freundin, wo wir Znacht kochen. Später sitzen wir zusammen, manchmal schauen wir ein bisschen fern, aber das ist für mich nur ein Zeitvertreib. Was mich wirklich interessiert, sind Fossilien. Deshalb besuchte ich nach der Kindheit in Schwamendingen das Gymnasium: Ich wollte an die Uni, um Paläontologie zu studieren, denn Fossilien und Saurier haben mich schon als Kind fasziniert. Leider habe ich die Schule vor der Matura abgebrochen. Dann rutschte ich in die Spielsucht, konnte an keinem Automaten vorbeigehen. Vor ein paar Jahren wurden die zum Glück verboten. Es hat mir beim Loskommen geholfen, dass ich die Kästen nicht mehr dauernd vor Augen hatte. Während der Spielsucht arbeitete ich in verschiedenen Temporärjobs. Besonders motiviert war ich dabei nicht, denn ich fragte mich dauernd: Wozu, wenn das Geld sowieso wieder im Automaten landet? In meiner Freizeit mache ich in einem geologisch-paläontologischen Arbeitskreis mit. Das sind interessierte Laien, die ehrenamtlich bei Ausgrabungen mithelfen. Da rutschen wir dann auf den Knien mit Pinseln in der Hand über den Boden und legen Fossilien frei. Dabei komme ich in Kontakt mit Forschern und lerne immer wieder etwas dazu. Ich gehe auch ger-

ne alleine auf Steinsuche. Ideal dafür ist der Jura, doch liegt das Bahnbillet finanziell meistens nicht drin. Im Jura findet man viele Versteinerungen, besonders in alten Steinbrüchen. Im Rucksack habe ich Hammer und Meissel dabei und wenn eine Stelle vielversprechend ausschaut, fange ich an, die Schichten zu spalten. Das ist erlaubt, sofern man das vorher abklärt. Früher habe ich jeden Fund heimgetragen, heute bin ich wählerischer. Am meisten Freude habe ich an versteinerten Fischen und Ammoniten. Das waren Kopffüsser mit einem schneckenartigen Gehäuse. Die sind schon lange ausgestorben, allerdings gibt es heute den Nautilus, den man als Verwandten der Ammoniten betrachten kann. Die Funde bearbeite ich daheim weiter mit kleineren Hämmern und Meisseln oder bei der Feinarbeit auch mit Nadeln. Das braucht viel Geduld, aber für diese Beschäftigung bringe ich die problemlos auf. Die schönsten Stücke stelle ich in die Vitrine, andere landen in Schachteln und Schubladen. Im Moment bin ich recht zufrieden mit meinem Leben. Ich habe zurück in den Alltag gefunden, gewöhne mich wieder an eine Tagesstruktur. Ich könnte mir vorstellen, irgendwann die Matura nachzuholen. Vielleicht wird es ja doch noch was mit dem Paläontologiestudium.» ■ SURPRISE 254/11


Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

Fatima Keranovic Baselland

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Programm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

Jovanka Rogger Zürich

René Senn Zürich

Kurt Brügger, Basel Anja Uehlinger, Baden Peter Hässig, Basel Andreas Ammann, Bern

Tatjana Georgievska, Basel Peter Gamma, Basel Marlies Dietiker, Olten

Ausserdem im Förderprogramm SurPlus: Marika Jonuzi, Basel Bob Ekoevi Koulekpato, Basel Jela Veraguth, Zürich Wolfgang Kreibich, Basel

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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1 Monat: 500 Franken

254/11 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 254/11

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

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Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel www.strassenmagazin.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Geschäftsführung Paola Gallo, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@strassenmagazin.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost (Nummernverantwortliche) redaktion@strassenmagazin.ch Ständige Mitarbeit Alexander Jungo (Korrektorat), Delia Lenoir, Irene Meier, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Davide Caenaro sowie Melinda Nadj Abonji, Lukas Bärfuss, Ingeborg Kaiser, Milena Moser, Ingrid Noll, Stephan Pörtner, Kristin T. Schnider, Clemens Setz Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 29 400, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 61 Theres Burgdorfer, t.burgdorfer@strassenmagazin.ch

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die vom gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27 Zoë Kamermans, Patrick Würmli, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@strassenmagazin.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@strassenmagazin.ch Strassensport T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller l.biert@strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Dazu passend: Leichtes T-Shirt, 100%Baumwolle, für Gross und Klein.

Endlich wieder Sommer! Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Herren CHF 25.– S (schmal geschnitten) Kinder CHF 20.– XS S Alle Preise exkl. Versandkosten.

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50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch

Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.

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Surprise Rucksäcke (32 x 40 cm); CHF 89.– schwarz rot

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch SURPRISE 254/11

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Von Aarberg bis Zuoz. Surprise gibt es beim Strassenhändler Ihres Vertrauens. Oder im Abo per Post.

24 Ausgaben für 189 Franken oder als Gönner-Abo für 260 Franken. Gutes lesen, Gutes tun und gleich bestellen! www.strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch, Spendenkonto PC 12-551455-3 Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99


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