Surprise Strassenmagazin 256/11

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Klima-Abgrund Warum wir wegschauen

Diagnose Dyskalkulie: Zahlensalat im Oberstübchen

Kein Platz für Choi Mi-Sook – adoptierte Koreanerinnen auf Heimatsuche

Nr. 256 | 12. bis 25. August 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Macht stark.

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Wenn gemäss wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Chance von neun zu zehn bestünde, dass Ihr Flugzeug abstürzen wird, würden Sie dann einsteigen? Vielleicht eher nicht. Was, wenn gemäss wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Chance von neun zu zehn besteht, dass wir mit unserem Öl- und Kohle-intensiven Lebensstil eine Klimaerwärmung verursachen, die die Menschheit in ihren Grundfesten bedroht? Steigen Sie noch in ein Flugzeug? Dass der Klimawandel stattfindet und eine ernsthafte Bedrohung für die zukünftigen Generationen darstellt, ist unter Klimaforschern unbestritten. Diese Behauptung mag erstaunen, da in Zeitungen und Magazinen immer wieder «Wissenschaftler» zu Wort kommen, die die Erderwärmung, den Menschen als deren Ursache oder die prognostizierten Folgen anzweifeln. In einem falsch verstandenen Bestreben nach FLORIAN BLUMER Ausgewogenheit verschaffen die Medien so Pseudo-Wissenschaftlern und Lobbyis- REDAKTOR ten eine Plattform und lassen bei der Bevölkerung einen falschen Eindruck entstehen. Und erleichtern uns damit, ohne allzu schlechtes Gewissen bei unseren alten, klimaschädigenden Gewohnheiten zu bleiben. Nicolas Gruber, ETH-Professor für Umweltphysik und Klimaexperte, gibt zu, dass selbst er Mühe hat, die Theorie klimafreundlichen Verhaltens in seinem Alltag zur Praxis zu machen. Auch sein Kollege René Schwarzenbach gibt «Klimasünden» zu. Warum sie der Meinung sind, dass wir die Hoffnung dennoch nicht aufgeben sollten, lesen Sie in unserer Titelgeschichte. «Mathe ist ein Arschloch» stand auf einer Postkarte, die ich vor einer Weile in einer Papeterie entdeckte. Gehören auch Sie zu denjenigen, die in den geisteswissenschaftlichen Fächern glänzten, in Mathematik aber regelmässig Zweier kassierten? Sie gehörten nicht zu denen, die daraus eine Tugend machten und ihre Unfähigkeit für cool erklärten, sondern Sie zweifelten an Ihrer Intelligenz? Unsere Autorin, selbst Betroffene, fand heraus, dass Ihr Durcheinander mit Zahlen vielmehr daran gelegen haben könnte, dass sich Ihr Lehrer zu wenig für Ihre Fehler interessiert hat. Irina Müllers Problem sind nicht Zahlen, sondern Buchstaben. Und zwar diejenigen der Sprache, die man in ihrem Geburtsland spricht. «Ich bin adoptiert. Ich spreche kein Koreanisch.» Mit diesen Zeilen in koreanischen Schriftzeichen auf ihrem Handy machte sich die Schweizerin auf Spurensuche in ihrem Herkunftsland – ein Land, das noch heute seine unehelichen Kinder ins Ausland abschiebt. Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre. Herzlich, Florian Blumer

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 256/11

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BILD: ZVG

Titelbild: Keystone, Peter Schneider Auftauender Permafrost und der sich zurückziehende Gletscher liessen im Sommer 2005 den Hang unterhalb des Bergrestaurants Stieregg ob Grindelwald abrutschen.

Editorial Mathematik und andere Katastrophen


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10 Klimawandel Keine Glaubensfrage BILD: DAVIDE CAENARO

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Inhalt Editorial Katastrophen Basteln für eine bessere Welt Für Warmduscher Aufgelesen Obdachlose Frauen Zugerichtet Delirium Strassenmagazine Global So war die Konferenz in Glasgow Porträt Optimist trotz Behinderung Kurzgeschichte Rudolf Bussmann: Schon drei Wörter von Pörtner Wenn die Massen auflaufen Goa Techno-Hippies Kulturtipps Twitteratur Ausgehtipps Frauenabend in Winterthur Verkäuferporträt Kein hoffnungsloser Fall Programm SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

Der Atomausstieg war nach Fukushima schnell beschlossen. Griffige Massnahmen gegen die Erderwärmung lassen jedoch weiter auf sich warten – trotz schmelzenden Gletschern und bröckelnden Bergen. Im Doppel-Interview erklärt ETH-Klimaforscher Nicolas Gruber, warum wir erst um fünf nach zwölf zu handeln beginnen werden und was das für die Schweiz bedeutet; sein Kollege René Schwarzenbach erläutert, was die Wissenschaft tun müsste, um gehört zu werden.

14 Matheschwäche Rechnen ungenügend ILLUSTRATION: PATRIC SANDRI

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Geografie gut, Deutsch sehr gut, Mathe miserabel. Die Rechenschwäche Dyskalkulie macht Schülern den Unterricht zur Hölle. Und sorgt bei manchen auch im Erwachsenenalter noch für Kopfzerbrechen. Dabei könnte vielen Betroffenen der Knopf schon früh aufgehen – wenn das Problem rechtzeitig erkannt wird.

BILD: LUC-FRANÇOIS GEORGI

16 Adoption Auf Wurzelsuche Südkorea gilt als Ursprungsland der modernen internationalen Adoption. Die Siebziger waren die Boomjahre der internationalen Vermittlung von Kindern. Doch noch heute werden koreanische Kinder im grossen Stil weggegeben – nur weil ihre Mütter bei der Geburt ledig waren. Eines dieser Kinder ist Irina Müller. Auf Reisen in ihr Herkunftsland versuchte sie mehr herauszufinden über das Kind, das sie einst war. Doch die Suche nach der eigenen Identität ist auch eine Reise in die innere Zerrissenheit.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

1. Nehmen Sie eine Metalltonne und malen Sie sie innen und

2. Wenn die Farbe trocken ist, bohren Sie ein Loch in den oberen

aussen schwarz an.

Teil der Tonne und stopfen es mit einem Weinkorken wieder zu. Sollten Sie noch irgendwo einen alten Wasserhahn herumliegen haben, umso besser.

3. Legen Sie eine Glasscheibe auf die Tonne. Diese wärmt das Wasser zusätzlich auf und verhindert, dass es verdampft. Da warmes Wasser leichter ist als kaltes, können Sie durch das Loch immer das aufgewärmte Wasser entnehmen. Ob Sie nun lieber darin baden oder damit den Abwasch machen, sei Ihnen überlassen. Wir wollen aber nicht mehr hören, Klimaschutz sei nicht sexy!

Basteln für eine bessere Welt Die Wissenschaft ist noch etwas ratlos, wie sie uns Massnahmen gegen den Klimawandel schmackhaft machen soll: Im Interview ab Seite 10 lernen wir, Klimaschutz sei nicht sexy. Na, wir hätten da mal eine Idee! Den Heisswasserhahn aufdrehen kann jeder. Was aber, wenn Sie Ihren Schatz zum Bad im quasi eigenhändig aufgewärmten Wasser einladen? SURPRISE 256/11

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Mathe ist nicht doof Nürnberg. In diesem Surprise zu lesen: Wenn die Schüler Mathe nicht begreifen, so liegt es oft am Unterricht. Ganz anders bei der 44-jährigen Sabine Teibach: Wenn Sie Aushilfe gebe, dann hiesse es jeweils von Seiten der Schüler: «Machen wir Mathe!» Wie sie das schafft? «Ich mache Mathe zum Anfassen», sagt Teibach. Sachaufgaben werden durchgespielt, es wird viel diskutiert. Die selbstgestellte Rechenaufgabe, wie viele Hamster in zehn Jahren Paarung aus einem Pärchen entstehen, konnte allerdings auch sie nicht aus dem Stegreif beantworten.

Frauen im Container Hamburg. Obdachlos. Haben Sie auch intuitiv einen älteren Mann mit grauem Rauschebart vor Augen? Mehr als ein Fünftel der Hamburger Obdachlosen sind jedoch Frauen, Tendenz steigend. Sie hätten besondere Bedürfnisse, sagt Andrea Hiepnek, so seien sie psychisch ganz anders belastet als Männer, litten stärker unter Schuldgefühlen und der Trennung von ihren Kindern. Hiepnek leitet ein Containerdorf speziell für Frauen. Als einzige Bedingungen müssen die Bewohnerinnen Putzdienste versehen und auf Männerbesuche verzichten.

Dürrenmatt verprügelt Hannover. «Wer war eigentlich … Friedrich Dürrenmatt?» fragt das norddeutsche Strassenmagazin «Asphalt» in seiner Porträtrubrik. Es finden sich darin Sachen, die auch dem Durchschnittsschweizer nicht bekannt sein dürften. Zum Beispiel: Dürrenmatt war sich stets sicher, eher auf das Schreiben als auf das Malen verzichten zu können. Und: Er war in der Schulzeit regelmässig verprügelt worden.

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Zugerichtet Blackout Im Januar 2009 verliess ihn seine Frau. Den Trennungsschmerz ertränkte Benni W.* im Alkohol. Die folgenden Monate verbrachte er im Vollrausch. Er sagt, er habe nur noch daheim gesessen und «in den Tag hineingesoffen». Gemacht habe er gar nichts. Nur eine Reihe von Straftaten. Deshalb steht er jetzt vor Gericht. Das gelichtete Haar trägt Herr W. zu einem Rossschwanz gebunden, dazu ein schwarzer Polyesteranzug und weisse Tennissocken in Mokassins. Im Gesicht des 48Jährigen kann man die Spuren des jahrelangen Trinkens erkennen. Zu den Vorwürfen des Staatsanwalts möchte sich Herr W. nicht äussern. Er erklärt einfach, er sei ständig so betrunken gewesen, dass er sich an gar nichts erinnern könne. Das Scheidungsjahr ging damit weiter, dass Herr W. im März den Wohnwagen seiner Schwiegereltern in Brand setzte. Sein Motiv war wahrscheinlich Wut, seine Ex hatte sich zu ihnen geflüchtet. Herr W. lehnt sich zurück und sagt, er könne sich zwar nicht vorstellen, dass er so etwas getan habe, aber er könne es auch nicht geradewegs abstreiten, wegen des Alkohols. Leugnen wäre auch zwecklos, ein Kanister mit Benzinresten wurde auf dem Campingplatz gefunden. Mit seinen Fingerabdrücken. Ein paar Monate später, im August, stahl Herr W. dann seinem Nachbarn die Autoschlüssel. Er fuhr mit dem alten Opel etwas herum und liess ihn auf einem Feldweg stehen. Herr W. will sich wieder an nichts erinnern. Doch der Nachbar weiss ganz genau, dass der Angeklagte ihn an jenem Abend

besucht hatte, «betrunken wie immer». Dabei müsse der W. die Schlüssel eingesteckt haben. Im Wagen wurden später Bierflaschen und Schmuddelheftli gefunden, mit seinen Fingerabdrücken. Zwischendurch ging Herr W., von Beruf gelernter Elektromonteur, immer wieder einmal zum Elektrodiscounter. Er stellte sich dort als Mitarbeiter einer Installationsfirma vor und nahm auf deren Rechnung elektronische Geräte mit, insgesamt im Wert von über 6000 Franken. Auch hierzu sagt Herr W. nur, er könne sich das nicht vorstellen. Leider erkannten die Mitarbeiter des Geschäfts Herrn W. wieder. Sie erinnerten sich auch an sein «besonderes Merkmal»: Er roch nach Alkohol. An die Fahne erinnerte sich auch noch ein Garagist. Von ihm liess sich Herr W. im Oktober einen Gebrauchtwagen vorführen. Dabei bekam er kurz die Autoschlüssel in die Finger und tauschte sie gegen ein anderes Paar aus. In der Nacht darauf war das Auto weg. Ein paar Tage später flog Herr W. auf, als er in einen Unfall verwickelt wurde. In seinem Wagen erblickten die Polizisten lauter Schnapsfläschchen. Auf der Wache stellten sie fest, dass Herr W. 3,2 Promille im Blut hatte. An dem Unfall traf ihn dennoch keine Schuld. Er stand vorschriftsgemäss an einer roten Ampel, als ihn ein anderer Wagen rammte. Aber natürlich besass er keine Autopapiere und das Billett hatte man ihm schon vor Jahren entzogen. Trotz mehrerer Vorstrafen findet Benni W. einen gnädigen Richter, für alles zusammen muss er 20 Monate ins Gefängnis. *Persönliche Angaben geändert. ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 256/11


BILDER: ZVG

Surprise-Geschäftsleiterin Paola Gallo (rechts) mit Ilse Weiss vom «Strassenkreuzer» aus Nürnberg und Michaela Gründler von «Apropos» aus Salzburg.

Neu im Sortiment: Strassenzeitungen aus Korea (oben links) und Polen (unten Mitte).

INSP-Jahreskonferenz Strassenzeitungen global

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch

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cher Strassenverkäufers Paul Pavlovic demnächst in der «Big Issue Korea» erscheinen, bei uns konnten Sie wiederum in den letzten Heften Geschichten aus dem Erdbebengebiet in Japan oder dem neu gegründeten Staat Südsudan lesen. Die Antwort auf die eingangs erwähnte Frage ist übrigens die wohl begehrteste unter Redaktoren weltweit. Unser Eindruck, dass Sie – getreu unserem Namen – Überraschungen mögen, kam bei den Kollegen schon mal gut an. Doch so genau wissen wir es auch nicht. Sie, liebe Leserin, lieber Leser, haben gefehlt an der Konferenz. Schreiben Sie uns Ihre Meinung! Und beteiligen Sie sich damit auch aktiv im globalen Netz der Strassenzeitungen. (fer) ■

Die Teilnehmer aus sechs Kontinenten – ganz links INSP-Chairman Serge Lareault aus Kanada.

Redaktor Florian Blumer posiert mit dem Stadtpräsidenten von Glasgow.

BILD: ANDREA GANZ

Was wollen unsere Leser? Dies war eine der Fragen, die an der jährlichen Konferenz des internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen (INSP) in Glasgow heiss diskutiert wurden. Rund 80 Vertreter von Strassenzeitungen rund um den Globus trafen sich Mitte Juli am Hauptsitz des Netzwerks, um sich auszutauschen, Verbindungen zu knüpfen und an konkreten Themen zu arbeiten. Ein zentrales Thema war der in Zusammenarbeit mit der weltweit tätigen Nachrichtenagentur Thomson Reuters erarbeitete Relaunch des Nachrichtendiensts SNS (Street News Service). Über diesen tauscht auch Surprise mit anderen Strassenzeitungen Artikel aus. So wird zum Beispiel unser Porträt des blinden Zür-

Starverkäufer Urs Habegger Silvia Riesen aus Rapperswil nominiert Urs Habegger als Starverkäufer: «Urs Habegger ist ein ganz besonderer Starverkäufer! Er steht in der Rapperswiler Bahnhofsunterführung, lächelt allen höflich zu und hat immer Zeit für ein Gespräch. Er gibt immer wieder gerne etwas von den ‹empfangenen Freundlichkeiten› zurück. So begleitete er viele Kinder beim letzten Ferienpass. Mitte Juni besuchte uns Herr Habegger mit seiner Gitarre im Schulhaus und sang für und mit mehr als 60 Erstklässlern viele lustige und fetzige Lieder. Es war einfach super!! Ich freue mich auf viele weitere Begegnungen mit Urs Habegger, sei es singend oder plaudernd.»

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Porträt Endlich auf den Gurten Wolfgang Peters kam mit einer cerebralen Bewegungsstörung zur Welt. Er musste immer wieder hart für seine Selbstständigkeit kämpfen und schwere Rückschläge hinnehmen. Trotzdem bleibt er Optimist. VON MONIKA BETTSCHEN (TEXT) UND ANNETTE BOUTEILLER (BILD)

«Fünf Meter unter uns liegen die Überreste einer gallo-römischen Siedlung», erzählt Wolfgang Peters und deutet auf eine grosse Wiese unmittelbar neben dem Wohnheim der Stiftung Rossfeld in Bern. «Als in den Achtzigerjahren eine neue Turnhalle mit Hallenbad gebaut wurde, stiess man auf antike Tongefässe und sogar auf Teile von Skeletten.» Etliche Male habe er in jener Zeit die Ausgrabungsstelle aufgesucht, sich mit den Archäologen unterhalten und dadurch viel über diesen geschichtsträchtigen Boden erfahren. Und wie die Geschichte des Rossfeld, so ist auch jene von Wolfgang Peters eine bewegte. Bei der Geburt wickelte sich die Nabelschnur um seinen Hals. Der Sauerstoffmangel im Gehirn führte zu einer cerebralen Bewegungsstörung. Mit erst fünf Wochen gaben ihn seine Eltern in ein Kinderheim. «Ich vermute, dass sie mit meiner Behinderung damals nicht zurechtgekommen sind», so Peters nachdenklich. Genau weiss er es bis heute nicht. Als fünfjähriger Bub kam er in ein Schulheim für behinderte Kinder in Siders im Wallis. «Die Institution wurde dazumal von Ordensschwestern geleitet und durch eine von ihnen habe ich eine Familie kennen gelernt, die mich bei sich aufgenommen hat. Das waren meine ersten richtigen Bezugspersonen.» Wenn er von seiner Familie spreche, so meine er in erster Linie sie. Mit den leiblichen Eltern verlief der Kontakt während Jahrzehnten unregelmässig. Manchmal herrschte jahrelang Funkstille, manchmal standen sie unangekündigt vor der Tür, nur um sich nach kurzem Aufenthalt abrupt auf unbestimmte Zeit zu verabschieden. «Dieses Hin- und Her brachte mein Leben oft gehörig durcheinander», sagt Peters. Seit einigen Jahren sind beide Eltern tot. Wolfgang Peters hat sich dafür eingesetzt, dass sie in einem Gemeinschaftsgrab einer am Aareufer gelegenen Kapelle nahe des RossfeldQuartiers beerdigt werden konnten. So schloss er ein grosses Kapitel der gemeinsamen Vergangenheit in innerem Frieden. Die cerebrale Behinderung des gross gewachsenen 46-Jährigen mit dem wachen, festen Blick fällt im ersten Moment kaum auf. Im Gespräch wird dann klar, dass ihm das Sprechen Mühe bereitet. Daher wählt er jedes Wort mit Bedacht und besonderer Sorgfalt, legt kurze Pausen ein und lässt die Sätze reifen, bevor er sie ausspricht. Die grösste Einschränkung im Alltag komme nicht von der verlangsamten Aussprache, sondern von der reduzierten Feinmotorik in den Händen. Ab und zu fährt ein verhaltenes Zittern von den Schultern durch seine Arme hindurch und erschwert ihm das Greifen kleinerer Gegenstände. «Ich habe mich davon nicht unterkriegen lassen, sondern Wege gefunden, wie ich trotzdem mit dem Computer schreiben, selber essen oder trinken kann», sagt Peters. «Wäre bei meiner Geburt die Sauerstoffversorgung des Gehirns noch länger unterbrochen gewesen, könnte ich vielleicht weder sprechen noch gehen. So gesehen hatte ich grosses Glück!» Durch eine Glaswand im Erdgeschoss der Stiftung Rossfeld zeigt Peters stolz seinen Arbeitsplatz: Ein lichtdurchflutetes Grossraumbüro, in

dem konzentrierte Geschäftigkeit herrscht. Seit 1990 arbeitet er hier, seit letztem Jahr im Bereich Treuhand. Die Ausbildung zum Büroangestellten hat er an der kaufmännischen Berufsschule der Stiftung absolviert. «Ich arbeite sehr gerne mit Zahlen und kann allgemein gut planen.» Dank diesem Flair sei er in der Lage, selbstständig mit Behörden zu kommunizieren, zum Beispiel, wenn es um die IV, die Steuern oder die Ausgleichskasse gehe. «Ich weiss da immer, von was die Rede ist und kann hartnäckig sein, damit meine Anliegen berücksichtigt werden.» Selbstständigkeit sei ihm schon von Kindheit an äusserst wichtig gewesen. So kämpfte er im Wallis erfolgreich dafür, dass er die öffentliche Orientierungsschule als damals erster Schüler gemeinsam mit nicht behinderten Jugendlichen besuchen konnte. «Es ist wichtig, sein eigenes Potenzial zu nutzen, ob man nun eine Behinderung hat oder nicht», betont Peters. Als Ausgleich zur Arbeit und zum Alltag erkundet Peters seit einem Jahr die umliegende Gegend mit einem E-Bike. Bewegung bedeute ihm sehr viel, vor allem seit einem Unfall vor zwei Jahren. Bei einem Spaziergang durch die Stadt stürzte er und verletzte sich an der Schulter derart, dass er nach 23 Jahren seine eigene Wohnung aufgeben musste. Das Gelenk wurde operiert und ist bis heute noch nicht vollständig ausgeheilt. «Die Aufgabe meiner Wohnung und der Umzug ins Wohnheim Rossfeld waren eine grosse Umstellung, aber der Entscheid war richtig», meint er rückblickend. «Das Schöne in meinem Leben ist, dass ich ein grosses Netzwerk habe», sagt Peters. Deshalb fahre er so oft wie möglich ins Wallis und besuche dort Familie, Freunde und Bekannte. Überhaupt: Offenheit und viele gute Gespräche seien etwas vom Wichtigsten. «Gerade behinderten Menschen lege ich ans Herz, den Kontakt auch mit nicht Behinderten aktiv zu pflegen. Das Leben ist zu wertvoll, um es in einem Schneckenhaus zu verbringen.»

«Das Leben ist zu wertvoll, um es in einem Schneckenhaus zu verbringen.»

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Seit einem Jahr bewohnt Peters im Wohnheim Rossfeld ein Zimmer mit Balkon im sechsten Stock, von wo aus man einen herrlichen Ausblick über Hauptstadt und Hügel geniesst. In der Ferne braust leise der Nachmittagsverkehr über die Autobahn. Wolfgang Peters blickt Richtung Berner Hausberg Gurten und schmunzelt. «Sie werden mir kaum glauben, aber nun lebe ich schon seit 29 Jahren in Bern und war noch nie dort oben. Das möchte ich diesen Sommer endlich ändern.» ■

Cerebral Die Schweizerische Stiftung für das cerebral gelähmte Kind feiert dieses Jahr ihr 50-Jahr-Jubiläum. Neben Wolfgang Peters unterstützt Cerebral über 8700 weitere Familien und ihre cerebral gelähmten Angehörigen. www.cerebral.ch

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Wissenschaft «Klimaschutz ist nicht sexy»

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Während unter den Klimaforschern Einigkeit herrscht, dass die Lage bedrohlich ist, hält nicht einmal die Hälfte der EU-Bürger die Erderwärmung für ein ernsthaftes Problem. Hat die Wissenschaft versagt? Die ETH-Professoren René Schwarzenbach und Nicolas Gruber nehmen Stellung.

VON FLORIAN BLUMER (INTERVIEW) UND DAVIDE CAENARO (BILDER)

Kürzlich war in der «Basler Zeitung» ein Artikel des US-amerikanischen Hurricane-Forschers Bill Gray zu lesen, in welchem dieser den Klimawandel anzweifelt. Immer wieder sind solche Stimmen zu hören. Wie sicher sind Sie sich, dass der Klimawandel tatsächlich stattfindet und der Mensch mit seinem CO2-Ausstoss daran schuld ist? Nicolas Gruber: Dass der Klimawandel stattfindet, darüber ist man sich praktisch sicher. Ich stütze mich dabei auf die Erkenntnisse des Klimarats IPCC, eines internationalen Gremiums, das im Auftrag der Regierungen – die die Berichte übrigens auch genehmigen müssen – den Stand der Wissenschaft zusammenfasst. Und die Wahrscheinlichkeit, dass der in den letzten 50 Jahren beobachtete Klimawandel die Folge des von den Menschen verursachten CO2-Ausstosses ist, wird im letzten IPCC-Bericht mit 90 Prozent beziffert. René Schwarzenbach: Und das ist eine konservative Annahme. Ja, das ist der Konsens. Und ich würde sagen, neun von zehn ist eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit: Wenn Sie eine Chance von neun zu zehn haben, dass Ihr Haus abbrennt, werden Sie ziemlich schnell etwas dafür unternehmen, dass es geschützt wird. Ich hätte hier gerade mal eine Frage ... Nur zu! Was ist eigentlich die Motivation dieser Klimaforscher, dermassen scharf gegen ihre Kollegen vorzugehen? Ich denke, man muss klar unterscheiden. Einerseits gibt es Atmosphärenwissenschaftler wie Bill Gray oder Dick Lindzen, die die Materie verstehen. Sie sind geleitet vom Gedanken: Wenn alle in der Wissenschaft der gleichen Meinung sind, machen wir keine Wissenschaft mehr. Sie haben zum Teil auch valable Argumente, schiessen aber oft weit übers Ziel hinaus. Es ist übrigens überhaupt nicht so, dass wir im IPCC alle gleicher Meinung sind, das ist ein völlig falsches Bild. Es gibt innerhalb der Wissenschaft sehr starke Pole, zum Beispiel beim Thema Hurricanes. Aber keiner der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die an dieser Diskussion beteiligt sind und auch aktiv zum Thema arbeiten und publizieren, würde sagen, dass der Klimawandel nicht stattfindet.

kussion, oft sind es Pseudo-Wissenschaftler, teilweise genau dieselben Leute und Organisationen sind, die früher schon gegen die Erkenntnis ankämpften, dass das Rauchen zu Krebs führt. Dann gibt es in Amerika eine Reihe von Lobby-Organisationen, die aus Prinzip gegen jegliche Einschränkung der Privatsphäre und gegen den Staat ankämpfen. Und es gibt natürlich auch handfeste Interessenvertreter, zum Beispiel im Dienste der Erdölvereinigung. Kurz nach Fukushima wurde in der Schweiz der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen, die zuvor noch als Retterin vor der Erderwärmung gehandelt wurde. Was heisst das für den Klimawandel? Es war auf jeden Fall erstaunlich für mich zu sehen, wie schnell der Bundesrat und der Nationalrat entschieden hatten – im Vergleich zum Thema Klimaschutz, wo man schon sehr lange am Üben ist. Es ist noch nicht klar, ob der Atomausstieg auf Kosten des Klimawandels gehen wird, aber ich mache mir Sorgen, dass der Klimaschutz am Schluss hinten runterfällt. Es ist natürlich immer so, dass man eher bereit ist, sofort zu handeln, wenn man etwas unmittelbar vor Augen hat, wie jetzt bei den Bildern der Atomkatastrophe von Fukushima oder damals nach Schweizerhalle oder bei anderen Chemiekatastrophen. Beim Klimawandel ist das ein bisschen anders. Die warmen Winter im letzten Jahrzehnt lösten bei vielen ein ungutes Gefühl aus. Wenn aber wieder einmal ein kalter Winter kommt, so wie der letzte, scheint dieses Gefühl schnell verflogen zu sein. Was könnte denn zu einem längerfristigen Umdenken führen? Ich hoffe, dass es unsere Vernunft ist! Klar, es braucht Zeit und natürlich, wenn es einmal warm ist und dann auch wieder kälter, was in der Natürlichkeit des ganzen Prozesses liegt, dann geht der Klimawandel

«Bei einer Chance von neun zu zehn, dass Ihr Haus abbrennt, werden Sie schnell etwas unternehmen, damit es geschützt wird.» Nicolas Gruber

Und andererseits?

schnell wieder vergessen. Aber wenn wir ein paar Jahrhundertsommer wie denjenigen von 2003 hintereinander haben, dann wird schon was passieren. Ich hoffe, dass wir ein solches Aufrütteln nicht brauchen werden, denn die negativen Folgen einer solchen Serie von Hitzesommern auf Europa oder sonst eine Region wären verheerend.

Die Klimahistorikerin Naomi Oreskes zeigte in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Merchants of Doubt» auf, dass die Skeptiker in der Klimadis-

Wobei, es gibt Gegenden auf der Welt, die schon seit Langem unter dem sich verändernden Klima leiden. Man liest ja immer wieder «Noch

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Nicolas Gruber: Klimaverträglich wäre eine Tonne CO2 pro Kopf jährlich.

René Schwarzenbach: Wissenschaftler müssen in die Öffentlichkeit.

nie dagewesene Dürre» oder «Jahrhundertfluten». Es ist ja so, dass die Klimaveränderung ganz unterschiedliche Auswirkungen an verschiedenen Orten auf der Welt hat. Es kann zum Beispiel auch durchaus sein, dass es irgendwo viel mehr schneit als bis jetzt, weil sich gewisse Wettersysteme umstellen. Vielleicht müsste man das noch besser kommunizieren.

strauen zwischen der Wissenschaft und den Politikern, aber auch gegenüber Wirtschaftsführern und der Gesellschaft ganz allgemein. Ich denke, die Wissenschaft wird zwar nicht per se als negativ wahrgenommen, aber wenn sie eine schlechte Botschaft hat, heisst es schnell, ja die «chäibe» Wissenschaftler (lacht) – die sollen Wissenschaft machen und sich nicht einmischen. Aber Wissenschaftler sind ja auch Mitglieder dieser Gesellschaft und ich denke, es ist enorm wichtig, dass wir diese beiden Aspekte auf eine gute Art zusammenbringen können.

In der Kommunikation scheint die Wissenschaft tatsächlich ein Problem zu haben: Laut einer EU-Studie hält mehr als die Hälfte der EU-Bürger den Klimawandel nicht für ein ernst zu nehmendes Problem. Was muss die Wissenschaft tun, damit ihre Erkenntnisse auch in der Bevölkerung ankommen? Es gibt zwei Punkte: Steter Tropfen höhlt den Stein. Wir müssen das Thema immer wieder bringen, in verschiedenen Formen. Ich bin kein Fan von Alarmismus, aber zwischendurch braucht es wohl auch das. Das andere wäre, zu zeigen: Wie können wir überhaupt etwas gegen den Klimawandel tun? Beim Klimawandel haben wir ein grosses Problem: Es ist schwierig, den Leuten einen so komplexen Sachverhalt einleuchtend zu erklären. Ein Ansatz ist das Buch «Mensch Klima!», das wir eben herausgegeben haben (siehe Kasten). Auch müssen noch mehr geeignete Leute aus der Wissenschaft in der Öffentlichkeit auftreten. Und die Politik? Das ist ein weiterer ganz wichtiger Punkt: Es herrscht ein gewisses Mis-

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Nicolas Gruber, sie treten schon länger zum Thema Klimawandel in der Öffentlichkeit auf. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Mein Eindruck ist, dass die Mehrheit der Leute zwar nicht bis ins letzte Detail einschätzen kann, was der Klimawandel für sie bedeuten wird, aber dass sie eigentlich wissen, worums geht. Meiner Meinung nach, und da kann ich auch von mir selbst ausgehen, liegt das grosse Problem darin, aus dem Wissen eine Handlung abzuleiten. Bin ich wirklich bereit, etwas anders oder gar nicht mehr zu machen nur wegen des Klimawandels? Es ist so einfach, wie bisher weiterzumachen. Bei der Umsetzung, da sind wir einfach noch ganz am Anfang. Ich bin selber keine Ausnahme, auch ich kämpfe damit. Und wenn ich es schon nicht hundertprozentig umsetzen kann, wie viel schwieriger ist es dann für jemanden, der nicht das Wissen in diesem Umfang hat? Die Frage ist: Wann ist man emotional bereit, das auch durchzuziehen und beispielsweise zu sagen, von jetzt an fahre ich nicht mehr Auto? Ich bin am Punkt, dass ich kaum noch Auto fahre, aber dafür esse ich Fleisch und begehe auch andere «Sünden». SURPRISE 256/11


Was macht es denn so schwer, effektive Massnahmen zu ergreifen?

«Ich fahre kaum noch Auto, aber dafür esse ich Fleisch und begehe andere ‹Sünden›». René Schwarzenbach

Der Wandel, der nötig ist, greift sehr tief in unsere Gesellschaft ein. Was wir machen müssten, kostet zumindest am Anfang mehr, es wird etwas verboten, alles hat eine negative Konnotation. Klimaschutz ist, etwas salopp gesagt, nicht sexy, er macht keinen Fun. Die meisten Leute in der Schweiz und auch das Parlament haben gesagt: Ja, der Klimawandel existiert, wir müssen etwas dagegen machen. Wir haben mittlerweile auch einen Verfassungsartikel dazu und Gesetze für die Umsetzung. Aber wo es ans Eingemachte geht, wenn es heisst, wir können nicht mehr so viel Auto fahren oder wenn, dann solche, die weniger Treibstoff verbrauchen, da hört es dann plötzlich auf. Das klingt düster. Haben Sie überhaupt noch Hoffnung? (Beide lachen.) Ich bin ein Optimist, wir werden das Problem angehen. (Pause) Aber es wird Zeit brauchen. Ich denke, wir werden das Problem leider nicht mehr vor zwölf Uhr lösen, sondern erst um fünf nach zwölf, und wir werden dann halt mit ziemlicher Sicherheit über das Zwei-Grad-Ziel hinausschiessen. Das wird sehr schwierig zu verhindern sein, denn wir hätten eigentlich schon vorgestern damit anfangen müssen. Aber ich bin überzeugt, dass wir nicht in ein Worst-Case-Szenario hineingehen mit fünf bis sechs Grad Erwärmung global bis im Jahr 2100. Was hiesse das für die Schweiz? In der Schweiz wäre die Erwärmung doppelt so hoch, also zehn, zwölf Grad. Studien zeigen, dass das möglich ist. Es ist leider keine fantastische Traumtänzerei, es sind alle Ingredienzen da, dass wir diesem Szenario folgen könnten. Ich bin aber überzeugt, dass wir nicht dahin gehen werden.

heisst, es wird in bestimmten Momenten einfach kein Wasser mehr geben. Da werden massive Massnahmen nötig werden, um die Bevölkerung weiter ernähren und mit Wasser versorgen zu können. Und wenn es im Extremfall Völkerwanderungen geben wird von Millionen von Leuten, weil der Meeresspiegel steigt oder weil sie in ihrem Land nicht mehr ernährt werden können, dann hat das natürlich auch auf die Schweiz einen Einfluss. Letztlich ist natürlich entscheidend, was in den grossen Ländern passiert. Mittlerweile sind die Pro-Kopf-CO2-Emissionen in China fast auf den Wert der Schweiz angestiegen. Und wenn wir diese Emissionen von jährlich fünf bis sechs Tonnen CO2 pro Kopf mit dem Wert vergleichen, der noch klimaverträglich wäre – nämlich eine Tonne –, dann hiesse das eigentlich, dass auch der Ausstoss in China bereits zurückgehen müsste. René Schwarzenbach, Ihr Fazit? Optimistisch gesehen könnte der Klimawandel zu einer globalen Diskussion führen über die Frage: Wie muss sich die Menschheit als Ganzes verhalten, damit sie überlebt? Die pessimistische Sicht wäre, dass die Finanz- und Schuldenkrise alles überdeckt, dass man nur noch davon spricht und dabei die Klimadiskussion verpasst. Ich bin da eigentlich ein hoffnungsvoller Optimist (lacht), dass es irgendwann einmal ein paar gescheite und mutige Leute an der Spitze der entscheidenden Länder geben wird. ■

Was wären denn konkret die Folgen einer Erwärmung um über zwei Grad? Noch ist die Wissenschaft nicht in der Lage, sehr genaue Projektionen zu machen, aber trotzdem zeigen die Modellrechnungen klare Tendenzen: Wenn es global drei Grad wärmer wird, in der Schweiz also circa sechs Grad, dann wird es häufiger Hitzesommer geben und längere Trockenperioden, die Niederschläge werden sich in Richtung Winterhalbjahr verschieben. Starkniederschläge und Überschwemmungen werden zunehmen. Die Schneebedeckung in den tieferen Regionen der Alpen wird stark abnehmen, die Gletscher ziehen sich weiter zurück und der Permafrost taut weiter auf, was vermehrt zu Erdrutschen und Bergstürzen führen wird. Das Klima der Schweiz wird in 100 Jahren ein fundamental anderes sein, eines, wie es unser Land seit Millionen von Jahren nicht mehr gesehen hat. Und diesen Veränderungen werden wir uns anpassen müssen, unter anderem mit grossen Investitionen in unsere Infrastruktur. Aber auch unsere Wasserwirtschaft mit seinen Grosskraftwerken, die Landwirtschaft, der Tourismus und vieles andere mehr wird sich wandeln müssen. Und über unsere Landesgrenzen hinaus? Wenn wir in Gebiete wie Süditalien schauen ... ... ja, das ganze Mittelmeer! ... die werden unter anderem in grosse Wasserprobleme kommen. Das SURPRISE 256/11

René Schwarzenbach ist emeritierter Professor für Umweltchemie und seit Anfang Jahr Delegierter für Nachhaltigkeit an der ETH Zürich. Zuvor war er während sechs Jahren Vorsteher des Departements Umweltwissenschaften an der ETH. Er ist Mitherausgeber des im Mai 2011 erschienen Buchs «Mensch Klima!», das unter anderem von der ETH unterstützt worden ist. Das als visuelles Lesebuch konzipierte Werk versucht, den Betrachter mit Bildern und Bildsequenzen auf einer emotionalen Ebene anzusprechen und ihn so zum Lesen der Texte zu verführen, die von Journalisten verfasst und von einem «Advisory Board» von ETH-Wissenschaftlern inhaltlich geprüft wurden. Nicolas Gruber ist Professor für Umweltphysik an der ETH Zürich, Vorsteher des Instituts für Biogeochemie und Schadstoffdynamik und Vize-Vorsteher des ETH-Kompetenzzentrums für Klimamodellierung C2SM. Gruber hat als Autor am vierten Zustandsbericht des Weltklimarates (IPCC) mitgewirkt und arbeitet auch am jetzigen fünften Bericht mit. Er ist Mitglied in verschiedenen nationalen und internationalen Gremien, die sich mit dem Klimawandel und seinen Auswirkungen beschäftigen. Zudem war Gruber Mitglied des «Advisory Boards» im Buchprojekt «Mensch Klima!».

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Matheschwäche Wenn die Rechnung nicht aufgeht Einigen Schülern macht es das Leben zur Hölle, andere lächeln cool darüber hinweg, dass sie in Mathe einen Zweier nach dem anderen schreiben. Unsere Autorin wäre auf dem Weg zum Studium fast über ihre Matheschwäche gestrauchelt. Dabei sind sogenannte Dyskalkuliker weder faul noch dumm. Schuld ist vielmehr oft der Unterricht. VON MONIKA BETTSCHEN (TEXT) UND PATRIC SANDRI (ILLUSTRATION)

Es ist still geworden im Klassenzimmer. Der Lehrer hat die Prüfungsaufgaben ausgeteilt und eindringlich darauf hingewiesen, dass Taschenrechner nicht erlaubt sind. Er setzt sich an seinen Schreibtisch neben der Wandtafel und überlässt uns einem Blatt voller Textaufgaben. Ich überfliege die erste Aufgabe – dann geht gar nichts mehr. Schüler mit Defiziten im Rechnen leiden. Wiederholte Abschiffer bei Prüfungen lassen das Selbstvertrauen mitunter auf die Grösse einer Erbse schrumpfen. Und beim Gedanken an die nächste Prüfung wird Das Dorfleben neigt sich dem Abend Hauptstrasse in Termin Mundri, Südsudan einem Betroffenen bereits eine zu: Woche vor dem flau im Magen.

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Gross war meine Erleichterung, als ein Lerntherapeut bei mir die Rechenschwäche Dyskalkulie feststellte. Intensive Lernstunden sorgten schliesslich dafür, dass ich doch noch die Mittelschule besuchen und studieren konnte. Gemäss Schätzungen leiden rund vier bis sechs Prozent der Primarschüler an dieser Störung, doch oft wird die Dyskalkulie nicht als solche erkannt. Die Liste der möglichen Symptome ist lang (siehe Box) und das Problembewusstsein wenig ausgeprägt. «Während die Leseschwäche Legasthenie bereits seit den 50er-Jahren wissenschaftlich erforscht wird, ist dies bei der Dyskalkulie erst seit den 80er-Jahren der Fall. Das mag einer der Gründe sein, warum die Dyskalkulie im Gegensatz zur LeSURPRISE 256/11


gasthenie allgemein weniger akzeptiert wird», sagt Lis Reusser, Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Bern und Lerntherapeutin. Reusser betont: «Rechenschwäche ist in den Köpfen der Leute auch heute noch oft an mangelnde Intelligenz oder gar Faulheit gekoppelt. Dies ist jedoch falsch, man tut den Schülerinnen und Schülern damit unrecht.» Versagen bei der Einladung Dyskalkuliker sehnen das Ende der Schulzeit herbei, doch dabei verdrängen sie, dass Mathematik damit nicht automatisch aus dem Leben verschwindet. Ziffern und Zahlen begleiten uns überall hin. Sie begegnen uns auf der Waage genauso wie beim Einkaufen oder in der Steuererklärung. Bleibt eine Dyskalkulie unerkannt, so kann das für die berufliche Zukunft und den Alltag weitreichende Folgen haben: Häufig bleibt rechenschwachen Schülern eine höhere Schulbildung verwehrt. Und jene, die den Sprung in eine Mittelschule und in ein Studium doch noch schaffen, wählen – wen wunderts – Fächer weit abseits der so verhassten Zahlenwelt. Sie reihen sich ein ins Heer der Sprach- und Geisteswissenschafts-Studenten. Manche tragen ihr Rechendefizit geradezu zur Schau: Mit leiser Genugtuung äugen sie zu all den Bankern und Ingenieuren dieser Welt hinüber, die ihnen geradezu gefangen scheinen im Hamsterrad der Zahlen. Doch trotz coolem Getue – viele Dyskalkuliker haben als Erwachsene Mühe im Umgang mit Geld, mit dem Zeitbegriff oder beim Haushalten. Und müssen immer wieder einsehen, dass es ein Leben ohne Mathe nicht gibt. Stellen Sie sich vor, Sie laden drei gute Freunde zum Essen ein. Ziegenkäse auf Salatbett, Filet de Boeuf, frische Erdbeeren, das ganze Programm. Für wie viele Personen müssen Sie einkaufen gehen? Was für eine Frage, natürlich für vier! Denn selbstverständlich wollen Sie Ihren Freunden beim Schlemmen nicht bloss zuschauen. Für einen Dyskalkuliker sieht die Sache anders aus, zum Beispiel so: Sie stehen gerade in der Küche, rüsten Salat und merken, dass Sie nur für drei Leute eingekauft haben. Sich selbst mitzuzählen, haben Sie schlichtweg vergessen. Die Türglocke läutet den nächsten Schrecken ein: Sie öffnen und vor Ihnen stehen Ihre Freunde, strahlend und hungrig. Moment mal: Es ist 18 Uhr. Sie erwarten Ihren Besuch aber erst um acht. «Was macht ihr denn schon hier?», entfährt es Ihnen. «Was heisst hier ‹schon›?», entgegnen ihre Freunde vergnügt.

ser. Wird der Unterricht dann auch noch in viele kleine und kleinste Schritte zerlegt, haben Schüler mit Rechenschwäche erst recht Mühe, ein Gefühl für Zahlen und Mengen zu entwickeln. Wichtig wäre es für rechenschwache Schüler, die grossen Zusammenhänge erkennen zu können, betont Reto Muggli, Mathematiklehrer und Leiter der Lern-Treff AG, einem privaten Anbieter von Stützund Förderunterricht. «Meiner Meinung nach ist das häufigste Problem im Unterricht, dass sehr viele Schüler einfach etwas auswendig lernen wollen. Das kann bei einer Formel sinnvoll sein, um bei einer Prüfung schneller zur Lösung zu kommen. Wenn aber die konkrete Bedeutung der Formel nicht verstanden wurde, gelangt ein Schüler schnell einmal ans Ende seines Lateins, vor allem, wenn eine Aufgabe auch nur geringfügig vom auswendig Gelernten abweicht.»

«Man kann beim Treppensteigen die Stufen zählen. So wird Mathematik konkret erfahrbar.»

Fehler sind interessant Langsam dämmert Ihnen, dass Sie nicht nur die Zutaten, sondern auch die Ankunftszeit der Gäste falsch kalkuliert haben. Schon wieder. Sie servieren Prosecco und Gebäck und gestehen, dass aus dem geplanten Menü aufgrund diverser Planungspannen leider nichts wird. Dann greifen Sie zum Telefon und bestellen eine Family-Pizza XXL für alle. Der Abend scheint gerettet. Trotzdem fühlen Sie sich als Versager. Oft ist die Dyskalkulie schon in der frühen Kindheit angelegt. Etwa, wenn Eltern es versäumen, ihr Kind spielerisch mit Zahlen, Mengen und Grössen vertraut zu machen. «Man kann mit ihm Treppensteigen, die Stufen zählen, das Sparkässeli sortieren, gemeinsam kochen oder die Uhrzeit ablesen. So wird Mathematik spannend und konkret erfahrbar. Im Schulunterricht kann es auf diesen Erfahrungen aufbauen», erklärt Lerntherapeutin Lis Reusser. Manchmal hapert es auch bei der Stoffvermittlung. Wenn die Voraussetzungen, die ein Kind mitbringt, und der Stoff, der in der Schule vermittelt wird, nicht zusammenpassen, kann kein erfolgreiches Lernen stattfinden. «Bei der Dyskalkulie ist häufig der Unterricht ein Teil des Problems, deshalb spricht man heute nicht mehr nur von einer Lern-, sondern auch von einer Lehrstörung», so Reusser. Zu Beginn der Schulzeit werde das mathematische Wissen bausteinförmig erarbeitet. «Bekommt ein Kind einen dieser Bausteine nicht richtig zu fassen, droht sein ganzes Mathematikgebäude später immer wieder einzustürzen», so ReusSURPRISE 256/11

Auswendiglernen dient vielen Dyskalkulikern während der Schulzeit als vermeintlicher Rettungsanker. Ich erinnere mich gut, dass ich jeweils zu Beginn einer Prüfung abstrakte Formeln aufgeschrieben habe. Weit kam ich damit allerdings nie. Was interessierte es mich, ob nun Zug A oder Zug B schneller am Zielort ankam? Dass diese Art von Fragestellungen mehr mit dem realen Leben zu tun haben, als mir lieb war, konnte ich mir kaum vorstellen. Stattdessen schweifte ich dauernd vom Thema ab. Das Schwarz-Weiss-Denken, dieses radikale Unterscheiden zwischen gut oder schlecht beim Rechnen, war mir zuwider. «Im Gegensatz zu anderen Fächern wird in der Mathematik oft nur nach dem Richtig oder Falsch gefragt beziehungsweise beurteilt», so Reusser. Bei rechenschwachen Schülern sei es deshalb aufschlussreich, nicht nur die Ergebnisse anzuschauen, sondern auch den gewählten Rechenweg und die Strategie zu beurteilen. «Fehler sind interessant, denn sie sagen oft viel darüber aus, was ein Schüler bereits verstanden hat und was noch nicht.» Hoffentlich interessieren sich die Mathelehrer im neuen Schuljahr für die Fehler ihrer Schüler. ■

Eine behandelbare Blockade Die Rechenschwäche Dyskalkulie ist eine sogenannte Teilleistungsstörung. Während in den anderen Fächern meistens gute bis überdurchschnittliche Leistungen erbracht werden, kommen betroffene Schülerinnen und Schüler in der Mathematik kaum einmal auf einen grünen Zweig. Die Rechenschwäche betrifft schätzungsweise vier bis sechs Prozent der Primarschüler. Damit ist ihr Anteil in etwa gleich gross wie jener der Legastheniker. Dyskalkulie äussert sich bei Kindern und Jugendlichen zum Beispiel durch krampfhaftes Auswendiglernen von Formeln, Abzählen mit den Fingern oder auch umständliche, schwer nachvollziehbare Lösungsversuche. Zu Beginn der Primarschule bereitet bereits das Erlernen der Grundrechenarten oder das Abschätzen von Distanzen grosse Mühe. Ursachen können Defizite und Blockaden in Teilen der Wahrnehmung sein. Wird diese Störung einmal erkannt, lässt sie sich mit einer gezielten Lerntherapie in der Regel gut behandeln.

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Adoption Ein paar Brocken Heimat

Irina Müller wurde als Seo Aeran geboren. Wie Tausende von südkoreanischen Kindern wurde auch sie zur Adoption freigegeben. Auf der Suche nach ihren Wurzeln reiste Müller zurück in das Land, das ihre Heimat hätte sein können. Eine Identitätssuche als Heilungsprozess, der auch neue Verletzungen bringt. VON DIANA FREI (TEXT) UND LUC-FRANÇOIS GEORGI (BILDER)

Mit 29 Jahren reiste Irina Müller erstmals nach Korea. Nach vielen Tausend Flugmeilen stand sie vor dem Zentrum «Holt International Children’s Services». Pfarrer Kim Do-Hyun, der in Seoul ein Guesthouse für koreanische Adoptierte leitet, hatte sie hierher mitgenommen. 1955, in den Nachwehen des Koreakrieges, adoptierte der Amerikaner Harry Holt aus christlichen Motiven acht koreanische Kriegswaisen und legte damit den Grundstein für eine der grössten Adoptionsagenturen. Bei «Holt» hätte Irina Müller erfahren können, wer ihre Eltern sind. Ob sie Geschwister hat. Wer sie war, als sie noch Seo Aeran hiess. Pfarrer Kim ging ins Gebäude, sie wartete unten in den Strassen von Seoul. Dann erfuhr sie: nichts zu machen. Ein Findelkind. Die erste Reise endete 1995 im Schock. Eine siebenjährige Pause folgte, in der sie nichts zu tun haben wollte mit Korea. Das Leben fand hier statt, in der Schweiz. Sie war Irina Müller. Die Verletzungen, die Seo Aeran erlitten hatte, mochte sie nicht mehr an sich herankommen lassen. Viele adoptierte Koreaner finden: Korea wollte mich nicht, also will ich von Korea nichts wissen. Und im Scherz sagen manche: «Ich bin eine Banane. Aussen gelb, innen weiss.» 14 Jahre später, auf ihrer zweiten Reise, erfuhr sie: Als sie drei Monate alt war, lag sie vor einem katholischen Kinderheim in Daegu, der viertgrössten Stadt Südkoreas. Ein Zettel war dabei mit ihrem Namen und ihrem Geburtsdatum. Sonst nichts. Wer die Mutter ist – war –, keine Ahnung. Jetzt blättert sie in einem Fotoalbum und sagt auf Berndeutsch «Weisch no?» und «Gäu, das isch schön gsii!». «Gäu?», fragt sie oft zur Kollegin hinüber, die auch wie eine Koreanerin aussieht und Zürcher Dialekt redet. Tabea Lerch hätte Choi Mi-Sook sein können. Doch wie Irina Müller ist sie als Kleinkind Schweizerin geworden.

Die erste Koreareise machten sie zusammen, vor Ort gingen aber beide ihren eigenen Weg. Tabea Lerch lernte ihre Familie kennen, Irina Müller reiste herum und verständigte sich mit Zeichensprache und Symbolkarten. Eine Bekannte hatte ihr in koreanischen Schriftzeichen die Nachricht «Ich bin adoptiert. Ich spreche kein Koreanisch» in ihr Handy getippt. Die zeigte sie, wenn man sie fragend ansah. Adoption statt Single-Mütter Korea hat seine Kinder im grossen Stil weggegeben. Nach dem Koreakrieg als Kriegswaisen, danach als Armutsopfer. Und als sich die Adoptionsagenturen einmal etabliert hatten, war es dem Land lieber,

Im Scherz sagen adoptierte Koreaner: «Ich bin eine Banane. Aussen gelb, innen weiss.»

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unerwünschte Kinder ins Ausland zu geben, als für sie ein Sozialsystem aufzubauen. Unerwünscht heisst: Unehelich. Die meisten der vermittelten Kinder sind Findelkinder. Unverheiratete Mütter sind im patriarchalischen System nach wie vor nicht akzeptiert. Die Familie zählt viel in Korea. Doch ist genau das der Grund, wieso die Kinder nicht innerhalb des Landes adoptiert werden. In einer Kultur, die vom Konfuzianismus mit seinem Ahnenkult geprägt ist, werden die Blutsbande über alles gestellt. Ein Kind von ausserhalb der eigenen Verwandtschaft zu adoptieren, ist für Koreaner unvorstellbar. Doch für Pfarrer Kim Do-Hyun wäre das ohnehin der falsche Weg. «Leider versucht die koreanische Regierung, das Problem notleidender Kinder zu lösen, indem sie die Leute im Land zur Adoption ermuntert. Die Lösung müsste aber sein, ledige Mütter zu unterstützen, damit sie ihre Kinder behalten können», schreibt er per E-Mail. Kim leitet in Seoul die Organisation «KoRoot». Das gleichnamige Guesthouse dient Adoptierten aus der ganzen Welt als Anlaufstelle, wenn sie in ihr HeiSURPRISE 256/11


In Korea hat Irina M端ller ihren Namen als Kalligrafie anfertigen lassen: Seo Aeran in Hangul-Schriftzeichen. SURPRISE 256/11

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Vergangenheitsbewältigung statt Ferienerinnerungen: Tabea Lerch und Irina Müller.

matland reisen. Am 11. Mai dieses Jahres hat «KoRoot» erstmals den «Single Mom’s Day» mitorganisiert, um die Bevölkerung für das Problem der unverheirateten Mütter zu sensibilisieren. Pfarrer Kim arbeitete neun Jahre lang in der Schweiz. Als 1993 die koreanische Adoptierte Ji-Yuhn Engel in Basel Selbstmord beging, rief er «Dongari» ins Leben, den Deutschschweizer Verein adoptierter Koreaner mit Sitz in Zürich. Hier haben sich Irina Müller und Tabea Lerch kennen gelernt. An ihr Herkunftsland haben die beiden keine Erinnerung. Sie habe sich mit der Schweiz «arrangiert» und ihre Identitätsprobleme «abgehakt», sagt Lerch. So der Ton am Anfang des dreieinhalbstündigen Gesprächs. Kleinkinder in Reih und Glied Irina Müller dagegen erzählt: «Ich habe das Gefühl, ich bin innerlich Im Kreis ihrer biologischen Familie: Tabea Lerch als Baby mit ihren Geschwistern. geprägt von dieser Kultur. Meine Wohnung ist voll asiatisch. Eben habe ich alte Chinamöbel gekauft.» Korea, Japan, China: Es zieht sie 14 Jahre nach dem ersten Besuch war Irina Müller zum ersten Mal unterdessen immer wieder nach Asien. Sie hätte ihren Platz in der koim Kinderheim, in dem sie ihre ersten drei Jahre verbracht hatte. «Wurreanischen Gesellschaft gefunden, davon ist sie überzeugt: «Seoul ist zelsuche» nennt man das. «Für mich war das fast wie Elternfinden», innert kürzester Zeit zur Metropole aufgestiegen. Die Koreaner sind sagt Irina Müller, «vielleicht tröste ich mich auch einfach damit, weil fleissige Leute. Ich habe die gleiche innere Kraft wie sie.» ich sie nicht gefunden habe.» Ein Privatreiseführer, der zufälligerweise Und wer ihr zusieht, wie sie mit fast professioneller Hingabe für die mit Adoptivkindern zu tun hatte, hatte ihr geholfen, das Heim zu finFotos posiert und dabei Tabea Lerch und sich selber bei Laune hält, wie sie mit eifriger Begeisterung Koreanisch-Lehrbücher hervorzerrt und ihren Namen in kalliIn den 60ern waren die Richtlinien lasch: Wer adoptieren grafischer Schrift präsentiert, weiss: Wahrwollte, für den war auch ein Kind da. scheinlich hat sie recht. Trotzdem ist ihr klar: «Ich kann nicht nach Korea zurück. Aber ich den. Es ist «sehr, sehr christlich», und unterdessen zu einem Kinderhort fühle mich auch nicht als 100-prozentige Schweizerin. Das kann unter für besser gestellte Familien geworden. «Es war aber eine ganz liebe Umständen auch interessant sein. Aber es ist eine innere Zerrissenheit.» Frau dort. Es waren lauter kleine Kinder dort, die in Reih und Glied geSeit Jahren nennt sie sich Irina Müller Seo. Nun sind die amtlichen Einstanden sind und mich begrüsst haben. Ich habe etwas ganz Schönes gaben gemacht, damit sie bald offiziell so heisst. Momentan ist es so etim Herzen nach Hause getragen. Und ich glaube, ich werde es dabei bewas wie ein Künstlername. Aber er gehört für sie zur Identität. lassen.» Nachdem sie in die Schweiz gekommen war, ging der koreanische Name schnell vergessen. Ihre Adoptivmutter war ledig und berufstätig. Ein Chrüppeli im Keller Trotzdem adoptierte sie Aeran, nannte sie erst Nina und schwenkte Als Tabea Lerch noch Choi Mi-Sook hiess, fiel sie ins offene Feuer dann um auf Irina, nachdem sie den Namen am Fernsehen aufgedes Ondol, der traditionellen Bodenheizung. Dabei hat sie sich unter schnappt hatte. Dann wollte die Adoptivmutter noch ein Kind. Und sie anderem die Hände so verbrannt, dass sie sie nicht mehr hätte gebraubekam ein zweites, ein Kriegskind aus Vietnam. Sie habe eine äusserst chen können. Nach drei Spitalaufenthalten hiess es, man könne nichts schwierige Kindheit gehabt, sagt Müller: «Ein Adoptivkind braucht bemehr machen. Also gab die Mutter sie weg. In ein reicheres Land, in sonders viel Aufmerksamkeit und Liebe.» Aber in den späten 60er-Jahdem die nötigen Hauttransplantationen möglich waren. Damit die Beren wurden derart viele koreanische Kinder zur Adoption freigegeben, hörden den Grund für die Adoptionsfreigabe akzeptierten, gab sie an, dass die Behörden keine allzu strengen Richtlinien anwandten. Wer der Vater sei davongelaufen. adoptieren wollte, für den war auch ein Kind da.

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Adoptivkinder aus Südkorea Weltweit gibt es schätzungsweise 200 000 adoptierte Koreaner. Seit Ende der 80er-Jahre sind in mehreren Ländern Adoptiertenorganisationen gegründet worden. In der Deutschschweiz entstand 1994 «Dongari» mit anfänglich 150 Mitgliedern. Die französische Schweiz hat mit «Kimchi» seit zehn Jahren einen Adoptiertenverein. Im Januar 2011 hat Jan DaeWon Wenger, der aus der Schweiz nach Korea reemigriert ist, mit seiner Organisation GOA’L – Global Overseas Adoptees’ Link – erwirkt, dass adoptierte Koreaner den Doppelpass beantragen können. Ende der 60er-Jahre wurden in der Schweiz öffentliche Aufrufe gemacht, man suche Adoptiveltern für Waisenkinder. Die Stiftung Terre des hommes Kinderhilfe (Tdh) hat zwischen 1968 und 1978 laut eigenen Angaben 1135 koreanische Kinder in die Schweiz gebracht. In den letzten Jahren vermittelte Tdh jährlich höchstens noch zehn bis 15 Kinder insgesamt. Die internationale Adoption hat in letzter Zeit stark abgenommen. Dies sei darauf zurückzuführen, dass die Lösungen in vielen Ländern auf nationaler Ebene gesucht worden seien, so Franziska Joho von Tdh. SoSURPRISE 256/11

zialsysteme wurden ausgebaut und die Gesetzgebung angepasst, um Adoption innerhalb des eigenen Landes zu ermöglichen. Langsam hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass eine internationale Adoption eine Entwurzelung bedeutet. «Falls möglich, ist eine Adoption im Herkunftsland in jedem Fall vorzuziehen», so Joho, «aber jede Adoption ist für das Kind ein Beziehungsbruch in jungen Jahren, der verschiedene emotionale und psychische Herausforderungen mit sich bringt.» Die koreanische Regierung erklärt seit Jahren, die internationale Adoption stoppen und ein soziales System für Waisenkinder aufbauen zu wollen. Trotzdem werden laut Kim Do-Hyun, Direktor der Adoptiertenorganisation KoRoot und Mitglied bei GOA’L, jährlich immer noch etwa 1000 Kinder zur internationalen Adoption freigegeben. 90 Prozent von ihnen, weil sie unehelich sind. Zudem hätten viele Koreaner eine eurozentristische Weltsicht, so Kim Do-Hyun. Etliche seien der Meinung, sie täten ihren Kindern etwas Gutes, wenn sie sie in Europa oder in den USA aufwachsen liessen. www.dongari.ch, www.koroot.org, www.tdh.ch

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«Als Kind habe ich mir immer vorgestellt, wenn ich in Korea geblieben wäre, dann wäre ich vielleicht ein Chrüppeli und ganz arm und müsste vielleicht in einem dunklen Keller weben. Aber dafür hätte ich meine richtige Familie.» Weggegeben wurde sie mit 15 Monaten. Adoptiert wurde sie mit 22 Monaten. Was dazwischen war, weiss sie nicht. «Kinderheim und so.» Die Chois sind nicht arm. Die Familie gehört dem guten Mittelstand an. «Als ich das letzte Mal da war, wurde ich fast ein wenig wütend, weil ich dachte: Die hätten mich schon aufziehen können», sagt Lerch. Ihre leibliche Mutter hatte bei der örtlichen Adoptionsagentur jedes Jahr angefragt, wie es ihr gehe. Als sie nach der Matur auf Koreareise ging, traf auch sie Kim Do-Hyun. «Pfarrer Kim hat mich gefragt, ob ich meine Familie suchen möchte, und ich sagte einfach mal Ja. Ich habe mir das vorher nie gross überlegt.» Zwei Tage später klingelte im Hotel das Telefon: «Hello, this is your brother.» Auf einmal hatte sie einen älteren Bruder, zwei ältere Schwestern und einen jüngeren Bruder. Dieser wusste nichts von Mi-Sook. Im Nachhinein wurde ihm plötzlich klar, weshalb die Mutter immer weinend davonrannte, wenn im Fernsehen etwas über Adoption lief. Tabea Lerch und ihre Mutter haben keine gemeinsame Sprache. Tabea Lerch telefoniert ab und zu mit dem jüngeren Bruder. Nach dem Tod des älteren ist er Wenn man nicht miteinander reden kann, ist es schön, der einzige, der Englisch spricht. Mit dem Rest wenn man als gemeinsame Basis Schuhgrösse 37 hat. der Familie kann sie nicht reden. Aber die Mutter tut alles für sie. Sie kocht, gibt Geld. Als ihre Das Thema Korea taucht in Wellen immer wieder mal auf. Früher weissen Converse-Schuhe ein wenig schmutzig waren, hat sie sie von wurden die Gedanken an Ostasien oft angespült wie Treibholz. BruchHand geschrubbt. Tabea fand es unnötig und machte Witze darüber. Da stücke einer anderen Biografie. Ein paar Brocken Heimat. Mit dem Versagte der Bruder: «Sie macht es, weil sie ein schlechtes Gewissen hat.» ein «Dongari» haben diese losen Splitter ihrer Identität in der Schweiz ihren Platz gefunden. Die Kinder, die Korea nicht wollte, haben ihre ei«Ich hätte da gut hineingepasst» gene Gemeinschaft gebildet. Im lokalen Verein, auf Facebook, mit anDie Mutter hat Tabea und Irina einmal mitgenommen in eine Badederen Adoptiertenorganisationen international vernetzt. So rücken die stube. Irina setzte sich ins falsche Bad, alle haben gekichert, alle haben weltweit verstreuten Koreaner ein wenig näher zusammen. gemerkt, dass die beiden keine Koreanerinnen sind. In der Garderobe Eine ganze Kindheit und eine ganze Jugend lang glich Tabea Lerch standen darauf die Frauen um die Mutter herum, und irgendetwas niemandem. In ihrer koreanischen Familie dagegen sind alle Frauen musste sie ihnen erzählen. «Wahrscheinlich wollte sie nicht sagen, wer gleich gross wie sie – nämlich einen Kopf kleiner als die Durchwir wirklich sind. Da hat sie mir plötzlich Tabea gesagt. Aber nur da. schnittsschweizerin. Alle haben gleich grosse Füsse. Wenn man nicht Sie nennt mich sonst Mi-Sook.» miteinander reden kann, ist es schön, wenn man als gemeinsame BaBei Telefongesprächen mit dem Bruder bleibt sie eher distanziert. Es sis Schuhgrösse 37 hat. steckt zu viel Sehnsucht drin. Und für die ist im Schweizer Alltag kein Ein paar Tage nach dem Gespräch schickt Lerch per E-Mail einen Platz. «Ich hatte lange das Gefühl, ich sei auch Koreanerin. Vor 16 JahNachtrag: «Irgendwie fühle ich mich den koreanischen Verwandten nären hätte ich dort bleiben und mich anpassen können. Aber heute ginher als jenen in der Schweiz. Als ich sie beobachtete, wie sie zuge das nicht mehr», sagt sie. Als sie schwanger war, reiste sie zum zweisammensassen, schwatzten und lachten, hatte ich den Eindruck, ich ten Mal zu den Blutsverwandten. Ein drittes und bisher letztes Mal war hätte da gut hineingepasst.» sie mit ihrer Tochter da, die unterdessen zwei Jahre alt war. ■


Kurzgeschichte Schon drei

VON RUDOLF BUSSMANN

Mittwoch Heute Vormittag, als ich eine Kundin verabschiedet hatte und unter die Tür meines Coiffeursalons trat, sah ich auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse einen jungen Mann stehen. Die Sonne schien ihm auf das blonde Haar. Er stand da und las die Zeitung. Schwarze Hose und Jeansjacke, schlanke Figur. Es wäre übertrieben zu sagen, dass er mir auffiel. Vor meinem Laden gehen so viele Leute vorbei, dass ich auf die wenigsten achtgebe. Einer, der wenige Schritte von Trudis Kiosk entfernt die Zeitung liest, ist ein durch und durch gewöhnlicher Anblick. Mein Blick fiel wieder auf ihn, als ich einer weiteren Kundin das Haar gewaschen hatte und vom Waschtisch zum Frisierstuhl wechselte. Ich erinnerte mich, ihn am Morgen gesehen zu haben. Er stand wieder (noch immer?) am gleichen Ort, rauchte eine Zigarette und wechselte gerade das Standbein. Er trug modische Schuhe, die Jacke hatte er über die eine Schulter gehängt, am freien Oberarm war eine Tätowierung zu sehen. Vermutlich hatte er Feierabend und wartete auf einen Kollegen, der ihn nach Hause brachte. Obwohl – er verhielt sich nicht wie ein Wartender, sondern sah gelangweilt vor sich hin. Nein, gerade nicht gelangweilt, sondern auf eine gewisse Art aufmerksam. Er zeigte auch keine Ungeduld. Stand nur so da und tat nichts. Donnerstag Diese Nacht bei Philippe, seine Frau ist an einem Kongress in Bologna. Dennoch ständig die Angst, sie komme plötzlich zur Tür herein. Nervöser Schlaf. Beim Erwachen sogleich gestresst, weil ich um acht Uhr im Salon zu sein hatte. Theresa hatte sich angemeldet, die den Küchenladen nebenan führt. Als ich ausser Atem in die Gasse einbog, sah ich ihn sogleich. Einige Schritte neben Trudis Kiosk las er die Zeitung. Dass er auf jemanden wartete, war unwahrscheinlich. Ein Zuhälter? Sie sind im Quartier überall anzutreffen. Doch das Rotlichtmilieu hat andere Zeiten. Ich machte Theresa auf ihn aufmerksam, während ich ihr die Haare föhnte. Er trug heute einen dunkelgrauen Anzug. «Vielleicht einer von der Steuerbehörde?», grinste sie. «Die Stadt hat wieder einmal zu wenig Geld, und jetzt observieren sie gewiss uns, die Kleinen. Der zählt Ihre Kundschaft, Marcel, und rechnet hoch, was Ihre Goldgrube abwirft, ich schwör’s Ihnen.» Auch wenn sie mich necken wollte, ich war beunruhigt. Manchmal geht eine Quittung verloren, man weiss nicht wie. Oder man vergisst am Schluss ein paar Rechnungen anzugeben, um nicht in eine zu ho-

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he Steuerprogression zu kommen. Ich holte die Flasche Baileys hinter den Shampoopackungen hervor und trank ein Glas Likör. Die nächste Kundin war erst um zehn Uhr eingeschrieben, ich hatte Zeit, den Mann zu beobachten. Die Zeitung hatte er zusammengefaltet und in die Tasche gesteckt. Er schaute vor sich hin, machte von Zeit zu Zeit einen Zug an seiner Zigarette, sonst rührte er sich kaum. Als die Sonne seinen Platz erreichte, zog er sein Jackett aus und liess seinen Blick dabei wie zufällig über die Fassade unseres Hauses schweifen. Ich trat erschrocken vom Schaufenster weg und setzte mich hinten im Halbdunkel des Salons an den Tisch. Ich stand noch einmal auf und stellte das Radio ab. In die Stille hörte ich den Hahn bei dem einen Waschtisch tropfen. Sonst geht mir das Getropfe total auf den Nerv. Diesmal war mir, es wolle mir etwas sagen. Ich horchte. Es sagte nichts. Ich riss ein Blatt vom Rechnungsblock. «Steuerfahnder!», notierte ich. Später fiel mir ein, dass der Hausbesitzer vor einer Weile angedroht hat, die Liegenschaft zu verkaufen. Stand dort drüben der neue Besitzer? Ich setzte unter «Steuerfahnder!» das Wort «Käufer». Ein grosser Schreck durchfuhr mich. Natürlich handelte es sich nicht um einen gewöhnlichen Käufer. Ich strich das Wort und ersetzte es. «Spekulant!» stand nun da. Ich ahnte, was mir bevorstand, ich wäre nicht der erste im Quartier, dem es passiert: Das Haus wechselt die Hand, die Mieten gehen in die Höhe, du kannst dein Lokal nicht mehr halten und machst darauf in einer billigeren Gegend schlechte Geschäfte, bis du endgültig bankrottgehst. Ich sah mich unrasiert und mit bleichem Gesicht in der Schlange vor dem Arbeitsamt stehen. Trank noch ein Glas. Da trat die Zehn-Uhr-Kundin ein, trällernd und guter Dinge wie immer. Helen kommt fast jeden Tag zum Waschen/Legen. Sie nennt sich Model; das ist im weitesten Sinn gemeint. Meist turtelt sie auf ihrem Handy mit Männern und macht Termine fest. Heute wollte sie ihre Haare neu einfärben. Ich trug mit dem Pinsel vorsichtig Paste auf, während sie ihre SMS verschickte und Gespräche führte. Mitten in ihren Verhandlungen schrie sie auf. «Mein Gott, doch nicht ziegelrot, Marcel!» Es war zu spät. Sie hatte ziegelrotes Haar. Stand ihr nicht schlecht, fand ich, stand ihr sogar ausgezeichnet. Sie stampfte im Laden herum und weigerte sich, die Rechnung zu bezahlen. Ich entschuldigte mich, ging an meinen Tisch und schrieb hastig auf das Blatt: «Strichjunge?» Meine Hände zitterten. Leise Hoffnung, die mich für eine Weile beruhigte. In der Mittagspause ass ich die mitgebrachten Brote und telefonierte mit Philippe. Der Mann gegenüber schien keinen Hunger zu haben, er stand an seinem Platz, rauchte und sah vor sich hin. Meine Liste führte ich den Nachmittag hindurch weiter. «Drogendealer.» Vor einiSURPRISE 256/11


gen Jahren hatte die Drogenszene das Leben auf der Gasse beherrscht. Dann war sie von der Polizei aufgelöst worden und hatte sich an einen anderen Ort verzogen. Ich strich das Wort. «Regisseur am neuen Drehort?» Zwei Dauerwellen später: «Dichter?» Beruhigender Effekt neuer Worte. Umso grösser die Panik, wenn ihre Wirkung verblasste. Dann beherrschten der Steuerfahnder und der Spekulant die Szene wieder. Am Feierabend, als ich den Salon zugeschlossen hatte, blieb ich vor meinem Schaufenster stehen. Während ich die Auslage zu mustern vorgab, beobachtete ich ihn in der Scheibe. Er schien von mir keine Notiz zu nehmen. Mit leisem Bedauern tilgte ich im Geist das Wort «Strichjunge». Freitag Schlecht geschlafen. Überhaupt nicht geschlafen. Kurz vor dem Zubettgehen fiel mir ein: «Privatdetektiv!» Philippes Frau muss Verdacht geschöpft haben. Eifersüchtig wie sie ist, liess sie ihren Mann beschatten, und so ist der Privatdetektiv auf mich gestossen. Wenn seine Frau hinter unser Verhältnis komme, sagte Philippe einmal, sei es aus mit uns. Wäre es doch bloss ein Steuerfahnder! Oder von mir aus ein Spekulant. Geldsachen lassen sich lösen. Aber Philippe verlieren – an seine Frau! Bin vollkommen mutlos. Er steht wie immer, steht und raucht. Es fällt mir auf, dass er nie auf die Uhr schaut. Dass er nie ins Handy spricht. Ich habe den Feldstecher mitgebracht, betrachte ihn in den Arbeitspausen vom Tisch aus. Er ist glatt rasiert. Eine kaum sichtbare Narbe am Kinn, kurze Wimpern. Die Augenfarbe ist im Schatten der Basketballmütze, die er heute trägt, nicht zu erkennen. Er liest nicht, macht keine Notizen, scheint nirgends hinzublicken. Lange betrachte ich seine Lippen. Sie sind leicht geöffnet, als setze er eben zum Reden an, dabei vollkommen entspannt. So etwas wie ein laszives Lächeln, das auf ihnen liegt. Die eine Hand steckt in der hinteren Jeanstasche, die andere lässt er hängen, bemüht sich um keine Pose, um keine besondere Haltung. Obwohl er sich nicht rührt, macht er den Eindruck, er sei nur zufällig stehen geblieben und werde seinen Weg gleich fortsetzen. Irgendwie fasziniert mich der Typ. Ich blicke auf meine Liste. «Steuerfahnder.» «Spekulant.» «Privatdetektiv.» Ich zerknülle das Papier und werfe es in den Papierkorb. Bevor ich den Laden zumache, lösche ich die Lichter. Mit dem Licht geht auch das Radio aus. Ich sitze am Tisch und sehe ihn an. Der Hahn tropft, und wieder habe ich das Gefühl, das Tropfen wolle mir etwas sagen. Ich lausche eine Weile, klopfe mit dem Finger den Rhythmus. Wie der junge Mann dasteht, gelassen und konzentriert. Wenn man so stehen könnte wie er, irgendwo, wo einen niemand sucht. Wo niemand etwas von einem will. Wo die Zeit keine Rolle spielt. Samstag Er ist verschwunden. Sein Platz ist leer. Die Kippen, die er in den Strassengraben geworfen hat, sind von der Stadtreinigung beseitigt. Ich muss den ganzen Tag an ihn denken. Habe das Gefühl, er müsse gleich wieder auftauchen und drüben stehen, nur so stehen, ohne etwas zu tun. Es kommt mir vor, ich hätte einen guten Freund verloren. Oder gewonnen. Zum Nachtessen leere ich eine Flasche Roten. Dann noch eine. Von Philippe mehrere SMS. Ich schalte das Gerät aus. Montag Es ist warm, ich habe die Jacke ausgezogen. Es gibt nur wenig Verkehr in dieser Vorstadtstrasse. Ab und zu hält irgendwo ein Lieferwagen, etwas wird ein- oder ausgeladen, Türen schlagen zu, der Motor springt wieder an. Oder ein Velo fährt mit leisem Sirren vorbei. Ich brauche nicht hinzusehen, um zu wissen, was um mich passiert. Die Geräusche kommen zu mir. Wie lange stehe ich schon hier? Ich habe keinen Hunger, bloss der Rücken schmerzt, ich dehne ihn ein bisschen, lasse meinen Blick dabei über die gegenüberliegende Fassade schweifen. SURPRISE 256/11

Den eingeschriebenen Kundinnen habe ich ein E-Mail geschickt, wegen einer dringenden familiären Angelegenheit bleibe der Salon diese Woche geschlossen. Philippe schrieb ich dasselbe, er reagierte verstört. «Was ist los, Marcel? Du hast doch gar keine Familie?» O doch, ich muss mich um meine Angehörigen kümmern. Aus einem geöffneten Fenster kommt eine Melodie, immer die gleiche, jemand übt Klavier. Die Strasse spricht mit mir. Sie braucht jemanden, zu dem sie sprechen kann. Vor dem Quartierladen das Bellen eines Hundes. Irgendwo schreit ein Kleinkind. Die Augen habe ich halb geschlossen, ich höre zu, was die Strasse zu sagen hat. Die Schmerzen im Rücken bleiben. Im Verlauf des Nachmittags werden sie so stark, dass ich mich aus der Runde verabschieden muss. Aber ich werde wiederkehren. Mittwoch Leichter Regen. Leicht veränderte Stimme der Strasse. Sie singt und rauscht, wenn ein Auto vorbeifährt. Vor dem gegenüberliegenden Haus machen Schritte Halt, jemand wartet, bis die Tür aufgeht. Das Ausschütteln des Schirms klingt wie das Aufflattern einer Taube. Neben der Tür ist ein Schild, Nähatelier Rosanna, prompt und zuverlässig. Im ersten Stock brennt Licht. Einmal blicke ich hoch und bemerke den Schatten einer Gestalt, die rasch vom Fenster wegtritt. Ist es Rosanna? Später parkiert in der Nähe ein Wagen, aus dem niemand aussteigt. Was nicht alles passiert an so einem Tag. Jede Minute ist kostbar. Manchmal geht mir der junge Mann durch den Kopf. Bestimmt steht auch er jetzt irgendwo. Gestern früh habe ich auf meinem Weg hierher eine Frau gesehen, die an einer Kreuzung stand und sich nicht rührte. Sie machte den Eindruck, sie sei nur zufällig stehen geblieben und werde ihren Weg gleich fortsetzen. Doch sie verharrte reglos und blickte auf die Kreuzung, ohne Anzeichen, etwas Bestimmtes zu wollen. Heute stand sie wieder da, am selben Ort. Im Vorbeigehen blickte ich ihr ins Gesicht. Ihre Wangen waren gerötet wie nach einem Lauf, gleichzeitig schienen sie locker und gelöst. Auf ihren Lippen lag ein Lächeln. Eine Irre? Sie hatte eine miserable Frisur. Ihr Lächeln kannte ich von irgendwo. Es geht gegen Abend, kaum Verkehr auf der Strasse. Jemand tritt aus der Tür des gegenüberliegenden Hauses, Schritte entfernen sich. In der Nähe startet ein Wagen. Es regnet nicht mehr. Jetzt fällt mir ein, wo ich das Lächeln gesehen habe. Gestern im Badezimmer, als ich in den Spiegel schaute. Zweifellos, die Frau an der Kreuzung ist eine von uns. Sie und der junge Mann und ich, wir sind schon drei. ■

Zur Person: Rudolf Bussmann wurde 1947 in Olten geboren, studierte in Basel und Paris Germanistik, Romanistik und Geschichte und war nach der Promotion als Lehrer tätig. Er lebt als freier Schriftsteller und Herausgeber in Basel, gibt Schreibkurse, macht Schreibbegleitungen. Seine letzten Werke sind der Roman «Ein Duell» (Arche Verlag 2006) und der Gedichtband «Im Stimmenhaus» (Waldgut Verlag 2008).

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Massenaufläufe Im Frühsommer ging ich auf Velotour. Eigentlich sollte sie in Pamplona starten, aber dann fand ich heraus, dass just an dem Wochenende die berüchtigten San Fermines stattfanden, die Feierlichkeiten zu Ehren des Heiligen Firminius, bei dem Stiere durch die Stadt gejagt werden, vor denen junge Männner davonrennen. Zu dieser Zeit tummeln sich rund hunderttausend Leute aus aller Welt in der Stadt, die meisten bekommen die Stiere nicht einmal von Weitem zu sehen, dabei sein ist alles. Wir sahen später, vor allem im nahegelegenen Grenzgebiet, wo man billig Schnaps kaufen kann, viele junge Menschen, die noch immer die weissen Hosen und Hemden und das rote Halstuch trugen. Sogar Italiener waren dabei. Zwei Tage später fuhren wir über den Tourmalet. Es war Sonntag. Am folgenden Freitag fuhr die Tour de France über diesen Berg. Es

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standen schon viele Wohnmobile bereit, die Leute sassen davor und übten sich schon mal im Auf-die-Strasse-schauen. Wenn das Fahrerfeld, wie heuer, eng beisammenbleibt, dauert das Spektakel knapp eine halbe Stunde. Unsere vorletzte Etappe sollte nach Carcassone führen, aber beim Mittagessen entnahm ich der Zeitung, dass zum sogenannten Encadrement, dem Feuerwerk zum 14. Juli, eine Million Menschen erwartet würde. Wir fuhren dann nach Perpignan. Im Fernsehen schaute ich mir die Tourmalet-Etappe an. Unterdessen waren es Zehntausende, die dort der Tour zujubelten. An der Alpe d’Huez waren es noch mehr und ich fragte mich: Wer sind diese Massen? Sind es immer dieselben, meist jungen Männer, die überall auftauchen, wo die kurze Hose montiert, wo das Hemd ausgezogen, die Sonnenbrille aufgesetzt und gejohlt werden kann? Egal ob Feuerwerk, Stierkampf, Streetparade, Velorennen oder Fussballmeisterschaft? Oder sind es immer wieder andere Menschen, die Massen bilden? Der Anlass scheint keine grosse Rolle zu spielen, solange man sich anmalen und verkleiden, unförmige Kopfbedeckungen tragen, Landesfahnen herzeigen und schütteln oder T-Shirts in National- oder Manschaftsfarben anziehen kann. Und brüllen, Bier trinken, Bilder produzieren. Dafür werden Ferien und Freizeit geopfert. Meist gehen diese Massen grossräumig allen

anderen auf die Nerven und verhindern, dass irgendjemand, der über einen Rest von Selbstwertgefühl verfügt, solche Veranstaltungen besucht. Wenn sich Menschen zu einer Masse zusammenrotten, werden sie stärker als sie alleine je sein können. Wenn Tausende dasselbe tun oder schreien, geht das tief ins Mark. Darum gelten vielerorts Versammlungsverbote, weil die Masse auch Regierungsumstürze zu bewerkstelligen weiss, wie unlängst in Tunesien und Ägypten. Es kann aber auch zu Ausschreitungen gegen Minderheiten, Gewalt und Zerstörung kommen. Oder zu Panik, wie an der Loveparade vor einem Jahr. Dann wird die Masse für Einzelne zur tödlichen Falle. Die steigende Popularität von Anlässen, bei denen der Hauptzweck der ist, eine Masse zu bilden, lässt Zweifel an der viel beschworenen Individualisierung unserer Gesellschaft aufkommen. Obschon die Mehrheit der Leute die Masse eher meidet, es sei denn, sie findet sich eines Tages zu einer Massendemonstration gegen Massenanlässe zusammen.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 256/11


Goa Alles so schön bunt hier Mit seinem Herkunftsort Goa hat Goa nicht mehr viel zu tun. Was aber nicht heissen soll, dass die Szene ihr Publikum verloren hätte. Nach einem Generationenwechsel begeben sich heute jüngere Menschen auf Trips in psychedelische Klangwelten. Teil sieben der Surprise-Serie über Subkulturen.

Ganz scheint Tom Rom selber nicht mehr so recht an die Zukunft der Goa-Szene zu glauben. Der Journalist, der sich nach eigenen Angaben seit über 30 Jahren für die psychedelische Kultur interessiert, blickt in seinem nostalgischen Buch «Goa – 20 Jahre Psychedelic Trance» in die Zukunft und kommt zum Schluss, dass das Genre in anderen Bewegungen aufgehen könnte. Er und sein Co-Autor, der Fotograf Pascal Querner, beklagen die zunehmende Kommerzialisierung und schlagen in ihrem Werk dennoch häufig grosse Töne an: «Psytrance ist ein Pfeil in der menschlichen Evolution, der neue Richtungen weist.» Nicht falsch liegen dürfte das Duo zumindest mit der Einschätzung, dass Goa wohl die bunteste aller Untergrund-Kulturen ist. «Eine optisch geprägte Szene», so Querner. Eine, die sich gerne farbenfroh dekoriert. Begonnen hat die Psytrance-Geschichte im indischen Goa, das bereits in den späten 60er-Jahren eine beliebte Destination für Hippies, Esoteriker und Wahrheitssuchende war. Ende der 80er-Jahre wurden für die Strand-Partys eigens Remixes damals angesagter Euro-Beat-Tracks angefertigt. Und in der Folge begannen Crossover-Nummern wie Sven Väths «Electrica Salsa» für eine kurze Zeit die Charts zu erobern, weltweit. Heute ist es auf Goa ruhig, nicht zuletzt, weil die Behörden die Party-Möglichkeiten stark eingeschränkt haben. Nach 22 Uhr musste Schluss sein, entsinnt sich Matthias Bürki, ein Goa-Kenner, der unlängst von einem Indien-Besuch heimgekehrt ist. Zwar sei durchaus noch tranceartige Musik gespielt worden, nur müsse die nun beim Tanzen spätabends via Kopfhörer genossen werden. «Vieles ist mittlerweile ziemlich profitorientiert, doch Goa zieht nebst besser Situierten nach wie vor viele Backpacker und Hippiegestalten an», erzählt Bürki. Und in der Schweiz selbst? Da sei die Szene weiterhin ziemlich gross, sagt eine junge Partyveranstalterin, die namentlich nicht erwähnt werden möchte. «Ich habe gar das Gefühl, die Szene werde zunehmend grösser.» Die 20-Jährige stiess 2006 auf den Goa, per Zufall, wie sie erklärt. Ziel ihrer Partys sei es, gemeinsam zu wachsen und weiterzukommen. «Als Kollektiv versuchen wir, unsere Ideologien und Visionen zum Ausdruck zu bringen.» Es gehe darum, die Menschen mit Liebe, Friede und Euphorie zu nähren. Laut ihr findet während der Sommermonate so gut wie jedes Wochenende irgendwo in der Schweiz ein Goa-Festival statt, meist unter freiem Himmel. So ein Anlass könne gut und gerne länger als 24 Stunden dauern. «In der warmen Jahreszeit findet das Ganze eher auf dem Land als in der Stadt statt, oft in Graubünden oder im Tessin. Aber eigentlich überall, wo es Platz gibt und keine Anwohner gestört werden.» Bei ihren eigenen Events würden sie SURPRISE 256/11

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VON MICHAEL GASSER

Farbig, locker und gerne bis in den Morgen hinein: Goa-Partys.

und ihre Kompagnons darauf achten, die Natur zu schonen und den Platz möglichst wieder so zu verlassen, wie man ihn vorgefunden hat. Das Feiern stehe bei den Partys im Vordergrund, gibt sie zu. Das Freisein, das Tanzen, das Kreieren einer anderen Welt, in der man sich friedlich ausleben könne. Erscheinen würden die Besucher meist im Hippie-Look. «Aber eigentlich ist alles akzeptiert.» Einen bestimmten Dresscode gibts keinen. Und die viel beschworenen Drogen? «Die spielen leider schon eine grosse Rolle», gibt die Baslerin zu. Allerdings sei es falsch, die Szene direkt mit illegalen Substanzen in Verbindung zu setzen. «Schliesslich findet man heute überall Drogen, an jedem Dorffest.» Bleibt noch die Musik: Ursprünglich wurde gerne argumentiert, die klinge wie eine exotische Variante des Techno. Längst ist das Genre fragmentiert, hat sich in Bereiche wie Darkpsy, Morning Trance oder Twisted aufgesplittert. Für unsere Partyorganisatorin sind die Bässe härter, treibender als etwa im House. «Der Sound ist oft sehr psychedelisch, dabei wird versucht, eine Art Ekstase auszulösen.» Und um das Monotone zu verhindern, werde gerne mit Melodien gearbeitet. Doch letztlich sind das Nebengeräusche, was für sie wirklich zählt: «Dass Menschen durch diese Musik aufblühen.» ■ Tom Rom/Pascal Querner: «Goa – 20 Jahre Psychedelic Trance», Nachtschatten Verlag 2010.

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Kulturtipps

Schuld und Sühne zwitschern: Klassiker in postmoderner Kurzform. «Bazar»: Gemüse aus dem kontaminierten Gebiet.

Buch Literatur häppchenweise

Ausstellung Das Leben danach

Zwei Studenten der University of Chicago twittern die grossen Werke der Weltliteratur.

Tschernobyl hat das Leben in der Ukraine radikal verändert. Die Künstlerin Pat Noser reiste in die Sperrzone und hat ihre vielfältigen Eindrücke in 42 Malereien transformiert.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON MICHAEL GASSER

Ob König Ödipus von Sophokles, Homers Odyssee oder Shakespeares Hamlet, ob Goethes Leiden des jungen Werther oder Defoes Robinson Crusoe, ob Lolita, Schuld und Sühne, Moby Dick oder Lady Chatterley – diese und noch viele andere Longseller dampfen Alexander Aciman und Emmett Rensin, beide Anfang 20, auf knapp zwei Seiten ein. Selbst den kompletten Harry Potter, Band 1 bis 7, schaffen sie auf gerade mal zweieinhalb Seiten. Dazu greifen sie zu einem der angesagtesten Medien: dem Twittern. In Portionen von jeweils 140 Zeichen filtern sie den Sinn aus allem, was in ihren Augen zu schwülstig, zu lyrisch, zu schwer verdaulich daherkommt. So wie Luther einst die Bibel in die Volkssprache übersetzte und damit für die breite Masse zugänglich machte, so übertragen sie die Weltliteratur, reduziert auf ihre wesentlichen Elemente, «in die verdichtete Sprache des Twitterns». Auf dass sich denn jede und jeder die dicksten Wälzer ohne die Plackerei des Lesens einverleiben kann. Kostprobe gefällig? Twitter 4, Harry Potter: «OMG Hogwards OMG habe zwei Freunde OMG Zauberei OMG Slytherins sind Nazis OMG böser Zauberer hat es auf mich abgesehen.» Wobei für Dummies gesagt sei, dass OMG für «Oh my (fucking) god!» steht. Solche und andere kryptische Kürzel werden dankenswerterweise für alle Nichteingeweihten in einem Glossar aufgeschlüsselt. Natürlich gibt es auch die passenden Usernames, ohne die Twitter-Botschaften im Vakuum des World Wide Web identitätslos verpuffen würden. Da tritt besagter Harry als @NarbenHarry auf, Macbeth wird zu @BigMac, Dracula zu @Zahnfleischbluten, Werther twittert als @FlotteLotte und Romeo und Julia unter @RomeostattHomöo und @JulieBaby. Die beiden Studis haben sich mit ihrer Twitteratur nicht weniger vorgenommen, als zum Beispiel den «armen Hamlet zu einem angesagten Youngster» zu machen. Ein bisschen Sprachstil fliesst dabei noch ein, von der Lyrik eines Shakespeare bis zu den Grammatikfehlern Huckleberry Finns. Das liest sich alles recht flott und amüsant. Aber … den totalen Durchblick hat nur, wer das Original gelesen hat. Denn Witz setzt immer noch Wissen voraus.

Dass Kernkraftwerke eine höchst unsichere Sache sind, weiss man nicht erst seit Fukushima. Sondern spätestens seit Tschernobyl 1986. Als sich der Reaktor-Unfall zum 20. Mal jährte, berichteten die Medien nochmals gross aus der Ukraine. Dies war der Ausgangspunkt für das Langzeitprojekt «Reise in die verbotene Zone» von Pat Noser (*1960). Es habe sie «wahnsinnig interessiert», was die um Tschernobyl verbliebenen Menschen für ein Leben führen würden, sagt die Künstlerin. Dank eines Stipendiums des Kantons Bern konnte sie ins Unglücksgebiet reisen, mehrmals. Überrascht habe sie – ihrer ausführlichen Vorrecherchen zum Trotz –, wie sehr die ehemalige Sowjetunion, auf deren Boden Tschernobyl lag, noch in den Köpfen der Bevölkerung präsent sei. Die meisten Menschen, denen sie begegnete, seien Rentner gewesen, erklärt Noser. Illegale Existenzen. Denn offiziell gilt das – nach wie vor kontaminierte – Gebiet unverändert als Sperrzone. «Wer da lebt, ernährt sich aus dem hauseigenen Garten», sagt sie. Denn Infrastruktur sei keine mehr vorhanden. Eine Zivilisation auf dem Rückzug. Die Bieler Künstlerin führte Tagebuch und versuchte, möglichst vieles mit ihrer Kamera festzuhalten. Wieder daheim, begann sie, die Bilder «der Nase nach» zu sichten. Längst nicht alle Fotos hätten sich dazu geeignet, in Malereien umgearbeitet zu werden. Weshalb man sich für die Ausstellung entschlossen hat, eine Auswahl von ihnen neben Nosers lichtstarken Gemälden zu positionieren. Ihr geht es nicht um Dekoratives, sondern darum, die Geschichten der Menschen um Tschernobyl zu zeigen. Noser arbeitet in ihre 42 Werke Fotografien und Fotocollagen ein. In entsprechend fotorealistischer Manier erscheinen Motive wie Mensch, Natur oder Nahrung. Ihre Suche nach dem Abgründigen schreckt nie zurück, auch nicht vor schon fast bedrohlich wirkenden Stimmungen. Mit nachhaltigem Ergebnis. Ist der Zyklus, ist das Thema denn nun für Noser abgeschlossen? «Ich kann mir gut vorstellen, dass ich weitermache», sagt sie. Und denkt auch schon leise über eine Ausstellung in der Ukraine nach.

Alexander Aciman, Emmett Rensin: Twitteratur. Weltliteratur in 140 Zeichen.

noch bis 28. August. Das dazugehörige Buch ist bei edition clandestin erschienen,

Sanssouci 2011. CHF 19.90.

CHF 38.00, www.pasquart.ch.

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Pat Noser: «Reise in die verbotene Zone», Ausstellung im CentrePasquArt, Biel,

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

France poliert Oberflächen von Steves Leben – und kratzt dabei auch daran.

Kino Polierte Fassaden Regisseur Cédric Klapisch macht aus sozialkritischem Stoff eine Schauspielerkomödie. Und er macht es clever. VON DIANA FREI

Börsenkurse, schicke Partys, Glasfassaden: Das ist die Welt von Steve, Trader, erst in London tätig, dann in Paris, eigentlich egal, solange die Millionen sich vermehren und die Frauen willig sind. Sein Alltag spielt sich im 23. Stock weit über dem Boden der Realität ab. Hier kleben die Börsenhaie reihenweise an den Scheiben, um ein Model anzugaffen, das sich für ein Werbeshooting an der Glaswand räkelt. Börsenkurse werden im amüsierten Smalltalk auf dem Flur verhandelt – auch wenn klar ist, dass per Mausklick gerade irgendwo 1200 Fabrikarbeiter auf die Strasse gestellt worden sind. Das moderne Leben ist simpel wie die Bedienung einer Waschmaschine. Genau da schiebt Steves neue Putzfrau derweil täglich seine schmutzige Wäsche rein. Steve mag es, wenn es glänzt, denn es interessiert ihn ohnehin nur die glatte Oberfläche des Lebens. Was ihn weniger interessiert: Dass France nach 20 Jahren Arbeit für die ortsansässige Fabrik im nordfranzösischen Dunkerque ihren Job verloren hat, weil das Unternehmen fast von einem Tag auf den anderen dichtgemacht hat. France hat alleinerziehend drei Töchter zu versorgen und fährt dafür als Wochenaufenthalterin nach Paris zur Arbeit. Ihre Welt ist: Chaos, Gefühle, Improvisation. Sie knallt als Störfaktor in Steves Leben. Geschickt webt «Ma part du gâteau» die zwei unterschiedlichen Lebenswelten ineinander und führt dem Publikum sehr klar vor Augen, dass die, die die Fäden ziehen, unter Umständen keine Ahnung davon haben, was sie in der Realität anrichten. Hätte Ken Loach die Geschichte verfilmt, wäre ein eindrückliches Arbeiterdrama daraus geworden. Cédric Klapisch («L’auberge espagnole»), der auch das Drehbuch geschrieben hat, kitzelt zusätzlich den Witz aus der Situation heraus, arbeitet mit Mut zur Überzeichnung und einer grossartigen Karin Viard. Der Film spielt zwar mit Klischees, und ganz überraschend sind die inhaltlichen Entwicklungen keineswegs. Aber die Geschichte bleibt sozialkritisch und durchaus radikal. Im Ton unterhaltend, werden die Abhängigkeitsverhältnisse auf allen Ebenen sicht- und spürbar: Im Plot an sich, im Setting, in fast jeder Dialogzeile. Und genau das ist die Stärke des Films.

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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

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KIBAG Bauleistungen

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responsAbility, Zürich

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Odd Fellows, St. Gallen

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Coop

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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Velo-Oase Bestgen, Baar

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Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

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Augusta-Raurica-Loge Druidenorden Basel

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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Stellenwerk AG, Zürich

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www.bauernschlau.ch, Hof, Web, Kultur

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Axpo Holding AG, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

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Niederer, Kraft & Frey, Zürich

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Knackeboul Entertainment, Bern

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Locher Schwittay Gebäudetechnik GmbH, Basel

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Responsability Social Investments AG, Zürich

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Lions Club Zürich-Seefeld

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TYDAC AG, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Cédric Klapisch: Ma part du gâteau, 109 Min., mit Karin Viard, Gilles Lelouch u.a. Der Film läuft zurzeit in den Deutschschweizer Kinos. SURPRISE 256/11

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Ausgehtipps

Nicht springen! Übers Leben zu sinnieren aber erlaubt.

Bis der Grill explodiert: Camping-Idylle.

Baden Giraffencamping

Luzern Merkwürdige Bilder

«Camping Rimini»: 12. August bis 11. September,

Vor ein paar Jahren wollte der junge Luzerner Grafiker Benedikt Notter nicht mehr nur Grafiker sein. Also machte er sich mit Zeichenblock und Bleistift auf ins indische Varanasi, der heiligen Stadt der Hindus. Dort setzte er sich mit dem Tod seines Bruders und seiner eigenen Vergänglichkeit auseinander – und kam mit einer ganzen Serie einfacher, ausdrucksstarker, sinnlicher Zeichnungen über den Tod und das Sterben zurück nach Hause. Danach zeichnete er zum Thema Zuhause und machte Illustrationen, die er vom Texter Claudio Zemp beschriften liess – erschienen als regelmässige Kolumne im «Nebelspalter». Nun hat Notter wieder etwas Neues ausgeheckt: «Nicht ganz hundert merkwürdige Bilder und eine seltsam sinnlose Geschichte». Sollten auch nach dem Betrachten der Werke Fragen offen sein: Sie dürfen gerne direkt dem Autor gestellt werden, er betreut die Ausstellung zum Buch nämlich gleich selbst. Und zur Finissage gibts obendrauf noch originelle, sanfte und tiefgründige Klänge der Luzerner One-Man-Indie-Band Pink Spider. (fer)

Di bis So, 20.30 Uhr auf dem einstigen Campingplatz

Ausstellung von Benedikt Notter, 9 bis 19 Uhr, noch

Aue Baden. Karten bei Info Baden, 056 200 84 84

bis 20. August. Am 20. August Konzert «Pink Spider»,

und Aarau Info, 062 834 10 34.

19 Uhr, Erfrischungsraum, Rössligasse 12, Luzern.

www.sommertheater-baden.ch

www.benediktnotter.ch

Soll man die schönsten Tage im Jahr neben einem schnarchenden Ochsen verbringen? Soll sich das Rentnerpaar am voll aufgedrehten Ghettoblaster im Zelt nebenan freuen? Auf einem Campingplatz fragt man sich so einiges und übt sich dabei intensiv in Toleranz. Im Guten könnte man sagen: Eine Völkergemeinschaft schlechthin formiert sich da in einem Garten im Grünen. Paradiesische Zustände, auch wenn ab und an ein Camping-Grill explodiert und ein paar Spaghetti auf Nachbars Tisch landen. Die Compagnia Teatro Palino bringt auf dem idyllisch gelegenen alten Campingplatz unterhalb des Badener Schwimmbades das Freilichtspektakel «Camping Rimini» zur Aufführung. Mit dabei sind ein paar übergrosse Giraffen (die mit dem Teatro Pavana aus Amsterdam hergekommen sind) und Politiker aus der Region, zum Beispiel SP-Vizepräsident Cédric Wermuth und FDP-Ständerätin Christine Egerszegi. (dif)

Fixierte Vergänglichkeit: Performance im Labor.

Basel Flüchtige Kunst Eine Performance hängt nicht im Museum. Sie ist Handlung statt Ölgemälde und ist vorbei, wenn sie vorbei ist. Doch wie rettet man den vergangenen Live-Moment ins Jetzt? Mit der Ausstellung «archiv performativ: ein Modell» stellt sich das Forschungsprojekt archiv performativ, das am Institute for Cultural Studies in the Arts an der ZHdK angesiedelt ist, genau diese Frage. Während vier Wochen wird im Ausstellungsraum Klingental eine Art Labor aufgebaut und bespielt, damit sich das Publikum die verflüchtigte Kunst selbst wieder aneignen kann. Entworfen hat es das Künstlerduo Michael Meier und Christoph Franz aus Zürich, die bereits durch mehrere Kunstprojekte aufgefallen sind, in denen das Publikum mit dem Raumangebot interagieren konnte. Im Fokus stehen hier nun die Kunstszene im Raum Basel und konkret jene Performances, die zwischen 1998 und 2008 im Raum für Performance und Kunst Kaskadenkondensator in Basel gezeigt wurden. (dif) «archiv performativ: ein Modell»: 14. August bis 11. September 2011, Di bis Fr von 15 bis 18 Uhr, Sa und So von 11 bis 17 Uhr, Ausstellungsraum Klingental, Basel. www.ausstellungsraum.ch

Anzeige:

— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 — 26

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Horrorvisionen: die psychologische Gewalt der Anna Aaron.

So lebte einst Rosa A. Oder auch nicht – denn sie ist erfunden.

Winterthur Alles Anna

Alpnach Skulpturen in der Küche

Es begann als Rascheln, doch nun hebt im Blätterwald ein Rauschen an. Es kündet von Anna Aarons erstem Album «Dogs In Spirit», das dieser Tag erscheint. Mancher sieht in der 24-jährigen Baslerin bereits die neue Sophie Hunger, mit der sie das Plattenlabel teilt. Doch Anna Aaron ist anders: dunkler, unheimlicher und unberechenbarer. Ihre Songs pendeln zwischen Horrorvisionen und Hoffnungsbotschaften, ihr Gesang ist nach eigener Einschätzung «eine Art psychologische Gewalt». Die intensiven Klänge passen gut zur zweiten Protagonistin des Winterthurer Freilichtkonzertes. Anna Calvis rotlippiges Repertoire von Verführerin bis Furie haben wir an dieser Stelle schon im Frühling gepriesen. Seither entwickelte sich die Tour der englischen Gitarristin und Sängerin zum Triumphzug. Und damit das Gratiskonzert in der ehrwürdigen Steinberggasse nicht allzu dramatisch ausfällt, gibts vor dem Doppelpack Anna-Dramen ein paar Takte Rockabilly der Lokalmatadoren The Hillbilly Moon Explosion. (ash)

Die Räume des Gasthauses Pfistern im Oberwaldischen wurden in vergangenen Zeiten von Hotelgästen, Bediensteten und dem Militär rege genutzt. Doch seit Jahren stehen einzelne Zimmer, das Säli und die alte Küche leer. Per Kunstprojekt werden diese alten Räume nun als richtige «Frauenzimmer» wieder mit Leben gefüllt: Über 22 Künstlerinnen werden hier bis Anfang 2012 ihre Kunst vorübergehend einquartiert haben. So versammeln sich bei Ursula Stalder Fundstücke aus der Lagune Venedig zu einer Installation, die sich im Schrank einnistet. Derweil fügen sich in die Küche fragile Glassäulen ein und scheinen nun plötzlich die schwere Decke zu tragen, und im rosarot gestrichenen Zimmer 10 sind die wenigen Habseligkeiten der fiktiven Rosa A. zu bewundern. So gewährt Esther Wicki-Schallberger dem Publikum Einsichten in erfundene Frauenbiografien – wobei Assoziationen an alte Rollenbilder der Frau erwünscht sind. (dif)

So, 21. August, 17.30 Uhr, Steinberggasse, Winterthur.

Mo und Mi bis So, 10 bis 22 Uhr, Gasthaus Pfistern, Pfisternstrasse 2, Alpnach Dorf.

«Frauenzimmer 1», noch bis am 19. August, danach «Frauenzimmer 2».

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www.frauen-zimmer.ch

Luzern/Basel Putzige Weicheier Wer seine Band The Pains Of Being Pure At Heart nennt, legt keinen Wert auf eine hartes Image. Und so sagt Sänger Kip Berman über seine Jugend: «Ich war definitiv nicht cool. Ich bin zwar zu Punk-Konzerten gegangen, habe aber auch meine Hausaufgaben gemacht.» Das haben auch seine Mitmusiker und so spielt die Band aus New York die aktuell überzeugendste Musik für die verschupften Teenager dieser Welt. Die Songs sind knapp und konzis, die Melodien wehmütig wie weiland bei den Smiths und die Gitarren-Arrangements dicht und raumgreifend nach Art von My Bloody Valentine und dem Teenage Fanclub. Stilistisch ist das nach Jahren des 80er-Revivals nichts Besonderes mehr. Doch The Pains Of Being Pure At Heart haben ein selten geschicktes Händchen für die Sorte Melodien, gegen die zu argumentieren einfach nur sinnlos ist. Und zudem ist die Unbefangenheit, mit der diese jungen Leute weicheiern, schlicht putzig. (ash) Mo, 15. August, 21 Uhr, Südpol, Luzern; Di, 16. August, 20 Uhr, Sud, Basel. SURPRISE 256/11

Definitiv nicht cool: The Pains Of Being Pure At Heart.

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Verkäuferporträt «Um mich mache ich mir keine Sorgen» Patrice Bigler (36) ist der Verkäufer vor der Migros im Bahnhof Bern. Bei Surprise hat er eine Arbeit gefunden, der er in seinem Tempo, mit seiner Behinderung und mit seinem Suchthintergrund nachgehen kann.

«Zu Surprise gekommen bin ich dank dem ehemaligen Verkäufer Dänu Ramsauer. Er war drogenabhängig wie ich und ist vor zwei Jahren gestorben. Wir kannten uns schon lange, weil wir zusammen in der ‹Chischte› waren. Als wir uns Jahre später in Bern wieder trafen, gab er mir den Tipp mit Surprise. Mittlerweile bin ich seit gut fünf Jahren dabei, bin froh um den Nebenverdienst und schätze den Kontakt zu den Kunden und den Leuten im Vertriebsbüro Bern. Meinen Lebensunterhalt finanziert die Invalidenversicherung, weil ich CP, Cerebralparese, habe. Das sind Lähmungen vom Gehirn aus, die Bewegungsstörungen auslösen. Man sieht es bei mir am Zittern der Hände und daran, wie ich gehe. Mit diesem IV-Entscheid war ich damals überhaupt nicht einverstanden: Ich war noch keine 25, frisch aus der Haftanstalt Witzwil entlassen, wo ich dreieinhalb Jahre wegen Dealerei, Einbruchdiebstahl und Hehlerei gesessen hatte, und wollte mein Leben neu organisieren. Zu diesem Zweck hatte ich mir eine 50-Prozent-Stelle in der VEBO-Genossenschaft organisiert, die Leuten mit Behinderung in Solothurn Arbeitsplätze bietet. Einen Tag vor Stellenantritt hatte ich ein Gespräch mit einem IV-Beamten. Und der hat innerhalb von drei Minuten alles kaputtgemacht, was ich geplant hatte. Er teilte mir mit, ich kriege ab jetzt eine hundertprozentige IV-Rente. Meinen Vorschlag von 50 Prozent Rente und 50 Prozent Arbeiten fegte er vom Tisch und sagte mir, dazu sei ich sowieso nicht fähig, ich sei ein hoffnungsloser Fall. Nicht einmal versuchen liess er es mich. Seither habe ich in Solothurn und Bern in Werkstätten für Behinderte oder Drogenabhängige gearbeitet, meistens mit Holz, weil ich im Jugendheim Aarburg angefangen hatte, Möbelschreiner zu lernen. In der Werkstatt in Bern schickten sie mich jedoch wieder weg, weil ich zu langsam sei. Das hat mir nicht eingeleuchtet, denn schliesslich waren das geschützte Arbeitsplätze. Wie dem auch sei, bei Surprise habe ich solche Probleme nicht, da kann ich die Arbeit selbst einteilen und in meinem Tempo arbeiten. In meinem Leben habe ich schon unzählige Wechsel und viel Trauriges erlebt: Als ich ein Jahr alt war, liessen sich meine Eltern scheiden und mein Vater erhielt das Sorgerecht, weil meine Mutter eine Fahrende ist. So war das damals. Ich wuchs mit meinem Vater, seiner neuen Frau und zwei Halbgeschwistern auf. Im Turnunterricht der ersten Klasse bat mich der Lehrer, das Unterhemd unter dem T-Shirt auszuziehen wegen des Schwitzens. Dabei entdeckte er blaue Flecken auf meinem Rücken. Ich behauptete, ich sei die Treppe heruntergefallen. Doch das glaubte er mir nicht und brachte mich stattdessen zum Arzt. Der sagte, das seien eindeutig Spuren von Peitschen- und Gürtelhieben. Und so war es. Die Reaktion meines Vaters auf die Intervention der Vormundschaftsbehörde war: ‹Macht mit ihm, was ihr wollt.› Ich kam erst in die psychiatrische Kinderbeobachtungsstation in Biberist, dann in ein Kinder-

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BILD: ANDREA BLASER

AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

heim in Grenchen. Mit zehn fing ich an, auf die Kurve zu gehen, Brüche zu machen, Alkohol zu trinken. Irgendwann konnten sie im Grenchner Heim die Verantwortung nicht mehr übernehmen und schickten mich zurück nach Biberist. Die Wochenenden zu Hause waren der Horror. Die Atmosphäre war lieblos, und wir begrüssten uns nur mit ‹Tschou Arschloch› und nannten uns ‹Dumme Sau› oder ‹Schafseckel›. Heute habe ich mit niemandem von meiner Familie mehr Kontakt. Meine leibliche Mutter liess ich mal suchen, doch ihre Spuren verlieren sich an der Schweizer Grenze. Als ich zwölf wurde, meldete sich die Jugendanwaltschaft, und ich musste Biberist verlassen. Es folgten Jahre in verschiedenen Jugendheimen. Meine letzte Station war die ‹Geschlossene› in Aarburg, weil ich immer wieder abhaute. Mit 18 wurde ich entlassen und stand auf der Strasse. Im nahegelegenen Olten schloss ich mich einer Gruppe Alkis an, schlief am Bahnhof und fing an, meinen Lebensunterhalt mit Dealen zu verdienen. Erst dealte ich nur, konsumierte aber selbst keine Drogen. Doch das hielt nicht lange an, und ich fing an, Heroin reinzuziehen. Heute nehme ich noch meine tägliche Dosis Methadon, dazu konsumiere ich Kokain, wenn ich es mir leisten kann. Nachrichten wie der Tod von Amy Winehouse berühren mich nicht. Ich mache mir auch um mich nicht unbedingt Sorgen. Wenn aber Kollegen wie der Dänu sterben, dann nimmt mich das recht mit.» ■ SURPRISE 256/11


Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

Josiane Graner Basel

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Programm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

Andreas Ammann Bern

Marlies Dietiker Olten

Jela Veraguth, Zürich Wolfgang Kreibich, Basel Kurt Brügger, Basel Anja Uehlinger, Baden

Peter Hässig, Basel Tatjana Georgievska, Basel Peter Gamma, Basel René Senn, Zürich

Ausserdem im Programm SurPlus: Marika Jonuzi, Basel Fatima Keranovic, Baselland Bob Ekoevi Koulekpato, Basel Jovanka Rogger, Zürich

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

256/11 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 256/11

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Geschenkabonnement für: Vorname, Name

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die vom gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Datum, Unterschrift 256/11 Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch

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Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel www.strassenmagazin.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Geschäftsführung Paola Gallo, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@strassenmagazin.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer (Nummernverantwortlicher), Diana Frei redaktion@strassenmagazin.ch Ständige Mitarbeit Alexander Jungo (Korrektorat), Delia Lenoir, Irene Meier, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Annette Bouteiller, Rudolf Bussmann, Davide Caenaro, Michael Gasser, Luc-François Georgi, Isabel Mosimann, Patric Sandri Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15 000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 61 Theres Burgdorfer, t.burgdorfer@strassenmagazin.ch

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Dazu passend: Leichtes T-Shirt, 100%Baumwolle, für Gross und Klein.

Endlich wieder Sommer! Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Herren CHF 25.– S (schmal geschnitten) Kinder CHF 20.– XS S Alle Preise exkl. Versandkosten.

Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

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Ist gut. Kaufen! Wer etwas verkauft, braucht Geld. Schlichte Wahrheit – gute Sache. Denn 50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute. Alle Preise exkl. Versandkosten.

Surprise Zeitungs-Taschen (34 x 36 cm); CHF 37.50 neon-orange schwarz

Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 40.– rot blau schwarz

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Surprise Rucksäcke (32 x 40 cm); CHF 89.– schwarz rot

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch SURPRISE 256/11

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Von Aarberg bis Zuoz. Surprise gibt es beim Strassenhändler Ihres Vertrauens. Oder im Abo per Post.

24 Ausgaben für 189 Franken oder als Gönner-Abo für 260 Franken. Gutes lesen, Gutes tun und gleich bestellen! www.strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch, Spendenkonto PC 12-551455-3 Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99


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