Surprise Strassenmagazin 259/11

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Alpöhi Der Hund als Schafhirte Ausgespuckt: Gefährliches Spiel mit Speichelproben

«Mobbing ein Gesicht geben» – Schulsozialarbeiter im Gespräch

Nr. 259 | 23. September bis 6. Oktober 2011 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch

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Titelbild: Fotolia

Für diese Ausgabe unterhielt sich meine Redaktionskollegin Diana Frei mit zwei Schulsozialarbeitern. Ehrlich gesagt, wusste ich bis vor Kurzem gar nicht, dass es solche heutzutage in vielen Lehranstalten gibt. «Schulsozis» dienen als Anlaufstelle bei verschiedenen Problemen, von Liebeskummer bis Mobbing. Meine erste Reaktion war: Wozu braucht es das? Früher ging es doch auch ohne. Ich war nämlich als Schüler kein Unschuldslamm. Eines Tages wurde ich mit drei Klassenkameraden zum Rektor zitiert. Dort hiess es, wir würden andere Mitschüler mobben. Der Rektor war ein kluger Mann, der uns zunächst ein bisschen das Ego massierte. Wir wären den anderen offenbar voraus, besser mit Worten, Leadertypen halt. Das aber, mahnte er, bringe Verantwortung mit sich. Wir sollten unsere Überlegenheit in den Dienst der Schwächeren stellen, statt RETO ASCHWANDEN sie zu schikanieren. Und für den Fall, dass wir diesen Appell an unser soziales Ge- REDAKTOR wissen ignorieren würden, stellte er auch gleich die Konsequenzen klar: Verwarnung, Ultimatum, im schlimmsten Fall Schulverweis. Das wirkte. Insofern als wir mit den Schikanen aufhörten. Frieden brachte es aber nicht in die Klasse, bloss eine Art Waffenstillstand. Wir fühlten uns als Sündenböcke und grollten insgeheim jenen, die uns vor den Rektor gebracht hatten. «Heute ist alles mehr oder weniger okay, man redet einfach ein bisschen drüber», hielt Kollegin Frei den Schulsozialarbeitern im Interview vor. Wieso eben nicht alles okay ist, warum simple Schuldzuweisungen nichts taugen und wie man Schüler dazu bringt, sich mit der eigenen Rolle in Konflikten auseinanderzusetzen, lesen Sie ab Seite 16. Konflikte gibt es auch in der angeblich heilen Bergwelt. Seit sich hierzulande Wolf und Bär wieder ansiedeln, klagen Schafhalter über getötete Tiere. Eine Schutzmassnahme sind speziell ausgebildete Hunde. Auf abgelegenen Alpen verteidigen sie ihre Herde gegen Angriffe von Raubtieren – und manchmal auch gegen harmlose Wanderer. Das sorgt für Ärger und das Gesetz kennt keine Gnade: Schafhalter Jachen Andri Planta musste seinen Schutzhund Balu einschläfern lassen, nachdem der dreimal zugebissen hatte. Dabei wären alle Beteiligten heil geblieben, hätten die Wanderer einen kleinen Umweg in Kauf genommen. Doch heutzutage nimmt der Mensch seine egozentrische Anspruchshaltung auch auf die Alp mit: Jetzt komme ich und alle anderen machen Platz. Diese Einstellung findet sich nicht nur bei Wanderern. Wie der Hund im Streit zwischen Naturschützern, Schafzüchtern und Wandervögeln zum Sündenbock wird, erfahren Sie ab Seite 10. Ich wünsche Ihnen spannende Lektüre Reto Aschwanden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 259/11

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BILD: DOMINIK PLÜSS

Editorial Hunde, Schafe, Sündenböcke


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10 Herdenschutz Der Hund als Sündenbock BILD: AGRIDEA

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Inhalt Editorial Von Hirten und Herden Basteln für eine bessere Welt Sitzend wählen Aufgelesen Legoland ist überall Zugerichtet Prügel auf dem Parkplatz Leserbriefe Schöner Schein der Mitbestimmung Porträt Kultur im Bergkessel Kurzgeschichte Verena Stössinger: Verstecken Le mot noir Unter dem Gipser Pop Zornige Zürcherin Kulturtipps Schlaflose Eltern Ausgehtipps Nordische Raufbolde Verkäuferporträt Der Messingkäfer Programm SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

Im Frühtau zu Berge und dann das Alpenpanorama geniessen – so stellt sich der Wanderer einen gelungen Ausflug vor. Doch immer öfter versperrt auf halber Höhe ein Herdenschutzhund den Weg. Die Bewacher von Schafen und Ziegen nötigen manch einen Berggänger zu einem Umweg. Das sorgt für Streit, doch der Konflikt zwischen Mensch und Hund ist letztlich nur ein Scheingefecht – dahinter tobt der Kampf um Isegrimm und Meister Petz.

13 Gesundheit Die Gen-Spekulanten BILD: FOTOLIA

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Werde ich dereinst an Alzheimer erkranken? Neige ich zu Alkoholismus? Wer wissen will, was sein Erbmaterial über ihn verrät, kann für 150 Franken ganz einfach einen Gentest machen lassen. Das US-Unternehmen 23andMe analysiert Speichelproben und errechnet daraus Wahrscheinlichkeiten für Krankheiten und Charaktereigenschaften. Wer eine solche Analyse anfordert, lässt sich auf ein gefährliches Spiel ein. Denn manchmal ist es einfach besser, nicht genau zu wissen, was das eigene Leben bringen könnte.

BILD: DOMINIK PLÜSS

16 Schulsozialarbeit Ambulante Praxis in der Schule Sie sind nicht Teil der Schule, bewegen sich aber täglich in vielen Schweizer Lehranstalten: Die Schulsozialarbeiter. Sie kümmern sich um Liebeskummer, holen Jugendliche aus dem Bett und setzen sich mit der Klasse zusammen, wenn Schüler gemobbt werden. Sie sind Kumpel, Berater und Respektspersonen in einem. Was sie nicht sein wollen: die Justizbehörde der Schule. Zwei Schulsozialarbeiter erzählen aus ihrem Alltag und von Gratwanderungen, die ihnen das System Schule manchmal abverlangt.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

Nehmen Sie ein grosses Stück Karton (zum Beispiel einen auseinandergenommenen Umzugskarton) und zeichnen Sie darauf die seitlichen Umrisse eines Sessels Ihrer Wahl.

Schneiden Sie das Seitenteil mit einem Teppichmesser oder einer guten Schere aus.

Benutzen Sie das ausgeschnittene Stück als Schablone und wiederholen Sie den Vorgang.

Kleben Sie die zwei Stücke mit gutem Kartonleim aufeinander.

Kleben Sie nun Stück für Stück aufeinander, bis Sie auf dem immer breiter werdenden Sessel angenehm sitzen können. Haben Sie keine Angst! Er würde auch 100 Kilogramm locker aushalten.

Bemalen Sie den Sessel mit der Farbe, die Ihrer politischen Couleur entspricht. Auch Mischfarben oder Muster sind erlaubt. Lassen Sie Ihrer Kreativität freien Lauf: Vielleicht wollen Sie ihn zusätzlich mit Köpfen und Wahlsprüchen aus Prospekten und Zeitungen verzieren?

Sammeln Sie die Wahlunterlagen und Zeitungsausschnitte zum Thema auf dem Sessel und legen Sie einen Kugelschreiber dazu. Ihr Wahlsessel wartet nun auf Sie – bis spätestens am 23. Oktober! www.recyclingbasteln.de

Basteln für eine bessere Welt In diesen Tagen sollten Ihnen, so Sie im Besitz des roten Passes sind, die Unterlagen für die Eidgenössischen Wahlen vom 23. Oktober ins Haus flattern. Wenn Sie in letzter Zeit aufmerksam Surprise gelesen haben, so wissen Sie: Die Demokratie sind wir. Damit Ihre Wahl im hektischen Alltag nicht vergessen geht, empfehlen wir: Basteln Sie sich einen Wahlsessel. Er wird Sie dazu einladen, sich einmal in aller Ruhe auf ihn zu setzen und die Köpfe auszusuchen, die Sie die nächsten vier Jahre im Parlament vertreten sollen. SURPRISE 259/11

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Erfreuliche Nachricht Hamburg. Hinz&Kunzt hat sich «Tagesschau» -Sprecherin Judith Rakers als Botschafterin an Bord geholt. Im Gespräch mit dem Hamburger Strassenmagazin erzählt sie, dass bereits ihre erste Reportage vor 15 Jahren die Geschichte eines Obdachlosen war. Im Gespräch gibt sie zu bedenken, dass ein journalistischer Grundsatz darin besteht, sich nie mit einer Sache gemein zu machen. Doch: «Mir ist diese Haltung zunehmend schwergefallen, weil ich finde, dass es einfach Projekte gibt, die ZU GUT sind, um sich nicht zu engagieren.»

Kleine Teile, grosser Erfolg London. The Big Issue geht der Frage nach, wieso Lego auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten eine Erfolgsstory bleibt. Und gelangt zur Antwort: weil die Bauteile längst ihren Weg aus dem Kinderzimmer herausgefunden haben. Mit dem Klassiker unter den Bauklötzchen werden heute historische Augenblicke nachgebaut (königliche Hochzeit von Kate und William), Blockbuster nachgespielt («Star Wars», «Harry Potter» auf You-Tube), und Kunst kopiert (Damien Hirsts in Formaldehyd eingelegter Tigerhai).

Höhlenmenschen München. Diese Wohnideen könnten in einem Immobilienmagazin als besonders innovativ gefeiert werden: Eine Stange, elegant in die Ecke einer Höhle gebohrt, dient als Garderobe. Oder eine Fassade mit einladender Fensterfront, eingelassen in eine Felswand. Die Sache hat nur einen Haken: Die Bewohner interessieren sich nicht für Immobilienmagazine, ja nicht einmal für irgendwelche Form von Zivilisation. Der Magnum-Fotograf Alec Soth hat Obdachlose und ihr neues Zuhause in der Wildnis, in Holzhütten, Steinhöhlen und Hausbooten dokumentiert.

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Zugerichtet Eine kurdische Hochzeit Drei Männer laufen nervös vor dem Verhandlungssaal auf und ab, bemüht, einander nicht zu sehen. Der eine, Herr Goran*, Gastronom, 49 Jahre alt, mit ehrfurchtgebietendem Walrossschnauz. Er ist der Geschädigte. Die beiden anderen, Berxwedan und Rebaz, beide 29-jährig, kämpfen vor Obergericht für einen Freispruch. Die erste Instanz hatte sie schuldig gesprochen wegen Körperverletzung. Sie sollen den Gastronomen Goran verprügelt haben. Berxwedan berichtet: «Es war an einer Hochzeitsfeier, mehrere Hundert Leute waren da, alle Gäste miteinander verwandt und bekannt. Aus demselbem Dorf in Kurdistan.» Beide jungen Männer sind Sprosse einer Schafzüchterfamilie und kamen vor zehn Jahren als Asylbewerber in die Schweiz. Der eine arbeitet als Kurier, der andere auf dem Bau, Deutsch kann keiner von beiden. Der Übersetzer übersetzt die Frage des Richters, ob es stimme, dass die Familie zerstritten sei. «Nein, wir gehören alle zusammen, ausser Goran», sagt Rebaz und zeigt nach hinten zum Schnauzträger in der Zuschauerreihe. «Der gehört nicht zu uns.» Es passierte auf dem Parkplatz. Ehe Goran kapierte, was los war, bekam er einen Faustschlag ins Gesicht. Und noch einen und noch einen. Mindestens drei Männer prügelten auf ihn ein. Seine Frau und seine drei Töchter wollten ihm zu Hilfe eilen, wurden zu Boden geschupst und bedroht. Wüste Beschimpfungen fielen, «Arschloch, Idiot, ich bring dich um», Messer wurden gezückt, Bierflaschen flogen. Als die Polizei kam, stoben die Männer auseinander wie die Hühner vor dem Fuchs. Nur Goran blieb am Boden liegen.

Die Ermittlungen im kurdischen Milieu waren schwierig. Ein Zeuge hat zwar die Schlägerei beobachtet, will die Angreifer aber nicht erkannt haben und überhaupt kann er sich an nichts mehr erinnern, es sei alles schon zu lange her. Keiner der Hochzeitsgäste hat etwas gesehen. Alle schweigen. Fast alle. Im Laufe der Einvernahmen findet die Polizei heraus, dass Goran beschuldigt wird, vor 20 Jahren in seinem kurdischen Dorf eine Frau, nämlich die Ehefrau des einen und die Schwester des anderen mutmasslichen Angreifers, vergewaltigt zu haben, als diese noch ein Kind war. Der Familienrat habe beschlossen, dass Goran aus der Familie ausgeschlossen werde und niemand mehr mit ihm reden dürfe. Der Richter rollt die Geschichte der Familienfehde vor Gericht auf und sagt zu Berxwedan: «Sie haben also ein Motiv, Herrn Goran zu verprügeln.» Berxwedan lässt seiner Zunge freien Lauf: «Wenn das der Grund wäre, dann hätte ich nicht bloss geschlagen, und vor allem hätte ich es nicht vor Zeugen getan.» – «Naja», wirft der Richter mit sarkastischem Unterton ein, «man rächt sich doch überhaupt nicht, oder?» Die Verteidiger fordern einen Freispruch, die Zeugen hätten widersprüchliche Aussagen gemacht. Das Obergericht hält sie jedoch für glaubwürdig, bestätigt das Urteil der ersten Instanz und verurteilt Berxwedan und Rebaz zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu 100 Franken sowie 1000 Franken Busse. Der dritte Mann im Spiel hatte das erstinstanzliche Urteil akzeptiert. Für ihn war die Sache erledigt, als er die Faust sprechen liess. *Persönliche Angaben geändert. ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 259/11


Leserbriefe «Die nächsten Generationen werden uns vorwerfen, nichts gegen die Klimaerwärmung unternommen zu haben.»

Nr. 257: Das grosse Geschäft «Unsere defekte Demokratie» Eine Scheindemokratie, die besonders glänzt Zuerst möchte ich Ihnen versichern, wie sehr ich Ihr Magazin schätze und immer gerne lese! Auch den Artikel über «unsere defekte Demokratie» habe ich interessiert gelesen. Aber ich bin mit der Analyse von Christof Moser nicht ganz einverstanden. Denn in der viel gelobten Schweiz haben wir meines Erachtens überhaupt keine Demokratie, nur einen schönen Schein davon. Wir leben einen Demokratismus, das ist eine Oligarchie im Gewand einer Volkssouveränität. Auf der ganzen Welt gilt: Wer nichts hat, hat nichts zu sagen. Vor dem Fabriktor hat jede Demokratie ein Ende. Das ist bei uns genau gleich. Aber bei uns vernebelt ein schöner Schein einer heilen Mitbestimmungswelt die triste Wirklichkeit. Das Perfide dabei ist, dass der äussere Schein in der Schweiz besonders glänzt. Aber

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch

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das Volk macht nicht mit. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung hat sich desinteressiert abgewandt. Sie sagt mit Recht: Die Oligarchen («die da oben») machen sowieso, was sie wollen. Eine ganz traurige Rolle spielt dabei die Linke, die immer noch meint, in den Exekutiven mitmachen zu müssen, aus persönlichem Eigennutz und ohne zu merken, dass sie bloss ein Feigenblatt ist, das die Unanständigkeit der Oligarchieherrschaft verdeckt. Paul Jud, Titterten Surprise allgemein Jede Ausgabe erwischen Euch gebührt für Surprise ein riesengrosses Kompliment, liebe Macherinnen und Macher desselben … Die Artikel sind gehaltvoll, oftmals ein richtiger Lesegenuss, oft auch bewegend, aufwühlend (Klima-Abgrund!); die Rubrik Basteln für eine bessere Welt ist regelmässig höchst witzig, die ganze Idee dahinter löblich – alles in allem: ein gelungenes Produkt, bravo! Und macht weiter so! Konkret ist es die Serie «Subkulturen», die mich dazu brachte, jede der vergangenen Ausgaben erwischen zu wollen – abonnieren mag ich Surprise bloss nicht, weil ich den Kontakt mit den VerkäuferInnen schätze. Daniel Gygax, Aesch Gut recherchiert zur Selbsthilfe angeregt Seit Jahren kaufe ich die Hefte auf der Strasse und möchte euch einfach mal sagen, wie begeistert ich bin! In jeder Ausgabe hat es mehrere Artikel, die ich sehr interessiert lese – gut recherchiert, gut geschrieben, immer wieder neue spannende Themen – einfach super! Dass dabei auch noch Menschen zur Selbsthilfe angeregt und unterstützt werden, macht das Ganze für mich noch bewunderungswürdiger. Ich freue mich schon auf weitere spannende Hefte. Sylvia Seifert, Wädenswil

BILD: ZVG

Nr. 256: Klima-Abgrund «Klimaschutz ist nicht sexy» Gewusst und nichts getan Es ist noch nicht lange her, nach dem Zweiten Weltkrieg, da hat die Nachfolgegeneration ihren Eltern den Vorwurf gemacht: «Ihr habt von all den Gräueln der Massenvernichtung von Menschen in den Konzentrationslagern gewusst und habt nichts dagegen unternommen.» Aber damals hiess etwas dagegen zu unternehmen, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen. Unsere nächsten Generationen werden uns mal vorwerfen, von den Folgen unserer Handlungen gewusst zu haben und doch nichts gegen die Klimaerwärmung unternommen zu haben. Heute würde etwas dagegen zu tun nicht unser Leben gefährden, höchstens etwas an Komfort, Luxus und Bequemlichkeit abverlangen. Weiterhin untätig zu sein bedeutet, eine ungleich grössere Massenvernichtung von Menschenleben verantworten zu müssen. Gerhard Cornu, Felben-Wellhausen

Starverkäuferin Eva Herr Peter Gloor aus Basel nominiert Eva Herr als Starverkäuferin: «Seit einiger Zeit steht die sympathische Starverkäuferin unter der Arkade vor dem Buchladen Bider und Tanner und meinem Büro, Aeschenvorstadt 4. Die Dame ist sehr zurückhaltend, versteht es aber, sich doch bemerkbar zu machen und die Leute anzusprechen. Wenn ich bei ihr die neue Nummer kaufe, schildert sie mir in Kürze, was ich Neues darin finde. Ich habe den Eindruck, dass sie auch liest, was sie verkauft. Zudem stand sie auch bei der grossen Hitze stets an ihrem Platz.»

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Porträt Ausbruch in die Enge Catherine Huth hat lange Jahre Performancekunst gemacht und gegen fixe Strukturen aufbegehrt Heute übt sich die gebürtige Baslerin in der Kunst einer Festanstellung – als Geschäftsleiterin der IG Kultur Luzern. VON FABIENNE SCHMUKI (TEXT) UND ROLAND SOLDI (BILD)

dienen. Und das mit einer möglichst anspruchslosen Tätigkeit: Sich zwei Dingen gleichzeitig mit Hingabe widmen zu müssen, entsprach dem Kreativkopf nicht. Lieber hatte sie Tätigkeiten, die sie mit wenig Herzblut erledigen konnte: Popcorn machen im Kino, Arbeit im Service oder an der Bar. Eine Zeit lang sortierte sie sogar Abfall. «Morgens um fünf stand man dann vor einer Tonne Abfall», schildert Huth, und dann kam Glas zu Glas und Haushaltartikel zu Haushaltartikel. Geldjob Abfallsortieren, Leidenschaft Kunst schaffen – schöner könnte man den Gegensatz wohl kaum leben. Doch am 1. Juli 2009 änderte alles: Catherine Huth trat ihr Amt als Geschäftsleiterin der IG Kultur Luzern an. Was für ein Bruch: von der totalen kreativen Freiheit ins Büro. «Mit 35 Jahren hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen festen Job», sagt Huth trocken. Dass sie keine Matura hat, stört ihr Arbeitsumfeld weniger als Catherine Huth selbst. Deswegen absolviert sie heute eine Wirtschaftsausbildung. «Ich mache die Dinge zwar immer noch so, wie ich sie vorher gemacht habe: nach meinem Empfinden und meinen Vorstellungen.» Aber es tue trotzdem gut, das Handwerk mal von der theoretischen Seite anzugehen. «Eine schweizweit einzigartige Sache», sagt Huth über die IG Kultur Luzern. Fast alles, was im Kanton Luzern Kunst und Kultur veranstaltet, ist Mitglied, vom renommierten KKL über das bekannte Lucerne Festival bis hin zu innovativen Veranstaltungen wie dem Comic-Festival Fumetto oder kleinsten Galerien und Konzertlokalen. Das sorgt für eine riesige Heterogenität und für viel Abwechslung. Die Kleinheit der Stadt und die Tatsache, dass sich alle untereinander kennen, wirke sich mal positiv, mal negativ auf ihr Schaffen aus, erzählt Huth. Manchmal erstaune sie die konservative Denkweise der Zentralschweizer Kulturschaffenden, dann wieder überrascht man sie mit einem neuen Konzept, einer frischen Entwicklung. Das Künstlerinnen-Duo Huth & Frey hat nach 15 Jahren erstmal eine Pause eingelegt. Dafür lässt sich Catherine Huth nun von der Kultur bewegen – und das gut und gerne, das sieht man dieser Frau an. Ausein-

Berge und Natur sagen Catherine Huth nichts. Da mag es durchaus erstaunen, dass die Wahlheimat der gebürtigen Baslerin Luzern heisst. Ausgerechnet die Stadt, die dank ihrer Lage am Ende des Vierwaldstädtersees täglich unzählige Touristen anzieht. Die Stadt, welche der Pilatus überragt, der wie ein besorgter Grossvater auf sein Kind an der Reuss hinunterschaut. Dass es Luzern getroffen habe, sei Zufall, meint die Geschäftsleiterin der IG Kultur Luzern. Wie so vieles in ihrem Leben. Vor 18 Jahren hatte sie genug: Eine nicht gerade glamouröse schulische Laufbahn und wiederholtes Aufbegehren gegen die Regeln und Grenzen des Schulsystems veranlassten die junge Catherine Huth, sich nach anderen Ausbildungsmöglichkeiten umzusehen. Damals war sie in die Theaterwelt geradezu vernarrt, sah sich bereits als Bühnenbildnerin Traumlandschaften kreieren. Die Enkelin des bekannten Schweizer Historikers und Professors Edgar Bonjour war es satt, immer als ebensolche (miss-)verstanden zu werden. «Geschichte hat mich noch nie interessiert», schmunzelt Huth, sei sie doch vielmehr eine Frau, die nach vorne und nicht zurückschaue. Just zu der Zeit also, als Catherine die Nase von Basel und von der klassischen Schulausbildung voll hatte, kurz vor ihrer Matura, erfuhr sie von der Gestaltungsschule M + F in Luzern. Der Umzug in die Zentralschweiz war schnell vollzogen, nur «dieses Eingekesseltsein von den Bergen» bereitete ihr Sorgen. Das Gefühl blieb bis heute, gibt Huth zu: «Ich habe immer wieder Momente, wo es mir zu eng wird und ich denke, jetzt muss ich hier weg. Aber am Ende bleibe ich dann doch hier.» Nicht zuletzt, weil sich ihre Arbeit, alle ihre Kontakte, das Netzwerk auf den luzernischen Raum konzentrieren. Catherine Huth hat die Luzerner Kulturszene erst von innen kennengelernt. Schon gegen Ende ihrer Zeit an der M + F hat sie begonnen, mit der 16 Jahre älteren Künstlerin Pia Frey zusammenzuarbeiten. Wieder war es das Aufbegehren gegen den Schulkanon, das die beiden Künstlerinnen zusammenführte. Sie begannen, gemeinsam Performances zu erarbeiten. Geldjob Abfallsortieren, Leidenschaft Kunst schaffen – Jedes Medium war Huth & Frey zur Umsetschöner könnte man den Gegensatz wohl kaum leben. zung ihrer gesellschaftlich und politisch gefärbten Themen recht. 2001 gewannen Catherine Huth und Pia Frey als erste Künstlerinnen das Stipendium für Luandersetzungen, Diskussionen und Konflikte gehören zu einem lebenzerner Kunstschaffende im Atelier in Chicago. Während dem sie sich für digen Kulturleben. Und darin hat sie sich früh geübt: «Bei meinem ihr neues Projekt mit dem Prozess des Wartens auseinandersetzten, Grossvater lernte ich, mir die Hörner abzustossen.» Edgar Bonjour und überschlugen sich im Herbst die Ereignisse: der Anschlag auf das World sie seien kaum je ein und derselben Meinung gewesen. Dadurch habe Trade Center, das Grounding der Swissair, das Leibacher-Attentat in sie gelernt, ihren Standpunkt zu vertreten und sich durchzusetzen. Sie Zug. Kurz: Der Katastrophenherbst brach über die Welt herein. hat sogar ein Foto von ihrem Grossvater im Büro, an einem Regal, hin«Dennoch war die Zeit in Chicago grossartig», erinnert sich Huth. ter all den anderen Bildern und Flyers, hängt ein schwarz-weisses Foto. Vier Monate weit weg von allem, keine Verpflichtungen, keine GelegenEdgar Bonjour sitzt an einem übervollen Schreibtisch und grinst breit in heitsjobs, für die Lebenshaltungskosten war dank dem Stipendium gedie Linse. Ein fröhlicher Mann, so scheint es. Auch Geschichte bewegt, sorgt. Zu Hause, in Luzern, da jonglierte die Künstlerin stets zwischen genauso wie Kultur, die Berge versetzen kann. Und dafür muss man BerHerz- und Brotjob: zwei Tage Kunstschaffen, die restliche Zeit Geldverge nicht mal mögen. ■ SURPRISE 259/11

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BILD: AGRIDEA

Herdenschutz Vierbeiner zwischen zwei Fronten Herdenschutzhunde erhitzen die Gemüter. Einerseits jene von Wanderern, die von ihnen gebissen wurden, anderseits die von Herdenbesitzern. Diese sehen im Herdenschutz einen Freipass für Wölfe und Bären.

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VON STEFAN MICHEL

Drei Wanderer steigen in Richtung Creux de Champs in den Waadtländer Alpen. Als sie über eine Kuppe schreiten, kommt ihnen ein grosser, weisser Hund aufgeregt bellend entgegen. Im Hintergrund grasen rund 200 Schafe. Zwei weitere Hunde laufen mit erhobener Rute herbei. Die drei Vierbeiner sind Herdenschutzhunde, gezüchtet und ausgebildet, Schafe gegen Raubtiere zu verteidigen. Die Wanderer zögern, entscheiden sich aber weiterzugehen. Die Hunde laufen um sie herum, ihre anfänglich feindselige Haltung schlägt in freundlichen Begleitservice um. «Stopp!», ruft ein Mann hinter seiner Filmkamera hervor. Jachen Andri Planta, der vorderste der drei Wanderer, schüttelt den Kopf. Im Münstertal arbeitet er selber mit Herdenschutzhunden. «Meine Hunde hätten drei fremde Wanderer nicht durchgelassen», stellt er klar. Auch Riccarda Lüthi ist nicht zufrieden. Sie arbeitet für das Projekt Herdenschutz bei Agridea, einer Beratungsorganisation für Landwirtschaft und Entwicklung des ländlichen Raums. An diesem Tag in den Waadtländer Alpen begleitet sie Dreharbeiten für einen Informationsfilm über Herdenschutzhunde. Dass die Hunde die Wanderer nicht energisch genug abweisen, ist schlecht für die Filmproduktion, ansonsten aber kein Problem. Würde der Besitzer der Herde und der Schutzhunde nicht in Sichtweite dem munteren Treiben der Film-Crew zusehen, dann würden die tierischen Bewacher anders reagieren. Der Informationsfilm ist Teil einer Kampagne von Agridea und des WWF, um unfreundliche Begegnungen zwischen Berggängern und Herdenschutzhunden möglichst zu vermeiden. Fünf bis sechs «Beissunfälle» jährlich listen die Jahresberichte 2008 bis 2010 der «Nationalen Koordinationsstelle Herdenschutz» auf. Im Sommer 2011 waren auf 76 Alpen gegen 200 Herdenschutzhunde im Einsatz. Die Zahl steigt stetig, während die Anzahl Zwischenfälle konstant bleibt. Dass dieses nicht gerade grossflächig auftretende Problem so viel Aufsehen erregt, hat einen anderen Grund. Oder besser zwei: den Wolf und den Bären. Mit gefletschten Zähnen gegen Bären Die beiden Grossraubtiere, die wieder in der Schweiz heimisch werden, sorgen regelmässig für Gebrüll. Seit vor mehr als 100 Jahren Bär und Wolf ausgerottet worden waren, brauchten die Herdenbesitzer kaum mehr um ihre Tiere zu fürchten. Und darum werden heute mehr als die Hälfte der Schafherden, die den Sommer auf der Alp verbringen, nur alle paar Tage von einem Menschen besucht. Für die zurückgekehrten Wölfe ein gefundenes Fressen. Nun könnte man die Raubtiere einfach erneut ausrotten und nicht wenige würden das gerne tun. Wäre da nicht die Berner Konvention, ein internationales Abkommen zum Schutz wildlebender Tiere und Pflanzen. Es führt Bären und Wölfe als «streng geschützt» auf. Das bedeutet, dass sie nicht gejagt werden dürfen. Als immer mehr Schafe und Ziegen Opfer von Wölfen und Bären wurden, reagierte der Bund mit dem Programm Herdenschutz. Es beinhaltet Information, Beratung und finanzielle Unterstützung für Schutzmassnahmen in gefährdeten Gebieten. Zentrales Element sind die Herdenschutzhunde. Die tierischen Beschützer werden speziell gezüchtet. Sie wachsen von klein auf in Schaf- oder Ziegenherden auf und werden von diesen als Mitglieder akzeptiert. So sanft sie sich gegenüber Schafen oder Ziegen zeigen, so energisch wehren die Hunde Raubtiere ab. Lautes Bellen und Zähne fletschen reicht fast immer. Biologin Riccarda Lüthi erklärt:

«Ein Wildtier auf Beutefang will ungestört jagen und fressen und es riskiert in aller Regel keinen Kampf.» Das erklärt, weshalb die Hunde selbst Bären von ihren Herden fernhalten. Jachen Andri Planta hat 2004 seine ersten Schutzhunde gekauft. Weil das Münstertal, wo er seine Schafe hält, nicht als wolfgefährdet galt, musste er sie selber bezahlen. «2005 kam der Bär und ich hatte als Einziger im ganzen Tal keine Schäden.» Planta gehört zu den Enthusiasten und ist damit kein typischer Schafbesitzer. «Es ist faszinierend, wie der Hund in der Herde lebt und bei Gefahr reagiert.» Allerdings erlebte der Engadinger auch die Kehrseite des Schutzhundes. Dreimal biss sein Hund Balu zu. Dann musste er ihn einschläfern lassen. Der Fehler lag seiner Meinung nach eindeutig bei den Wanderern. Einer habe mit dem Wanderstock nach dem Hund geschlagen, ein anderer sei mitten durch die Herde gerannt. «Klar dass ein Herdenschutzhund das nicht toleriert.» Die Rechtslage sagt sinngemäss: Wenn ein Wanderweg durch eine Weide führt, dann ist der Halter der Schutzhunde dafür verantwortlich, dass kein Zweibeiner gebissen wird. Inzwischen werden die Tiere darauf trainiert, Menschen gegenüber toleranter zu sein als bei Raubtieren. Es braucht auch den Menschen Die Zwischenfälle sind Wasser auf die Mühlen derer, die im ganzen Herdenschutz nur ein Produkt fanatischer Naturschützer und Schreibtischtäter sehen. Aus romantischen Gründen wollten diese Raubtiere schützen, die ihr Vieh massakrieren. So sehen das beispielweise jene Schafzüchter, welche ihre Schafe vorzeitig vom Stierengrat (BE) holten, nachdem ein Wolf 26 der ungeschützten Tiere gerissen hatte. So waren denn auch kaum Schafe an der traditionellen Schafscheid in Riffenmatt, stattdessen Herdenhalter, die in grauen Hemden grimmig in die Pressekameras blickten. German Schmutz, Präsident des Schweizerischen Schafzuchtverbands (SZV), geht in seiner Kritik nicht so weit. «Herdenschutzhunde sind eine von verschiedenen Massnahmen, um Schafherden zu beschützen, aber sicher nicht die einzige. Viele sehr gute Alpen, die den Schafen durch Felsvorsprünge und Gräben gutes Futter, aber auch Schatten bieten, können von Herdenschutzhunden nicht abgesichert werden, da sie den Überblick verlieren.» Er sei nicht gegen den Wolf, betont er, «aber die Schaden stiftenden Wölfe in der Schweiz müssen durch Abschuss reguliert werden. Die Schweiz ist sicher auch zu klein für grössere Grossraubtierbestände.» Reinhard Schnidrig, Sektionschef Jagd, Wildtiere und Waldbiodiversität des Bundesamts fur Umwelt (Bafu) setzt auf Herdenschutz: «Wir hatten dieses Jahr relativ viele Risse auf ungeschützten Alpen. Wo Herdenschutzhunde sind, gibt es

Schafherden, die nur alle paar Tage von Menschen besucht werden – für Wölfe ein gefundenes Fressen.

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praktisch keine.» Entscheidend sind aber nicht die Hunde allein, fährt er fort: «Es braucht einen Menschen, der mit den Hunden zusammenarbeitet, der die Herde zusammenhält.» Für Riccarda Lüthi steht fest: «Unbehirtete Alpen in Gebieten mit Wölfen lassen sich nur ausreichend schützen, wenn die Herde klein und homogen ist oder wenn die Alp gut mit Zäunen gesichert wird.» Ein Problem ergibt das nächste: Es gibt zu wenig erfahrene oder ausgebildete Hirten in der Schweiz. Schafzüchter German Schmutz weiss, weshalb: «Wer will 100 Tage im Sommer ohne jeden Komfort auf einer Alp ver-

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bringen und jeden Tag, bei Regen und Hagel, nach den Schafen sehen?» Das fehlende Personal ist das eine, die Kosten, die es verursacht, das andere. Ein angestellter Hirte lohnt sich ab einer Herde von rund 500 Tieren – dank Subventionen und dem Erlös aus dem Fleischverkauf. Den Fleischpreis hält Schmutz für fair. «Aber wenn der Aufwand für den Schutz gegen Grossraubtiere immer mehr steigt, dann geht die Rechnung nicht mehr auf.» Anders gesagt: Der Preis für das Kilo Lamm reicht nicht, um dieses auch noch gegen den Wolf zu verteidigen.

«Das Wichtigste ist Information. Die Gäste müssen wissen, wo die durch Hunde beschützten Herden lagern und wie sie sich verhalten müssen –

Dreimal biss Balu zu. Dann wurde er eingeschläfert.

BILD: AGRIDEA

Abschuss als Alternative Die Experten für Herdenschutz empfehlen, Herden zusammenzulegen. Schmutz vom SZV hält das für nicht immer möglich, schon aufgrund der Rassenvielfalt. «Es ist nicht sinnvoll, Schafherden mit Lastwagen von Alp zu Alp zu führen, und es darf nicht sein, dass kleine Herden nicht mehr existenzfähig sind.» Schnidrig vom Bafu sieht das anders: «Wir müssen auch die Strukturen der heutigen Schafsömmerung überdenken. Seien wir uns bewusst, dass die unbehirteten Kleinherden erst in den Sechzigerjahren aufgekommen sind, als immer mehr Bergbauern ihre Höfe aufgaben und neben einer anderen Erwerbsarbeit eine kleine Schafwirtschaft betrieben.» Nicht weniger ernst, aber etwas gelassener nehmen Tourismusverantwortliche die Herdenschutzdiskussion. Bei Engadin Tourismus beschäftigt sich Daniel Koller, Leiter Gästeinformation, mit dem Thema.

am besten, bevor sie zu ihrer Tour aufbrechen.» Vom Abschuss eines «Nichtproblembären» hält er gar nichts. «Die Biodiversität ist eines der Merkmale unserer Region. Wir werben nicht mit der Sensation Bär, aber mit der Tatsache, dass hier sogar Platz für einen Bären ist.» So ernst die Herdenschützer des Bundes die Zwischenfälle mit Wanderern nehmen, zur Gefahr für diese Schutzmethode werden sie nicht. Da haben es die Arbeitshunde sehr viel schwerer bei den Schafhaltern, die im Herdenschutz ein Ja zum Wolf sehen. Einen Etappensieg haben die Wolfgegner erreicht: Als Folge einer Motion des Walliser Ständerats Jean-René Fournier ersucht der Bundesrat (nicht zum ersten Mal) die Kommission der Berner Konvention, den Schutz des Wolfs in der Schweiz reduzieren zu dürfen. Bei einer negativen Antwort muss die Schweiz kraft der angenommenen Motion aus der Berner Konvention austreten. Der aufwendige Herdenschutz würde deshalb aber kaum durch simples Wolfabschiessen ersetzt. Schon mehrere Umfragen haben ergeben, dass die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer durchaus bereit sind, diesem eine Heimat zu bieten. Das Gebrüll wird noch eine Weile anhalten. ■

Ruhig Blut! Ein Herdenschutzhund verteidigt «seine» Schafe. Wanderer müssen ausweichen.

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Gesundheit Das Spuckeorakel Mit seiner Firme Google vermisst Sergey Brin die Welt. Auch seine Ehefrau sammelt fleissig Daten: Ihre Firma 23andMe entschlüsselt das Erbmaterial von jedem, der dafür bezahlt. Was das bringt? Gute Frage! VON NATALIE GYÖNGYÖSI

Raffael macht sich Sorgen. Sein Grossvater hatte Alzheimer. Sobald er einmal vergisst, den Herd abzustellen oder die Haustür abzuschliessen, denkt der 35-Jährige, die heimtückische Demenzkrankheit breche auch bei ihm aus. Der Arzt hat ihm zwar bestätigt, er sei kerngesund, aber diese Diagnose des Ist-Zustandes reicht ihm nicht. Er will wissen, was ihm die Zukunft bringt, welche vererbten Krankheitsrisiken er in sich trägt. Deshalb entschliesst er sich zu spucken. Und zwar in den Behälter, den er von 23andMe erhalten hat. Die amerikanische Biotechnologiefirma verspricht, ihm mittels einer Analyse seines Erbmaterials etwas über sein Schicksal zu verraten. SURPRISE 259/11

Das Prinzip dieser Dienstleistung basiert auf dem Urwunsch der Menschheit, in die Zukunft sehen zu können. 23andMe ist wie ein modernes Orakel. Die Firma ist darauf spezialisiert, genetische Daten anhand einer Speichelprobe auszuwerten und die Informationen zu Krankheitsrisiken, aber auch Charaktereigenschaften, persönlichen Neigungen und Begabungen oder Schwächen auszuwerten. Eine Tabelle zeigt die Wahrscheinlichkeiten in Prozenten bis hinters Komma. Das individuelle Erbmaterialprofil wird mit einem Passwort übers Internet abgerufen. Die meisten Kunden sind «Hobbypatienten», das heisst, sie sind zumindest bislang noch völlig gesund. Das DNA-Business boomt im Silicon Valley, dem Hochtechnologiemekka in der Nähe von San Francisco. Dort spriessen Start-ups, die

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Gentests für Privatpersonen anbieten, seit einigen Jahren wie Pilze aus dem Boden. 23andMe ist nur ein Beispiel davon. Das Unternehmen existiert seit 2006 und beschäftigt 45 Mitarbeiter. Im Verwaltungsrat sitzen acht Professoren verschiedener US-amerikanischer Hochschulen. Der Firmenname steht zum einen für die 23 Chromosomenpaare, welche den DNA-Basisstrang eines jeden Menschen ausmachen, zum anderen für die individuelle Neugier («and me»), für die es ganz bestimmt auch ein Gen gibt. Die Gründerinnen von 23andMe sind Linda Avey und Anne Wojcicki, letztere Biotechnologieanalystin – und Frau von GoogleMitbegründer Sergey Brin. Das erklärte Ziel von dessen Suchmaschinenunternehmen ist es bekanntlich, alle Informationen dieses Planeten zusammenzutreiben und «für alle zu jeder Zeit zugänglich und nützlich» zu machen. Brin hat bei der Gründung 2,6 Millionen Dollar Risikokapital in das Unternehmen seiner Frau hineingebuttert, heute beläuft sich seine Beteiligung auf über vier Millionen Dollar. Während er mit Google mittlerweile gigantisch viele Informationen über diese Welt gesammelt hat, hilft ihm nun seine Gattin, eine weitere, bisher verwehrt gebliebene Informationsquelle auf einer elementaren Ebene zu erschliessen: das menschliche Erbgut. Eine offensichtlich praktische Partie für Mister Google.

SNP, ausweisen. Diese Variationen einzelner Basenpaare in einem DNAStrang sind verantwortlich für die Ausprägung der Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen. Eine Untersuchung kostet 99 Dollar plus Lieferung, in die Schweiz kommt sie insgesamt auf etwa 150 Franken zu stehen. Nach Registrierung und Überweisung des Betrags erhält man ein Kit zugesendet, in dem sich ein Kunststoffröhrchen befindet, in das man mindestens 2,5 Milliliter Speichel spucken muss, um es dann an 23andMe zurückzuschicken. Das tut heute durchschnittlich jeden Tag mindestens ein Mensch auf der Welt. Nachfrage steigend.

«Der positiv Getestete ist verbannt in ein Niemandsland, eine medizinische Vorhölle.»

Zahlen und spucken Wer sich auf der Webseite von 23andMe registriert, kann gegen Bezahlung sein Erbgut auf etwa 100 genetisch bedingte Krankheiten und weitere Veranlagungen untersuchen lassen. Bei der Analyse werden über 500 000 Abschnitte des menschlichen Erbguts unter die Lupe genommen, welche sogenannte Single Nucleotide Polymorphism, kurz

Aber was sagt so ein Test aus? Durch eine Genanalyse wird in erster Linie abgeklärt, ob bei jemandem Tendenzen zu gewissen Krankheiten bestehen, sprich wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie bei ihm ausbrechen. Raffael wollte unter anderem wissen, ob ihm, wie seinem Grossvater, Alzheimer droht. Sein Risiko liegt laut Test bei 9,8 Prozent, das Durchschnittsrisiko beträgt 7,1 Prozent. Er weiss jetzt, dass er stärker gefährdet ist als der Durchschnitt – um 2,7 Prozent. Doch was bringt ihm diese Zahl? In dieser Frage liegt für Oliver Matthes vom Institut für Biomedizinische Ethik in Zürich das Problem der Onlinegentests. Matthes arbeitet an einem Projekt zum Thema Ethik und Hirnstimulation und hat sich näher mit dem Thema Gentechnik befasst. «Wäre Raffael zu einem Spezialisten gegangen, um sich untersuchen zu lassen, hätte dieser ihn im Rahmen eines Gesprächs beruhigen können. Er hätte ihm wohl gesagt, dass man normalerweise erst einmal alt genug werden muss, um an Alzheimer zu erkranken. Gleichzeitig hätte er

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ihn vermutlich darauf hingewiesen, dass er sein Risiko aktiv senken kann.» In der Onlineauswertung steht hingegen nirgendwo, dass eine vorbeugende Lebensweise die Chance auf ein gesundes Altwerden erhöht. Matthes hält nichts von den «Direct to Customer»-Strategien von 23andMe: «Ich empfinde dieses Angebot als unseriös, weil die Möglichkeit für eine direkte Rücksprache nicht gegeben ist. Der Patient wird mit seinen Ergebnissen alleine gelassen. Auch der Qualitätsstandard dieser Tests ist meiner Meinung nicht gewährleistet.» Für Raffael überwiegen dennoch die Vorteile: «Wenn ich Bescheid weiss, dass ich in gewissen Belangen genetisch veranlagt ein explizit erhöhtes Risiko habe, kann ich immer noch einen Arzt aufsuchen und die Sache mit ihm besprechen.» Vergiftetes Wissen Präventive Abklärungen ermöglichen eine frühzeitige Erkennung von Krankheiten und damit einhergehend gezielte Vorbeugungsmassnahmen. Aber was soll jemand tun, der weiss, dass er mit 34 Prozent Wahrscheinlichkeit an Diabetes erkranken wird? «Einen medizinischen Laien solchen Fakten auszuliefern, ist problematisch», meint Matthes. «Denn es ergeben sich daraus keine direkten Handlungskonsequenzen. Die vorhersagende Medizin bringt etwas, solange sie als konkretes Werkzeug verwendet wird, um eine Krankheit zu verhindern. Kann man die Genesung medizinisch jedoch nicht beeinflussen, ist diese Prophezeiungsmedizin meiner Meinung nach moralisch nicht vertretbar. Ich selbst würde nie so einen Test machen – ich berufe mich auf mein Recht auf Nichtwissen.» Ausserdem wird laut Matthes das Risiko für bestimmte Krankheiten nicht allein durch die genetische Disposition bestimmt, sondern auch – oftmals sogar überwiegend – durch die Lebensweise. Auch der Arzt und Publizist Linus Geiser sieht Nachteile für die Patienten: «Der positiv Getestete, der noch ohne Symptome ist, hat bereits seine Unschuld verloren. Er ist verbannt in das Niemandsland zwischen Gesundheit und Krankheit, eine medizinische Vorhölle.» Zwar sei nichts einzuwenden gegen Verfahren, welche etwa eine raschere Diagnose von Infektionskrankheiten ermöglichen. Anders sähe es aber bei der genetischen Diagnostik aus. Es sei nahezu die Regel, dass gesunde Menschen auf Krankheiten getestet werden, für die es gar keine zufriedenstellende medizinische Lösung gibt. Dieses kostspielige Glasperlenspiel produziere letztlich nichts als «vergiftetes Wissen». Umso mehr, als Genorakel nicht gerade der Inbegriff der Zuverlässigkeit sind. Das zeigte zuletzt das Wissenschaftsmagazin «Nature»: Es deckte auf, dass bei 96 Kunden die DNA-Proben verwechselt worden waren. Ein weiteres Thema bei 23andMe ist der Datenschutz. Denn was geschieht mit den DNADaten, die 23andMe generiert? Sie werden an Pharmaunternehmen und Forschungsinstitute weiterverkauft, welche damit wiederum ertragreiche Medikamente entwickeln. Ein bombiges Geschäft. Werden Erbinformationen so freizügig herumgeschoben, ist es auch kein abwegiger Gedanke, dass sie früher oder später zu Arbeitgebern oder Versicherungen gelangen könnten. Das Szenario, das uns dann blühen würde, kennt man aus Sciencefictionfilmen: Menschen werden wegen ihrer genetischen Veranlagung diskriminiert. Zumindest bislang ist ein obligatorischer Gentest vor einem Vertragsabschluss noch unzulässig.

Gentest: Risikovermessung bis hinters Komma.

akzeptiert die Globalisierung. Ich hoffe einfach, niemand missbraucht ausgerechnet meine Daten.» Ob es sich bei 23andMe in erster Linie um eine profitable Spielwiese von Mrs Google handelt oder um ein Spiel mit dem Feuer, wird sich zeigen. Immerhin hat Raffael dank seinem Gentest nützliche Informationen über seine Veranlagungen erhalten. Er weiss jetzt zum Beispiel,

«Ich weiss jetzt besser, wo ich stehe. Das heisst, ich kann weiterhin unbekümmert ungesund leben.»

Nasser Ohrenschmalz Raffael ist froh, den Test gemacht zu haben: «Ich habe jetzt das Gefühl, besser zu wissen, wo ich im Leben stehe. Meine Resultate sind recht gut.» Mit einem ironischen Grinsen fügt er hinzu: «Das heisst, ich kann weiterhin unbekümmert ungesund leben.» Dass seine Daten unüberwacht im Internet herumschwirren, findet er zwar leicht beunruhigend, sieht aber keine Alternative: «So läuft es heute eben im Zeitalter von Facebook, E-Mail und Smartphones. Entweder man geht in die Wüste, schottet sich ab und hält sich dort ein paar Ziegen, oder man SURPRISE 259/11

dass er ein Heroinabhängigkeitsrisiko in sich trägt, zu langsamem Kaffeemetabolismus neigt, zu nassem Ohrenschmalz statt trockenem prädestiniert ist, seine Augenfarbe eigentlich genau so gut hätte blau werden können, er von seiner Muskelperformanz her wahrscheinlich nicht zum Sprinter geboren ist, er wie die Mehrheit der Menschheit leider nicht HIV-resistent ist, dafür über ein gutes Gedächtnis verfügt und überdurchschnittlich intelligent ist, sehr effektiv aus Fehlern lernt und über einen bitteren Geschmackssinn verfügt. Glücklicherweise ist es bis jetzt aber immer noch dem Einzelnen überlassen, ob er für diese Informationen seine genetischen Daten zur Verfügung stellen will. Wie die Amerikaner sagen: Curiosity kills the cat – Neugier bringt die Katze um. ■ Mit freundlicher Genehmigung des Magazins kinki.

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Schulsozialarbeit «Wir sind nicht dazu da, jedes Problemchen wegzuwischen» In Lukas Mühlemanns Büro sieht es aus wie im Jugendtreff: tiefe Sofas, das FCB-Logo an der Wandtafel, stapelweise Zeitschriften auf dem Beistelltisch. Der Schulsozialarbeiter liebt es, wenn die Tür seines Büros offensteht und die Schüler hereinkommen – um Fragen zu stellen, oder einfach mal nichts zu tun. Zusammen mit seinem Berufskollegen Michael Krisztmann erzählt er, was es heisst, erste Anlaufstelle einer Schule zu sein.

VON DIANA FREI (TEXT) UND DOMINIK PLÜSS (BILDER)

Herr Mühlemann, Herr Krisztmann, was macht ein Schulsozialarbeiter? Mühlemann: Der wichtigste Teil ist die Beratung von Jugendlichen hier im Büro. Schüler können spontan vorbeikommen, wenn sie eine Frage oder ein Problem haben. Wir sind auch zuständig, wenn Lehrpersonen Fragen an uns haben – bezüglich einzelnen Schülern, aber auch bezüglich ganzen Klassen. Und wir sind auch Ansprechpartner der Eltern. Sie sind so etwas wie eine ambulante Praxis im Schulhaus? Mühlemann: Ja. Wenn zum Beispiel ein Mädchen vorbeikommt, das sich ritzt, dann braucht sie wahrscheinlich eine Therapie. Wir schaffen erst mal das Vertrauen und schauen, was los ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein 15-jähriges Mädchen zu Ihnen kommt und sagt: «Ich ritze mich.» Mühlemann: Doch, das kann durchaus vorkommen. Häufiger kommt aber eine Kollegin vorbei und sagt: «Ich habe eine Freundin, um die ich mir Sorgen mache.» Und dann kann ich vielleicht etwas arrangieren, indem ich sage: «Rede doch mal mit deiner Freundin, damit sie hierherkommt.» Was sind die häufigsten Themen? Michael Krisztmann: Zum Beispiel Freundschaften. Zwei Mädchen, die sich zerstritten haben. Äusserungen auf Facebook. Familienprobleme. Trennung, Scheidung, Gewalt daheim. Liebeskummer, Motivation für die Schule, Alltagsstruktur. Wie mache ich die Hausaufgaben? Wie organisiere ich mein Leben? Auch Fragen sexueller Orientierung, Drogengeschichten, Ängste. Wir sind bei ganz vielen Fragen einfach mal die Anlaufstelle. Aber ich bin nicht Psychologe, ich kann keine Depressionen behandeln. Ich stelle den Kontakt mit einer Fachstelle her und übernehme eine Triage-Funktion. Mühlemann: Themen sind auch Schulmüdigkeit, Absentismus – das heisst, dass jemand nicht mehr in die Schule kommt aus irgendeinem Grund. Ich hatte einen Jungen bei mir, der in schwierigen Familienver-

hältnissen lebt. Wenn ihn etwas sehr beschäftigt, zieht er sich zurück, bleibt im Bett. Ich versuche ihn dann dort herauszuholen, und gleichzeitig vereinbare ich einen Termin beim Psychologen. Er will das, er ist einverstanden mit dieser Abmachung. Aber bei Mobbing zum Beispiel wird ein Kind von einer ganzen Gemeinschaft ausgeschlossen, und wo die Auslöser liegen, ist oft unklar. Was tun Sie bei solchen etwas diffuseren Problemen? Mühlemann: Sie haben recht, teilweise ist es vage und diffus. Es ist immer auch so, dass wir mit dem Kind zusammen herausfinden: «Was ist dein Anteil, was könntest du allenfalls verändern?» Und wir haben auch Übungen, mit denen wir in eine Klasse hineingehen. Wir sagen nicht einfach: «Hier wird gemobbt, jetzt hört auf und lasst das Kind in Ruhe.» Sondern wir haben Methoden, mit denen wir herausfinden können, wie eine Klasse funktioniert. Zum Beispiel? Mühlemann: Zum Beispiel der Mobbing-Fall. Da gibt es ein Spiel, bei dem man im Kreis sitzt, und wir stellen ganz einfache, ganz harmlose Fragen. Zum Beispiel: «Wer hat gefrühstückt? Wer hat Geschwister?» Die, die etwas sagen möchten, stehen auf, die anderen bleiben sitzen. Dann frage ich: «Was hast du gefrühstückt, wie bist du in die Schule gekommen?» Und dann kann man die Intensität steigern: «Wer streitet manchmal in der Familie? Was regt dich auf?» Dann kann man den Link zur Schule machen: «Wer streitet manchmal in der Schule?» Das geht über eine Dreiviertelstunde so. Und so kann man die Schüler an den Punkt heranführen, an dem sie sagen können: «Okay, bei uns läuft etwas nicht gut.»

«Auch ich habe gemobbt. Ich hatte aber immer ein grosses schlechtes Gewissen.»

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Krisztmann: Es gibt aber auch den No Blame Approach, bei dem es darum geht, keine Verantwortlichkeiten und keine Schuldzuweisungen auszusprechen. Sondern mit dem man versucht, diejenigen, die dazu beitragen, dass ein Schüler ausgeschlossen wird, in die Verantwortung zu nehmen und zu sagen: «Wir haben hier die und die Situation. Was kannst du dazu beitragen, dass das nicht mehr passiert?» SURPRISE 259/11


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Was ist denn der Sinn davon, niemandem ein Schuldgefühl zu vermitteln? Früher war klar, man schlägt nicht drein. Und heute ist alles mehr oder weniger okay, man redet einfach ein bisschen drüber. Krisztmann: Gerade bei Mobbing ist es sehr schwer, ganz klar festzunageln, wer der Täter und wer das Opfer ist. Weil das Opfer immer irgendwo auch an der ganzen Situation beteiligt ist. Wenn man die Klasse als System betrachtet, hat jeder darin irgendeine Verantwortlichkeit. Wenn man einfach jemandem sagt: «Du bist schlecht», dann hat der keine Möglichkeit, aus seiner Rolle auszusteigen. Und wenn er nicht aus dieser Rolle aussteigt, gibt es keine Veränderung.

Krisztmann: Oft wird das auch als Strafe missbraucht. Und da ist es ganz wichtig, dass wir uns nicht von der Schule instrumentalisieren lassen. Die Schulsozialarbeiter sind nicht das Gericht oder die Justizbe-

«An Klassentreffen tauchen einzelne Leute nicht auf, weil es ihnen vielleicht nicht gut geht.»

Und wie gehen die Jugendlichen damit um? Oft haben sie doch selber das Bedürfnis nach klaren Urteilen, Etiketten – und auch Schuldzuweisungen. Mühlemann: Wenn sich jemand nicht mehr traut, alleine aus der Schule nach Hause zu gehen, sagen wir ganz klar: Wir als Schule akzeptieren das nicht. Und wir wählen einige aus – Täter, Mitläufer, aber auch Neutrale, also Jugendliche, die sozial stark sind in der Klasse. Dann müssen sie eine Lösung finden. Die wissen genau, welche Rollen sie haben. Und der, der am meisten mobbt, weiss, dass er es ist. Welche Rolle hatten Sie selber in der Schule? Wurden Sie gemobbt, gefoppt, oder haben Sie ausgeteilt? Mühlemann: Also ich habe auch gemobbt. Wenn ich mich sicher fühlte, war ich ein wenig ein Täter, und sonst eher ein Mitläufer. Ich hatte aber immer ein grosses schlechtes Gewissen. Krisztmann: Ich wäre vielleicht auch irgendwann zum Schulsozialarbeiter geschickt worden. Wegen Mobbing, aber auch wegen Unfug, «Säich im Chopf». Was wäre anders gewesen, wenn es bei Ihnen an der Schule einen Schulsozialarbeiter gegeben hätte? Mühlemann: Ich habe mich schon ein paar Mal gefragt: Wäre ich hingegangen? Ich kann das nicht beantworten. Ich denke, unsere Stärke ist ja auch, dass wir bei Schulreisen und Lagern dabei sind. Wo die Schüler uns unverbindlich kennenlernen. Daher denke ich, ich wäre wahrscheinlich irgendwann doch hingegangen. Vielleicht hätte ich auch gehen müssen. Es gibt ja auch Schüler, die zu uns geschickt werden.

hörde der Schule. Wir müssen immer klar fragen: «Was ist der Grund, dass er zu uns kommt?» Denn je nach dem braucht es einfach nur ein Einzelgespräch zwischen Lehrer und Schüler. Um einfach vom System her zu sagen: «Hör mal, so musst du funktionieren in der Schule.» Sie haben beide auch Ihren Mist gebaut an der Schule. Und es sind vernünftige Menschen aus Ihnen geworden. Wieso braucht es heute die Schulsozialarbeit – im Gegensatz zu früher? Mühlemann: Ich weiss nicht, ob es sie früher wirklich nicht gebraucht hätte. Mir kommen zahlreiche Fälle in den Sinn, die ganz schlimm waren. Und ich kann mich nicht mehr erinnern, dass wir in der Klasse darüber gesprochen oder versucht hätten, die Situation zu verbessern. Gerade an Klassentreffen tauchen einzelne Leute einfach nicht mehr auf, weil es ihnen vielleicht nicht gut geht oder weil sie keine Lust haben. Krisztmann: Es ist sicher auch eine Frage des Rollenverständnisses der Schule: Welche Aufgaben hat die Schule? Hier hat es sicher auch Veränderungen gegeben. Man ist sich seitens der Schule bewusster, dass es nicht einfach nur Wissensvermittlung ist, die stattfindet. Es braucht mehr, damit die Entwicklung und die Förderung von Jugendlichen optimal verläuft. Von welchen Veränderungen reden Sie genau? Krisztmann: Es hat gesellschaftliche Veränderungen gegeben, in der Familienstruktur hat es Veränderungen gegeben. Man hat den Lehrpersonen unterdessen auch einige Rechte abgesprochen. Vielleicht ist das nun ein wenig plakativ ausgedrückt: Aber heute ist die Schule bloss ein Ort, der Bildung weitergibt. Die Lehrpersonen haben nicht zusätzlich Zeit, soziale Kompetenzen zu fördern. Der ganze Bereich der sozialen Kompetenzen kann aber von der Schulsozialarbeit abgedeckt werden. Auf der anderen Seite kann man sagen: Wenn eine Klasse für sich funktionieren muss, dann lernen die Schüler vielleicht, gewisse

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Michael Krisztmann: «Wir sind nicht das Gericht der Schule.»

Probleme selber zu lösen. Wenn aber immer der Schulsozialarbeiter wie Deus ex machina auftaucht, geht ihnen diese Erfahrung verloren. Mühlemann: Das ist völlig richtig. Wenn ein Schüler über eine Kollegin herzieht oder sich über eine Lehrperson beklagt, besprechen wir mit ihm oft, wie er die Sache selber angehen kann. Wir sind tatsächlich nicht dazu da, jedes Problemchen wegzuwischen. Wenn man früher bei einem Problem zum Rektor geschickt wurde, war klar: Damit war eine Grenze überschritten. Wenn nun aber Gewalt mit Spielchen im Kreis behandelt wird – führt das nicht dazu, dass sie in den Bereich des Normalen rückt? Mühlemann: Im Gegenteil. Wenn wir das Thema Mobbing besprechen, bekommt Mobbing ein Gesicht. Oder Gewalt. Oft passiert Gewalt – ob verbal oder physisch – im Versteckten, in einer Ecke des Schulhofs. Wenn wir mit einer Klasse arbeiten, wird sie als das benannt, was sie ist. Und so steigen auch die Bereitschaft und der Mut von Leuten, sich zu melden. Sie setzen sich damit auseinander. Und sie müssen Farbe bekennen. ■

Michael Krisztmann, 39, erlangte seine Grundausbildung zum Sozialpädagogen an der FHNW. Er bildete sich an der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik Luzern zum Praxisausbildner und an der Coachakademie Rebstein zum systemischen Coach und Berater weiter. Seit 2008 arbeitet er als Schulsozialarbeiter in Muttenz, seit August sitzt er in der fünfköpfigen Kommission der Schulsozialarbeiter Baselland. SURPRISE 259/11

Lukas Mühlemann: «Die Schüler müssen Farbe bekennen.»

Begleitung beim Erwachsenwerden Schulsozialarbeit ist ein eigenständiges Handlungsfeld der Jugendhilfe, das mit der Schule in formalisierter und institutionalisierter Form kooperiert. Ihren Anfang nahm sie vor etwa zehn Jahren, unterdessen gibt es praktisch in der ganzen Schweiz entsprechende Angebote. Allerdings werden sie unterschiedlich gehandhabt und werden je nach dem vom Kanton oder der Gemeinde finanziert und koordiniert. Die Kommission der Schulsozialarbeiter Baselland fordert, dass man die Schulsozialarbeit ausbaut. Die Mitglieder bezeichnen es als wünschenswert, dass man sich an den Empfehlungen von Avenir Social orientiert – der Interessensvertretung von Fachleuten aus Sozialarbeit, Sozialpädagogik und soziokultureller Animation: Sie empfiehlt eine 80-Prozent-Stelle auf 300 Schüler. Lukas Mühlemann ist in Aesch der einzige Schulsozialarbeiter und betreut mit einer 80-Prozent-Anstellung 600 Schüler. Michael Krisztmann ist mit dem gleichen Pensum der einzige in Muttenz, er betreut 700 Schüler aus drei Schulhäusern.

Lukas Mühlemann, 38, ist seit 2002 als Schulsozialarbeiter an der Sekundarschule Aesch BL angestellt. Seine Ausbildung zum Sozialarbeiter und zum COS Berater (Coaching, Supervision, Organisationsberatung) absolvierte er an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und am Zentrum für Agogik (ZAK).

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Kurzgeschichte Verstecken

VON VERENA STÖSSINGER

Ich erkannte Ursula erst, als ich mich neben sie setzte. Wie lang war es her, seit wir uns das letzte Mal begegnet waren? Ich kannte sie schon lange, das heisst, vor allem kannte ich Maria, ihre ältere Schwester, mit der ich zur Schule gegangen war vor bald dreissig Jahren und die, wie ich wusste, längst weggezogen war. «Ursula!», sagte ich, «schön, dich zu sehen!» «Ja», antwortete sie. Ihre Stimme klang matt. Und als ich sie richtig anschaute, sah ich, dass es ihr wohl nicht besonders gut ging. Sie sah älter aus, als sie sein konnte, und müde. Jedenfalls ziemlich grau, auch im Gesicht. «Geht es dir nicht gut?» «Och –», sagte sie. Und schwieg. Der Bus hielt, Leute stiegen aus und ein, dann fuhr der Bus wieder an. «Und wie geht es Maria?», fragte ich. Wo wir schon nebeneinander sassen. «Ganz beschissen», sagte sie; «wenn du es wissen willst.» «Natürlich», sagte ich laut. «Wenn ich doch frage!» «Bist du sicher?» Ich wusste nicht, was sie damit meinte. Dass es Dinge gab, die ich nicht hören wollte? Oder nicht ertrug? «Hast du Zeit für einen Kaffee?», fragte ich. Sie schaute auf die Uhr, nickte und schüttelte die Haare aus dem Gesicht. Die Bewegung erinnerte mich sehr an Maria. Wir stiegen an der nächsten Haltestelle aus, da war, wie ich wusste, eine Bäckerei mit Café, die erst neulich eröffnet hatte. Wir gingen hinein. Der Gastraum war fast leer. Wir setzten uns in die Polsterecke ganz hinten; ich bestellte Kaffee, sie wollte lieber Tee. Und rührte lange darin herum, obwohl sie keinen Zucker genommen hatte. «Wo wohnt Maria denn jetzt?», fing ich nach einer Weile wieder an. «Das kann ich dir nicht sagen», antwortete Ursula. «Wieso? Habt Ihr keinen Kontakt mehr?» «Sie hat sich versteckt», sagte Ursula. «Versteckt?», wiederholte ich überrascht. «Aber warum denn?» «Darum.» Es ärgerte mich, dass sie so wortkarg war, und gleichzeitig fand ich die Situation auch komisch. Mir fiel das Gespräch ein, das ich neulich

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mit Fritz geführt hatte über das Verstecken. Genau darüber. Über das Recht, heisst das, gewisse Dinge für sich behalten zu dürfen, niemandem sagen und niemandem zeigen zu müssen. Einen privaten Raum zu haben, in den kein Fremder Einblick hat. Es war dabei um das Haus gegangen, das ein paar Strassen weiter eben neu gebaut worden war und das aus nichts als Glas bestand, rundherum nur Fenster, riesige, von der Decke bis zum Boden, sodass man alles sehen konnte, auch wenn man bloss vorbeiging: wer da wohnte, und wie, und wann er zuhause war und was er dann machte und so weiter, was ich schrecklich fand. Dass Leute sich so ausstellen sollten, worauf Fritz mir vorwarf, dass ich altmodisch sei; es werde schliesslich keiner gezwungen, da zu wohnen. «Jetzt sag doch», drängte ich. «Warum versteckt sie sich?» Ursula nahm einen Schluck und stellte das Glas dann so heftig hin, dass der Löffel von der Untertasse sprang und zu Boden fiel. «Wegen diesem Mann!», sagte sie. «Sie wird ja bald verrückt!» «Wegen welchem Mann? Ist sie denn jetzt verheiratet?» «Nein, das war sie nie», sagte Ursula und bückte sich nach dem Löffel, und dabei rutschte etwas neben ihr von der Bank auf den Boden. Sie hob auch das auf; es war ihre Jacke. Sie legte sie neben sich auf die Polsterbank. «Aber sie wird ihn trotzdem nicht los.» Maria habe den Mann auf einer Wanderung kennengelernt, etwa vor einem halben Jahr, und er sei sehr nett gewesen und aufmerksam. Und habe sich so heftig in sie verliebt, dass er am liebsten gleich mit ihr zusammengezogen wäre, aber sie habe gezögert. Habe gefunden, dass das nun wirklich keine Eile habe, man kenne sich doch kaum und ausserdem habe jeder von ihnen längst sein eigenes Leben; und irgendwie sei ihr bald auch nicht mehr richtig wohl gewesen bei der Sache. Der Mann sei nämlich eifersüchtig gewesen und habe abends, wenn sie sich sahen oder telefonierten, immer wissen wollen, wo sie am Tag gewesen war und mit wem, und was sie gemacht hatte und worüber geredet, einfach alles, und dann habe er auch angefangen, ihr zu sagen, was sie anziehen sollte und was nicht, weil es ihm nicht passte. Und sie sollte kein Bier mehr trinken, überhaupt keinen Alkohol, und nicht so viele Zeitschriften kaufen … und wenn sie sagte, das sei doch ihre Sache, wurde er laut und giftig. Da habe sie sich immer mehr zurückgezogen. «Zum Glück», sagte ich. «Ein Ende mit Schrecken ist immer noch besser als ein Schrecken ohne Ende!» SURPRISE 259/11


«Schön wärs!», lachte Ursula höhnisch. Der Mann habe sich nämlich mit der Trennung nicht abfinden wollen. «Er rief Maria ständig an und schickte ihr SMS, manchmal vierzig, fünfzig Stück pro Tag, auch ziemlich gemeine, und spionierte hinter ihr her, lauerte ihr nach der Arbeit auf und packte sie und hielt sie fest und sagte, sie müssten über alles sprechen, sie könne ihn doch nicht einfach so stehen lassen, er liebe sie und es könne alles noch gut werden; und es nützte überhaupt nichts, wenn sie dann sagte, das glaube sie nicht. Sie habe wirklich genug von ihm.» Sie sei ihn einfach nicht los geworden. Sie habe ein neues Handy gekauft, aber das habe auch nichts genützt. Er habe sie abgepasst, «und einmal ist er abends auch in ihre Wohnung gekommen, das heisst, er ging einfach nicht mehr weg und stand da im Treppenhaus und polterte an ihre Tür; und als die Nachbarn sich beschwerten, hat sie sich geschämt und ihn hereingelassen. Und er hat dann die ganze Nacht auf sie eingeredet und sie auch wieder gepackt und geschüttelt und ihr gedroht, er werde sie fertig machen, wenn sie ihn nicht …» «Aber warum hat sie denn nicht die Polizei gerufen?» «Das hat sie doch! Aber das nützt alles nichts», sagte Ursula. «Solange er ihr nichts getan hat, kann die Polizei nicht einschreiten.» Und die ständigen Übergriffe … vieles sei auch gar nicht eindeutig zu beweisen. Dass er es jeweils gewesen war, heisst das. Einmal sei zum Beispiel Marias Fahrrad verschwunden, während sie in einem Laden war und einkaufte, und als sie es später vor ihrem Haus wiederfand, seien beide Reifen platt gewesen und die Lenkstange ganz verbogen. Und einmal habe gross «Luder» auf ihrem Briefkasten gestanden, mit schwarzem Filzstift hingeschrieben, das sei fast nicht mehr weggegangen. Ja, und auch bei der Arbeit habe er sie belästigt. Habe stundenlang vor ihrem Fenster gestanden und sie angestarrt, ihr Büro sei ja im Parterre, und zuerst hätten die Kollegen sich noch amüsiert und Witze gemacht, ihm heissen Kaffee angeboten durchs Fenster und so Sachen, aber bald hätten sie es auch nicht mehr lustig gefunden. Und dann habe er angefangen, ihre Vorgesetzten anzurufen und Lügengeschichten über sie zu erzählen, jedenfalls musste sie sich ständig entschuldigen und rechtfertigen, «aber etwas bleibt ja immer zurück von einem Verdacht, wenn der einmal da ist, nicht wahr, oder wenn man negativ auffällt, da kann man nachher noch so gut arbeiten», was für Maria natürlich auch immer schwieriger geworden sei. Denn sie sei mit den Nerven bald fix und fertig gewesen, habe immer Kopfweh gehabt und nachts kaum mehr geschlafen, trotz Beruhigungsmitteln und allem Möglichen. «Aber gibt es denn da niemanden, der hilft? Ein Sozialdienst, die Kirche, oder ein Arzt meinetwegen, der ihr etwas Stärkeres verschreibt …» «Gegen diesen Mann?», rief Ursula aus. «Rattengift, oder was?», und ich schaute mich schnell um und hoffte, die Bedienung habe das nicht gehört oder die Frau, die gerade ihr Brot bezahlte. «Nein, das ist leider nicht so einfach.» Maria sei dann aber bei einer Psychologin gewesen und die habe sie verstanden und ihr gesagt, das könne noch lange so weitergehen, sie kenne solche Geschichten zur Genüge. Am besten sei es, sie lasse sich krankschreiben, bleibe zu Hause oder fahre weg und versuche, diesen Mann zu ignorieren, ganz aus ihrem Leben zu streichen und notfalls eine Weile abzutauchen, sich irgendwo zu verstecken, «ja; und das macht sie jetzt auch.» «Und der Mann gibt Ruhe?», fragte ich. «Nur, bis er weiss, wo sie ist, fürchte ich», sagte Ursula. «Und das hat er entschieden vor. Gestern Abend jedenfalls hat er bei mir angerufen, fünf Mal hintereinander, bis ich das Telefon ausgemacht habe. Ich weiss nicht, woher er die Nummer hat. Und meinen Namen. Aber beim ersten Mal bin ich natürlich drangegangen, ich wusste ja nicht … und jetzt will ich auch eine neue Nummer haben, wie Maria, so eine, die in keinem Verzeichnis steht. Deshalb muss ich in die Stadt.» Sie trank das Glas leer und schob es von sich. «Ich muss wirklich», sagte sie und griff neben sich auf die Bank, hob die Jacke auf. SURPRISE 259/11

«Mein Tasche!» rief sie, «wo ist meine Tasche?», und es sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Die Tasche lag unter dem Tisch. Vermutlich war sie ihr mit der Jacke zusammen hinuntergefallen, ich sah sie jedenfalls gleich, als ich mich bückte. Ich hob sie auf und gab sie ihr. Sie öffnete sie und schaute hinein. «Lass nur», sagte ich und legte ihr die Hand auf den Arm. «Ich bezahle dann schon», und sie zog den Arm weg, schlüpfte in die Jacke, knöpfte sie noch im Sitzen zu und presste die Tasche an sich. «Danke jedenfalls, dass du mir alles erzählt hast», sagte ich. «Und ich wünsche ihr alles Gute … dass sie es durchsteht, meine ich. Und dass man ihr hilft.» Ursula schnaubte bloss, stand auf, sagte «Tschüss!» und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, eilig durch das Café zur Tür; sie glitt vor ihr auf und hinter ihr wieder zu. Ich sass noch eine Weile da und trank noch eine Tasse Kaffee. Dann bezahlte ich und machte mich auch auf in die Stadt. Aber die Geschichte, die ich gehört hatte, lag auf mir wie ein Stein. Und nach den Besorgungen nahm ich nicht den Bus zurück, sondern ging zu Fuss. Ich musste noch ein bisschen alleine sein. Ich ging langsam und durch Nebenstrassen und kam dabei auch an dem neuen Haus vorbei, dem aus Glas. Und sah, dass schon einige Wohnungen bezogen waren; aber überall hingen Vorhänge oder Rollos, lange, von der Decke bis zum Boden. Oder so Streifenlamellen, wie der Zahnarzt sie in seinem Behandlungszimmer hat. Man konnte jedenfalls nicht in die Wohnungen hineinschauen. Habe ich also doch recht behalten, dachte ich; aber es erleichterte mich nicht. ■

Zur Person: Verena Stössinger ist 1951 in Luzern geboren. Sie hat Nordistik und Germanistik studiert, ist Mitarbeiterin am Deutschen Seminar der Uni Basel, unterrichtet gelegentlich in der Nordistik, schreibt über Bücher und Theater und lektoriert Manuskripte. Letzte Veröffentlichungen: «Spielzeit Nummer zwölf», Roman, Wettingen 2004; «Die Eisjungfrau nach H.C. Andersen», Hörspiel, Radio DRS 2005; «Von Inseln weiss ich …» Anthologie mit färöischen Erzählungen (hg. zus. mit A. K. Dömling), Zürich 2006; «Die Reise zu den Kugelinseln», Kinderbuch, ill. von Hannes Binder, Zürich 2010.

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BILD: ANDREA GANZ

Le mot noir Tote Hexe Kürzlich friedlich daheim. «Da schwimmt eine Frau im See. Mit roten Schwimmflügeln!», sieht meine Freundin Susanne grinsend aus dem Fenster. «Das tut sie jeden Tag», rühre ich in einem Eimer Gips. «Und dein Hund wartet am Steg auf sie? Ich dachte, der hasst Wasser!» «Er wächst über sich hinaus, glaube ich.» «Eine Leiste, aber pronto», steht der Gipser auf meinem Tisch und sieht zur Decke. «Störe ich dich irgendwie?», will Susanne mit einem Blick auf den Gipser wissen. «Absolut nicht», sage ich. «Er kann immer Hilfe brauchen, oder nicht?» «Niente Hilfe!», knurrt der Gipser. Okay, dann lieber nicht. «Ich meine, du wolltest doch, dass ich zum Essen komme», versucht es Susanne auf die sanfte Tour. «Das weiss ich doch!», lüge ich. «Es ist dir doch recht, wenn der Gipser mit uns den Tisch teilt?»

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«Was macht er eigentlich da oben?», zischt Susanne neugierig in mein Ohr. «Stuck. Er ist Stuckateur», sage ich. «Neuer Gips, den man länger ziehen kann!» «Dann möchte ich lieber im Stehen essen», starrt Susanne auf die verschmierten Stiefel. «Du meinst, so wie ein Buffet?», nicke ich. «Gute Idee. Auf der Terrasse müssten noch ein paar Tomaten hängen!» «Und ich habe ein halbes Sandwich», knurrt der Gipser hilfsbereit. «Falls jemand Hunger hat…» «Keine Tomaten!», durchstreift Susanne erfolglos die Terrasse. «Vielleicht im Hundekorb!», gebe ich einen Tipp. «Und dann bietest du mir seine Knochen an?» «Die sind ehrlich nichts Besonderes.» «Wir lassen das, ich habe Wein. Der Gipser kann mittrinken», geht Susanne in die Leaderrolle. «Nicht so laut!», zische ich. «Sonst geht er nie mehr auf den Tisch!» «Ist das Ihr Hund da draussen im See?», sieht der Gipser von seiner Poolposition aus dem Fenster. «Wir gipsen einfach weiter!», rühre ich weiter Pulver an. «Der ist aber wirklich im Wasser. Meinst du, er geht unter?», schüttelt Susanne skeptisch den Kopf. «Solange er weg ist, können wir an seinen Korb!», boxe ich ihr fröhlich in die Rippe. «Vergiss es! Wie läuft es eigentlich mit deinem Erbe? Mit deiner Stiefmutter? Rückt sie das Familiensilber doch noch raus?» «Sie sagt, sie habe nichts gesehen», sage ich. «Und wie soll die Geschichte ausgehen?» «Die Hexe stirbt am Schluss. Wie immer», grinse ich. Da

fällt mir ein: «Weiss einer von euch, wie das mit diesen Aktien läuft?» «Ich bin reich», grinst Susanne breit. «Das heisst, ich besitze Bares.» «Bis deine Bank dann hopps geht», grinse ich zurück. «Und dein Bargeld in die Konkursmasse wandert.» «Was soll ich sagen, die Welt ist ein Casino», zuckt Susanne mit der Schulter. «Darum habe ich alles unter der Matratze. Da kann ich es sehen, wann ich will», knurrt der Gipser auf uns herab. «Verschrauben Sie jetzt diese Leisten?», säusle ich zurück. Aber der Gipser schüttelt den Kopf. «Wie lange schwimmt das Vieh da draussen rum?» «Keine Ahnung, soll ich fragen?», sage ich. «Wenn er fertig ist, ist auch verschraubt.» Gut, klingt vernünftig. «Komm her! Komm her!», wird Susanne am Fenster lachend laut. «Der Hund beisst in die Schwimmflügel! Ich hoffe, diese Frau kann richtig schwimmen!» «Das macht er jeden Tag», ziehe ich weiter eine Leiste Gips. «Geht einer rein und holt ihn raus?»

DELIA LENOIR LENOIR@HAPPYSHRIMP.CH ILLUSTRATION: IRENE MEIER (IRENEMEI@GMX.CH) SURPRISE 259/11


Pop Rockmusik, die tätscht Evelinn Trouble startete vor drei Jahren im Windschatten von Sophie Hunger. Doch nun ist Schluss mit Songwriter-Leisetreterei. Auf ihrem zweiten Album «Television Religion» kleidet sie ihre Lieder in wütenden Lärm.

Einer Gallionsfigur gleich thront Evelinn Trouble auf einem Panzer. Gekleidet in ein Hochzeitskleid, weiss wie die davor baumelnde Friedenstaube, gelaunt so zornig wie Jeanne d’Arc vor dem Gefecht. «Warface» heisst der Song, zu dem die GSoA ein Video drehte, für die Kampagne zur Volksinitiative für ein Verbot von Kriegsmaterial-Export. Der Song walzt manisch dröhnend voran. Das klingt anders als der SingerSongwriter-Stoff von Troubles Debütalbum «Arbitrary Act». Umso besser passt «Warface», das sie schon vor zwei Jahren für die GSoA-Kampagne geschrieben hat, auf das neue Album. «Television Religion», strotzt vor Wut, Zorn und Spiellust. Man könnte im Falle Troubles vermuten, der Stilwechsel sei eine Reaktion auf die dauernden Vergleiche ihres Debüts mit der Musik ihrer Freundin Sophie Hunger, für die sie Backing Vocals sang. Die Zürcherin winkt ab: «Ich plane nicht im Voraus, wie ich als Nächstes tönen will. Das geschieht intuitiv. Dass mein neues Album den müssigen Vergleich wegbläst, war nicht geplant, ist aber ein schöner Nebeneffekt. Es ist viel Zeit vergangen seit meinem Debüt, ich bin kein Teenager mehr, der über die erste Liebe singt. Die Härte der neuen Songs hat sich aus meinen Empfindungen ergeben, welche halt nicht mehr so sorglos sind wie damals. Grössere Abgründe brauchen auch einen grösseren und komplexeren Sound». Die musikalische 180-Grad-Wende ist also mehr die logische Entwicklung einer 21-Jährigen, deren Debütalbum zugleich die Maturaarbeit war. Das Leben beginnt bekanntlich erst danach wirklich. Für Evelinn Trouble in New York, der Stadt, wo auch ihre musikalischen Vorbilder TV On The Radio herkommen. «Ich will sehen, ob ich mit meiner Musik auch dort bestehen kann», gab sie vor dem Abflug in einem Interview an. Ist ihre Rückkehr vom Big Apple nach Downtown Switzerland demnach als Scheitern zu verstehen? «Nein, ich hab einfach gesehen, dass dort gar nicht so viel los ist, wie erhofft. Man sieht viele mittelmässige Bands. Es hätte viel länger gedauert, dort die passenden Leute zu finden, um meine Ideen umzusetzen. Drei Monate haben nicht gereicht». Zurück in Zürich, fand sie ihren kreativen Gegenpol in Flo Götte. «Er macht Beats, sowie Bass- und Gitarren-Sounds. Ich mache die meisten Arrangements und spiele den Juno» (ein Synthesizer aus den 80ern, Red).» In dieser Besetzung suchten sie zunächst mittels Coversongs ihre gemeinsame musikalische Sprache. Mit TV On The Radios «I Was A Lover» und Jimi Hendrix «I Don’t Live Today» haben zwei Covers den Sprung aufs Album geschafft. Die Spannweite zwischen den Originalen umreisst in etwa den Sound von «Television Religion». «Rockmusik, die tätscht und Türen aufstösst», nennt es Trouble. Es knallt und brätscht nicht permanent auf dem Album, aber die Gewalt ist zumindest als Lauern immer spürbar. Man hört, dass keine eingespielte Band am Werk ist, die den Song möglichst herausarbeiten will. Vielmehr zerreissen und zerstückeln hier zwei gleichberechtigte Soundtüftler Sounds, Beats und sogar die Stimme, wenn ihnen danach ist. SURPRISE 259/11

BILD: PAOLA CAPUTO

VON OLIVIER JOLIAT

Komplexe Sounds für grosse Abgründe: Evelinn Trouble.

Spielfreude kommt vor Wohlklang und es wurden nicht wie bei so manch helvetischer Produktion sämtliche Kanten abgeschliffen. So entstehen grob gehauene Songmonolithen wie «Nothing» oder «My Lies», über die Trouble singt, schreit und jault. Aufgenommen wurde «Television Religion» schon vor einem Jahr. Eine lange Zeit also bis zur Veröffentlichung. Sind die Stücke Trouble denn bereits wieder verleidet? «Nein gar nicht! Die Songs sind wohl einfach besser als beim Debüt. Wir haben sie nach den Aufnahmen auch lange ruhen lassen. Zudem spielen wir seit drei Monaten mit Drummer Tobias Schramm und so werden sie live eh anders klingen». Wer Evelinn Trouble bereits auf der Bühne gesehen hat, weiss: Um sie muss man sich live keine Sorgen machen, egal in welcher Formation sie auftritt. Die Feuertaufe hat das neu formierte Trio Mitte September an der Berliner Musikfachmesse Popkomm bestanden. Nun kommt sie mit ihrem Monster von einem Album auch über die Schweiz. ■ Evelinn Trouble: «Television Religion», Chop Records. Live: 6. Oktober, 21 Uhr, ISC, Bern; 22. Oktober, 21 Uhr, Thun, Cafe Mokka; 29. Oktober, 22 Uhr, Basel, Sud. www.evelinntrouble.com

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BILD: ZVG BILD: ZVG

Kulturtipps

Eltern wissen: Die Tiger sind zuerst eingeschlafen. Horizonterweiterung auf der psychiatrischen Abteilung.

Buch Balsam für schlaflose Eltern

DVD Ping Pong unter Depressiven

Woran erkennt man junge Eltern? – An den dunklen Augenringen. Ein kultverdächtiges Buch hat diese ungeschminkte Wahrheit in unkorrekte Verse verpackt.

«It’s Kind of a Funny Story»: Die Geschichte des Teenagers Craig, der im psychiatrischen Trakt lernt, im Leben Schritt zu fassen, lässt einen tatsächlich schmunzeln – und durchatmen.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON NILS KELLER

Am Anfang stand ein Facebook-Scherz: Ein übernächtigter Vater, von der dreijährigen Tochter um den Schlaf gebracht, behauptet, dass er sich den Frust mit einem Buch von der Seele schreiben wolle – Titel: «Go the Fuck to Sleep». Das Echo ist überwältigend. Und die Zahl der Leidensgenossen macht deutlich: Er, Adam Mansbach, New Voices Professor of Fiction an der Rutgers University und Buchautor, ist nicht allein mit dem Problem. Der Rest ist eine der Geschichten, wie sie nur das Internet schreibt. In Kürze entsteht ein Hype. Noch bevor das Buch auf dem Markt ist, klettert es an die Spitze der Amazon-Charts. Das «Trostbuch für verzweifelte Eltern» wird zum Bestseller. Was, Hand aufs Herz, kein Wunder ist. Denn, seien wir doch ehrlich: Was fragen Eltern einander als Erstes? Nicht, ob der Nachwuchs gut trinkt, wächst, kackt oder krabbelt. Mitnichten! Die erste Frage lautet, mit verständnisunseligem Unterton und augenringgrundiertem Blick: Wie schläft es? Das nämlich ist das A und O der Beziehungsschlacht Eltern – Kind. Hier entscheiden sich Wohl und Weh der ersten Jahre: am Schlaf. Präziser gesagt: an der Wegstrecke bis hin zu diesem göttlichen Augenblick, der aus jedem Satansbraten einen Engel macht. Mit geschlossenen Augen! Schlafend! Und wie süss sie dann sind. Und wie das Elternherz dahinschmelzen kann. Endlich! Doch bis dahin ist es oft ach so weit. Denn punkto Taktik und Strategie kann es der frühkindliche Einfallsreichtum mit jedem General aufnehmen. Erst hat es noch Durst, dann muss es aufs Klo, dann will es noch eine letzte Geschichte hören und dann… bis der am Bettrand in Schlaflosigkeit versteinerte Vater und die im (Schlaf-)Entzug vegetierende Mutter in die köstliche Stille einer viel zu kurzen Nacht entlassen sind. All das hat Adam Mansbach in Verse gesetzt und diese vor traumhaft schöne Nachtbilder gestellt. Verse, die stets mit trügerischen Kinderreimen beginnen und in einem Aufschrei enden, der kein Poesieblatt vor den Mund nimmt. Politisch unkorrekt im höchsten Masse, aber sooo nachvollziehbar. «Die Vögel am Himmel verstummen,/die Nacht senkt sich über den Hain./Du hast immer noch Durst? Hör auf mit dem Scheiss./Leg dich hin, schlaf verdammt noch mal ein.» Oh, yeah!

Der 16-jährige Craig Gilner (Keir Gilchrist) geht mitten in der Nacht ins Spital, nachdem er sich im Traume zum unzähligsten Male von der Brooklyn Bridge stürzen sah. Vom Notfallarzt angespornt, lässt sich Craig in die psychiatrische Abteilung einweisen. Seine anfängliche Begeisterung über die Flucht aus seinem stressigen Leben als Vorzeigeschüler verfliegt jedoch schnell. Weil sich die Kinderabteilung im Umbau befindet, muss er mehrere Tage im Erwachsenentrakt verbringen. Im Laufe dieser Tage erzählt er uns von seinen Ängsten, der Gruppenmaltherapie, Psychiatergesprächen und vor allem von den Begegnungen mit seinen Mitpatienten. So findet er im depressiven Bobby (Zach Galifianakis, «The Hangover») eine Art Mentor. Der entstehenden Freundschaft zwischen dem verkrampften Teenager und dem sich verloren glaubenden Erwachsenen gibt der Film eine Tragweite, die ein hoffnungsvolles Ende möglich macht. Doch vorher interessiert sich Craig noch für die ebenfalls hospitalisierte Noelle (Emma Roberts), wird dank seinem Psychiatrieaufenthalt von seinen ach so coolen Freunden plötzlich ernst genommen und widmet sich seinem apathischen ägyptischen Bettnachbarn. Basierend auf der autobiografisch inspirierten Novelle des amerikanischen Autors Ned Vizzini zeigt uns das Filmemacher- und Autorenduo Ryan Fleck und Anna Boden («Half Nelson»), wie Craig seinen ängstlichen Blick auf die Welt ablegen kann. Es gelingt dem Film von Anfang an, Augenblicke von menschlicher Nähe abzubilden und der alltäglichen Leere mit Humor zu trotzen. Die Filmemacher lassen uns an Craigs Gedankenwelt teilhaben, die sich von apokalyptischen Tagträumen über verklärte Kindheitserinnerungen bis hin zu animierten Malereien entwickelt. Dank diesen visuellen Ausflügen, dem überzeugenden Cast und einem indie-poppigen Soundtrack der Band Broken Social Scene ist dies mehr als nur eine weitere Coming-of-Age Story, sondern eher eine schmunzelnde Ode an die Menschen und Momente, die uns durchund aufatmen lassen.

Adam Mansbach: Verdammte Scheisse, schlaf ein! Dumont 2011. CHF 15.90.

http://focusfeatures.com/its_kind_of_a_funny_story

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Ryan Fleck, Anna Boden : «It’s kind of a funny story» (USA 2010), 101 Min. Englisch, Deutsch, Französisch; Untertitel in Englisch, Deutsch, u.a. Extras: Entfallene Szenen, Outtakes, Dokumentationen

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BILD: CHRISTOPH HOIGNÉ

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Uta und Dota gehörten schon zusammen, bevor sie sich kannten.

Liederabend Scheiterhaufen und Suppenbeutel Die Kleingeldprinzessin und Uta Köbernick machen gemeinsame Liedsache. Und kümmern sich dabei mit Vorliebe und ironischer Zunge um universelle Themen. VON MICHAEL GASSER

Ihr Aufeinandertreffen wurde vorgespurt: Als sie sich noch nicht persönlich kannten, seien sie und Dota «Kleingeldprinzessin» Kehr immer wieder aufeinander angesprochen worden, erklärt Uta Köbernick. «Viele glaubten, eine gewisse Verwandtschaft zwischen uns feststellen zu können.» Und schon bald nach der ersten Live-Begegnung, 2005, war das gemeinsame Teilen der Bühne eigentlich eine blosse Zeitfrage. «Ich glaube, wir wollten es einfach nicht vermeiden, zusammen aufzutreten», so Köbernick. Meist sind die beiden Berlinerinnen jedoch mit ihren eigenen Projekten beschäftigt. Während sich die Kleingeldprinzessin mit ihrer Band, den Stadtpiraten, etwa dem Taschen-Swing oder dem Surfrock deutscher Zunge widmet, ist die seit elf Jahren in der Schweiz lebende Köbernick («Ich habe hier viel über die deutsche Sprache gelernt!») nicht nur als Musikerin, sondern zudem als Kabarettistin und Theaterschauspielerin unterwegs. Auf die Frage, ob man diese Sparten denn überhaupt gleichberechtigt bedienen könne, meint Köbernick: «Ich tus.» Ob das gut sei, müssten andere entscheiden. Die 35-Jährige antwortet mit Vorliebe und Verve trocken und das nicht von ungefähr, denn: «Humor ist eine ernste Sache», wie sie auf ihrer Webseite schreibt. Und die Ironie ist also immer mit von der Partie. Die Doppelkonzertreihe der beiden Gewinnerinnen des Deutschen Kleinkunstpreises nennt sich «Unvermeidliche Lieder». Roter Faden ihres Programms sei, dass ein Stück aufs andere folge und zwischendurch die Instrumente gewechselt werden, sagt Köbernick. «Und dabei soll es stets noch Luft für Unverhofftes geben.» Die durchaus schrägen und mit viel scharfem Verstand dargebotenen Songs drehen sich um so schöne und vor allem universelle Themen wie Scheiterhaufen, Suppenbeutel oder Städte. «Für uns sind die Abende Luxus», betont die Künstlerin. Weshalb man sich wie die Schneeköniginnen darauf freue. «Nicht zuletzt, weil wir uns gegenseitig einfach gerne zuhören.» Verständlich.

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Philip Maloney, Privatdetektiv

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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

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KIBAG Bauleistungen

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responsAbility, Zürich

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Odd Fellows, St. Gallen

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Coop

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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Velo-Oase Bestgen, Baar

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Schweiz. Tropen- und Public Health-Institut, BS

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Augusta-Raurica-Loge Druidenorden Basel

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Druckerei Hürzeler AG, Regensdorf

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Stellenwerk AG, Zürich

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www.bauernschlau.ch, Hof, Web, Kultur

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Axpo Holding AG, Zürich

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AnyWeb AG, Zürich

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Niederer, Kraft & Frey, Zürich

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Knackeboul Entertainment, Bern

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Locher Schwittay Gebäudetechnik GmbH, Basel

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Responsability Social Investments AG, Zürich

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Lions Club Zürich-Seefeld

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Uta Köbernick & Dota Kleingeldprinzessin: «Unvermeidliche Lieder», Di, 27. September, 19.30 Uhr, La Cappella, Bern; Mi 28. September, 21 Uhr, Parterre, Basel; Do 29. und Fr 30. September, 20.30 Uhr, Theater Ticino, Wädenswil

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BILD: FILIP DUJARDIN

BILD: ZVG BILD: ZVG

Ausgehtipps

Die US-Flagge ist okay, Kalifornien eher nicht: EMA. Wunschdenken: Das Hochhaus als Fantasiegebilde.

Auf Tour Das Grunge-Grrrl EMA alias Erika M. Anderson veröffentlichte im Frühling ihr Debüt «Past Life Martyred Saints». Seither ist in der Indieszene das Raunen über ihre feedbackgetränkten, im DIY-Verfahren hochgezogenen Wall of Sound nicht mehr abgeflaut. EMA singt traurig und voller Trotz, etwa im Stück «California», wo sie als erstes mal klarstellt: «Fuck California». Die Wiederkunft der Riot Grrrls sehen darin die einen, andere reden von einem Grungerevival. Letztere Lesart befütterte EMA, als sie unlängst von Nirvanas «Endless Nameless» coverte. Im zugehörigen Video gibt die 28-Jährige erst Ruhe, nachdem sie ihre Gitarre gründlich zerlegt hat. Und selbst wenn Sie zu jenen gehören, die rocksäuisches Gehabe blöd finden, glauben Sie uns: Die darf das. (ash) EMA: 29. September, 21 Uhr, Palace, St. Gallen; 30. September, 21.30 Uhr, Bad Bonn, Düdingen.

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Zürich Hoch hinaus

Fürchtet sich im Dunkeln: Grettir der Starke.

Zürich Helden und Angsthasen Island kommt nach Frankfurt – als Ehrengast der diesjährigen Buchmesse. Island kommt aber auch nach Zürich – auf die WeltLeseBühne des Sogar Theaters. Ursula Giger, Kristof Magnusson und Karl-Ludwig Wetzig vom Übersetzerteam der deutschen Neuausgabe der Isländersagas berichten von ihren persönlichen Erfahrungen bei der Arbeit an den mittelalterlichen Isländersagas. Die über 700 Jahre alten, handschriftlich überlieferten Texte erzählen von Familienfehden und Rachefeldzügen, Kämpfen um die Liebe und Verbannungen, und es fliegen dabei derart die Fetzen, dass sich Übersetzer Magnusson bei der Arbeit schon mal an Quentin Tarantino erinnert fühlte. Wir können nur sagen: WeltLeseBühne frei für den grimmigen Egill Skallagrimsson und Grettir den Starken – der übrigens im Dunkeln trotz allen Mutes immer ein bisschen Angst hat. (dif)

Städte sind Orte der Verdichtung – gerade in räumlicher Hinsicht. Die Möglichkeiten zur Ausdehnung in der Horizontalen sind begrenzt, also baut man in die Höhe. Hochhäuser gehören zu den zentralen Merkmalen einer Stadt, stehen für Fortschritt und Wachstum. Dass die Gebäuderiesen nicht einfach nur funktionale Gebilde sind, zeigt sich schon im Wort «Wolkenkratzer». In diesem Begriff steckt Poesie, Sehnsucht und der Wille an die Grenzen und darüber hinaus zu gehen. In Zürich stehen mit dem Mobimo- und dem Prime-Tower zwei Hochhäuser vor der Eröffnung. Das Museum für Gestaltung zeigt derzeit passend dazu Grossgebäude und Hochhaus-Lebenswelten. (ash) Hochhaus – Wunsch und Wirklichkeit, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Mi bis 20 Uhr, Halle Museum für Gestaltung, Ausstellungsstrasse 60, Zürich.

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«Rätselhafte Raufbolde», WeltLeseBühne – Isländersagas in deutscher Neuübersetzung. Montag, 26. September 2011, 20.30 Uhr, Sogar Theater Zürich www.sogar.ch

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BILD: ZVG

BILD: ZVG

Bruno Hächler und sein meersßchtiger Elefant (nicht im Bild). Widersprßchlich und tanzbar: Gustav heisst eigentlich Eva.

Auf Tour Der Stadtfuchs singt ÂŤBruno Hächler bringt mit seiner neuen Kinderlieder-CD ‚StadfĂźchs› die ganze Familie zum TanzenÂť, heisst es in den Presseunterlagen in heiterem Ton. Das ist sicher nicht falsch, auch wenn die ganze Familie vielleicht nicht unbedingt freiwillig mittanzt, sondern die älteren von den jĂźngeren Familienmitgliedern dazu getrieben werden. Aber wir wollen froh sein, wenn die Kinder glĂźcklich sind, und so wissen wir auch die ÂŤStadtfĂźchsÂť wertzuschätzen. Und die Gestalten, die Bruno Hächler in seinen Liedern auftreten lässt, sind auf jeden Fall liebenswert. Da ist zum Beispiel der Elefant, der ans Meer will, ein gelbes Taxi auf Entdeckungsreise durch die Stadt und der Hamster, der sich in der KĂźche ans Handwerk macht und rĂźstet, was das Zeug hält: ÂŤI de Chuchi schtoht e Suppe, und de Hamschter isch de Choch, und er rĂźschtet, und er schnätzlet, er rĂźert alles i sin Topf ‌ Das ist der Stoff, aus dem die Träume sind – die der Dreijährigen auf jeden Fall. (dif)

Auf Tour Verspielte Protestlieder

Breiti Turbenthal; 4. Oktober, 14 Uhr, Schulhaus HĂźenerweid Dietlikon; 5. Oktober

Bevor Missverständnisse aufkommen: Wenn Sie in diesen Spalten ÂŤGustavÂť lesen, ist das der KĂźnstlername der Ă–sterreicherin Eva Jantschitsch und nicht der glatte Sänger aus Fribourg. Wir sind hier nämlich nicht bei der Schweizer Illustrierten. Also: Gustav spielt Protestsongs und Diskurspop. Auf ihren beiden Alben ÂŤRettet die WaleÂť und ÂŤVerlass die StadtÂť jongliert sie mit Geschlechterrollen, Systemkritik und Musikstilen. Und zwar weder ernsthaft verkrampft noch ironisch gebrochen, sondern auf eine dringliche und verspielte Weise. Es mag widersprĂźchlich wirken, aber tatsächlich kann man zu Gustavs Liedern wider Kapitalismus und Entfremdung tipptopp tanzen. Mal rumpelt die Elektronik, dann klimpern Mandolinen und immer wieder muss man die Tuba im Untergangsschlager ÂŤAlles renkt sich wieder einÂť hĂśren. Darin singt Jantschitsch fast sehnsĂźchtig von AbgrĂźnden und Verelendung, doch dann findet sie ganz unten im Dunkel Trost und Menschlichkeit: ÂŤLass den Kopf nicht hängen, Sweetheart!Âť Die drei Schweizer Konzerte werden richtig schĂśn. (ash)

15 Uhr, Obere MĂźhle DĂźbendorf; 8. Oktober, 11 Uhr, Gemeindesaal, Knonau.

Gustav und Band: Mi, 28. September, 21 Uhr, Palace, St. Gallen; Do, 29. September,

www.brunohaechler.ch

21 Uhr, Viadukt, ZĂźrich; 30. September, Reitschule, Bern.

Bruno Hächler mit Band: 24. September, 14 Uhr, Lillibiggs Kinderkonzerte, Olten; 25. September, 14.30 Uhr, Salzhaus Winterthur; 1. Oktober, 15.30 Uhr, Schulhaus

Anzeige:

ÂŤIch wohne, also bin ichÂť – Netzwerken fĂźr einen Integrationsfaktor $IEĂŚ7OHNSITUATIONĂŚKANNĂŚDIEĂŚSOZIALEĂŚ)NTEGRATIONĂŚUNTERSTĂ&#x;TZENĂŚODERĂŚ ERSCHWEREN ĂŚ0REKĂŠREĂŚ7OHNVERHĂŠLTNISSEĂŚBEDEUTENĂŚ3TRESS ĂŚ7ERĂŚSEINEĂŚ 7OHNSITUATIONĂŚVERBESSERNĂŚMUSS ĂŚSTEHTĂŚABERĂŚMEISTĂŚVORĂŚHOHENĂŚ(Ă&#x;RDEN 7OHNKOSTENĂŚSINDĂŚEINĂŚ3CHULDENRISIKO ĂŚ:UDEMĂŚSINDĂŚDIEĂŚMAXIMALENĂŚ -IETANSĂŠTZEĂŚDERĂŚ3OZIALHILFEĂŚHĂŠUlGĂŚNICHTĂŚREALISTISCH ĂŚWESWEGENĂŚVIELEĂŚ -ENSCHENĂŚ4EILEĂŚDESĂŚ"EITRAGSĂŚFĂ&#x;RĂŚDIEĂŚALLGEMEINENĂŚ,EBENSFĂ&#x;HRUNGS KOSTENĂŚDAFĂ&#x;RĂŚEINSETZENĂŚMĂ&#x;SSEN

6. Zßrcher Armutsforum Donnerstag, 27. Oktober 2011 8.30 –13.15 Uhr, Technopark Zßrich SURPRISE 259/11

7OHNORTWECHSELĂŚWIRKENĂŚSICHĂŚNEGATIVĂŚAUFĂŚDIEĂŚ)NTEGRATIONĂŚAUS ĂŚSPEZIELLĂŚ BEIĂŚĂŠLTERENĂŚ-ENSCHENĂŚUNDĂŚ&AMILIENĂŚMITĂŚSCHULPmICHTIGENĂŚ+INDERN $IESEĂŚ4HEMENĂŚMĂ™CHTENĂŚWIRĂŚMITĂŚ)HNENĂŚAMĂŚ ĂŚ:Ă&#x;RCHERĂŚ!RMUTSFORUMĂŚ DISKUTIEREN ĂŚ-EHRĂŚ)NFORMATIONENĂŚUNDĂŚ!NMELDUNGĂŚUNTERĂŚ WWW CARITAS ZUERICH CH EVENTS

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Verkäuferporträt «Das sind echte Freunde» Bruno Bölsterli (57) ist Basler – durch und durch. Der Surprise-Verkäufer vom Marktplatz ist ein begeisterter Fasnächtler und besitzt die Fähigkeit, Hunde in Stiere zu verwandeln.

«Meine ‹Gugge› und der FC Basel – das ist meine Heimat, meine Familie. Als es mir dreckig ging, nach der Scheidung und auch nach meinem Unfall letztes Jahr, haben meine Kollegen von den Messingkäfern – so heisst unsere Gruppe – für mich geschaut. Über 30 Jahre spiele ich schon Trompete und jeden Donnerstagabend ist Probe angesagt. Für mich ist das jeweils ein echtes Highlight. Alleine macht das Üben halt bei Weitem weniger Spass und als Gruppe sind wir sehr erfolgreich. Neben unseren Auftritten an der Basler Fasnacht waren wir verschiedentlich in französischen und deutschen Städten zu hören. Eine Agentur hat uns vermittelt. Besonders gut bin ich jeweils am Mittwochnachmittag an der Fasnacht zu erkennen, dann kommt nämlich immer Messingkäfer-Fötzi mit. Den kleinen Holzhund habe ich vor 30 Jahren gekauft. Jedes Jahr schneidere ich ihm ein neues Kostüm, abgestimmt auf das der ganzen Gruppe. Letztes Jahr wurde aus ihm ein Stier, so was passiert wirklich nicht jedem Hund. Würde mich jemand nach meinem schönsten Geburtstag fragen, müsste ich keine Sekunde überlegen: Es war mein 50. und meine Kollegen von der Gugge haben ihn derart schön gestaltet, dass ich noch heute – fast acht Jahre später – ganz gerührt bin, wenn ich daran zurückdenke. Sie haben für mich gespielt und unseren Proberaum toll ausgeschmückt. Das sind echte Freunde, ich gehöre zu ihnen, obwohl ich IV-Empfänger bin und sich mein Leben ansonsten nicht gerade mitten in der Gesellschaft abspielt. Deswegen bleibe ich meiner Gugge auch treu, von dem oft praktizierten Gewechsle zwischen den verschiedenen Guggenformationen halte ich rein gar nichts. Es kommt darauf an, dass man zusammenhält und gemeinsam weiterkommt. Wenn bei uns jemand Neues dazustösst, stellt sich immer ziemlich schnell heraus, ob er zu uns passt oder nicht. Das muss einfach stimmen. Man muss schon sagen, irgendwie sind wir ‹e Sauhufe›, aber ein sehr sehr lieber. FCB-Fan bin ich seit meinem zwölften Lebensjahr, so ungefähr, ganz genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Bei Heimspielen bin ich grundsätzlich immer mit von Partie. Früher fuhr ich dem Club auch zu Auswärtsspielen hinterher. Das kann ich mir heute aber nicht mehr leisten und auch die Champions League ist mir zu teuer. Das macht aber nix. Dann fiebere ich halt vor dem Fernseher mit. Während sechs Jahren habe ich auch Tribünendienst gemacht. Das hat mir gut gefallen, da war man halt dicht am Geschehen dran. Eigentlich bin ich mit meinem Leben unterdessen ganz zufrieden, auch wenn es wirklich nicht das einfachste ist. Das hat schon in der Kindheit angefangen. Unterdessen habe ich mich aber daran gewöhnt, auch ans Alleinewohnen. Kochen tue ich mir ganz einfache Sachen und ab und zu gehe ich ins Restaurant. Mit dem Heftverkauf kann ich etwas dazuverdienen, das finde ich angenehm und es hilft mir auch, auf neue Leute zuzugehen und mich nicht allzu sehr in meiner Wohnung zu ver-

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BILD: ZVG

AUFGEZEICHNET VON ELISABETH WIEDERKEHR

kriechen. Seit ich Surprise verkaufe, führe ich ein Dossier. Ich lese das Heft und lege jeweils ein Exemplar in einer Mappe ab. Zudem schreibe ich manchmal kleine Kommentare und notiere Vorschläge von Kunden für neue Rubriken oder Artikel. Persönlich gefiele es mir ganz gut, wenn Surprise auch Kontaktanzeigen publizieren würde. Es gibt ja wirklich viele einsame Singles. Wäre doch eine Idee, nicht? Insgesamt habe ich aber rein gar nichts zu bemängeln, die Ausgaben gefallen mir und die Themen finde ich brisant. Ein echter Fortschritt war für mich, als ich meinen Verkaufsstandort vom Clara- an den Marktplatz verlagern konnte. Dort gibt es einfach viel mehr potenzielle Leserinnen und Leser. Manchmal möchte ich wetten, dass diese oder jene Person nach ihrer Einkaufstour noch mal bei mir vorbeischaut und ein Heft mitnimmt. Solche Wetten würde ich nämlich regelmässig gewinnen und das freut mich dann doppelt!» ■ SURPRISE 259/11


Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

René Senn Zürich

Ausserdem im Programm SurPlus: Jela Veraguth, Zürich Fatima Keranovic, Baselland Andreas Ammann, Bern Jovanka Rogger, Zürich

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Programm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

Bob Ekoevi Koulekpato Basel

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich, Basel Kurt Brügger, Basel Anja Uehlinger, Baden Peter Hässig, Basel Marlies Dietiker, Olten

Peter Gamma, Basel Tatjana Georgievska, Basel Marika Jonuzi, Basel

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

Telefon

Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

259/11 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 259/11

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

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Datum, Unterschrift 259/11 Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch

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Herausgeber Strassenmagazin Surprise GmbH, Postfach, 4003 Basel www.strassenmagazin.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@strassenmagazin.ch Geschäftsführung Paola Gallo, Agnes Weidkuhn (Assistenz GF) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@strassenmagazin.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden (Nummernverantwortlicher), Florian Blumer, Diana Frei redaktion@strassenmagazin.ch Ständige Mitarbeit texakt.ch (Korrektorat), Delia Lenoir, Irene Meier, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Michael Gasser, Natalie Gyöngyösi, Olivier Joliat, Nils Keller, Stefan Michel, Dominik Plüss, Fabienne Schmuki, Roland Soldi, Verena Stössinger, Elisabeth Wiederkehr Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15 000, Abonnemente CHF 189.–, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 61 Theres Burgdorfer, t.burgdorfer@strassenmagazin.ch

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die vom gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27 Zoë Kamermans, Patrick Würmli, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@strassenmagazin.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@strassenmagazin.ch Strassensport T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller l.biert@strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

SURPRISE 259/11


Von Aarberg bis Zuoz. Surprise gibt es beim Strassenhändler Ihres Vertrauens. Oder im Abo per Post.

24 Ausgaben für 189 Franken oder als Gönner-Abo für 260 Franken. Gutes lesen, Gutes tun und gleich bestellen! www.strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch, Spendenkonto PC 12-551455-3 Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 SURPRISE 259/11

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