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Strippenzieher Wie Lobbys das Parlament manipulieren Ananas im Abfallsack – Lebensmittel als Wegwerfware

Versteckis vor dem Brockenhaus – Kinderarmut in der Schweiz

Nr. 267 | 20. Januar bis 2. Februar 2012 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Titelbild: iStockphoto / WOMM

Editorial Marionetten BILD: DOMINIK PLÜSS

Politik ist ein Wettbewerb der Interessen. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen suchen nach Mehrheiten für ihre spezifischen Anliegen. Dabei kämpfen die Vertreter der einzelnen Interessengruppen gegeneinander, um für die jeweilige Klientel das Beste herauszuholen. Das ist legitim, ebenso wie Auseinandersetzungen mit harten Bandagen. Irgendwann muss aber jeder Interessenvertreter einsehen, dass Maximalforderungen keine Chance haben. Nur wer bereit ist, anderen entgegenzukommen, kann eine Abstimmung gewinnen. Das Resultat solcher Debatten ist oft der sprichwörtliche gutschweizerische Kompromiss, mit dem weite Teile der Bevölkerung leben können. So war es zumindest bis vor einigen Jahren. In letzter Zeit aber vergiftet der Hang zu Maximalforderungen Gesellschaft und Po- RETO ASCHWANDEN litik. Interessenausgleich und Kooperation sind out, Powerplay zur Durchsetzung REDAKTOR von Partikularinteressen ist in. Insbesondere traditionell starke Player aus der Gesundheits-, Finanz- und Energiebranche formulieren ihre Forderungen immer hemmungsloser und zeigen sich unzimperlich bei der Wahl der Mittel. Es reicht ihnen nicht mehr, Politiker mit lukrativen Jobs und Posten in Aufsichts- und Verwaltungsräten an sich zu binden. Heutzutage schicken sie hochbezahlte Lobbyisten ins Bundeshaus, um die Parlamentarier im Sinne ihrer Auftraggeber zu beeinflussen. Ab Seite 10 lesen Sie, wie gewählte Volksvertreter von Einflüsterern im Sold der Grosskonzerne manipuliert werden. Das geht so weit, dass Parlamentarier Vorstösse in die Räte bringen, die von Lobbyisten verfasst wurden. Mittlerweile wehren sich selbst rechtsbürgerliche Politiker dagegen, für Geschäftsinteressen instrumentalisiert zu werden. Der Anspruch, ein Parlamentarier habe stets und ausschliesslich die Interessen seiner Wählerschaft zu vertreten, ist selbstverständlich realitätsfremd. Doch die Vorstellung, dass ein Nationalrat sein Mandat in den Dienst einiger weniger Geschäftsleute stellt, empört auch wirtschaftsnahe Wählerinnen und Wähler. Egal welcher politischer Couleur: National- und Ständeräte sind gewählt als Volksvertreter und nicht als Marionetten der Banken-, Pharma- und Atomlobby. Ich wünsche Ihnen spannende Lektüre Reto Aschwanden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@strassenmagazin.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 267/12

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10 Bundeshaus Im Fokus der Lobbyisten BILD: REUTERS/PASCAL LAUENER

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Inhalt Editorial Manipulierte Volksvertreter Basteln für eine bessere Welt Insalata d’avanzi Aufgelesen Wenn die Nachbarin weint Zugerichtet Diskrete Wirtschaftsverbrecher Mit scharf Armut als Familienangelegenheit Starverkäufer Rathakrishnan «Kumar» Santhirakumar Porträt Weltrevolution in Tigerfinken Wörter von Pörtner Plattensammeln im Digitalzeitalter Schweizer Film Regisseure im Fokus Kulturtipps Bettgeschichten einer Ärztin Ausgehtipps Berührungspunkte Verkäuferporträt Seekrank in Irland Projekt Surplus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

Im Bundeshaus wächst der Einfluss von Interessenvertretern ohne Wählermandat. Die Einflüsterer aus der Gesundheits-, Finanz- und Energiebranche werben bei Bundesparlamentariern um Stimmen und schreiben ihnen bei Bedarf auch gleich die Texte für Vorstösse und Wortmeldungen. Seit Anfang Jahr ist zumindest ein Teil dieser Strippenzieher bekannt. Doch noch immer operieren viele Lobbyisten aus dem Dunkeln.

13 Lebensmittelabfälle Esswaren im Mülleimer Die Konsumenten wollen einwandfreie Lebensmittel bis Ladenschluss. Deshalb wird schon auf dem Weg in die Regale ausgesondert, was nicht perfekt aussieht. Daheim degradieren die Verbraucher selber einen beträchtlichen Teil ihrer Essensvorräte zu Abfall. Eine Geschichte über Verschwendung und schlechtes Gewissen.

BILD: WOMM

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BILD: ISTOCKPHOTO

16 Kinderarmut Kein Geld für den Nachwuchs

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Wenn seine Mutter im Caritas-Laden einkaufen geht, bleibt der zwölfjährige Daniele im Auto – damit er von seinen Kollegen nicht gesehen wird. Kinder aus armen Familien leiden unter Schamgefühlen, Ausgrenzung und schlechten Startchancen. Eine Standortbestimmung, ein Fallbeispiel und ein Experteninterview zu einem unterschätzten Problem in der reichen Schweiz.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

1. Man nehme: Trockenes Weissbrot, so viel wie im Brotkorb übrig geblieben ist, Olivenöl, Weissweinessig (zum Beispiel weissen Balsamico), getrocknete, in Öl eingelegte (und wieder abgetropfte) Tomaten, Pfeffer und Salz, Petersilie oder Basilikum. Und was sonst noch im Kühl- oder im Vorratsschrank dem Verfallsdatum entgegendämmert: Sardellen, Essig- oder Salatgurken, Peperoni, Rucola, hart gekochte Eier, Oliven, eine Zwiebel – passt alles rein. Seien Sie kreativ!

2. Brot je nach Vorliebe in kaltem Wasser einweichen, kräftig ausdrücken und in Stücke zerpflücken oder einfach in Stücke schneiden und danach in Olivenöl anbraten.

3. Salatzutaten zubereiten (waschen, schälen, entkernen, klein schneiden) und mit den Brotstücken in eine Schüssel geben. Aus Öl, Essig und Gewürzen eine Sauce mischen, über den Salat geben. Finito! P.S.: Sollten Sie andere Reste im Kühlschrank haben und nicht wissen, was mit ihnen anfangen: Auf www.daskochrezept.de/suche/kuehlschrank können Sie eingeben, was Sie so zu Hause haben, die Suchmaschine spuckt dann Rezepte für die betreffenden Zutaten aus.

Basteln für eine bessere Welt Wir haben uns daran gewöhnt, Lebensmittel bedenkenlos wegzuschmeissen, sobald das «Mindestens haltbar bis»-Datum abgelaufen oder das Brot ein bisschen hart geworden ist. So ein Verhalten ist natürlich eines Weltverbesserungsbastlers unwürdig! Wir legen deshalb für einmal Leim und Schere beiseite und nehmen stattdessen Rüstmesser und Messbecher in die Hand. Aus altem Brot lässt sich nämlich nicht nur Vogelheu und Fotzelschnitte machen, nein, gar eine toskanische Spezialität lässt sich daraus zaubern! SURPRISE 267/12

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Wie ein Zuckerl Graz. Ein Caritas-Projekt in Graz hat zum Ziel, jugendliche Musliminnen zu sportlichen Aktivitäten zu motivieren. Die 16-jährige Amira Deyab ist zum Beispiel jede Woche beim Schlittschuhlaufen dabei. Sie trage das Kopftuch, seit sie zwölf ist, «freiwillig», wie sie betont. Ein bisschen unfair finde sie es aber schon, dass die Geschlechter ungleich behandelt werden. Mädchen seien «wie ein Zuckerl mit Papier umhüllt» und wenn das Papier, also das Kopftuch, weg ist, gelte das als Schande, während es bei den Buben egal sei.

Krach der Kulturen Stuttgart. Die Mediatoren Yoganathan Putra und Anne Vogler-Bühler bieten in Stuttgart ihre Dienste an, um Nachbarkräche zu lösen. Oft seien die Konflikte interkultureller Natur. Sie könnten jedoch meist gelöst werden, wenn die Parteien zusammen sprechen und sich so gegenseitig verstehen lernen. Wie im Fall einer deutschen Familie, die sich gestört fühlte, weil ihre Nachbarin nachts viel weinte. Im Gespräch kam aus, dass die Palästinenserin zwei Wochen zuvor ihre Familie verloren hatte. Dies habe zu «gegenseitigem Verständnis» geführt.

Schillernde Big Issue London. Die englische Big Issue ist quasi die Celebrity unter den Strassenmagazinen. Stars wie Ewan McGregor oder Jennifer Lopez reissen sich darum, ihr Exklusiv-Interviews zu geben, Premierminister David Cameron betätigte sich auch schon als Chefredaktor einer Ausgabe. In der ersten Issue des Jahres findet sich eine Sammlung von Zitaten aus dem letzten Jahr. So sagte Sitarlegende Ravi Shankar, 91, dass er sich oft noch wie 16 fühle und David Cameron gab zu Protokoll, dass er sich als Junger nicht gross für Politik interessierte.

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Zugerichtet Das Kuscheln der Kavaliere «Ein jegliches hat seine Zeit. Es gibt eine Zeit zum Reden, es gibt eine Zeit zum Schweigen», heisst es bei Ecclesiastes. Dieses Zitat aus den alttestamentarischen Lehrbüchern verwendete Christoph Blocher, als Medien ihn zu seinen Verstrickungen in die Causa Hildebrand befragten. Und fügte hinzu: «Für mich ist es Zeit zu schweigen.» Ein jeglicher Wirtschaftsanwalt wirft nach Möglichkeit einen Mantel des Schweigens über seinen Klienten. Gewiss, das Recht auf Aussageverweigerung steht allen zu. Im Wirtschaftsmilieu hat sie gar Tradition. Siehe Swissair-Prozess. Aber auch bei «kleinen» Fischen wie dem CEO eines Investmentbüros an der Zürcher Goldküste, der mit einem Schneeballsystem im Devisenhandel Millionenschaden anrichtete. Mit unzulässig riskanter Verwendung des Anlagekapitals. Und er hat ein paar Freunden einen profitablen Ausstieg aus seinem Devisengeschäft beschert. Für die bescheideneren Klienten aus dem Hinter- und Oberland war nichts mehr da, als die Finanzkrise auf die Goldküste traf. Der CEO wusste, dass es aus war und zeigte sich bei der Polizei an. Dann schwieg er beruhigt im Wissen, dass nun Jahre vergehen würden. Als es schliesslich zum Prozess kam, stellte sein Verteidiger, ohne mit der Wimper zu zucken, diesen Hauptantrag: «Der Angeklagte ist freizusprechen.» Bei der Selbstanzeige habe ein Irrtum vorgelegen. Der CEO habe geglaubt, falsch gehandelt zu haben, eine genaue Überprüfung zeige aber keine ungesetzlichen Handlungen. Was absurd klingt, ist bei Wirtschaftsfällen die Norm. Die Ermittlung und die Anklageerhebung von Straftatbeständen sind aufwändig. Knapp 100 Fäl-

le werden von der Zürcher Staatsanwaltschaft pro Jahr bearbeitet, zu drei Vierteln eingestellt, 22 nach durchschnittlich drei Mannjahren zur Anklage gebracht. Ein Milliardengeschäft. Im Goldküstenfall aber türmten sich die Tatbestände: ungetreue Geschäftsführung, Veruntreuung, Urkundenfälschung, Betrug. Den Beweis für die arglistige Täuschung erbrachte der Hochglanzprospekt der Firma selbst. Die Lügen, die man den Investoren erzählte, waren in Power-Point-Präsentationen auf den Laptops der Geschäftsherren gespeichert. Gut und recht, aber wem kann man was anlasten? Wer wusste wann was – oder eben nicht? Schwierig, wenn keiner der Beteiligten kooperiert, alle ihre Anwälte sprechen lassen, die auch vor abenteuerlichen juristischen Erklärungen nicht zurückschrecken. Sie und ihre schweigenden Klienten wissen zudem das Gesetz auf ihrer Seite, sind die Rechtsnormen in diesem Gebiet doch notorisch unverbindlich und mit reichlich Spielraum ausgestattet. Vollumfängliche Freisprüche sind meist nicht möglich. Doch bei der Strafe werden Wirtschaftsgaunereien weiterhin als Kavaliersdelikte behandelt. Der GoldküstenCEO kann sich über einen Teilfreispruch und eine kaum spürbare Geldstrafe freuen – er verdient wieder gutes Geld im Anlagegeschäft. Sein Schweigen, auch dies eine Facette der gutschweizerischen Diskretion, hat sich ausbezahlt. Im wirtschaftsjuristischen Umfeld ist Schweigen wie lautes Dementi eine Art von Geständnis. Weitere Zugeständnisse bleiben aus und sind auch nicht nötig – Wirtschaftsdelikte sind schliesslich keine Kapitalverbrechen gegen Leib und Leben. Sie dienen dem Finanzplatz Schweiz. YVONNE KUNZ (YVONNE@REPUBLIK.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 267/12


Kinderarmut Ein gesellschaftspolitischer Skandal Arme Kinder werden allein gelassen, denn die Familie gilt als Privatsache, in die sich der Staat nicht einzumischen hat. Dabei läge die Förderung minderprivilegierter Kinder im ureigenen Interesse der Gesellschaft.

Arme Kinder sind Kinder, die in armen Familienhaushalten aufwachsen. Einelternfamilien und Familien mit mehr als zwei Kindern sind besonders häufig von Armut betroffen. Nicht weil die Eltern arbeitslos oder krank sind. Sondern weil der Lohn und die sozialstaatlichen Transferzahlungen für Familien zur Existenzsicherung in vielen Fällen nicht ausreichen. Sagen wir es, wie es ist: Kinder zu haben, ist in der Schweiz ein Armutsrisiko. Das ist ein gesellschaftspolitischer Skandal. Diese Kinder müssen trotz aller Bemühungen ihrer Eltern in beengten Wohnverhältnissen aufwachsen. Streit zwischen den Eltern gehört zum Familienalltag. Die Unsicherheit über die finanzielle Situation ist immerzu spürbar. Hier versagt die Familienpolitik. Und das hat zuallererst ideologische Gründe. Noch immer dominiert die Vorstellung, dass die Familie Privatsache sei. Die Gesellschaft soll sich erst einmischen, wenn es nicht mehr anders geht. Dann kann es allerdings schon zu spät sein. Doch aufgepasst: Die Geschichte soll sich nicht wiederholen. Verdingkinder darf es nie mehr geben. Was es braucht, ist eine bessere materielle Unterstützung der armutsbetroffenen Fa-

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Strassenmagazin Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@strassenmagazin.ch

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milien und eine gute Begleitung der Eltern. Diese dürfen aber nicht aus der Verantwortung für ihre Kinder entlassen werden. Armen Kindern droht auch eine gute Zukunft verloren zu gehen. Kinder aus armen Familienhaushalten haben bei gleichen Fähigkeiten wie andere Kinder nämlich nachweislich mehr Schwierigkeiten in der Schule, grössere Probleme, eine gute Lehrstelle zu finden und später einen Arbeitsplatz mit ausreichendem Erwerbseinkommen und Perspektive. Die soziale Herkunft ist noch immer für ein gelingendes Leben von (zu) grosser Bedeutung. Nicht nur Reichtum wird von Generation zu Generation vererbt, auch Armut. Kinder aus armen Familien gehören sehr häufig als Erwachsene selber wieder zu den Armen. Zu wenige schaffen es, aus dieser verhängnisvollen Dynamik auszubrechen. Ohne die Lehrerin oder den Götti, die Tante oder den Jugendarbeiter gelingt es diesen Kindern selten, die schulische und berufliche Ausbildung erfolgreich zu absolvieren. Das Bildungssystem baut noch viel zu stark auf die Unterstützung durch die Eltern. Wo diese nicht daheim sind, weil beide arbeiten müssen, nicht helfen können, weil sie selber zu wenig gelernt haben, und kein Geld da ist, um den Nachhil-

feunterricht zu bezahlen, da scheitern arme Kinder, obwohl das nicht sein müsste. Das Bildungssystem muss endlich Antworten auf die ungleichen Lebenslagen der Familien finden. Der Weg zur Chancengerechtigkeit in der Schweiz ist noch weit. Wir haben noch immer keine liberale Gesellschaft, in der nur die Leistung zählt und sonst nichts. Das muss sich nicht nur aus sozialethischen Gründen ändern. Die demografische Entwicklung erlaubt es uns nicht, auf zehn Prozent jedes Jahrgangs zu «verzichten». Wir brauchen alle Kinder: als gut ausgebildete Arbeitskräfte, als urteilsfähige Bürgerinnen und Bürger und als verantwortungsbewusste Eltern. ■

Dr. Carlo Knöpfel ist Leiter Bereich Inland und Netz der Caritas Schweiz und ehemaliger Vorstandspräsident von Surprise.

BILD: ZVG

VON CARLO KNÖPFEL

Starverkäufer Rathakrishnan «Kumar» Santhirakumar Doris Wittmer nominiert Rathakrishnan «Kumar» Santhirakumar als Starverkäufer: «Mein Starverkäufer ist ein gross gewachsener Herr aus Sri Lanka. Ich sehe ihn täglich im Bahnhof Bern Surprise anbieten. Wie ich von ihm erfahren habe, macht er das bereits seit sieben Jahren. Er steht da, mit unglaublich grosszügiger Geduld und Gelassenheit – jeden Tag, umgeben von Menschenmassen, in schlechter Luft. Er verhält sich immer korrekt und freundlich. Man kann von jemandem wie ihm viel lernen.»

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Porträt Der gute Mensch von Zittau Stefan Schöne ist hinter dem Eisernen Vorhang aufgewachsen und engagiert sich heute bei den Ärzten ohne Grenzen. Wäre die Wende nicht gekommen, hätte sein Leben eine andere Wendung genommen. VON DIANA FREI (TEXT) UND ANDREA GANZ (BILD)

In seiner Freizeit brüllt der verhinderte Berufsoffizier in den Kellern besetzter Häuser herum. Er spielt in Screamo-Bands Bassgitarre, schreibt und singt. Screamo ist eine Musikrichtung, die sich in einem vom Kommerz unentdeckten Raum abspielt. Melodiöse melancholische Passagen wechseln sich in ein und demselben Stück mit purem Geschrei ab. Töne zwischen Wut und Verzweiflung, möchte man meinen, aber ganz so manisch-depressiv wie das klingen mag, ist die Sache für Stefan Schöne nicht: «Ich finds spannend, wenn in einem Song was passiert. Das Leben und die Welt sind genau so. Wenn jemand stirbt, wird woanders jemand geboren. Du hast dieses Wechselspiel eh dauernd.» Er spielt mit seiner Screamo-Band in Kellern und Wohnhäusern, in Kneipen und Clubs, meistens vor vielleicht 30 bis 50 Leuten. Er war in Indonesien, Malaysia, Singapur und Israel auf Tour, in Europa und den USA, aber am liebsten in Osteuropa: «In Polen oder in der Slowakei hast du ein ausgesprochen buntes Publikum. Da kommen einfach alle, die sich für Musik interessieren, weil sonst halt nicht viel passiert. Die Punks, die Metaller, die Popper. Da ist die Interaktion mit den Leuten eine ganz andere als in Frankreich, wo nur Screamos kommen.» Und darum geht es doch, findet Schöne: «Sachen machen, die ich machen will, mit Leuten, die mir wichtig sind.» Im Clubkeller wie im Südsudan. Stefan Schöne raucht nicht, trinkt nicht, isst kein Fleisch. Von Freunden wird er gerne als Straight Edger vorgestellt. «Ich persönlich brauche das Label für mich nicht», sagt er, «aber zum Straight Edge kommt man im Normalfall zwischen 14 und 20, und da spielt der Gruppenzusammenhalt und damit die Bezeichnung eine ganz andere Rolle.» Auf Tabak und Alkohol hatte er schon als Jugendlicher keine Lust. Irgendwann stiess er auf Straight Edge und fand sich darin wieder: Aus dem Punk als Gegenbewegung geboren, hielt Straight Edge an der Musik fest, kehrte sich aber von den Drogenexzessen und dem mitunter recht wahllosen Sex ab. Man will der selbstzerstörerischen Haltung etwas entgegensetzen. Auf der Beziehungsebene bleiben. DDR, MSF, Straight Edge: ein Leben, das sich in Ideologien fassen lässt und von moralischen Kategorien geprägt ist. Das findet auch Schöne selbst. «Ideologien sind super. Ich merke, dass ich mich selber und mein Handeln auf einer moralischen Ebene überprüfe. Wahrscheinlich

Stefan Schöne steht in der Eingangstür seiner Zweier-WG, ein rotblonder Mann, der trotz kurzgeschorenem Bart wie ein Schuljunge wirkt. In Trainingsjacke, Jeans und diesen überdimensionalen Tigerfinken, die offenbar so selbstverständlich zu ihm gehören, dass er sie auch anbehält, wenn er unbekannten Besuch empfängt. Wäre 1989 die Wende nicht gekommen, stünde er jetzt vielleicht als Berufsoffizier mit Frau und zwei Kindern in der Tür eines Neubaublocks. So jedenfalls stellt er es sich vor, denn alle Männer in seiner Familie sind zum Militär gegangen. Stefan Schöne gehört zu den wenigen Menschen, die wissen, wie ihre alternative Biografie ausgesehen hätte. Stefan Schöne ist in der DDR aufgewachsen, in Zittau; das liegt im Dreiländereck Tschechien – Polen – Deutschland. «Von da aus bist du schnell in Prag und Krakau», sagt er, «das sind die praktischen Sachen. Alles andere ist eher unpraktisch.» Zittau liegt in einer Ecke der ehemaligen DDR, die keinen Zugang zum westlichen Fernsehen hatte. Nur Bayernrundfunk hätte man empfangen können, aber den hörten die Eltern aus Prinzip nicht. «Mama war Schulleiterin und mein Dad war Berufsoffizier», sagt Schöne – beide waren systemtreu: «Ich habe als Kind geglaubt, dass im Westen, wo es Drogenprobleme und Arbeitslosigkeit gibt, die bösen Menschen wohnen, und die guten Menschen im Osten.» Als der Vater auf einer Kundgebung eine Rede hielt und von einigen ausgebuht wurde, dachte er: «Das ist doch mein Dad, den kann man doch nicht ausbuhen! Der hat doch recht!» Stefan Schöne erzählt mit Humor und Selbstironie und gleichzeitig mit einer starken Verbundenheit zur Familie, zur Herkunft, zu Grundüberzeugungen, die er aus seiner Jugend mitgenommen hat. Als die Wende kam, war er elf; seine Eltern sind heute Sozialdemokraten. Statt zum Militär ging Schöne nach dem Abitur in den Zivildienst. Krankenpfleger wurde er danach, weil ihm die Oberschwester im Zivildienst die Ausbildungsstelle fast aufdrängte. Und er wusste: «Das macht mir Spass und das kann ich.» Nach der Ausbildung wollte er bald weg aus Deutschland. «Von Kollegen hörte ich, dass man in der Schweiz als Pfleger so arbeiten kann, wie ich möchte – mit Zeit für den Patienten.» Nach einer Stelle im bündnerischen Ilanz arbeitet er seit 2006 auf der Intensivstation für In seiner Freizeit brüllt der verhinderte Berufsoffizier in den Brandverletzte im Universitätsspital Zürich. Kellern besetzter Häuser herum. 2010 war er mit Médecins sans Frontières (MSF) für neun Monate in einem abgelegenen Dorf im Südsudan in einem Projekt für Basisgesundheitsversorgung. hängt das mit meiner Kindheit und Erziehung zusammen, selbst wenn Das hiess: hausärztliche Konsultation, Geburtsvorbereitung, Geburten, ich meine ideologischen Vorstellungen weiterentwickelt habe. Ich war stationäre Behandlung, Mangelernährung, Tuberkulose. «Aufgrund des Fan von Che Guevara – bis ich seine Biografie gelesen habe. Aber ja, ich Mangels an medizinischem Fachpersonal erweitert sich deine Kompehätte schon noch gerne die Weltrevolution, solange ich lebe.» Er grinst tenz», sagt Krankenpfleger Schöne, der mit 30 nicht schon sagen wollte: und meint es ernst. Ideologie, nicht Dogmatismus. Nun hast du alles im Griff. Aber als Mensch aus sozialistischem ElternStefan Schöne findet es spannend, andere Sichtweisen kennenzulerhaus sagt er auch: «Wir haben auf der Welt eine extrem ungerechte Günen und zu überlegen: War es totaler Mist, was ich bisher gemacht haterverteilung. Es gibt Länder, da hast du einfach schlechte Karten, wenn be? Und die Weltrevolution – die kann auch damit beginnen, dass man du dort geboren wirst.» mehr aufs Miteinander statt aufs Einzelkämpfertum setzt. ■ SURPRISE 267/12

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BILD: REUTERS/RUBEN SPRICH

Bundeshaus Im Netz der Lobbys Das Parlament ist traditionell gut mit Interessenvertretern bestückt. Doch in letzter Zeit gerät es immer stärker unter den Einfluss professioneller Lobbyisten. Deren Treiben wird allmählich sogar bürgerlichen Parlamentariern zu bunt.

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VON CHRISTOF MOSER

«Money buys talks», Geld kauft Gespräche, lautet ein geflügeltes Wort in Washington, der Hauptstadt jenes Landes, in dem der Lobbyismus erfunden wurde. Konkret heisst das: Wer Geld in die richtigen Kanäle fliessen lässt, erhält dafür direkten Zugang zu wichtigen Politikern, um die politischen Prozesse zu beeinflussen. Bindeglied zwischen Politik und Wirtschaft sind dabei – abgesehen von den Wahlkampfspenden, die direkt den Politikern zukommen – die Lobbyingfirmen, welche die Interessen ihrer Auftraggeber zu ihrem Geschäft gemacht haben. Dabei geht das Geschäft mit den gekauften Interessen in den USA im Unterschied zur Schweiz vergleichsweise transparent über die Bühne. Seit Jahrzehnten wird in den USA die Macht von «Big Money» auf die Politik in Washington diskutiert, Angaben zu Parteispenden und Lobbyausgaben können in Datenbanken abgefragt werden. In der Schweiz sind die Geldbeträge zwar kleiner, dafür ist die Intransparenz umso grösser. Parteispenden sind nach wie vor geheim, trotz des politischen Drucks vor allem seitens der Linken. Das professionelle Lobbying ist hierzulande ein eher neues Phänomen. Das angelsächsische System sieht – zumindest theoretisch – eine strikte Trennung zwischen Politik und Wirtschaft vor, was die Entstehung von Lobbyingfirmen begünstigt hat. Schweizer Politiker verquicken dagegen gleich selber munter politische und wirtschaftliche Aktivitäten. So machte sich der abgewählte CVP-Nationalrat Pius Segmüller 2009 für ein Gesetz zur Waffensicherung stark, während er im Sold eines Herstellers von Waffensicherungen stand, wie später via «Handelszeitung» bekannt wurde – nur ein Beispiel unter vielen.

Universitätsprofessor Robert Leu, der Verwaltungsratsmitglied der Krankenkasse Visana und auch der Privatspitalgruppe Hirslanden war. Das Besondere daran: In der Schweiz scheint sich an solchen Interessenkonflikten niemand wirklich zu stören. Der helvetische Filz ist historisch gewachsen, die Verflechtung zwischen Politik und Wirtschaft und früher auch noch der Armee sind traditionell eng und nicht zuletzt auch der Kleinheit des Landes geschuldet, die allzu strikte Trennungen gar nicht erlaubt, ohne dass das System an mangelndem Fachpersonal zu leiden hätte. Filz mit System – das Beispiel Atomlobby Ebenso klar ist allerdings, dass dieser Umstand gezielt genutzt wird, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Zum Beispiel von der Atomindustrie, die 2007 bei der gesetzlichen Neuordnung der Atomaufsicht durch erfolgreiches Lobbying verhinderte, dass die Aufsichtsbehörde mit Zähnen ausgestattet wurde. So darf die Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit, ein siebenköpfiges Gremium ohne Sekretariat und ohne Geld für eigene Expertisen, auch heute noch nur auf Kontrollberichte des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi) zurückgreifen – das nach der Atomkatastrophe in Fukushima prompt wegen Verquickungen mit AKW-Betreibern in die Schlagzeilen geriet. «Bei gewissen Parlamentariern war die Schwächung der Aufsicht und die Verbandelung mit den Kraftwerkbetreibern vermutlich gewollt», sagt denn auch Walter Wildi, Professor an der Universität Genf und früherer Präsident der Atomaufsichtskommission. Wie tief sich der Lobbyismus in die schweizerische Politik hineingefressen hat, zeigt sich an der Atomlobby exemplarisch. Nicht weniger als 98 der 246 Parlamentarier der Legislaturperiode 2007 bis 2011 waren Mitglieder der «Aktion für eine vernünftige Energiepolitik» (Aves), einer Atomlobby-Organisation unter der Führung der PR-Firma Burson-Marsteller. Nach dem Super-GAU in Japan hat der «Sonntag» das Drehbuch enthüllt, mit dem den Politikern eingetrichtert wurde, wie sie einem Neubau eines Schweizer AKW in der Öffentlichkeit zum Durchbruch verhelfen sollten: «Stromlücke etablieren», «Strommix thematisieren» – und dann die Vorteile von Atomstrom betonen («günstig und ökologisch»). Weil Frauen als besonders atomkritisch gelten, gründete die Atomlobby gar eigens die Gruppe «Frauen für Energie» (FFE), die von CVP-Nationalrätin Esther Egger präsidiert wurde. Um ihren Einfluss abzusichern, holten die Stromfirmen vier Parlamentarier in ihre Verwaltungsräte. Das Vorgehen der Atomindustrie markiert eine Veränderung, die auch in der Schweiz – trotz der sowieso schon engen Verflechtungen von Politik und Wirtschaft – zu einem Boom von PR- und Lobbyingfirmen führte. Die bestehenden Wirtschafts- und Gewerbeverbände, die bisher Interessen gebündelt haben, verlieren an Einfluss, dafür greifen einzelne Branchen und Unternehmen mit professionellem Lobbying di-

Selbst die Verwaltung mischt mit Derlei Verquickungen, die nicht zuletzt dem Milizsystem geschuldet sind, haben System, wie 2009 eine Aufstellung der Handelsregisterplattform Moneyhouse aufgezeigt hat. Allein in der letzten Legislaturperiode (neuere Erhebungen gibt es noch nicht) vereinigten die 246 Parlamentarier insgesamt 1765 Mandate aus der Privatwirtschaft oder von Interessenverbänden auf sich. FDP-Nationalrat Kurt Fluri sass in 29 Verwaltungsräten und Verbandsvorständen, dicht gefolgt vom zurückgetretenen FDP-Ständerat Rolf Schweiger mit 27 Mandaten. Nicht weniger als zwölf Parlamentarier liessen sich direkt von Krankenversicherungen und Spitälern für ihre Tätigkeit als Interessenvertreter honorieren. Dabei verhehlen Politiker zuweilen nicht einmal mehr, dass sie Partikularinteressen vertreten. SVP-Nationalrätin Natalie Rickli, die sich als SRG-Kritikerin einen Namen gemacht hat und die Billag-Gebühren halbieren will, verdient ihren Lohn bei einer Werbevermarktungsfirma für Privat-TV-Sender. Gemäss der Zeitung «Sonntag» lässt sich SVP-Nationalrat Adrian Amstutz Voten und Vorstösse auch schon mal von einem Sunrise-Lobbyisten schreiben. Parlamentarier aus dem linksgrünen Spektrum dagegen vertrauen gerne auf Vertreter von Gewerkschaften und Umweltverbän98 der 246 Parlamentarier der letzten Legislaturperiode den wie Pro Natura oder WWF sowie auf Inwaren Mitglieder der Atomlobby-Organisation Aves. puts aus der Verwaltung. Neuerdings mischt im Lobbying der Staat sogar ganz direkt mit, rekt in politische Entscheidungsprozesse ein. Noch in den 1990er-Jahwie Ende 2011 publik wurde: Die Mitglieder der Eidgenössischen Komren war es bei Bankern wie CS-Chef Lukas Mühlemann en vogue, das mission für Tabakprävention, deren Sitzungsentschädigungen aus Steupolitische System verächtlich links liegen zu lassen. ergeldern bezahlt werden, lobbyierten drei Tage vor der Abstimmung in Nach der Bankenkrise und den drohenden schärferen Regulierungsder Dezembersession bei den Parlamentariern für eine Annahme der vorschriften hat die Finanzindustrie ihre Lobbyingabteilungen ausgebaut Lungenliga-Initiative, die das Rauchverbot weiter verschärfen will. oder reaktiviert. So suchte zum Beispiel die UBS 2010 per Stelleninserat Neben den Banken, der Pharmaindustrie und der Stromwirtschaft zur «Verstärkung unseres Teams», der Group Governmental Affairs, wie haben die Krankenversicherungen am meisten Einfluss auf die Schweidie Lobbyabteilung bankintern genannt wird und die einst vom frühezer Politik. Exemplarisch zeigte sich dies bei der Ausarbeitung des Spiren CVP-Präsidenten Adalbert Durrer geleitet wurde, eine «erfahrene talfinanzierungsgesetzes, welches vorsieht, das neu auch Privatspitäund motivierte Persönlichkeit» mit «profunden Kenntnissen» des lern Millionen von Franken an Steuergeldern zufliessen, obwohl sie Schweizer Politsystems. Auch die CS baute ihre Lobbyingabteilung mitmeist teurer sind als öffentliche Regionalspitäler. In der Expertengruppe hilfe einer Headhunter-Firma aus, die gezielt Journalisten anging und des Bundes, die das neue Gesetz ausgearbeitet hat, sass unter anderen SURPRISE 267/12

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Gewöhnlich beginnt das Lobbying aber nicht erst vor dem Parlamit hohen Salären lockte. Ende 2010 waren im Bundeshaus sieben mentssaal. Am Fraktionsausflug der SVP in der Sommersession 2009, Lobbyisten im Dienst der Finanzindustrie unterwegs. der die SVP-Parlamentarier nach Alpnach im Kanton Obwalden führte, «Der zunehmende Lobbyismus ist die logische Konsequenz der war zu beobachten, wie sich CS-Lobbyist Cesare Ravara unter die wachsenden Komplexität staatlicher Regelwerke und der wachsenden feucht-fröhliche Politikerschar mischte. Eine auf diese Beobachtung hin Distanz zwischen Politik und Wirtschaft», sagt Kuno Hämisegger, Chefangestellte Recherche des «Sonntag» förderte Erstaunliches zutage: Zu lobbyist der Bankiervereinigung, zum Lobbyingboom. Er sieht darin vor diesem Zeitpunkt überstieg die Anzahl Lobbyisten mit 300 Personen allem Chancen: «Je engagierter sämtliche Involvierten ihre eigenen erstmals jene der 246 Parlamentarier im Bundeshaus. Interessen herausschälen und vertreten, desto mehr ermöglichen sie eiZutritt verschaffen diesen Lobbyisten die Politiker selbst. Jeder Parnen politischen Prozess, der gut abgestützt ist.» Ganz anderer Meinung lamentarier darf zwei permanente Zugangsberechtigungen für das Bunist der langjährige Bundeshausjournalist Viktor Parma, Co-Autor des Buches «Die käufliche Schweiz»: «Der Lobbyismus wird unserer Demokratie gefährlich», «Das Vorgehen der Wirtschaftslobby ist dem Ständerat warnt er. Lobbyisten gäben zwar vor, dass sie gegenüber eine Frechheit.» den gewählten Volksvertretern nur assistieren würden, tatsächlich jedoch schrieben sie ihdeshaus verteilen, was liebevoll «Götti-System» genannt wird. Darunter nen immer öfter auch gleich vor, was sie zu stimmen haben. Das in der sind Familienmitglieder, persönliche Mitarbeiter und eben auch LobbyVerfassung festgeschriebene Verbot, Parlamentariern Vorschriften zu isten. Seit Anfang 2012, auf politischen Druck von links, wird diese Zumachen, wird laut Parma immer mehr geritzt. gangsliste jetzt auch im Internet veröffentlicht. Sie basiert auf der Selbstdeklaration der Parlamentarier und ist unvollständig. So lässt sich nun Zugang für Lobbyisten soll transparenter werden zwar nachlesen, dass allein von der entwicklungspolitischen LobbyorTatsächlich kam es im politischen Prozess im Nachgang zum UBSganisation Alliance Sud fünf Leute zugangsberechtigt sind. Im Dunkeln Debakel vonseiten der Finanzindustrie zu teilweise äusserst fragwürdibleiben hingegen die Mandanten der zahlreichen PR-Vertreter mit Zugem Lobbying im Parlament. So zum Beispiel am 11. Juni 2009, als im gangsberechtigung, denn auf der Liste fungieren nur die Namen ihrer jeStänderat die Revision des Aktienrechts auf der Tagesordnung stand, die weiligen PR- und Lobbyingfirmen und nicht jene der Unternehmen, die als Gegenvorschlag zur Abzocker-Initiative ins Feld geführt werden soll. sie vertreten. Derzeit sind mehrere Vorstösse hängig, die verlangen, dass Nicht weniger als acht Lobbyisten schickte der Wirtschaftsdachverband sich Lobbyisten in einem speziellen Register für das Bundeshaus akkreEconomiesuisse in die Wandelhalle. Eine dieser Lobbyisten, genauer eiditieren müssen. Vorbild soll das Transparenzregister der EU sein, in das ne Lobbyistin, stand an jenem Donnerstagmorgen vor dem Ständeratssich alle Organisationen eintragen müssen, die Zugang zum Europäisaal und drückte den Parlamentariern ein Papier in die Hand, das Punkt schen Parlament erhalten wollen. für Punkt auflistete, wie die Ständeräte in diesem Geschäft im Interesse Dies wäre ein erster Schritt in Richtung tatsächliche Transparenz. Am der Wirtschaft abstimmen sollten. Während den Beratungen kam es wachsenden Einfluss gekaufter Interessenvertreter auf die Schweizer dann zum Eklat, als die FDP-Ständeräte Hans Hess und Helene LeuPolitik würde sich damit allerdings nichts ändern. mann die Economiesuisse-Vorschläge in zwölf Einzelanträgen einbrach■ ten und damit alles torpedierten, was die vorberatende Kommission in sieben langen Sitzungen ausgearbeitet hatte. Mehrere Ständeräte, auch von FDP, CVP und SVP, reagierten mit einer einzigartigen Protestaktion und lehnten alle Economiesuisse-Anträge unisono ab – ohne Erfolg zwar, dafür aber mit lautstarkem Geheul. «Das Vorgehen der Wirtschaftslobby ist unseriös und dem Ständerat gegenüber eine Frechheit», liess sich daraufhin zum Beispiel SVP-Ständerat Alex Kuprecht zitieren. Economiesuisse dagegen wollte kein unstatthaftes Vorgehen erkennen: «Bei solch grundlegenden Geschäften begleiten wir die politischen Gremien sehr eng, das gehört zu unserem Auftrag», so Urs Furrer vom WirtDie Parlamentarier und ihre Netzwerke: http://parlament.infocube.ch/floralies/ schaftsdachverband. Die Revision sei «hochkomplex», die Lobbyarbeit Die Zugangsberechtigten für das Bundeshaus: www.parlament.ch diene «in erster Linie» der Information: «Parlamentarier bitten uns teilweise von sich aus darum, sie aufzuklären.» Christof Moser ist Bundeshausredaktor beim «Sonntag» und freier Journalist.

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BILD: WOMM

Lebensmittelabf채lle Wegwerfware Jeden Tag sterben 24 000 Menschen an Hunger. Gleichzeitig wird die H채lfte aller weltweit produzierten Lebensmittel nicht gegessen, sondern landet im M체ll. Beides hat System.

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VON STEFAN MICHEL

«Neulich packte mich wieder einmal die Wut», erzählte unlängst ein Freund. Was den besonnenen Vater mit Abschluss in Philosophie in Rage gebracht hatte, war ein Zeitungsartikel darüber, dass weltweit die Hälfte aller produzierten Lebensmittel weggeworfen wird oder verdirbt. Das Thema ist nicht neu, doch es wühlt weiterhin auf. Dass man Essen nicht wegwirft, hat jeder schon gehört. «An anderen Orten verhungern Menschen», wird mahnend hinterhergeschoben. «Denen nützen mein vertrocknetes Brot und die abgelaufenen Joghurts auch nichts», denkt man sich und drückt die Überschüsse sanft in den Gebührensack. Auch heute sind wieder 24 000 Menschen an Hunger gestorben. Aus Essen wird Müll, das ist mehr als ein moralisches Problem. Lebensmittelabfall ist ein Teil des Systems, in dem unsere Nahrung produziert, gehandelt, verarbeitet und konsumiert wird. Der Weg, den jedes Stück Essen zurücklegt, führt vom Bauernhof oder der Agrarfabrik, eventuell über eine oder mehrere Verarbeitungsstufen, in den Detailhandel und von dort in den Haushalt. Jede Etappe kann die letzte sein. Rohprodukte verderben, werden aussortiert, enden als Produktionsabfall, werden im Supermarkt überschüssig oder schliesslich im Privathaushalt. Während in armen Ländern vor allem am Anfang dieser Lieferkette Verluste entstehen, sind es in den Konsumgesellschaften des Nordens vor allem die Verkaufsstellen und die Konsumenten selber, die Essen wegwerfen. Die Welternährungsorganisation der UNO (FAO) beziffert die gesamten Nahrungsverluste (von der Produktion bis in den Haushalt) in Europa und Nordamerika auf rund 300 Kilo pro Person und Jahr. Die Endkonsumenten werfen nach ihrer Berechnung jedes Jahr eigenhändig 90 bis 115 Kilo Essen weg. Der Umweltökonom Joao Almeida hat in seiner Masterarbeit an der Uni Basel ausgerechnet, dass in der Schweiz ein Drittel aller produzierten oder importierten Lebensmittel nicht gegessen wird. Jede Schweizerin und jeder Schweizer wirft täglich Lebensmittel mit einem Nährwert von 819 kcal weg. Das entspricht übers Jahr gesehen rund 200 Kilo gekochten Teigwaren. Almeida präzisiert, dass seine Berechnung ein gesichertes Minimum darstellten. Die tatsächliche Abfallmenge sei wohl noch um einiges grösser.

den. Almeidas Berechnungen machen deutlich, dass die Konsumenten in der Schweiz für den grössten Teil der Lebensmittelabfälle verantwortlich sind. Dies schlicht, weil wir mehr kaufen, als wir essen können – eigentlich ein Widersinn. Warum geben wir unser Geld aus für Dinge, die ungebraucht im Kehricht landen? Wir kaufen nicht, was wir brauchen Karin Frick ist Forschungsleiterin des Gottlieb Duttweiler Instituts und beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen des Konsums. Ihre Antwort auf die oben gestellte Frage wird lang. «Erstens: Die Menschheit wuchs unter Knappheit auf. Wenn Essen zu haben war, schlug man zu. Dieser Reflex ist noch da. Zweitens: Angesichts des Angebots im Laden handeln wir oft wie am üppigen Buffet: Der Appetit der Augen ist grösser als der des Magens und wir tragen viel zu viel weg.» Die Trendforsche-

Volle Regale bis Ladenschluss, daran wird nicht gerüttelt – deshalb müssen Tonnen von Nahrung entsorgt werden.

Absolution durchs Haltbarkeitsdatum Wenn von Lebensmittelabfällen die Rede ist, schnellen die Zeigefinger reflexartig in Richtung der grossen Supermärkte. Volle Regale bis Ladenschluss, ob Brot oder Salat, ob Kekse oder Koteletts – an dieser Regel wird nicht gerüttelt und sie bringt es mit sich, dass täglich Tonnen noch geniessbarer Nahrung entsorgt werden müssen. Die Marktleader Migros und Coop beteuern, dank exakter Planung den Abfall auf ein Minimum zu begrenzen, was doch übrig bleibt, werde zu Viehfutter, Strom, Treibstoff oder, falls noch geniessbar, teilweise zur Spende. Organisationen wie Tischlein deck dich, Schweizer Tafel und Caritas beziehen jährlich mehrere Tonnen Nahrungsmittel, die sie an Menschen weitergeben, die den Anschluss an die Wegwerfgesellschaft verpasst haben. So löblich dieser Umgang mit dem Überschuss ist, nachhaltiger wäre es, weniger davon zu verursachen. Dabei entstehen die ganzen Abfälle nur für uns, die Kunden! Denn wir erwarten auch um neun Uhr abends das volle Sortiment und laufen stracks zur Konkurrenz über, falls uns dieses nicht geboten wird. Wer nicht zu den Last-Minute-Einkäufern gehört, sucht sich die schönsten Äpfel aus der Kiste. Letzteres trägt wesentlich dazu bei, dass schon bei den Produzenten bis zu 50 Prozent Ausschuss entsteht. Nur die wohlgeformte Kartoffel in der richtigen Grösse schafft es in die Auslage. Alles andere bliebe sowieso liegen, sagen die Verkaufsexperten. Wenn es Esswaren über alle Hürden hinweg bis in einen Haushalt geschafft haben, heisst das noch lange nicht, dass sie auch verzehrt wer-

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rin denkt zurück an ihr Elternhaus: «Meine Mutter wusste schon beim Einkaufen, wie sie die Reste dessen verwerten würde, was sie erst noch kochen wollte. Heute kaufen wir ein, essen dann aber spontan unterwegs, und schon bald sehen die schönen Sachen nicht mehr appetitlich aus.» Noch deutlicher wird Stephan Grünewald, Gründer des Kölner Marktforschungsinstituts Rheingold: «Man packt sich den Kühlschrank als Gefühlsapotheke voll, um für jede Stimmungs- und Lebenslage gerüstet zu sein. Darum kaufen wir letztendlich immer zu viel.» Und plötzlich schämen wir uns nicht mehr, die überzähligen Lebensmittel wegzuwerfen, sondern fühlen Befreiung. Es ist das Entrümpeln des Dachbodens im Kleinen. Und ein unscheinbarer, amtlich anmutender Stempel erteilt uns die Absolution: das Haltbarkeitsdatum. Es gibt sie noch, die Menschen, die sich trauen, selber zu entscheiden, ob die Milch, der Schinken oder die Peperoni noch geniessbar sind. Die Mehrheit hält es für riskant bis unverantwortlich, «abgelaufene» Nahrung zu konsumieren. Rolf Etter, Kantonschemiker des Kantons Zürich, betont: «Das Mindesthaltbarkeitsdatum hat nichts mit Gesundheitsschutz zu tun. Es bezeichnet den Zeitraum, in dem ein Produkt bei korrekter Aufbewahrung seine besten Eigenschaften behält.» Festgelegt wird dieses Datum von den Herstellern. Sie haben damit ein praktisches Mittel zur Hand, ihren Umsatz hochzuhalten. Etter glaubt nicht, dass sie das ausnützen: «Der Hersteller würde sich ins eigene Fleisch schneiden, wenn er die Zeit verkürzte, während der ein Produkt verkauft werden kann. Das wollen weder die Detailhändler noch die Kunden.» Fassen wir kurz zusammen: Weil die Konsumenten in den wohlhabenden Ländern des Nordens ständig genügend perfekt aussehende Lebensmittel zur Verfügung haben sollen, wird schon auf dem Weg zu ihnen viel ausgesondert. In den Verkaufsstellen bleibt ein weiterer Teil auf der Strecke. Und schliesslich degradieren die Verbraucher selber einen beträchtlichen Teil ihrer Essvorräte zu Abfall. An die Hungernden haben Sie jetzt hoffentlich selber gedacht. Nun fragt sich, ob sich mit einem vernünftigeren Umgang mit Nahrung das Los der Mangel Leidenden verbessern liesse. Anders gefragt: Würde es doch etwas nützen, das trockene Brot zu Brotsuppe zu verarbeiten und nur so viele Bananen zu kaufen, wie man auch wirklich isst? Miges Baumann, Leiter des Ressorts Entwicklungspolitik bei Brot für alle stellt die Relationen her: «Wenn das jemand alleine tut, dann nützt das nichts, das ist klar. Unser ganzes Nahrungssystem muss umgebaut werden. Jetzt fliesst ein wesentlicher Teil der Ressourcen aus dem Süden in das Überfluss- und Wegwerfsystem des Nordens. Diese könnten auch im Süden bleiben, was dort zu weniger Knappheit und tieferen SURPRISE 267/12


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Nach Berechnungen der Welternährungsorganisation FAO werden in Europa und Nordamerika jährlich 300 Kilo Nahrungsmittel pro Person weggeworfen.

Nur die wohlgeformte Kartoffel in der richtigen Grösse schafft es in die Auslage. Alles andere bliebe liegen.

Preisen führen würde.» Ins gleiche Horn stösst Thomas Kohler, Mitglied der Geschäftsleitung des Centre for Development and Environment der Uni Bern: «Im Norden sind die Nahrungsmittel zu billig. Unsere Verschwendungswirtschaft würde sofort zurückgehen, wenn sie teurer wären. Zudem hätten wir weniger Probleme mit den bäuerlichen Einkommen, die ja auch ständig sinken.»

Hausgemachte Probleme im Süden Doch als er auf den Süden zu sprechen kommt, wird es kompliziert: «Im Süden sind Lebensmittel teuer. Sie machen bis zur Hälfte eines Haushaltseinkommens aus. Wenn sie sich verteuern, führt das zu einer Nahrungsmittelkrise wie 2008, als sich der Weizenpreis massiv erhöhte.» Kohler erinnert daran, dass auch in den notorischen Hungergebieten Nahrungsmittel verschütt gehen. «Besonders Kleinbauern können ihre Ware wegen schlechter Marktbeziehungen und Transportwege nicht rechtzeitig absetzen. Vor allem aber: In ihren Speichern verdirbt sie oder wird von Schädlingen gefressen.» Als Lösung schlägt der Geograf vor: «Die landwirtschaftliche Beratung sollte massiv ausgeweitet, die nachhaltige Landwirtschaft ins Zentrum gestellt werden. Dazu gehört die bessere Speicherung auf dem Hof.» Nach einer Tour d’Horizon durch die Gründe für die Verknappung von Lebensmitteln – steigender Fleischkonsum und Anbau von ViehSURPRISE 267/12

futter, industrielle Rohstoffe wie Baumwolle, Biotreibstoffe, Ernteausfälle in wichtigen Produktionsgebieten sowie Spekulation – ordnet Kohler ein: «Die Verschwendung ist ein Element unter mehreren. Das ganze Food Regime muss geändert werden, das Regelwerk, nach dem Lebensmittel und Agrarprodukte global produziert und genutzt werden. Ziel müsste sein, dass sich die Menschen wo immer möglich lokal oder regional genügend ernähren können.» Die Menschheit schafft es also, doppelt so viele Lebensmittel zu produzieren, wie schliesslich gegessen werden. Es müsste also möglich sein, überall auf der Welt wenigstens genug zum Überleben bereitzustellen. Dazu braucht es sehr viel mehr als bessere Resteverwertung. Das schlechte Gewissen beim Wegschmeissen mag immerhin als wiederkehrender Mahnruf dienen. ■

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BILD: ISTOCKPHOTO

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Kinderarmut Schlechte Karten Von allen Altersgruppen sind Kinder am stärksten von Armut betroffen – über eine Viertelmillion sind es laut Cartias-Sozialalmanach 2012 in der Schweiz. Ihre Chancen, der Armut zu entkommen, stehen schlecht. VON FLORIAN BLUMER

«La crise n’existe pas» titelte die «Weltwoche» im Oktober 2008 optimistisch und etwas selbstgefällig. Just am Tag der Auslieferung dieser Ausgabe kam aus, dass die Steuerzahler die UBS mit einem milliardenschweren Notpaket retten mussten, was dem Blatt einige Häme einbrachte. Unterdessen bekam die «Weltwoche» dennoch recht, insofern zumindest, als der grosse Einbruch der Schweizer Wirtschaft bis heute ausblieb. Vom anhaltenden Wirtschaftswachstum haben jedoch fast ausschliesslich die Haushalte mit hohem Einkommen profitiert: Die Zahl der Menschen in der Schweiz, die mehr als eine Million Franken pro Jahr verdienen, verfünffachte sich innerhalb der letzten zehn Jahre. Ganz anders sieht es bei den tiefen Einkommen aus: Sie stagnierten im selben Zeitraum. Für einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung gilt also nach wie vor, ganz real, tagtäglich: Die Krise existiert.

tionsweise des Gehirns führen können. Folgen also, die das Kind ein Leben lang begleiten werden. Wenn die Kleider aus dem Brockenhaus kommen, wird ein Schüler schnell zum Mobbing-Opfer. Materieller Mangel bei Kindern in der reichen Schweiz wirkt sich insbesondere auf der sozialen Ebene aus (siehe auch Interview S. 19). Wenn Kinder aus finanziellen Gründen nicht an den Freizeitaktivitäten ihrer Kameraden teilnehmen können, haben sie Mühe, Anschluss zu finden. Mehr Geld und weniger Konsumfixierung Viele armutsbetroffene Kinder schämen sich dazu für den Mangel in ihrer Familie und versuchen ihn zu verbergen. Sie scheuen sich zum Beispiel davor, andere Kinder zu sich nach Hause einzuladen. Die Geheimniskrämerei verursacht Stress. Und Kinder lernen früh, sich zurückzunehmen. Sie übernehmen oft Haus- und Betreuungsarbeiten, die ihrem Alter eigentlich nicht entsprechen, und werden so an ihrer natürlichen Entfaltung gehindert. Kinder bräuchten dazu stabile emotionale Beziehungen und ein Umfeld, das sie fördert und fordert – beides können Eltern nicht in ausreichendem Masse bieten, wenn sie mit der Beschaffung finanzieller Ressourcen übermässig belastet sind. Ein zentrales Element zur Überwindung der Armut ist die Bildung. Und hier sind Kinder aus einkommensschwachen Haushalten klar im Nachteil. So belegen mehrere Studien, dass das Leistungsniveau von Schülern umso schlechter ist, je tiefer der Index der sozialen Herkunft oder das Bildungsniveau der Eltern ist. In Bezug auf diesen Zusammenhang liegt die Schweiz im Vergleich mit den anderen Industriestaaten im Mittelfeld. Sie steht besser da als Österreich, Deutschland oder Frankreich, liegt aber deutlich hinter Kanada und den skandinavischen Ländern zurück. Gemäss der Volkszählung 2000 besuchten acht Prozent der

Den Bauch voll Pommes und Cola Am stärksten von diesem Missstand betroffen sind die Kinder. Denn kinderreiche und Einelternfamilien sind besonders gefährdet. «Es kann davon ausgegangen werden, dass ein knappes Viertel aller alleinerziehenden Haushalte arm ist», heisst es im «Handbuch Armut in der Schweiz» aus dem Jahr 2006. Gemäss der von der Schweizer Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) angewandten Bewertungsskala weisen Kinder die höchste Armutsquote aller Altersgruppen auf. Auch der Anteil an Sozialhilfebezügern ist bei den unter 17-Jährigen am höchsten. Caritas schätzt im von ihr herausgegebenen Sozialalmanach 2012 die Anzahl betroffener Kinder in der Schweiz auf rund 260 000. Sie leben in Familien, in denen die Eltern auf Sozialhilfe angewiesen sind oder zu den so genannten Working Poor gehören, also trotz voller Erwerbstätigkeit so wenig verdienen, dass sie unter der Armutsgrenze leben. Die Armutsgrenze ist eine Wenn die Kleider aus dem Brockenhaus kommen, wird ein schwierig zu bestimmende Grösse, Experten Schüler schnell zum Mobbing-Opfer. streiten über die richtige Bemessungsmethode. Unumstritten ist aber der Befund, dass Kinder in Haushalten mit unterdurchschnittlich tiefem Einkommen unter dem Kinder von Eltern, die nur die obligatorische Schule abgeschlossen haMangel leiden. Ausgemergelte Kinder mit Hungerbäuchen oder Strasben, eine (Fach-) Hochschule oder Universität, während diese Quote bei senkinder in zerschlissenen Kleidern sieht man auf unseren Strassen naKindern von Eltern mit einem höheren Abschluss bei 34 Prozent lag. türlich keine. In der Schweiz sieht Kinderarmut anders aus. Die Bäuche Was tun, um den Missstand der Kinderarmut in der reichen Schweiz sind in der Regel gefüllt, die Kleider intakt. Dennoch liegen bei der Erzu bekämpfen? Der Basler Soziologieprofessor Ueli Mäder fordert einen nährung und der Kleidung zwei zentrale Probleme. Arme Familien Ausbau der sozialen Sicherung und betont, dass ein solcher auch fischränken sich insbesondere in diesen Bereichen ein, sie messen ihnen nanzierbar wäre: zum Beispiel über die privaten Vermögen der 300 allgemein wenig Bedeutung bei. Das bedeutet: Die Bäuche sind zu oft Reichsten – die in den letzten 20 Jahren um rund 600 Prozent auf 470 mit Pommes frites, Gummibärchen und Süssgetränken anstatt mit Pasta, Milliarden gestiegen sind. Auf der anderen Seite empfiehlt der Soziolofrischem Gemüse und Fruchtsaft gefüllt. Armutsbetroffene Kinder leige ein Hinterfragen unserer immer ausgeprägteren Ausrichtung auf den den häufiger als der Durchschnitt unter Fehlernährung, Fettleibigkeit, Konsum, welche die armen Kinder zunehmend unter Druck setzt. Mehr Karies und psychischen Auffälligkeiten – gesundheitliche Beeinträchti«gelassene Erwachsene» wünscht sich Mäder, «die sich ab und zu auch gungen, die bis hin zu einer Verminderung der Kapazität und Funkselbst fragen, was wirklich wichtig ist im Leben». ■ SURPRISE 267/12

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BILD: REUTERS/DOMINIC EBENBICHLER

Kinderarmut «Mein Sohn schämt sich» Daniele*, Sara und Matteo leben mit ihren Eltern in einem verwohnten Mietshaus. Daniele hasst alles, was nach Armut riecht. VON PAULA LANFRANCONI

rige. Sie hat eine Zeichnung mitgebracht, gelb und pink und mit Glitzer. «Ein Zebra», erklärt Sara stolz. «Das müssen wir dann aufhängen», sagt Es geht gegen halb eins, Daniele kommt aus der Schule. Am Telefon ihre Mutter. Die italienisch-schweizerische Doppelbürgerin arbeitet zu hatte er gesagt, er finde es cool, zu erzählen, wie er das Armsein erle50 Prozent in der Kosmetikabteilung eines Dutyfree-Shops. Gewollt 50 be. Doch heute hat der Zwölfjährige keine grosse Lust dazu. Arme LeuProzent, betont sie: «Mit drei Kindern! Ich will einfach wissen, was so te? Das seien solche, die kein Essen haben und auf der Strasse leben, sagt er ein bisschen genervt. Armut, sagt nun seine Mutter Sofia, sei für ihren Ältesten ein Arme Leute seien solche, die kein Essen haben und auf grosses Thema: «Er schämt sich.» Wenn sie jeder Strasse leben, sagt der Zwölfjährige genervt. weils im Caritas-Laden einkaufen gehe, bleibe Daniele im Auto. Es mache ihn wütend, dass läuft in der Schule, und am Mittag präsent sein.» Sofias Mann stammt sie nicht wie andere bei Coop oder Migros posten können. Dort gäbe es aus Schwarzafrika. Er arbeitet auf dem Bau. Reich wird er damit nicht, viel mehr Fleischsorten. Dann sagt seine Mutter jeweils: «Hör mal, das aber müde. Ihr Partner, sagt Sofia, sei sich gewohnt, mit wenig auszuist nun mal unser Budget. Es gibt Leute, die trifft es viel härter.» kommen. Trotzdem streiten sie sich manchmal wegen des Essens: In NiSofia Okoye, 38, eine vollschlanke, in sich ruhende Frau, füttert gegeria kocht man oft einfache Eintöpfe, isst aber viel Fleisch. In der rade ihren Jüngsten, Baby Matteo. Immer wieder herzt sie den Kleinen. Schweiz ist Fleisch teuer, ab und zu reicht das Geld am Monatsende Ein wenig später kommt auch Sara nach Hause, eine grazile Siebenjäh-

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Kinderarmut «Ausgrenzungen in der Schule thematisieren»

BILD: ZVG

Mit mehr Geld allein ist armen Kindern nicht geholfen, sagt Professor Walter Schmid, Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) und Direktor der Hochschule für Soziale Arbeit Luzern.

INTERVIEW: FLORIAN BLUMER

Herr Schmid, ist Armut tatsächlich «vererbbar», wie man immer wieder hört? Ich wehre mich ein bisschen gegen das Bild der Vererbung. Denn dies impliziert, dass die Armut schicksalshaft sei, dass Kinder gar nicht aus dieser Situation herauskommen können. Wir hören aber immer wieder von Jugendlichen, die trotz schwieriger Verhältnisse einen Beruf erlernen konnten, ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben. Die Armut vererbt sich eben nicht wie eine Erbkrankheit. Aber die Ressourcen sind definitiv schlechter, wenn man aus einer armutsbetroffenen Familie kommt.

Was braucht denn ein Kind aus armen Verhältnissen, um es dennoch zu schaffen? Da spielen immer auch subjektive Faktoren eine Rolle. Es geht nicht nur um das Monatsbudget, sondern – neben der psychischen Verfassung – vor allem um die Frage der sozialen Beziehungen, der Wohnumgebung, der Ernährung, der Anregungen, die ein Kind erhält. Dies sind alles wichtige Aspekte eines erweiterten Armutsbegriffs, der sich eben nicht nur auf das Materielle beschränkt. Ist es nicht sehr schwierig, da den Zugang zu finden, zum Beispiel zu Kindern aus bildungsfernen Migrantenfamilien? Das ist tatsächlich so. Es ist leichter gesagt, bildungsferne Schichten zu erreichen, das muss man erst mal machen. Das ist Knochenarbeit und ich habe grossen Respekt vor allen, die diese Arbeit leisten. Gleichwohl ist es meines Erachtens der richtige Weg. Wäre denn armen Kindern, die in der Klasse gemobbt werden, weil sie nicht die angesagten Markenkleider tragen, nicht geholfen, wenn ihre Eltern mehr Sozialhilfe erhalten würden? Wir können natürlich nicht einfach so viel bezahlen, dass sich jeder alle Statussymbole leisten kann. Und ich denke, da würden sich die Probleme einfach verschieben. Ich glaube

kaum mehr für den Caritas-Laden. Sofia nervt das. «Aber», fügt sie gleich bei, «ich nehme es easy, Hauptsache, die Kinder sind gesund und machen eine gute Ausbildung, damit sie vielleicht einmal einen besseren Job finden als ich.» Wichtig ist ihr auch, dass die Kinder ein Hobby haben. Daniele spielt beim lokalen Fussballklub im Mittelfeld. Kürzlich hat er den Verein gewechselt, nun braucht er einen neuen Trainingsanzug und immer wieder Schuhe. Seine Schwester Sara geht in einen Akrobatikclub. «Megateuer» sei das alles, seufzt Sofia. Doch dieses Geld reue sie nicht. Sie selber hat nie so ein Hobby gehabt. Ihr Vater investierte sein Geld lieber in den Hausbau in Italien. Ihre Arbeit im Dutyfree-Shop des Flughafens gefällt Sofia. Sie ist schon zehn Jahre dort. Durch die Arbeit kann sie für ein paar Stunden eintauchen in die Gegenwelt der Reichen. Bevor die Kinder kamen, sagt Sofia, sei auch sie oft gereist. Tauschen mit ihrer Kundschaft möchte sie aber nicht. Auch nicht mit jener Frau, die kürzlich locker 2500 Franken für exklusive Hautcremes hinblätterte. Zufrieden habe die Dame aber SURPRISE 267/12

auch, dass es ganz entscheidend darauf ankommt, ob sich ein Kind als Teil einer Gruppe empfinden kann. Wenn aber die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nur über Markenkleider läuft, dann frage ich mich, ob nicht mit der Gruppe etwas falsch ist. Ich stelle aber auch immer wieder fest, dass dieses Dilemma in Schulen thematisiert wird. Gehört diese Versessenheit auf Statussymbole nicht einfach zu unserer Gesellschaft? Man kann diese Dynamiken natürlich nicht einfach so ändern. Aber vielleicht kann man einen kleinen Beitrag leisten, wenn man diese bewusst macht und beispielsweise in der Schule mit den Kindern bespricht. Wo sehen Sie weitere Ansatzpunkte im Kampf gegen die Kinderarmut? Ich denke, ein zentraler Punkt ist die Frühförderung für Kinder aus bildungsfernen Schichten. Da sehe ich tatsächlich Chancen, weil hier Sozialkompetenz und Kommunikationsfähigkeiten gefördert werden sowie Neugier befriedigt werden kann. Ich denke, mit der Einführung entsprechender Angebote in verschiedenen Städten wurde da im letzten Jahr ein Anfang gemacht. Wir sind zwar noch weit davon entfernt, dass dies flächendeckend umgesetzt wäre – aber die Zielrichtung stimmt. ■

nicht ausgesehen: «Sie tat mir richtig leid mit ihrem gelifteten Gesicht.» Sohn Daniele hingegen ist hungrig auf Geld. Und Erfolg. Im Moment sind seine Wünsche noch bescheiden, eine Nintendo-Spielkonsole zum Beispiel. Pro Woche erhält er fünf Franken Sackgeld. Dafür muss er den Kehricht entsorgen, Männerarbeiten halt. Mit dem Geld will er sich sein eigenes Nintendo kaufen. Und er möchte Ferien am Meer machen. Wo? In einem tollen Hotel. Im Schlaraffenland, wo es alle Süssigkeiten der Welt gibt. Später will Daniele Fussballprofi werden. Bei Bayern München spielen und nachher bei Barcelona und Juventus Turin. Er wird ein Star werden und sie werden ihn holen kommen, davon ist er überzeugt. Möchte er denn nichts anderes lernen? «Doch», antwortet der Zwölfjährige, «lernen, zu verlieren.» ■

* Alle Namen geändert Gekürzte Fassung aus dem Caritas Sozialalmanach 2012

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Mensch und Technik Dementia digitalis Navi, Handy und automatische Rasenm채her erleichtern uns den Alltag. So sehr, dass unser Ged채chtnis schrumpft und der Orientierungssinn verk체mmert.

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VON MONIKA BETTSCHEN

Als Kolumbus anno 1492 Amerika entdeckte, geschah dies nur, weil sich der gute Mann auf den sieben Weltmeeren hoffnungslos verfahren hatte. Anstatt wie geplant auf dem Seeweg über den Atlantischen Ozean nach Indien zu finden, stiess er ein gewaltiges Stück abseits des Kurses auf einen neuen Kontinent. Glück gehabt! Denn auch über 500 Jahre später zahlt es sich in den seltensten Fällen aus, eine Route zu verfehlen. Darum unternahm der Mensch schon immer grosse Anstrengungen auf der Suche nach Hilfsmitteln, um sich in der Welt räumlich zurechtzufinden. Die ersten Navigationshilfen waren die Sterne. Lange, lange Zeit waren sie fast die einzigen Orientierungspunkte auf grossen Schiffsreisen, bevor um das 13. Jahrhundert herum der Kompass mit Messnadel erfunden wurde. Er avancierte zu einem zentralen Messinstrument der grossen Entdecker. Heute müssen wir keine komplizierten Berechnungen mehr aufstellen, bevor wir nach anderen Orten aufbrechen. Diese Arbeit übernimmt ein ganzes Heer von Satelliten, das ständig riesige Datenmengen übermittelt und uns überall und jederzeit dabei hilft, mittels GPS zu einem bestimmten Ziel zu finden. So verlassen wir uns ohne mitzudenken auf die Navigationsgeräte in unseren Autos. Die Möglichkeit eines technischen Fehlers bei den gelieferten Daten ziehen wir kaum noch in Betracht. Doch fast jeder kennt eine Anekdote von fehlgelotsten Lenkern: Geschichten von Autofahrern, die der Navi-Anweisung wie Schafe in abgelegenes Gelände folgten oder gleich filmreif in einem Flussbett parkierten. Offenbar tauscht man beim Fahren den gesunden Menschenverstand gegen blindes Vertrauen in die Technik ein und verliert dabei auch noch die Fähigkeit, Distanzen realistisch einzuschätzen.

fast schon legendär und legt nahe, dass deren Gehirne sich im Laufe der Jahre an diese hoch spezialisierte Arbeit angepasst haben mussten. Die Untersuchungen zeigten denn auch, dass die Gehirne der Taxifahrer im Vergleich zu den anderen Testpersonen dort, wo sich das räumliche Gedächtnis befindet, besonders ausgeprägt waren. Auch Untersuchungen mit Profimusikern zeigten, dass sich das Gehirn spezifisch entwickeln kann. «Diese Erkenntnisse lassen den Umkehrschluss zu, dass das Gehirn nicht nur aufgebaut werden, sondern sich auch zurückbilden kann, wenn die betreffende Region nicht gebraucht wird», erklärt Karin Kucian und ergänzt, dass man das Gehirn auch zu einseitig trainieren könne. «Dies kann unter Umständen zu einem Defizit bei anderen Fähigkeiten führen.» Gedächtnis ausgelagert Kucian weist darauf hin, dass es zurzeit noch keine wissenschaftliche Studie gibt, welche die digitale Demenz an sich belegen würde. «Dafür gibt es aber überall im Alltag beobachtbare Beispiele, die den Verdacht erhärten, dass wir gewisse Fähigkeiten durch unsere steigende Abhängigkeit von technischen Hilfsmitteln verlernen.» Ob die Adresse des Freundes, der Geburtstag des Vaters oder die Telefonnummer der Schwester: Anstatt dass man versucht, sich zu erinnern, wird der Weg des geringeren Widerstands gewählt. Es wird getippt und gescrollt, bis man in den Untiefen des eigenen digitalen Kosmos fündig wird. Selbst Passwörter werden häufig nicht im Kopf, sondern auf einer externen Festplatte gespeichert. «Das ist mein zweites Gehirn», sagt manch einer fast entschuldigend und deutet dabei auf Handy oder Laptop. Wir möchten Zeit gewinnen und programmieren dafür Heizung, Licht und Sonnenstoren. Auch die Pflanzenbewässerung ist automatisiert und auf den Rasen grosser Anwesen ziehen längst kleine Mähroboter ihre Bahnen. Ausgeklügelte Apps zeigen uns in Sekundenschnelle, wo die nächsten Tankstellen sind oder wie man den Body-Mass-Index berechnet. Wir möchten schliesslich den Kopf frei haben, das Leben richtig geniessen. Und weder Kopfrechnen noch häusliche Pflichten sollen uns unnötig ablenken oder dauernd unterbrechen. Die Technik hat unser Leben in vielerlei Hinsicht einfacher gemacht. Und trotzdem ist da manchmal dieses schleichende Gefühl, nicht mehr Herr oder Frau der Lage zu sein. Höchste Zeit also, sich ein Stück Sicherheit und Unabhängigkeit zurückzuerobern. Karin Kucian wagt einen kleinen Ausblick in die Zukunft. «Da heute immer mehr Menschen über digitale Demenz klagen, könnte dieses Problem schon bald in wissenschaftlichen Studien aufgegriffen werden. In Zukunft könnte ein neuer Beratungsmarkt mit massgeschneiderten Trainingsangeboten entstehen.» Gefragt sind also einfache Lösungen für unsere scheinbar so komplizierten Alltagsprobleme – wir müssen das berühmte Ei des Kolumbus finden. Die Redensart geht auf eine Legende zurück, nach der andere

Das Hirn passt sich an Nicht nur der Orientierungssinn, auch das Gedächtnis scheint unter dem häufigen Gebrauch moderner Technik zu leiden. Karin Kucian, Neurobiologin am Kinderspital Zürich, stellt fest: «Heute ist ein Punkt erreicht, an dem die Leute merken, dass sie zum Beispiel nicht mehr in der Lage sind, sich eine Telefonnummer zu merken. Das stört – und es scheint so, dass dies immer mehr Menschen als Problem empfinden.» Digitale Demenz nennt sich dieses Phänomen, das zu einem Modewort unserer Zeit geworden ist. Der Begriff sei aber irreführend, denn er impliziere, dass es sich dabei um eine Krankheit wie bei der Altersdemenz handle, so Kucian. «Fakt ist: Wir werden durch Navi, Handy und Co. zwar nicht dümmer, aber wir können durch Nichtgebrauch Fähigkeiten wie Kopfrechnen verlernen oder den Orientierungssinn verlieren.» Ist die Menschheit also auf bestem Weg, durch die vielen technischen Helferlein langsam geistig zu verkümmern? «Nein, so weit wird es nicht kommen», beruhigt die Forscherin. «Unser Gehirn ist ein plastisches Organ, das heisst, es ist in der Lage, sich Veränderungen laufend anzupassen.» Und noch «Das ist mein zweites Gehirn», sagt manch einer und deutet mehr: Durch spezifisches Training lassen sich auf Handy oder Laptop. Hirnareale, ähnlich wie beim Muskelaufbau, gezielt stimulieren. Kucian kann die beeinSeefahrer zur Entdeckung von Amerika meinten, das hätte doch jeder druckende Wandlungsfähigkeit des Gehirns im Rahmen ihrer Forgeschafft. Kolumbus soll ihnen daraufhin die Aufgabe gestellt haben, schungsarbeit immer wieder beobachten. Ihr Kerngebiet ist die Reein Ei mit dem Spitz nach oben auf einem Tisch zu platzieren, ohne dass chenschwäche bei Kindern. Sie sagt: «Schon nach rund fünf Wochen es hinunterfällt. Als keiner diese Aufgabe lösen konnte, habe Kolumbus gezieltem Training können wir erste plastische Veränderungen in der das Ei kurzerhand an der Unterseite plattgeschlagen, sodass es stehen Hirnaktivität feststellen.» blieb. Dabei soll er triumphierend gesagt haben: «Seht her! Natürlich Im Rahmen einer englischen Studie konnte die Anpassungsfähigkeit hättet ihr das auch gekonnt – aber ich habe es wirklich gemacht.» Heudes Gehirns besonders deutlich aufgezeigt werden. Die Gehirne von te gibt es sogar eine App, mit der man die Kochzeit für Eier berechnen Londoner Taxifahrern wurden mit denjenigen anderer Menschen verkann. Aber vielleicht täten wir besser daran, wieder einmal eine Teleglichen. Die Fähigkeit dieser Berufsgruppe, sich ohne Navigationshilfen fonnummer auswendig zu lernen. problemlos im Verkehrsdschungel einer Grossstadt zurechtzufinden, ist ■ SURPRISE 267/12

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Glaubensfrage Für den Musikfreund stellt sich eine Glaubensfrage: Besitzen oder benutzen? Die Frage digital oder analog ist ein Nebenschauplatz. Musik, die nur benutzt wird, ist immer digital, besitzen kann man sie in beiden Formen. Ich zum Beispiel bin ein Freund von Schallplatten, deren Lagerung meinen Wohnraumbedarf unsozial hochschraubt. Keine Wohnbaugenossenschaft will einsehen, dass das Horten Tausender LPs gesellschaftlich mindestens so relevant ist, wie einen Mitbewohner zu haben. Angesichts der heutigen Wohnungspreise überlegt sich mancher, ob so eine platzsparende digitalisierte Sammlung nicht besser wäre. Das gilt insbesondere für Leute wie mich, die ihr Gehör bei unzähligen Konzerten lauter Bands für klangliche Unterschiede zwischen den Tonträgern ruiniert haben. Die Sammlung sollte na-

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türlich auf jeden Fall eine legale sein, denn wer Musik macht, die einem gefällt, dem sollte auch ein Einkommen gegönnt werden. Nun ist eine MP3-Sammlung zwar handlich, aber gefährlich. Der Computer geht kaputt, die Festplatte klemmt, die Sicherheitskopie erweist sich als defekt. Früher zumindest. Heute gibt es legale Dienste, bei denen man gegen Gebühr Musik hören kann, ohne sie zu besitzen. Das hat Vorteile. Da es selbst im Internet kaum eine Radiostation gibt, die Musik spielt, die ich hören möchte, kann ich weitherum gepriesene Sachen in Ruhe anhören und vergessen, anstatt sie in einem Anfall von Trendgläubigkeit zu erwerben. Ausserdem entdecke ich obskure Kapellen genau nach meinem Geschmack. Oder ich gebe den Titel eines bekannten Liedes wie «Shortnin Bread» oder «Hambone» ein und höre dann tagelang denselben Song. Dazu musste man früher aufwendig gestaltete und von Fachleuten zusammengestellte Sampler erwerben. Heute kann einem nicht einmal der Verlust des Computers etwas anhaben, da alles auf den Servern des Musikverteilers liegt. Womit man sich diesem natürlich ausliefert. Was, wenn er pleite geht, was, wenn das Gebührensystem unfair oder unbezahlbar wird? Das ist ein Nachteil, genau wie diese Funktionen, bei denen man sehen kann, was Facebook-Freunde hören. Ich will nicht, dass andere Menschen wissen, wann ich eine intensive Country-Kitsch-Phase

habe und meine Musikdiät praktisch nur noch aus Emmylou Harris und Dolly Parton besteht. Neu entdeckte Lieblingsbands teile ich nicht mit Krethi und Plethi, solche Tipps werden im Privaten unter Gleichgesinnten ausgetauscht. Was andere hören, will ich lieber nicht wissen. Wegen der Achtung. Im virtuellen Angebot gibt es viel zu entdecken, aber man verliert sich leicht. Das schöne am Plattenkaufen ist, dass die Menge der erworbenen Musik übersichtlich bleibt. Sie wird in den folgenden Wochen intensiv gehört. Die Lieblingsstücke werden zusammengemixt für Freunde und für unterwegs, es gibt die Stücke, die beim ersten Mal hören gut sind und die, die sich erst nach vielem Hören entfalten. Diese verpasst man im Internet leicht, weil man schon beim nächsten Song ist. Manchmal kauft man natürlich auch Mist oder etwas, das man nie wieder hört. Die Idealversion wäre also, das Vergängliche zu nutzen, das Bewährte zu besitzen. Bis der Boden bricht. Oder die Festplatte explodiert.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 267/12


Schweizer Film Regisseure im Fokus Die Männer und Frauen hinter der Kamera treten für einmal in den Fokus. Das Buch «Von Höhenfeuer bis Herbstzeitlosen – Schweizer Filmregisseure in Nahaufnahme» schürt die Vorfreude auf das Schweizer Filmjahr 2012.

Was ist ein typischer Schweizer Film? Gibt es den Schweizer Regisseur, der auch im Ausland wahrgenommen wird? Wie hart sind die Arbeitsbedingungen für Filmemacher in der Schweiz? Die St. Galler Journalistin Andrea Sailer, ehemals Redaktorin beim «Zürcher Unterländer», hat 40 Regisseure und Regisseurinnen porträtiert und zeichnet ein facettenreiches Bild der Schweizer Filmszene, das der Einstimmung auf die Solothurner Filmtage dient. Neben einem Porträt enthält jeder Beitrag als «Bonusmaterial» eine Filmografie und biografische Angaben zum Filmemacher sowie einen Fragebogen. Die Antworten auf die Fragen nach dem ersten Filmerlebnis, dem härtesten Kritiker oder dem lustigsten Dreherlebnis sind unterhaltsame Extras. So erfährt man, dass Fredi M. Murer gerne einmal mit Tilda Swinton arbeiten möchte und Christoph Schaub wünschte, er hätte den Film «Juno» gedreht: «Eine einfache Geschichte, ein gutes Drehbuch und eine geniale Besetzung. Diesen Film hätten wir hier in der Schweiz auch machen können.» Das Buch lebt von den schönen Anekdoten: Ursula Meier erzählt, weshalb die Arbeit mit betrunkenen Schauspielern eine tolle Erfahrung gewesen sei. Regisseur Christian Frei, der für seinen Film «War Photographer» für den Oscar nominiert wurde, erinnert sich, wie er seine erste Kamera von einem Clochard geschenkt bekommen hat, der in Paris unter Brücken lebte und seinen Lebensabend in der Schweiz verbrachte, betreut von Freis Mutter. Micha Schiwow, Präsident der Promotionsagentur des Schweizer Filmschaffens Swiss Films, skizziert im «Vorspann» die Eigenheiten des Schweizer Films. Er spricht von der Schwierigkeit, einen gemeinsamen Nenner zu finden, in einem Land, das in vier Sprachversionen aufgeteilt ist. Und doch findet er Gemeinsamkeiten: Die Rebellion gegen bürgerliche Werte, der Ausbruch aus der Enge bei den Altmeistern Alain Tanner («La salamandre»), Fredi M. Murer («Höhenfeuer») oder Markus Imhoof («Das Boot ist voll») etwa, oder den Blick auf Schweizer Volkskultur und Alltagsgeschichten abseits der Postkartenidylle unseres Landes in den Dokumentarfilmen von Erich Langjahr («Das Erbe der Bergler») oder Jean-Stéphane Bron («Mais im Bundeshuus»), die Lust am Spiel mit dem Dokumentarischen und dem Fiktiven, bei Thomas Imbach («Day Is Done») oder Peter Liechti («The Sound of Insects»). Schiwow spricht auch die Sonderstellung des Filmlandes Schweiz an, das nach wie vor ein wenig «wie eine Insel im grossen Europa» liege und betont den erfreulichen Durchbruch der Regisseurinnen, die sich in den letzten Jahren im immer noch von Männern dominierten Beruf behaupten konnten. Mit Erfolg: Bettina Oberli («Die Herbstzeitlosen»), Ursula Meier («Home») und Andrea Staka («Das Fräulein») sorgten mit ihren Filmen im In- und Ausland für Furore. Sailers Buch ist mit Filmstills und ganzseitigen Porträtfotografien reich bebildert. Während die Fotos vielleicht zur Typisierung verleiten, die aus ausführlichen Gesprächen entstandenen, aufschlussreichen SURPRISE 267/12

BILD: ZVG

VON SARAH STÄHLI

Einer von 40 porträtierten Regisseuren: Peter Liechti.

Texte zeichnen differenziertere Bilder. So schwächt Michael Steiner seine Rolle bei der Entstehung eines Filmes ab: «Der Regisseur ist nur jener, der die richtigen Personen in die richtigen Departements stellt und künstlerisch den roten Faden vorgibt. Alle Head of Departments schaue ich als eigenständige Künstler an.» Der Dokumentarfilmer Nino Jacusso hat eine Abneigung gegen oberflächliche Klamaukfilme, die er als Fast Food bezeichnet – «Ich mache Vollkornfilme» – während Dani Levys Credo lautet: «Das Publikum braucht Pointen!» Thomas Imbach wundert sich, dass bei seinen liebsten Schweizer Filmen die Wahl nur auf frühe Werke der Regisseure fällt: «Bedeutet das, dass wir uns in der Schweiz weniger mutig und radikal weiterentwickeln und altern als unsere Kollegen zwischen Cannes und Sundance?» Ganz nebenbei erfährt man dank Sailers Buch auch einiges über die neusten Projekte der Filmemacher. So dreht Peter Liechti einen Film über seine Eltern – das schwierigste Projekt, das er je gemacht habe – und Stina Werenfels («Nachbeben») verfilmt Lukas Bärfuss’ Theaterstück «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern». Das Schweizer Filmjahr 2012 kann kommen. ■ Andrea Sailer «Von Höhenfeuer bis Herbstzeitlosen – Schweizer Filmregisseure in Nahaufnahme», rüfer & rub Solothurner Filmtage 19. – 26. Januar, www.solothurnerfilmtage.ch

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Kulturtipps

Rund um die Welt – vom Lesesessel aus.

Keine Moral, keine Reue: Ärztin Charlotte geht mit Patienten ins Bett.

Buch In Büchern reisen

DVD Kühle Fremdgeherin

Ob Fernwehsüchtige oder Stubenhocker – in Büchern können alle zu einer Entdeckungsreise durch die Literatur und die Welt aufbrechen.

Eine deutsche Ärztin in Belgien lebt ihre sexuelle Lust aus und scheint sich dabei selber nicht so ganz zu verstehen. «Brownian Movement» von Nanouk Leopold liefert Einblicke ins Thema Fremdgehen in einer Ehe fernab stereotypischer Inszenierungen.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON PATRICK BÜHLER

Es gibt so viele Gründe, um zu reisen, und nicht wenige Hindernisse, die sich dem entgegenstellen. Doch in den seltensten Fällen wird die Zeit fehlen, wenigstens ein Buch aufzuschlagen, eines, bei dem Lesen auch Reisen bedeutet, um so mehr, wenn es uns in andere Städte, ferne Länder und fremde Welten entführt. Das hatten auch Studierende der Buchwissenschaft an der Ludwig-Maximilian-Universität München im Sinn, als sie einen Sammelband mit 80 Romanen des 20. Jahrhunderts aus der ganzen Welt zusammenstellten. Aufgeteilt in sechs Regionen – Europa, Asien, Ozeanien, Afrika, Südund Nordamerika – werden die Romane auf zwei bis drei Seiten kurz vorgestellt, ergänzt mit Fotos und Informationen zu den Autorinnen und Autoren. Zu jeder Region gibt es zudem eine Liste mit Werken, die zum Weiterreisen einladen. Einzige Auflage war, dass die ausgewählten Bücher ins Deutsche übersetzt wurden und damit ohne Sprachbarriere zugänglich sind. Manch Bekanntes findet sich in dieser Sammlung, wie etwa Romane von Ernest Hemingway, Elias Canetti, Bruce Chatwin, Salman Rushdie oder Isabel Allende. Daneben gibt es aber auch etliche Geheimtipps, sowohl was die Schreibenden als auch ihre Werke betrifft. Sei es ein Krimi von Jógvan Isaksen, der auf den Färöern spielt, Jiang Rongs Roman über die Zerstörung der Nomadenkultur in der Mongolei, oder seien es die Geschichten von Keri Hulme, die von den Maori in Neuseeland mit ihren Legenden und Geheimnissen erzählen. Wovon auch immer die Romane handeln, von Schönem und Schrecklichem, von Kriegen, Ausbeutung, Unterdrückung und Elend, von Dramatischem und Abenteuerlichem, immer rücken auch die Orte und Landschaften in den Fokus, die das Erzählte prägen und selber zum Gegenstand der Betrachtung werden. So wird dieses Buch zu einem einzigartigen Reiseführer, der Lust macht, sowohl Bücher als auch Länder und Städte neu oder wiederzuentdecken. Am Ende der Lektüre stellt man dann vielleicht erstaunt fest, dass man auf dieser Reise in den Büchern nicht weniger als die ganze Welt umrundet hat – ohne auch nur einen einzigen Schritt vor die Tür getan zu haben.

Charlotte (Sandra Hüller) mietet sich ein Zimmer in einer belgischen Stadt. Dort hat sie oft Sex mit diversen Männern: ob stark behaart, recht korpulent oder abgemagert, sie lässt die zahlreichen Geschlechtsakte über sich ergehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Sämtliche Sexpartner sind Patienten, welche Charlotte bei ihrer Arbeit als Ärztin kennengelernt hat. Zudem führt sie ein scheinbar intaktes Eheleben mit einem attraktiven Mann namens Max (Dragan Bakema), mit dem sie einen kleinen Sohn hat. Doch dann eskaliert die Situation und ihr sexuelles Doppelleben wird aufgedeckt. Was folgt, ist eine Therapie und eine zweite Chance, eine Art Neuanfang im fernen Indien. Nanouk Leopolds wirft als Drehbuchautorin und Regisseurin einen erfrischenden Blick auf das Thema Fremdgehen und Betrügen. Sie klebt nicht an Erklärungsversuchen, sondern begnügt sich damit, das Drama in langen ruhigen Bildeinstellungen zu beobachten. Selbst die Psychotherapie in einer schicken Praxis bleibt für ihre Protagonistin ein Ort des Nachdenkens, welches mehr Fragen aufwirft als seelische Einsicht bietet. Der Neuanfang in Indien lässt bei Max viele Fragen und auch Ängste offen: Was ist das eigentlich für ein Wesen, welches neben ihm lebt? Was macht Charlotte eigentlich, wenn er nicht zu Hause ist? Die brownsche Bewegung ist ein Begriff aus der Teilchenphysik. Er beschreibt die Unvorhersehbarkeit von Partikelbewegungen. Dieses Thema bringt der Film auf den Punkt: Zu keinem Zeitpunkt will er sich auf eine Richtung festlegen und Antworten liefern. Charlotte bleibt dem Zuschauer ein Mysterium – wir sehen an sie heran, jedoch nicht in sie hinein. Die Handlung wird durch zwei recht wortkarge Menschen getragen, welche sich gerade eben nicht so verhalten, wie es melodramatisch auch zu und her gehen könnte: kein Geschrei, keine endlosen Dialoge über Beziehungsprobleme, keine Reue, keine Trennung, keine Moral der Geschichte. Die exzellente schauspielerische Leistung von Sandra Hüller, welche auch schon oft auf der Bühne des Stadttheater Basel zu sehen war, ist das Herzstück dieses beeindruckenden unterkühlt-poetischen Ehedramas um «Sein» ohne «Schein». «Brownian Movement», 102 Min. OV und Deutsch.

In 80 Büchern um die Welt. Eine literarische Reise. Thiele Verlag 2011. CHF 27.90.

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BILD: MUSEUM FÜR KOMMUNIKATION/HANNES SAXER

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Kommunikationsgeschädigt? Eine Ausstellung verspricht Abhilfe.

Ausstellung In der Kommunikationsklinik Bevor Sie der mediale Overkill in die Burn-out-Klinik treibt, sollten Sie die aktuelle Ausstellung im Berner Museum für Kommunikation besuchen. Dort erfahren Sie auch, dass Sie wahrscheinlich nicht nur Opfer, sondern auch Täter sind. VON FLORIAN BLUMER

In der Ausstellung «Achtung: Kommunikation gefährdet» wird man mit seinem Kommunikationsverhalten konfrontiert. Erst einmal bekommt man das Problem vor Augen geführt: Der Eingangsbereich ist im Stil einer Bibliothek mit erschlagenden 12 000 Büchern gestaltet – diese enthalten die Menge an Text, die ein einzelner Mensch an einem Tag lesen müsste, würden alle Erdenbewohner mithelfen, die täglich produzierte Informationsflut zu bewältigen. Keine Frage also: Wir müssen Strategien entwickeln, um uns vor diesem Informations-Tsunami zu schützen. Hilfe verspricht die «Klinik für Kommunikation», als welche die Ausstellung im Museum für Kommunikation in Bern konzipiert ist. Als Erstes bekommt man eine Diagnose, automatisch erstellt anhand eines Fragebogens, den man am Bildschirm ausfüllt. Die Resultate werden von einer Kommunikationstrainerin ausgedeutscht. Wenig überraschend: Wer eine hohe Mediennutzungsdauer, gepaart mit mehr Nutzen als Spass, auf der Empfindungsseite eingegeben hat, landet beim Leidensindex im roten Bereich. Schon eher überraschend: Das Profil listet auch einen Täterindex auf. Denn wir sind keineswegs nur Opfer der Informationsflut, sondern tragen selbst zur medialen Überlastung unserer Mitmenschen bei – wenn wir auf Facebook Hunderte von «Freunden» sammeln beispielsweise, und diese dann täglich mit Statusupdates über unsere aktuelle Befindlichkeit terrorisieren. Obwohl einem nicht alle – multimedial und interaktiv kommunizierten – Tipps ganz neu vorkommen, wenn man auch schon mal so seine Gedanken zum Thema angestellt hat: Sich wieder einmal zu fragen, was man da eigentlich täglich macht und ob einem das wirklich guttut, kann heilsam sein. Entlassen aus der Kommunikationsklinik wird man mit einem «Medikament», das Tipps zur medialen Genesung enthält, sowie mit der Aufforderung, die Facebook-Seite der Ausstellung zu besuchen und sich an der Onlinediskussion zu beteiligen. Hat auch Ihr Leidensindex im roten Bereich ausgeschlagen, sollten Sie diesen Tipp vielleicht besser ignorieren.

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Migros Zürich, Kulturprozent

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Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG)

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Locher, Schwittay Gebäudetechnik GmbH, BS

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Weingut Rütihof, Uerikon

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AnyWeb AG, Zürich

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Niederer, Kraft & Frey, Zürich

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Musikschule archemusia, Basel

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Paulus-Akademie Zürich

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

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homegate AG, Adliswil

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ratatat – freies Kreativteam

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Kaiser Software GmbH, Bern

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bölsterli hitz gmbh, 8005 Zürich

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www.rechenschwaeche.ch

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Philip Maloney, Privatdetektiv

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VXL gestaltung und werbung ag, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

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KIBAG Bauleistungen

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responsAbility, Zürich

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Odd Fellows, St. Gallen

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Coop

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Strassenmagazin Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

«Warnung: Kommunizieren gefährdet.» Ausstellung im Museum für Kommunikation, Bern, noch bis zum 15. Juli 2012. www.mfk.ch 267/12 SURPRISE 267/12

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Vom Kiosk ins KKL – und zwar gratis.

Luzern Kultur to go

BILD: ZVG

BILD: TABEA HÜBERLI

BILD: LUZERN TOURISMUS AG

Ausgehtipps

Rock mit Popappeal: The Delilahs.

Auf der Suche nach dem Glauben: Grazia Pergoletti.

Auf Tour Steherqualitäten

Bern Gretchenfrage

Die Delilahs waren vor ein paar Jahren die grosse Nachwuchshoffnung der Schweizer Rockszene. Drei Zuger Girls mit charmanten Powerpopsongs und dem Willen zum Erfolg. Dann kamen die üblichen Businessprobleme, doch die abgestürzten Senkrechtstarterinnen bewiesen Steherqualitäten. Mittlerweile sorgen zwei Jungs an Schlagzeug und Gitarre für zusätzlichen Druck, während Muriel Rhyner und Isabella Eder zu echten Bandleaderinnen gereift sind. Das neue Album heisst «Melting Grace» und präsentiert die Delilahs mit mehr Popappeal denn je. Live wird aber weiter ordentlich gerockt.

Fuka-Kiosk, Mi, 1. Februar, 12 bis 13 Uhr.

28. Januar, 21 Uhr, Viadukt, Zürich;

Diesen Winter stellt das Schlachthaustheater Bern unter dem Label «Winterfestspiele 2012» die Gretchenfrage. Verschiedene Produktionen setzen sich auf humoristische, spielerische und ernsthafte Weise mit Glaube, Gott und dem Sinn des Lebens auseinander. Eigens für die Religionsfestspiele bringen Journalistin und Jungdramaturgin Rahel Bucher, Jungregisseurin Magdalena Nadolska und die gestandene Schauspielerin Grazia Pergoletti die Geschichte einer Fernsehmoderatorin auf die Bühne, die für ihre Sendung dem gelebten Glauben auf die Spur kommen will. Unter anderem stolpert sie dabei über den Fussball zu Gott und konvertiert von der grünen Idee zum Kapitalismus. Und Sie, wie haben Sies mit der Religion? (fer)

Hirschengraben 17b.

3. Februar, 22 Uhr, ISC, Bern;

«Verkleidete Engel habe ich schon viele gesehen»,

www.stadtluzern.ch

4. Februar, 21 Uhr, Birreria, St. Gallen.

Theaterstück von und mit Rahel Bucher,

Die Kulturförderung der Stadt Luzern öffnet etwa alle sechs Wochen für eine Stunde ihren Fuka-Kiosk. Hier gibts Kultur für die Luzerner gratis zum Abholen: Billette zu Konzerten, Theater- und Tanzaufführungen, Lesungen und Filmvorstellungen oder aber Publikationen und CDs aller Art. Die Fuka-Fondsverwaltung unterstützt damit kulturelle Veranstaltungen, die besonders überzeugen. Die Gratiskultur wird in der Heiliggeistkapelle im Stadthauspark abgegeben, das genaue Angebot wird jeweils eine Woche vorher im Internet veröffentlicht. (dif)

21. Januar, 21 Uhr, Galvanik, Zug;

Magdalena Nadolska und Grazia Pergoletti, Di, 24., bis Sa, 28. Januar, Schlachthaustheater Bern.

Anzeigen:

Lilly Langenegger Bücher- und Kartenverkauf

Flöckli, das Geisslein, CHF 29.80 Bläss und Zita, CHF 29.80 Tigerli kommt heim, CHF 29.80 Doppelkarten mit Couverts: 4 versch. Winter, CHF 12.80 4 Jahreszeiten, CHF 12.80 (Porto CHF 4.– bis CHF 9.–) 10% des Verkaufs gehen an das Surprise (bei der Bestellung Surprise angeben) Lilly Langenegger, Bommes 3, 9056 Gais AR www.lilly-langenegger.ch

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BILD: LARS KÜNZLER

BILD: JULES SPINTASCH

Ein Polder ist ein Sehnsuchtsort, ein Ort verdichteter Realität.

Legendär: Tav Falco mit Drummerin Giovanna Pizzorno.

Zürich Süchtig nach Mythen

Auf Tour Postmoderner Grandseigneur

Der Polder – das ist eine märchenhafte Parallelwelt, vergleichbar mit dem Auenland bei Tolkiens «Hobbit» oder der schwarzen Hütte aus David Lynchs «Twin Peaks». Und dorthin schickt uns 400asa, eine der umtriebigsten freien Theatergruppen in der Schweiz. Es wird ein Spiel mit moderner Technologie auf der einen und Mythen- und Ritterwelten auf der anderen Seite. 400asa trägt sozusagen «World of Warcraft» in die Stadt und weiter bis in den Wald hinein und lässt dort einen Sehnsuchtsort entstehen, dem sich niemand mehr entziehen kann, weil sich die Fiktion in das menschliche Gehirn einfrisst. Es geht um eine fiktive Firma, die für den User aus dessen Gehirnstruktur Abenteuer generiert und ihn in eine virtuelle Welt katapultiert. Das Spiel nistet sich in der Hirnstruktur ein, es entstehen Psychosen, Suchterscheinungen, es tauchen Raubkopien auf, die sich wie eine Seuche verbreiten. Gewaltfantasien werden geboren und in die Tat umgesetzt. Gleichzeitig wird aber von der Langstrasse aus eine Welt mit poetischer Anziehungskraft geschaffen: «Ein Polder ist eine Enklave verdichteter Wirklichkeit, die durch magische Grenzen von der umgebenden Welt getrennt ist. Ein lebendiger Mikrokosmos, der sich gegen die potenzielle Verkehrtheit der Welt ringsum behauptet, ein Anachronismus, der absichtlich der falschen Gegenwart widersteht. Polder verändern sich nur, wenn sie von aussen erobert werden», so die Definition der Encyclopedia of Fantasy. (dif)

Gut, ein bisschen verlebt sehen Tav Falco und Band schon aus. Man ist ja schliesslich keine 20 mehr. Dafür eine kleine Legende. Tav Falco ist der Grandseigneur des postmodernen Blues und Rockabilly. Ursprünglich stammt der Italo-Amerikaner aus Arkansas, doch nach Jobs als Zugbremser und Autoreifenflicker zog es ihn nach Memphis. In den späten 1970ern gründet er zusammen mit Alex Chilton (Big Star) die Panther Burns. Rundherum tobte der Punk, dessen Energie auch Falco nutzte. Stilistisch aber bediente er sich bei Blues, Country und Surf-Rock und auf einer der ersten Platten spielte er den Latino-Klassiker «Aquarela do Brasil». Später verschwand Tav Falco ein wenig von der Bildfläche und lebte als Privatier in Paris und Wien. Sein Einfluss tönte derweil aus vielen Songs von Nachgeborenen wie den Dirtbombs und der Blues Explosion. Jüngere Alben wie «Conjurations: Séance for Deranged Lovers» offenbaren neben den bekannten Zutaten einige Tangoeinflüsse, die dem stets eleganten Falco ausgezeichnet stehen. Und weil die gegenwärtige Besetzung der Panther Burns mit zwei Franzosen und der schönen Schlagzeugerin Giovanna Pizzorno zu den fähigsten der Bandgeschichte zählt, lohnt der Konzertbesuch auf jeden Fall. Verlebt ja, aber noch lange nicht zu alt. (ash) 26. Januar, 22 Uhr, Stall 6, Zürich; 27. Januar, 22 Uhr, Kaserne, Basel; 28. Januar, 20 Uhr, Palace, St. Gallen.

Der Polder: Perla-Mode, Langstrasse 84, Mo, 23. bis Di, 31. Januar. www.stadttheater.tv

Zeit der Wirtschaftskrise, Zeit der Natur- und Atomkatastrophen, und 2012 erst noch Zeit des Weltuntergangs – zumindest nach dem MayaKalender: In einer solchen Welt entwickeln die Menschen ein Bedürfnis nach neuen Formen der Geborgenheit und Nähe. Kuschelparties kommen auf, in den Bahnhöfen stehen Teenies herum, die sich für Gratisumarmungen zur Verfügung stellen, und Sado-Maso-Veranstaltungen erleben einen Aufschwung. Die Menschheit sehnt sich offenbar danach, sich an der Welt zu reiben und sucht dazu die abenteuerlichsten SURPRISE 267/12

BILD: ZVG

Aarau Körperkontakt im Kopf

Beim Schlangestehen lässt es sich gut über soziale Distanz nachdenken.

Formen körperlichen Kontakts. Die Gesellschaftsanalyse des Choreografen und Tänzers Martin Schick gibts als Produktion «200mm» im Theater Tuchlaube zu sehen: eine Performance, die die Zuschauer einbindet, ein Ort, an dem der Mensch dem Mensch begegnet. (dif)

200 mm (thinking about social distance): Fr, 20., So, 22., Di, 24., Fr., 27., und Sa, 28. Januar, jeweils 20.15 Uhr (ausser So um 17 Uhr), Theater Tuchlaube Aarau, Metzgergasse 18, Aarau, Reservationen: 062 834 10 34 oder www.tuchlaube.ch

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Verkäuferporträt Seekrank in Reykjavik BILD: FER

Victor Jacobs (38) zog die Reiselust von Basel bis nach Island auf einen Fischkutter. Zurück in der Schweiz, musste er den Job auf dem Bau aufgeben. Mit Surprise hat er neuen Mut und neue Freunde gefunden. AUFGEZEICHNET VON FLORIAN BLUMER

«Es ist wirklich seltsam. Aber Surprise ist eines dieser kleinen Dinge im Leben, die sich plötzlich als etwas entpuppen, das einem hilft, die grossen Probleme zu lösen. Ich habe viele Jahre auf Baustellen gearbeitet, vermittelt über Temporärbüros. Das war meine einzige Vorstellung von Arbeit. Aber ich trank zu viel, war jedes Wochenende unterwegs in Bars und dies beeinträchtigte meine Arbeitsfähigkeit. Ich verlor das Interesse an der Arbeit und ging irgendwann nicht mehr hin. Beim Surfen im Internet stiess ich auf Surprise und rief an. Dies war vor etwa drei Monaten. Ich konnte es kaum glauben! Ich verkaufte meine ersten zehn Exemplare und dachte: Wow! Wenn ich noch härter arbeite, kann ich zwar nicht das grosse Geld, aber doch genügend verdienen, um einige Rechnungen zu bezahlen. Seither mache ich diesen Job. Ich bin sehr zufrieden. Nicht nur mit dem Verdienst – mir gefällt auch der Kontakt zu den verschiedenen Kunden. Darunter sind auch immer mehr junge Leute. Oft sprechen wir noch ein bisschen, über Musik, manchmal über Politik oder Religion, sie wollen wissen, wo ich herkomme. Besonders in der Gartenstadt in Münchenstein, wo ich jeweils am Nachmittag stehe, hat es viele junge Leute aus den Schulen in der Umgebung. Durch das Surpriseverkaufen habe ich viele Freunde gewonnen, ich finde, das ist wirklich eine ‹Surprise›. (lacht) Ich treffe so viele Leute, nicht nur Teenager, auch Grossmami und Grosspapi kommen, du triffst jedermann, es macht wirklich Spass. Ich hoffe, die anderen Verkäufer machen ähnliche Erfahrungen und empfinden dieselbe Freude am Heftverkauf wie ich. In die Schweiz kam ich vor zwölf Jahren. Ursprünglich stamme ich aus Nigeria, meine Familie ist in Kanada, ich habe dort Kinder. Ich war auch eine Weile in Hamburg. Ich mag die Schiffe, die von Hamburg aus nach New York fahren oder in andere Weltgegenden, das ist etwas, was mich wirklich fasziniert. Ich hatte die Schweiz mit einem kleinen Rucksack verlassen, um den Rest Europas zu sehen. In Schweden hat es mir sehr gut gefallen, dort würde ich sehr gerne leben, Dänemark war auch gut, ich war in Norwegen, aber dort war es so richtig kalt, schlimmer als in Kanada! (lacht) Von Norwegen aus zog ich weiter nach Island. Dort ging mir aber das Geld aus und ich machte mich auf Jobsuche. Ich habe Teller gewaschen in einem Restaurant, dann bot mir einer einen Job an – auf einem Fischkutter! Der Job war gut, aber ich wurde seekrank und da fing ich mit dem Trinken an. Es war sehr kalt und sie gaben mir Schnaps und Wodka. Sie hatten auch Pillen gegen die Seekrankheit, aber ich vertrug sie nicht und so trank ich Whiskey mit den Ukrainern und Deutschen auf dem Schiff. Zum Teil tranken wir eine oder zwei Flaschen, in der Kälte merkst du es nicht, du fühlst dich einfach nur warm. Zurück in der Schweiz, merkte ich – vor allem beim Fussballspielen mit meiner Drittligamannschaft –, dass ich wegen des Alkohols Probleme hatte mit meiner Kondition. Ich machte lange Spaziergänge, ging joggen und schwimmen, so wurde ich meine Sucht los. Mit Medika-

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menten machte ich sehr schlechte Erfahrungen, die haben mir überhaupt nicht geholfen. Seit sieben, acht Monaten habe ich nicht ein Bier getrunken, ich ertrage nicht einmal mehr den Geruch. Aber ich spüre noch immer Folgeschäden, auf der emotionalen Ebene. Mann, ich klinge fast wie ein Prediger, aber ich machte einige schlechte Erfahrungen und vielleicht sollten die Eltern dies wissen: Ich genoss es damals, freitagabends im Sommer auf dem Barfüsserplatz zu sitzen, jeder hatte etwas zu trinken dabei, rauchte Joints. Meine Eltern konnten mich nicht davon abhalten, ich war auf mich gestellt und musste die Konsequenzen selber erleben. Wenn ich die Jungen heute trinken sehe, sage ich zu mir: Jemand sollte euch sagen, was der Preis ist, denn ihr dafür bezahlen werdet – ihr würdet es nicht glauben, wie hoch der sein kann.» ■ SURPRISE 267/12


Eine Chance für alle! Werden Sie Surprise-Götti oder -Gotte Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten als andere. Menschen, die sich aber wieder aufgerappelt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt Struktur und wieder einen Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Die Surprise-Strassenverkäuferinnen und -verkäufer helfen sich

Bob Ekoevi Koulekpato Basel

selber. Das verdient Respekt und Unterstützung. Regelmässige Verkaufende werden von Surprise gezielt unterstützt. Die Teilnehmer am Programm SurPlus sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit). Mit der Programmteilnahme übernehmen die Surprise-Verkaufenden mehr Verantwortung; eine wesentliche Voraussetzung dafür, wieder fit für die Welt und den Arbeitsmarkt zu werden.

Jovanka Rogger Zürich

Peter Hässig Basel

Andreas Ammann, Bern Marlies Dietiker, Olten Tatjana Georgievska, Basel Peter Gamma, Basel René Senn, Zürich Josiane Graner, Basel

Peter Hässig hat das Programm SurPlus vorerst verlassen. Aufgrund seiner Krankheit konnte er die letzten zwei Jahre nur unregelmässig bei Surprise arbeiten. Momentan erlaubt sein Gesundheitszustand keine Beschäftigung im Rahmen der Programmbedingungen. Trotzdem bleibt Peter Hässig ein Teil von Surprise. Wir halten die Türe offen für eine Rückkehr. Gute Besserung, Peter!

Ausserdem im Programm SurPlus: Marika Jonuzi, Basel Fatima Keranovic, Baselland Jela Veraguth, Zürich Wolfgang Kreibich, Basel Kurt Brügger, Basel Anja Uehlinger, Baden

Ja, ich werde Götti/Gotte von: 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

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Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

267/12 Talon bitte senden oder faxen an: Strassenmagazin Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@strassenmagazin.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 267/12

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren!

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

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Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden von der Strassenmagazin Surprise GmbH geführt, die vom gemeinnützigen Verein Strassenmagazin Surprise kontrolliert wird. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27 Zoë Kamermans, Patrick Würmli, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@strassenmagazin.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@strassenmagazin.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@strassenmagazin.ch Strassensport T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller l.biert@strassenmagazin.ch, www.strassensport.ch Trägerverein Strassenmagazin Surprise Präsident: Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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