Surprise Strassenmagazin 295/12

Page 1

Lebensspender Wer entscheidet über unsere Organe? Hauptsache gesunde Finanzen: die IV spart Kranke kaputt

«Ohne die Bad Seeds bin ich nichts» – Nick Cave im Interview

Nr. 295 | 1. bis 14. März 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Anzeige:

Macht stark. www.strassenmagazin.ch ❘ www.strassensport.ch ❘ Spendenkonto PC 12-551455-3 Strassenmagazin Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, Tel. 061 564 90 90, Fax 061 564 90 99

2

SURPRISE 295/13


Titelbild: istockphoto

Eines war für mich immer klar: Wenn ich sterbe, solange meine Organe noch funktionieren, dann sollen die jemandem zugutekommen, der sie braucht. Was nützen mir Lunge, Herz und Nieren, wenn ich tot bin? Einem Kranken hingegen können sie neues Leben schenken, eine Existenz jenseits von Krankenzimmern und Dialysestationen. Unsere Titelgeschichte brachte mich nun aber ins Grübeln. Was passiert beim Übergang vom Leben zum Tod? Wenn ich hirntot bin und Chirurgen meinen Körper aufschneiden, um an meine Organe zu kommen? Im Beitrag ab Seite 10 erzählt eine Mutter, wie sie zustimmte, dass ihrem Kind nach einem Unfall Organe entnommen werden. Und welchen Horror sie erlebte, als sie ihren Sohn später aufgebahrt sah. Sie ist überzeugt, dass er bei der Organentnahme Schmerzen erlebte, dass er unter Qualen sterben musste. Heute sagt sie: «Wir waren nicht in der Lage, unser hilfloses Kind in seinem Sterben zu beschützen.»

BILD: DOMINIK PLÜSS

Editorial Herzensangelegenheiten

RETO ASCHWANDEN REDAKTOR

In der Schweiz fehlen Spenderorgane. Bei der Spenderquote liegen wir im internationalen Vergleich auf den hintersten Rängen. Das hängt auch mit den gesetzlichen Regelungen zusammen. In manchen Ländern gilt die sogenannte Widerspruchslösung: Wer seine Organe auch im Tod behalten will, muss das schriftlich festlegen. Hierzulande ist es umgekehrt: Wer seine Organe weitergeben möchte, tut dies auf einem Spenderausweis kund und trägt dieses Kärtchen stets auf sich. Doch das tun nur wenige. Und deshalb kommt es immer wieder vor, dass verzweifelte Angehörige von Unfallopfern im Spital nicht nur mit dem Verlust eines geliebten Menschen fertigwerden müssen, sondern auch noch vor die Frage gestellt werden, ob sie die Organe ihres Sohnes, ihrer Frau, ihres Vaters zur Transplantation freigeben. Im Parlament sind mehrere Vorstösse hängig, die neue Regeln für die Organtransplantation verlangen. Eines aber ist mir nach der Lektüre unserer Titelgeschichte klar geworden: Mit Gesetzen allein können wir die Frage, ob und unter welchen Umständen Organe entnommen werden dürfen, nicht klären. Ja, wir brauchen mehr Spenderorgane, denn heute sterben Menschen in der Schweiz, weil sie nicht rechtzeitig ein «Ersatzteil» erhalten. Einen Zwang zur Spende darf es aber nicht geben. Jeder Mensch muss selber entscheiden dürfen, wie er sterben möchte, was für ihn die richtige Art ist, aus dem Leben zu scheiden. Und dazu gehört auch die Frage, was mit den eigenen Organen geschieht. Gesetze können Rahmenbedingungen schaffen. Entscheiden muss aber jeder für sich. Unsere Titelgeschichte liefert Denkanstösse. Ich wünsche Ihnen spannende Lektüre Reto Aschwanden PS: Surprise ist mehr als ein Magazin. Neuigkeiten über den Strassensport, unseren Strassenchor und weitere Surprise-Aktivitäten finden Sie ab dieser Ausgabe auf Seite 31.

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Bitte schicken Sie uns Ihre Anregungen oder Kritik: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 70, redaktion@vereinsurprise.ch. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 295/13

3


06 06 07 07 08 17 22 23 24 26 28 29 30

31

10 Organspende Zwischen Tod und Leben BILD: SWISSTRANSPLANT

05

Inhalt Editorial Herzensangelegenheiten Basteln für eine bessere Welt Solidarisch am Bügelbrett Brief aus ... … Essaouira Zugerichtet Kachelmanns Unwort Leserbriefe Toilettengeflüster Starverkäufer Ghiramai Tesfai Porträt Perfektionistische Geniesserin Eurokrise Die neuen Auswanderer Wörter von Pörtner Jede Menge Beatles Ausstellung Tierisch aufgeladen Kultur Hemdsärmliger Filmemacher Ausgehtipps Burschen ans Bügelbrett! Verkäuferinnenporträt Im Schneegestöber Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP Surprise aktuell Da läuft was!

Im Parlament laufen Diskussionen über das Transplantationsgesetz. Was für die Politik graue Theorie ist, wurde für die Eltern von Lorenz Meyer grausame Realität. Nach einem Unfall mussten sie über die Freigabe seiner Organe entscheiden und erlebten im Angesicht des Todes den blanken Horror. Auf der anderen Seite warten Menschen wie die herzkranke Nicola Heyser auf ein neues Organ. Die Organtransplantation trifft den Menschen in seinem Innersten und lässt sich nicht bloss durch Gesetze regeln.

14 Nick Cave «Ich will kein lieber Onkel sein» BILD: CAT STEVENS

03

Mit seinem neuen Album prüft Nick Cave die Veränderungsbereitschaft seines Publikums. Gemeinsam mit seiner Band The Bad Seeds kleidet er die neuen Songs in unerwartet experimentelle Klänge. Im Interview erklärt er, warum seine Mitmusiker ihn als Künstler erst ermöglichten, erzählt von seiner Faszination für Wikipedia und sagt, warum er den Strand hasst und trotzdem an der Küste lebt.

BILD: ISTOCKPHOTO

20 Invalidenversicherung Druck statt Schutz Die Sanierung der IV hat ihren Preis. Auf Druck der Wirtschaft hat ihn das Parlament vollständig auf die IV-Rentner abgewälzt. Seit der letzten Revision werden systematisch Menschen für erwerbsfähig erklärt, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben. Weil behindertengerechte Arbeitsplätze fehlen, landen sie als teilsubventionierte Billiglohnarbeiter in der Privatwirtschaft. Und selbst in geschützten Werkstätten herrscht mittlerweile Leistungsdruck.

4

SURPRISE 295/13


ILLUSTRATION: ISTOCKPHOTO | WOMM

1. Schneiden Sie die Maske aus und kleben Sie sie auf ein Stück dünnen Karton. 2. Stechen Sie mit einer Ahle oder einer Schere die Löcher an den bezeichneten Stellen aus und knoten Sie an den seitlichen Löchern ein Stück Gummiband dran. 3. Setzen Sie die Maske auf – Sie können nun gefahrlos bügeln.

Basteln für eine bessere Welt Am 8. März ist wieder Internationaler Frauentag und aus diesem Anlass werden in Basel die Männer unter dem Stichwort «Iron Men» zu den Bügeleisen gerufen (siehe Seite 26). Eine gute Sache, doch der moderne Mann steckt in einem Dilemma: Hält er Bügeln und Co. für Frauensache, wird er – zu Recht, natürlich – als ewiggestrig verachtet. Ist er darin allzu eifrig, wird ihm vorgeworfen, er verliere seinen Sex-Appeal. Doch es gibt einen Ausweg: Wie auf Seite 23 beschrieben, schmücken wir Menschen uns seit jeher gerne mit tierischen Eigenschaften. Also Männer: Zum Haushalten unsere Maske aufgesetzt! Sie macht Sie auch beim Bügeln zum wilden Tiger. SURPRISE 295/13

5


Brief aus Essaouira Der König und seine Kinder VON AMIR ALI

«Wir lieben unseren König. Wir wollen keinen Krieg wie in Ägypten.» Das habe ich hier mehr als einmal gehört. Mohammed VI., genannt M6, trifft man in Marokko auf Schritt und Tritt an: Sein Konterfei hängt in jedem Kiosk, Restaurant, Bahnhof und so weiter. Wir kennen das: auch Mubarak, Ghadhafi und Ben Ali hingen, bevor sie fielen. M6 hat die Zeichen der Zeit erkannt. Als vor zwei Jahren Proteste aufkeimten, gab der Monarch etwas Macht ab, das Volk gewann ein paar Rechte dazu. M6s Nachbarn stürzten, im Königreich blieb es ruhig. Der gute König von Rabat hat aber zwei Gesichter. Eine Demonstration gegen das Budget des Hofes wurde im vergangenen November mit Gewalt aufgelöst. M6 belegt mit seinen 234 Millionen Euro einen internationalen Spitzenplatz – die Queen kostet die Briten 65 Millionen, Hollande die französische Republik 112 Millionen Euro. Ein königlicher Haushalt sei dem König gegönnt. Nur schneidet Marokko in anderen Vergleichen schlechter ab. Jeder Zweite kann nicht lesen. Jeder dritte Junge hat keine Arbeit. Das staatliche Rentensystem geht gerade pleite. Der Besitzer meines Hotels ist ein tiefgläubiger und sehr geschäftstüchtiger Mann. «Wir wollen kein Chaos. Wir lieben unseren König», sagt auch er. Besonders schätze er den Kampf gegen die Korruption, den sich der König auf die Fahne geschrieben hat. Damit kennt sich M6 aus. Er ist oberster Geschäftemacher in seinem Reich. Die Königsfamilie besitzt eines der grössten Vermögen der Welt – allein M6 selbst ist 2,5 Milliarden Dollar schwer. Sein Clan soll täglich fast eine Million Dollar ausgeben, vor allem für Schuhe, Kleider und Autos. Das Undemokratische an M6 ist nicht sein blaues Blut, sondern die Unverfrorenheit, mit der er sein Volk ausnimmt. Um das zu ändern, muss man nicht lesen können. Dazu braucht man Mut und Hoffnung. Vielleicht irre ich mich und es stehen gerade jetzt, zum zweiten Jubiläum der zaghaften Februar-Proteste, Zehntausende für Recht und Gerechtigkeit auf den Strassen von Rabat und Casablanca. Doch in Ägypten, Tunesien und Libyen fressen die Revolutionen gerade ihre Kinder – und damit den Mut und die Hoffnung der Marokkaner.

6

Zugerichtet Verkachelte Plädoyers «Opfer-Abo». Mit dem Begriff wurde der frühere Wettermoderator Jörg Kachelmann unlängst zum Urheber des Unworts des Jahres 2012. Frauen, so meinte er, würden gezielt Männer falsch beschuldigen, um sie fertigzumachen. Insbesondere mit behaupteten Vergewaltigungen, wie in seinem Fall. Der Mann habe keine Chance. «Frauen sind immer Opfer, selbst wenn sie Täterinnen wurden.» Und Behörden ergo Komplizen, die ihnen alles fraglos abkaufen und es nicht für nötig erachten, sauber zu ermitteln. Dabei liessen sie ausser Acht, dass «Menschen genuin böse sein können, auch weibliche». Viel hört man von Kachelmann zum Glück nicht mehr, aber er grüsst öfters aus den Plädoyers von Anwälten, die einen mutmasslichen Vergewaltiger verteidigen. Gerne an der Stelle, wo die Frauen als pathologische Lügnerinnen oder eiskalte Intrigantinnen dargestellt werden. Dann, nach einer Kunstpause, kommt’s: «Kachelmann lässt grüssen.» Eine Falschbeschuldigung ist die feigste und fieseste Waffe in einem Beziehungsstreit. Auch bei einem Freispruch kann es den gesellschaftlichen Totalschaden des Beschuldigten bedeuten. Kachelmann lässt grüssen. Doch gerade er ist kein idealer Fürsprecher für Verleumdungsopfer. Im Prozess hat er nachweislich gelogen, der Freispruch war kein überzeugender, und mit seinem übersteigerten Sendungsbewusstsein verspielte er im Nachgang viel Sympathie. Dass er nun vor Gericht erwähnt und zitiert wird, ist störend. Weil es eine unerträgliche Taktlosigkeit gegenüber den Klägerinnen sowie ein bedenkliches Frauen-, nein, Menschenbild offenbart. Wenn es so wäre, wie die Anwälte

sagen, rennen derzeit böse Frauen zuhauf zu den Behörden und tischen üble Vergewaltigungsstorys auf, um ihre unliebsamen Männer abzutischen. Es mag im Einzelfall die Pflicht des Anwalts sein, diese Version ins Spiel zu bringen. Dass aber die Lügen-Schiene selbst dann gefahren wird, wenn Zeugen, DNASpuren oder Verletzungsbilder eine andere Geschichte erzählen, ist eine herzlose Unverschämtheit. Und kann im Einzelfall tragisch enden, wie kürzlich im Fall einer Britin, die nicht mal als Klägerin, sondern als Zeugin vor Gericht bestätigte, vom Angeklagten sexuell misshandelt worden zu sein. «Erstunken und erlogen», beschied ihr die Verteidigerin wiederholt. Der Beschuldigte nannte sie eine Fantastin, die ein Fantasieleben führe. «Ich bin noch mal vergewaltigt worden, mit Worten», sagte sie danach zu einer Freundin. Wenig später brachte sie sich um. Mit dem angeblichen «Opfer-Abo» lösen viele Klägerinnen auch das Ticket für einen Horrortrip. Die Gesellschaft für Deutsche Sprache, die das Unwort des Jahres kürt, fand klare Worte: «Die pauschale Verdächtigung, wonach Frauen arglistig sexuelle Gewalt erfinden, ist sachlich grob unangemessen.» Das Wort verstosse gegen die Menschenwürde der tatsächlichen Opfer. Nur geschätzte fünf bis acht Prozent von ihnen schaltet die Polizei ein, und in nur rund vier Prozent der Fälle folgt ein Prozess. Ausdrücke dieser Art, so die Sprachwissenschaftler, drohten, «den zivilgesellschaftlichen und juristischen Umgang mit sexueller Gewalt in bedenklicher Weise zu beeinflussen». Hoffentlich nehmen sich die Juristen die Erkenntnisse der Sprachwissenschaft zu Herzen. YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 295/13


Leserbriefe Sagen Sie uns Ihre Meinung 292: Arbeit los! Fremd für Deutschsprachige: Die Flut Unparfümierte Erinnerungen Wie habe ich mich doch beim Lesen dieser Kolumne amüsiert! Ja, es ist tatsächlich ein weiter Weg von den Plumpsklos im Hof in Italien zu den Wohlfühloasen der heutigen Badezimmer. Und zurück möchte ich im Fall nicht. Nicht in der Nacht, wenn wegen der Kälte der Hafen unter dem Bett hervorgeholt wurde, ebenso wenig am Tag, wenn die alte Zeitung als WC-Papier herhalten musste. Ich gestehe, dass ich heute gerne Zeitung lese auf dem Klo, das tat mein Vater übrigens auch schon – den Corriere della Sera im Leintuchformat! Vielleicht bringt uns die fortschreitende Individualisierung dazu, jeden Raum, den wir nutzen, zu markieren – ich war hier! und ich komme wieder! –, um uns selbst zu vergewissern, dass es uns gibt? Antonella Martegani, Zürich

«Gesetz des abnehmenden Grenznutzens», eine fundamentale Regel in der Mikroökonomie, genau das Gegenteil von «more is better» aus. Doch darum geht es nicht. Sie sagen, dass die Konsumenten überfordert seien und deswegen zu viel einkaufen – natürlich auch, weil sie manipuliert werden. Hier stellt sich die grundlegende Frage: Sind die Menschen wirklich überfordert, dumm, faul und verantwortungslos? Wenn ja, dann muss der Staat sie – vor sich selber – schützen. Aber wer macht den Staat aus? Doch gerade diese Menschen. Oder ist es so, dass überbehütete Menschen sich überfordert, dumm, faul und verantwortungslos benehmen? Dann sollte man vielleicht lieber die Hilfe zur Selbsthilfe fördern, wie es ja auch der Artikel verlangt, auf den Sie sich bei Ihrem Kommentar beziehen: Foodsharing. Rolf Suter, Zürich

Surprise 294: Ausgesetzt Mit scharf! – Das grosse Fressen Überforderte oder überbehütete Menschen? Sie schreiben in Ihrem Kommentar, dass man in der Mikroökonomie lerne: «More is better.» Da haben Sie etwas nicht ganz verstanden. Erstens ist die Mikroökonomie eine beschreibende Wissenschaft. Dort wird versucht, Regeln aufzustellen, die das Verhalten der Menschen erklären und nicht das Verhalten der Menschen zu bestimmen, und zweitens sagt das

Anmerkung der Redaktion: Wir verwenden zwar oft Begriffe wie «Menschen in sozialen Schwierigkeiten» oder «Armutsbetroffene»: Ausdrücke, die als politisch korrekt gelten. Trotzdem schreiben wir manchmal doch über «Randständige». Wir sind der Ansicht, dass Menschen von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, auch wenn sie sich diesen Platz selber nicht ausgesucht haben. Daher scheint es uns nicht falsch, die Verhältnisse klar zu benennen.

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

SURPRISE 295/13

BILD: ZVG

Crossdressing Travestie ist Perversion Surprise enthielt in der Vergangenheit recht oft recht gute, lesenwerte Artikel. Leider fehlt uns die Toleranz betreffend den Text «Crossdressing». Es geht hier wohl um nichts anderes als Travestie unter anderem Namen, in anderer Verkleidung – eine (Wieder-)Belebung eines jahrtausendealten Frusts gewisser Männer. Personalchefs werden sich wohl über das verkleidete Auftreten perverser Mitarbeiter freuen … H. Ganther-Jung, Birsfelden

Surprise allgemein Nicht «am Rande» Von Surprise könnte sich so manches Sonntagsblatt oder Wochenmagazin eine dicke Scheibe abschneiden. Noch etwas fällt mir auf: Ihr schreibt nie über «Randständige», sondern über «Menschen in sozialen Schwierigkeiten». Ich finde das Wort «Randständige» sehr diskriminierend. Denn diese Leute stehen nicht «am Rande», sondern sind mittendrin in unserem Leben. So mancher superreiche CEO dagegen steht mit seinem schwer bewachten Grundstück völlig am Rande unserer Gesellschaft und nimmt erst recht nicht daran teil. Minie Storm Le Heux, per E-Mail

Starverkäufer Ghiramai Tesfai Katharina Ciabuschi aus Thun nominiert Ghiramai Tesfai als Starverkäufer: «Mein Surprise kaufe ich beim Coop Strättligen in Thun. Dabei ist mir Herr Ghiramai Tesfai aufgefallen, weil er stets freundlich und zuvorkommend seine Zeitschriften verkauft und sich so richtig gentlemanlike mit Verbeugung und einem Lächeln bedankt; und das bei jedem Wetter! Er grüsst auch freundlich, wenn man nichts kauft. Aus all diesen Gründen möchte ich ihn als Starverkäufer nominieren.»

7


8

SURPRISE 295/13


Porträt Mit Zigarre, Zwirn und Sandsack Eva Bräutigam war Amateurboxerin, raucht dicke Zigarren, beherrscht das traditionelle Handwerk der Feinmassschneiderei und gibt in brasilianischen Favelas Nähkurse. Porträt einer harten und zarten Lady. VON ISABELLA SEEMANN (TEXT) UND NANDOR NAGY (BILD)

jeweils etwa elf Zentimetern Länge beginnen. Aber Eva Bräutigam schreckt auch nicht vor den rund zwei Zentimeter dicken Robustos oder der 18 Zentimeter langen Churchill zurück. Wie sie überhaupt wenig schreckt. Sie boxt ja auch seit ihrem 19. Lebensjahr. Ihr Trainer löste ihr eine Lizenz als Amateurboxerin. Doch bereits bei ihrem dritten Kampf verletzte sie sich schwer, der Ellbogen war lädiert. Nachdem sie deswegen einen Kampf an der Schweizer Meisterschaft verloren hatte, gab sie das Amateurboxen auf und absolviert heute nur noch das Training zwei bis drei Mal wöchentlich im Box Club Zürich. «Das brauche ich als Ausgleich für meinen Beruf.» Eva Bräutigam ist Damen- und Herrenschneiderin mit eidgenössischer Berufsprüfung und bietet in ihrem Atelier in Zürich Masskonfektion an. Als eine der ganz wenigen im Lande beherrscht sie auch das traditionelle Handwerk des Feinmasses, was sozusagen das Mass aller Dinge in der Schneiderzunft ist. «Bespoke tailoring» heisst das Kunsthandwerk in der Fachsprache und wird vor allem von den englischen Herrenschneidern an der Londoner Savile Row gepflegt, wo sie auch ihre Stoffe bezieht für die Herrenanzüge. In den drei Jahren seit ihrer beruflichen Selbständigkeit hat sich die detail- und qualitätsbesessene Eva Bräutigam einen Namen gemacht. Feinmass bedeutet, dass der Anzug genauestens auf die Körperformen des künftigen Trägers abgestimmt wird. Das Futter des Anzuges näht die Schneiderin von Hand ein; die verschiedenen Einlagen aus Leinen, Kamel- und Rosshaar pikiert sie ebenfalls von Hand. Mit einem sechs Kilogramm schweren Bügeleisen bearbeitet sie den Stoff und bringt ihn in Form. Wer bei Eva Bräutigam einen Feinmass-Anzug bestellt, wartet etwa zwei Monate darauf: Das ist gar nicht so lange, wenn man bedenkt, dass selbst die Knopflöcher alle handgestickt sind. Perfektion ist für sie ein Leitmotiv. Das letzte Drittel der Zigarre hat begonnen, das konzentrierte. Es wirkt wie ein Frequenzverstärker, lässt bestimmte Eigenschaften hervortreten und maskiert andere. Eva Bräutigam bildete bis zum vergangenen Sommer auch einen Lehrling in ihrem eigenen Atelier aus. An der Berufsschule in Basel ist sie Fachlehrerin für Damenschneiderei. Es ist ihr ein Herzenswunsch,

Die Deckblätter schimmern seidig, fühlen sich an wie Samt. Mit den Fingerspitzen hält sie die Zigarre unter ihre feine Nase, atmet gleichmässig ein und aus, der Tabak erwärmt sich und dehnt sich aus, die Poren der Blätter öffnen sich und setzen das Tabak-Öl frei. «Eine schöne Zigarre berührt alle unsere Sinne», sagt Eva Bräutigam und zündet mit einem zedernen Streichholz die Cohiba an. Welche Bedeutung Zigarren im Leben der Eva Bräutigam haben, werden wir im Laufe der nächsten anderthalb Stunden ergründen. So lange dauert es nämlich, eine Double Corona zu rauchen. Das Streichholz verglüht im Sand. Der stoische Blick ist nach irgendwo gerichtet. Eva Bräutigam wirkt abwesend und versunken und ist doch hoch konzentriert. Ein Zustand der Meditation. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt diesem einen Moment: dem ersten Zug an ihrer Cohiba. Sie atmet tief ein. Sie hält inne. Aufreizend langsam entlässt sie den Rauch aus ihrem Mund. Versonnen blickt sie den Rauchschwaden hinterher. Frauen und Zigarren – eine Verbindung, die Männerfantasien anregt. Doch Eva Bräutigam wirft sich nicht lasziv mit dem Phallussymbol in Pose, sondern tut etwas viel Provozierenderes: Sie raucht zum eigenen Vergnügen. Und das seit jungen Jahren. «Nein», sagt sie, «mit ordinärem Rauchen hat das nichts zu tun.» Noch nie habe sie eine Zigarette geraucht. Wenn sie sich eine ihrer Lieblingszigarren anzünde, dann sei das «wie ein gutes Essen oder ein guter Wein – eine Gaumenfreude». Bei den Besuchen in ihres Grossvaters Haus am Bodensee sah sie als kleines Mädchen stets eine geheimnisvolle Truhe aus Holz. Instinktiv spürte sie, dass da ein Schatz drin sein müsse. Etwas Kostbares, das man sich zu besonderen Gelegenheiten gönnt. Nicht der Grossvater, aber ein älterer Freund verführte sie dann zum Rauchen. Die Liebe zur Zigarre war kein Strohfeuer. Während eines Austauschjahres in Honduras besuchte sie auf eigene Faust Tabakplantagen und Fabriken und schaute den Arbeiterinnen zu, wie sie kunstvoll Zigarren rollten. Sie tauchte ein in die Welt des Tabaks und wurde eine Aficionada, so nennt man die leidenschaftlichen Kenner und Geniesser des braunen Goldes. «Bemerken Sie, wie die Aromen sich verändern? Frisch zu Anfang, mit Minze, filigran, Wer bei Eva Bräutigam einen Feinmass-Anzug bestellt, wartet und jetzt viel dichter, erdig, mineralisch fast.» etwa zwei Monate darauf. Perfektion ist für sie ein Leitmotiv. Das erste Drittel ist aufgeraucht. Jetzt beginnt der komplexe Teil der Zigarre. «Es ist wie beim Wein: Je mehr man davon versteht, desto besser schmeckt man die verjunge Menschen auszubilden. Letzten Sommer war sie für mehrere Woschiedenen Nuancen heraus», sagt sie. Noch während ihrer Ausbildung chen für die gemeinnützige Organisation Cuisine sans Frontières nach zur Damenschneiderin stellten die Zigarrenproduzenten der Firma DaSalvador de Bahia, Brasilien, gereist, hatte morgens in der Gassenküvidoff die junge, gut gekleidete Schönheit als Hostess ein. Bis heute beche gearbeitet und nachmittags für die Bewohner der Favela Kurse für rät Eva Bräutigam Gäste über Zigarren. Zu Beginn konnte es durchaus Damenschneiderei gegeben. «Damit habe ich mir einen Lebenstraum mal vorkommen, dass ältere Herren ihre Kenntnisse auf die Probe stellerfüllt.» Einen nach dem anderen möchte sie verwirklichen. Eva Bräuten, doch schon bald merkten sie, dass sie es mit einer Aficionada zu tigam nimmt einen letzten Zug und legt die Zigarre sorgfältig in den tun haben, die ihnen an Können und Wissen ebenbürtig ist. Aschenbecher, wo sie in Ruhe erlischt. ■ Aber vertragen Frauen die Belastungen des Zigarrenrauchens körperlich überhaupt? Eva Bräutigam bejaht ohne Einschränkung. Unerfahrene sollten vielleicht mit Panetelas oder einer kleinen Corona von SURPRISE 295/13

9


Organspende Wenn nur das Herz noch schlägt

Wann ist ein Mensch tot? Von welchem Zeitpunkt an darf ein Sterbender für eine mögliche Organspende präpariert werden? Die Möglichkeiten der Hightech-Medizin werfen ethische Fragen auf. Ein Blick in die Grauzone zwischen Leben und Tod. VON EVA ROSENFELDER

findenden Angehörigen wird ihrer Meinung nach schamlos missbraucht: «Die Frage nach Organen darf in einem solchen Moment nicht gestellt werden. Sie ist eine unmenschliche Zumutung. Wir waren nicht in der Lage, Partei für unser hilfloses Kind zu ergreifen, es in seinem Sterben zu beschützen.» Trotz des Versprechens, ihren Sohn nach der Organentnahme zum Abschied in der Station aufzubahren, sahen sie ihn erst im Leichenkeller wieder. «Mein erster Impuls war: Das ist nicht mein Kind, das ist ein Irrtum!», sagt Gisela Meyer. Dann: «Er hat Schmerzen gehabt! Die Haare sind nass gewesen, seine vollen Lippen waren zusammengepresst, das

Gisela Meyer verbrachte 1991 die Skiferien mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in St.-Luc, im Wallis. Bei einer Abfahrt stürzte der 15jährige Sohn Lorenz schwer, notfallmässig wurde er ins Spital geflogen. Als die Eltern dort ankamen, wurde er beatmet, doch schien er ihnen zu ihrer grossen Erleichterung unversehrt. «Man klärte uns auf, er habe eine schwere Hirnverletzung, es liege alles daran, ob die Schwellung zurückgehe oder nicht», erinnert sich Gisela Meyer. «18 Stunden nach der Einlieferung teilten die Ärzte uns mit, Lorenz sei tot. Das Wort ‹hirntot› fiel nicht. Nach Schweizer Richtlinien würden am nächsten Morgen die Apparate abBei «Hirntoten» gibt es klar feststellbare Schmerzreaktionen. Deshalb gestellt. Es folgte die Frage nach einer Organsind bei Organentnahmen Schmerzmittel obligatorisch. spende und die Aufzählung der infrage kommenden Organe.» Gesicht klein geworden. Die Augen waren grossflächig verklebt, obwohl Wie in Trance standen sie vor ihrem Sohn. Eine Krankenpflegerin wir sie ausdrücklich und mehrfach nicht freigegeben hatten.» Ohne Abwechselte den Urinbeutel, eine Infusion lief, man sorgte für seine schied, voller Entsetzen seien sie vor ihrem eigenen Kind geflohen. Mundhygiene, sein Bein zuckte, als der Vater darüberstrich. «Es war eiWenn Hirnrinde und Hirnstamm tot sind, ist der Körper noch nicht ne Folter. Unser Kind sollte sterben? Sollte tot sein? Verweigerten wir am Ende. Das liegt daran, dass viele nervliche Funktionen nicht übers die Organspende, trugen wir auch noch die Schuld am Tod anderer Gehirn, sondern beispielsweise übers Rückenmark laufen. Es zeigt, Menschen – so schien man uns subtil mitzuteilen.» Unter moralischem dass das Gehirn eben nur ein Teil des Körpers ist, dass es längst nicht Druck und völlig am Ende gaben die Eltern die Nieren ihres Sohnes frei. die herausragende Funktion für die Organisation des ganzen OrgaNoch nie hatten sie sich bisher konkret Gedanken gemacht zur Organnismus besitzt, von der man gemeinhin ausgeht. spende. Die Wehrlosigkeit des Patienten und seiner sich im Schock be-

10

SURPRISE 295/13


BILD: ISTOCKPHOTO

SURPRISE 295/13

11


BILD: KEYSTONE/GAETAN BALLY

Jede Minute zählt: Zwei Herzchirurgen übernehmen auf dem Dach des Berner Inselspitals vom Rega-Piloten die Box mit dem Spenderorgan.

Bei «Hirntoten» gibt es klar feststellbare Schmerzreaktionen wie Schwitzen, Zucken, Anstieg von Blutdruck und Herzfrequenz und Rötung des Gesichts. Sie können zum Beispiel ausgelöst werden, wenn der Bauchraum zur Entnahme der Organe geöffnet wird. Darum sind bei Organentnahmen in der Schweiz heute Schmerz- und Beruhigungsmittel obligatorisch – meist werden die Spender auch narkotisiert, um Verunsicherung und psychische Belastung des Pflegepersonals zu verhindern, so heisst es. Gisela Meyer lebt mit der Gewissheit, dass ihrem Kind in seinem Sterben Schreckliches widerfahren ist. Lange konnte sie nicht darüber sprechen, über Jahre hatte sie Suizidgedanken. Das Ehepaar rief mit anderen Betroffenen die Initiative «Kritische Aufklärung über Organtransplantation KAO» ins Leben, stürzte sich in diese Aktivitäten. Ehemann Jürgen sagte an einem seiner Vorträge: «Ich habe versagt, ich habe dem Druck der Ärzte nicht widerstanden, um meinem Kind beizustehen. Ich schäme mich.» Ist ein Sterben in Würde möglich angesichts der drängenden Tatsache, dass nur einem durchbluteten Körper mit schlagendem Herzen auch lebende Organe entnommen werden können? Der moralische Status des Hirntodes sei sehr umstritten, sagt Ruth Baumann-Hölzle, Institutsleiterin von Dialog Ethik Zürich. «Warum sollten Hirntod und Tod eins sein? Der Hirntod ist ein irreversibler Zustand, auf den der Tod unweigerlich folgen wird. Sind deshalb Hirntote Sterbende oder bereits Tote? Sterben ist letztlich ein Geheimnis, das von der Wissenschaft nicht ergründet werden kann. Ob man Hirntote als tot oder sterbend beurteilt, ist daher ein moralischer Entscheid», erklärt die Theologin. Galt bisher der Hirntod (siehe Box) als Todeskriterium, wird der potenzielle Spenderkreis durch neue «Präzisierungen» im Schweizer

Transplantationsgesetz inzwischen auf eine vom Hirntod unabhängige Patientengruppe erweitert: auf Patienten mit schweren Hirnschädigungen oder Koma, die aber noch nicht hirntot sind. Bei ihnen wird aufgrund ihrer «aussichtslosen» Prognose durch Therapieabbruch – durch das Ausschalten der Herz-Lungen-Maschine – ein «kontrollierter» und

«Wir waren nicht in der Lage, unser hilfloses Kind in seinem Sterben zu beschützen.»

12

somit «planbarer» Herzstillstand ausgelöst. Die fehlende Blutzufuhr führt nach einigen Minuten zum Hirntod. So werden sie zu Non-heartbeating-donors, zu «Spendern mit nicht schlagendem Herzen». Körperverletzung zugunsten Dritter Nach zehn Minuten Wartezeit – soviel ist in der Schweiz vorgeschrieben – wird der Körper erneut an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, damit die Organe durchblutet und gekühlt werden können. Organerhaltende Massnahmen sind bei dieser Patientengruppe deshalb schon vor dem Tod erlaubt, denn je länger man wartet, desto schlechter sind die Organe für eine allfällige Spende. Zu diesen Massnahmen gehören beispielsweise Medikamente, um die Gefässe zu erweitern und die Blutgerinnung zu verhindern, aber auch Operationen, bei denen in der Leistengegend dicke Schläuche angebracht werden, durch die Nähr- und Konservierungslösungen zugeführt werden, die den Verwesungsprozess der Organe stoppen. Laut Margrith Kessler, Nationalrätin und Präsidentin der Stiftung SPO Patientenschutz, handelt es sich dabei um «Körperverletzung zugunsten Dritter». Aus ihrer Sicht können über ein solches Vorgehen nur SURPRISE 295/13


ges Glück hatte, dieses Geschenk zu bekommen.» Ihre eigenen Organe Betroffene zu Lebzeiten entscheiden. Hier bekomme der Tod plötzlich möchte sie nach ihrem Tod spenden – auch die ihres Kindes würde sie einen Zweck: nämlich Organe entnehmen zu können. Ethisch äusserst freigeben. heikel daran findet Ruth Baumann-Hölzle die organerhaltenden MassIn unserer Gesellschaft ist der Tod nach wie vor ein Tabuthema. Denahmen beim noch nicht hirntoten, lebenden Menschen mit aussichtstailfragen zur Organspende werden meist Medizinern und Juristen loser Prognose zugunsten eines Dritten – und dass dies unter Umständen ohne das Wissen geschieht, ob der Betroffene überhaupt seine Organe spenden möchte. Zehn Minuten nach dem Hirntod wird der Körper erneut an Der Sterbeprozess dürfe nicht dem Spendeprodie Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, damit die Organe zess unterstellt werden. durchblutet und gekühlt werden können. Gemäss den Zahlen der Stiftung Swisstransplant spenden die Schweizer viel zu wenig überlassen – es sei denn, man ist persönlich betroffen. Wer Organe Organe. Die Diskrepanz zwischen benötigten Organen und erfolgten spenden möchte, sollte sich unbedingt informieren, wie eine OrganTransplantationen ist frappant. Auf der Warteliste für Organspenden entnahme genau vor sich geht und was es im Detail bedeutet. Neben (Ende 2012) stehen mit 1165 Personen so viele wie nie zuvor. Hinter dem altruistischen Argument, Leben zu retten, existiert auch die Tatsadiesen Zahlen versteckt sich viel Leid: Allfällige Spender stehen an der che, dass Pharmaindustrie und Spitzenmedizin an Transplantationen Schwelle zum Tod, für sie hoffen bis zuletzt ihre Angehörigen. Auf der und Medikamenten sehr gut verdienen. Eine Spende aber ist ein Geanderen Seite warten Schwerstkranke, bei denen alle anderen medizischenk. Für Ruth Baumann-Hölzle ist die Voraussetzung für eine Ornischen Massnahmen versagt haben und die nur mithilfe eines geganspende die absolute Freiwilligkeit. «Dieses ‹Opfer› kann unmöglich spendeten Organs werden überleben können. von der Gesellschaft ‹gefordert› werden, etwa durch eine Widerspruchslösung.» (siehe Box) Ums Sterben kümmern sich nur Juristen und Ärzte Anhand von Paragraphen gibt es kaum eine Lösung, die für MenAuf dieser Schwelle kreuzen sich zwei Biografien, prallen Verzweifschen unterschiedlicher Weltanschauung stimmen kann. Nach einer lung, Trauer, Hoffnung und Freude frontal aufeinander. Ebenso zwei kritischen Auseinandersetzung aber sein persönliches Ja oder Nein sich widersprechende ethische Pflichten: die Lebensrettung durch Orschriftlich in einem Organspende-Ausweis festzuhalten, ist Teil eines ganspende einerseits, die Frage des guten Sterbens andererseits. Und selbstbestimmten Lebens. damit verbunden eine Tabuüberschreitung, bei der die ganzheitliche ■ Betrachtung der menschlichen Existenz auf der Strecke bleibt und Sterben zu einem rein medizinisch und juristisch fassbaren Vorgang wird. Weiterführende Links Auf der anderen Seite der Schwelle leben Menschen wie Nicola Heywww.dialog-ethik.ch (Patienten-Verfügung zum Herunterladen) ser. Die Mutter einer achtjährigen Tochter litt jahrelang an schwerer www.samw.ch (Richtlinien Schweizerische Akademie der Medizinischen Herzinsuffizienz unbekannter Ursache, auch eine Operation konnte Wissenschaften) nicht helfen. Ihren Beruf als Reitlehrerin und Dressurreiterin konnte die www.swisstransplant.ch (Spende-Ausweis zum Herunterladen) gesundheitsbewusste 41-jährige Frau nicht mehr ausüben. Am Nullpunkt angekommen, liess sie sich auf die Warteliste von Swisstransplant setzen. Fünf Monate später wurde sie vom Inselspital Bern benachrichtigt, ein Herz sei bereit für sie. Man habe sie wunderbar vorbereitet, verständnisvoll begleitet und im Nachgang hochprofessionell und menschlich betreut, erzählt Nicola Heyser. Zwei Jahre ist es nun her, seit sie mit diesem Herzen lebt. «Die vielen Medikamente und Immunsuppressiva, welche die körpereigene Abstossung eines fremden Organs verhindern sollten, fordern eine enorme Umstellung des Körpers und haGesetzliche Bestimmungen in der Schweiz ben viele Nebenwirkungen. Es hat gedauert, bis mein Körper mit allem fertig wurde. Doch heute geht es mir wirklich gut.» Dass sie leben darf, Erweiterte Zustimmungslösung ihr Kind grossziehen kann und heute sogar wieder arbeitet, ist für NiDiese in der Schweiz gängige Praxis zur Entnahme von Organen, Gecola Heyser wie eine zweite Geburt. «Ich bin voller Zuversicht, dass weben oder Zellen sieht in einer fehlenden Spende-Erklärung der verdieses Herz ‹halten› wird. Und es ist mir bewusst, dass ich wahnsinnistorbenen Person lediglich eine Nichterklärung. In diesem Fall werden deshalb die nächsten Angehörigen für eine Organentnahme angefragt, stimmen diese zu, ist die Explantation zulässig. Der Wille des Verstorbenen hat aber in jedem Fall Vorrang gegenüber dem der Angehörigen. Was heisst hirntot? Gemäss schweizerischem Transplantationsgesetz (2007) gilt der Mensch als tot, wenn die Funktionen seines Gehirns einschliesslich des Stammhirns irreversibel ausgefallen sind. In den USA läuft seit Längerem eine Kontroverse über das Hirntod-Konzept. Mit neuen technischen Verfahren liessen sich bei sogenannt Hirntoten Aktivitäten im Gehirn nachweisen. Die Presidents Commission on Bioethics war 2008 zum Schluss gekommen, die biologischen Gründe für die Definition des Hirntods hätten sich als irrtümlich erwiesen, da man dabei davon ausging, dass der Körper nach Ausfall der Hirnfunktion sofort aufhöre, als Ganzes zu funktionieren, was heute umstritten ist. SURPRISE 295/13

Widerspruchslösung Die in vielen Nachbarländern gängige Praxis (gilt auch für Touristen) wertet ein Schweigen als Einverständnis und erfordert für die Nichtentnahme den expliziten Widerspruch. Auch hier gibt es eine erweiterte Lösung, bei der Angehörige den Willen des Verstorbenen vertreten können. Widersprechen diese nicht innert einer bestimmten Frist, dürfen Organe, Gewebe und Zellen entnommen werden. Aktuell gibt es vier parlamentarische Vorstösse sowie Bestrebungen (zum Beispiel von Swisstransplant), in der Schweiz die Widerspruchslösung einzuführen.

13


Nick Cave «Es ist meine Pflicht, diese unglaubliche Band am Leben zu erhalten» Der kreative Höhenflug von Nick Cave hält an. Nach seinem krachenden Seitensprung mit Grinderman kehrt der australische Songwriter für seinen neuesten Wurf zu den Bad Seeds zurück. Als Künstler vollzieht er mit «Push the Sky Away» erneut einen Wandel. Die Geigen, Flöten und verrückten Loops von Multi-Instrumentalist Warren Ellis spielen diesmal ebenso eine grössere – aber nicht lautere – Rolle wie das feine Schlagzeugspiel von Thomas Wydler, dem unterdessen dienstältesten Bad Seed aus Zürich. Zum Interview bittet ein gutgelaunter Cave in ein gediegenes Gastro-Pub in der Nähe seines Hauses in Brighton. VON HANSPETER KÜNZLER

Wie gehen Sie nach all den Jahren ein neues Album an? Gibt es einen grossen Plan? Ich nehme jedes Album, wie es kommt und versuche, die anderen Alben, die ich gemacht habe, zu vergessen. Allerdings soll das neue auf textlicher und musikalischer Ebene anders sein als das letzte. Es muss einen Schritt vorwärts gehen, sonst würde die Band in der Stagnation stecken bleiben und sehr schnell absterben. In meinen Augen erreicht das neue Album das gleiche, was andere Alben von mir, die für wichtig gehalten werden, erreicht haben: Das Publikum muss sich von Neuem überlegen, ob ihm die Bad Seeds überhaupt gefallen.

schen Warren und mir eine echte Partnerschaft herangewachsen. Die Lieder entstehen, weil wir beide unsere Köpfe zusammenstecken. It’s fucking great! Dieses Album trägt die Früchte eines Arbeitsprozesses, in dem wir von der ersten Idee an gemeinsam an einem Lied arbeiten. Wir sind quasi die neuen Simon & Garfunkel. Wobei, nein – die haben ja keine Songs zusammen geschrieben. (lacht) Also hat Mick Harvey bei seinem Ausstieg vor einigen Jahren wie in einer Staffette den künstlerischen Stab an Warren Ellis weitergereicht? Nein. Mick hatte keinen Stab, den er hätte weitergeben können. Mick hatte einen gewaltigen Einfluss auf die Bad Seeds, aber er war Arrangeur und Organisator, nicht ein Partner beim Songschreiben. Viele von unseren frühen Platten wären nie entstanden, wenn er uns nicht am Schopf gepackt hätte, so viel ist sicher. Aber eigentlich ist es mir egal, wie die Dynamik innerhalb der Band von aussen wahrgenommen wird. Das Einzige, was für mich zählt ist, dass die Bad Seeds weiterhin

Genau das ist doch eine der grossen Freuden der Bad Seeds – dass man nie weiss, was als Nächstes passiert! So möchte ich das auch sehen – aber schauen Sie sich einmal die Diskussionen im Internet an! (lacht) Viele wünschten sich, wir würden ewig bei «Henry’s Dream» stehen bleiben. Meine ganze Karriere lang bin ich gegen Men«Meine Klavierballaden schen ohne Fantasie angerannt.

wurden von den Grenzen meiner Fähigkeiten bestimmt. Ich war nicht imstande, auch nur den Hauch von Groove vorzutäuschen.»

Wie durchbrechen Sie die kreative Routine, sodass tatsächlich eine Entwicklung ausgelöst wird? Warren Ellis (der Geiger, Multi-Instrumentalist und Loops-Zauberer in der Band) ist seit langer Zeit sehr wichtig für mich. Ich habe immer einen starken musikalischen Partner gebraucht, früher etwa Mick Harvey mit seiner Gitarre. Ich selber habe ja nie ein Instrument gespielt. Ich musste meine Ideen vorsingen, auch die Riffs, und hoffen, dass der andere einen Weg findet, sie umzusetzen. Aber Sie spielen doch Klavier. Schon, aber auf einem bescheidenen Niveau. Die schweren, presbyterianischen Balladen, die dabei herauskamen, wurden von den Grenzen meiner Fähigkeiten bestimmt. Ich war nicht imstande, auch nur den Hauch von Groove oder Funk vorzutäuschen. Nun ist aber zwi-

14

Platten machen. In letzter Zeit ist meine Überzeugung immer grösser geworden, dass es eine Art Pflicht ist für mich, diese unglaubliche Band am Leben zu erhalten, und zwar mit allen Mitteln. Die Band ist wichtiger als die Einzelteile. Jetzt klingen Sie wie Keith Richards, der in seinen Memoiren schrieb, eine Band wie die Rolling Stones, in der eine Gruppe von Menschen zu einem Organismus zusammengewachsen ist, in welchem jedes Mitglied über sich selbst hinauswachsen kann, sei so rar, dass es an ein Verbrechen grenze, sie aufzulösen. Ich bin der gleichen Meinung. Auf die Bad Seeds trifft das auf jeden Fall zu. Durch die Band bin ich über mich selber hinausgewachsen. OhSURPRISE 295/13


SURPRISE 295/13

15 BILD: BLEDDYN BUTCHER


ne sie würde ich als Künstler nicht existieren, jedenfalls nicht als Musiker. Das ist Tatsache. Auf einer fundamentalen, praktischen Ebene hätte ich es damals niemals geschafft, sowas auf die Reihe zu kriegen. Und als Musiker hänge ich davon ab, dass sie meine Texte auf spannende Weise zu interpretieren vermögen.

levante Frage stellen, die auf einer kompletten Fehlinformation beruht, die sie bei Wikipedia gefunden haben. So viele Fehler, und ich bin noch am Leben! Wie ist das nur beim Eintrag über einen Martin Luther King, der sich nicht mehr wehren kann?

Sie haben bei anderer Gelegenheit erklärt, dass Sie für Ihre kreative Arbeit einen ganz geregelten Tagesablauf brauchen. Sie beZuletzt waren Sie mit einer schlanken Version der Bad Seeds geben sich ins Büro und arbeiten, bis es Zeit für Feierabend ist. unterwegs, die Sie Grinderman nannten und mit der sie krachenWie können Sie während der Arbeit der Versuchung widerstehen, den, wilden und oft dissonanten Rock kredenzten. Wie hat sich in der Wikipedia oder sonst in der virtuellen Welt abzutauchen? der Ausflug auf Sie und die Bad Seeds ausgewirkt? Das ist kein Problem – so wahnsinning interessieren mich diese DinGrinderman änderte alles. Mag sein, dass ich mit der Meinung allein ge auch wieder nicht. Hingegen verspüre ich ein dringendes Bedürfnis, dastehe, aber ich glaube, dass Grinderman die Bad Seeds gerettet hat. Dass Thommy (Wydler, Schlagzeuger/Perkussionist) für «Push the Sky Away» zurückkeh«Ich liebe Wikipedia. Es ist wie ein kollektives Gedächtnis. Voller ren konnte und so spielen, wie er es tat – man Unsinn und Mythen, wie unser eigenes Gedächtnis halt.» sah das nun in einem ganz anderen Licht. Als Grinderman durchs Land zog – die Band hat Lieder zu schreiben. Dieses Bedürfnis, dieser Drang, ist immer da. (Die immerhin zwei Alben aufgenommen – musste er ja vom Rand aus zuPR-Dame betritt den Raum, um das Interview abzubrechen.) Nein, schauen. Dadurch hat er eine andere Perspektive bekommen, und wir nein! Ich bin richtig in Fahrt, wir machen weiter. auch. Er trat an die neue Platte nicht heran als Schlagzeuger mit der Routine seines fünfzehnten Albums. Und so hat er uns dann alle vollSie haben sich in der Vergangenheit mehrfach schwärmerisch kommen überwältigt mit dem, was er gespielt hat. Impulse dieser Art über die Zeit geäussert, als Sie als Kind in Australien an einem sind es, welche die Bad Seeds vorwärtstreiben. Klar, es gibt Bands, die Fluss gewohnt haben. Die Lieder auf dem neuen Album drehen auch ich mag, einfach darum, weil jedes Album gleich tönt. So was sich oft um Wasser. Sehen Sie darin einen Bezug zu einem gekann tatsächlich Tröstung und Frieden bringen. Wie ein lieber alter Onwissen Gefühl aus der Kindheit? kel, den man alle Weihnachten wieder trifft. Ich möchte allerdings Alle grossen Momente in meiner Kindheit haben sich unten am Fluss nicht dieser Onkel sein. ereignet. Momente, in denen man sich beweisen musste. Ein Mädchen küssen oder von der Eisenbahnbrücke springen. Ich habe den Fluss Thomas Wydler wurde im Herbst von einem Auto angefahren. Hat und sein Ufer geliebt, und das Meer und den Strand gehasst … er sich von den Folgen erholt, um an der Tournee teilnehmen zu können? Warum mochten Sie das Meer nicht? Leider nein. Wir sind darüber alle untröstlich. Es ist wirklich in grosIch hasste vor allem den Strand als «Erlebnis». Wir lebten auf dem sem Mass sein Album. Der Sound des Albums, das ist er. Es ist unLand und fuhren nach Melbourne in die Ferien. Dort ging man als Faglaublich schade. milie an den Strand. Also, eigentlich war das ja ganz nett, ich liebe meine Familie und so. Aber der Strand, das war eine Menge Sand (angeKönnen Sie auch bei den Texten des neuen Albums eine Entwickwiderte Grimasse), ausgebrannt von der Sonne, völlig seelenlos, und lung erkennen? bis zum Rand gefüllt mit schreienden und quietschenden Menschen. Ich glaube, es ist mir tatsächlich gelungen, einen für mich neuen Stil Zudem hatte ich Angst vor dem Wasser, nicht weil ich wasserscheu gezu finden. Meine Texte hatten immer einen erzählerischen roten Faden. wesen wäre, nein, sondern wohl darum, weil ich «Der weisse Hai» geNeuerdings ist es mir gelungen, meine ich, gleichzeitig atmosphärisch sehen hatte. Am Abend hat man sich zum Wagen geschleppt und ist zu schreiben, sodass der Zuhörer nicht mehr an eine Geschichte geschwitzend und miserabel gelaunt zurückgefahren. Das war meine bunden wird. Er muss sich keine Mühe mehr geben, der Geschichte zu Stranderfahrung australischen Stils. folgen – in der Tat wäre es da und dort reine Zeitverschwendung, rational verstehen zu wollen, was geschieht. Und jetzt wohnen Sie im südenglischen Brighton in einer tollen Villa mit Meerblick. Im Song «We Real Cool» beschreiben sie Wikipedia als «Himmel». Ich hatte die grössten Bedenken, hierher zu ziehen. Aber es war der Ein interessantes Konzept – ein Himmel, wo alles und nichts zu Wunsch meiner Frau, und ihr würde ich überall hin folgen, selbst wenn finden ist. das nun hiess, dass ich verdammt noch mal am Meer leben musste. Ich liebe Wikipedia. Das Ding ist mir regelrecht ans Herz gewachAber über die Jahre hinweg – es sind nun zehn Jahre – habe ich das sen. Es ist sowas wie ein kollektives Gedächtnis. Genau wie beim GeMeer lieben gelernt. Denn das englische Stranderlebnis ist ein anderes. dächtnis kann man sich nicht wirklich drauf verlassen, es ist voller UnEs gibt keinen Sand, sondern Steine und Schotter, und darüber hinweg sinn und Mythen, dazu vollgepackt mit einer Flut von unnützen Deerstreckt sich ein wunderbarer Himmel. Mein Haus blickt über das tails, wie unser eigenes Gedächtnis halt. Manchmal habe ich das GeWasser hinaus. Ich sehe aus dem Fenster und das Wetter stürzt auf fühl, dass ich selber mein Gedächtnis gar nicht mehr brauche, und da mich zu. Es ist ein unglaublich schöner, aufregender Ort zum Leben. In dieses eh aus dem letzten Loch pfeift, ist das kein schlechtes Gefühl. gewisser Weise habe ich die geheime Welt unten am Fluss meiner Kindheit hier am Meer wiedergefunden. (Die PR-Dame lässt sich nicht mehr Wir werden halt alle älter. abwimmeln und Cave steht auf.) Pfft! Allerdings. Ehrlich gesagt hat’s bei mir nicht unbedingt mit Ich kann reden, was? Da haben Sie aber mächtig viel Material angedem Alter zu tun. Ich habe mein Gehirn in den 70er-, 80er- und 90ersammelt! Ich muss wohl einen Kaffee zu viel getrunken haben. «Prolix, Jahren mit anderen Dingen ziemlich übel zugerichtet. Was ich bei Wiprolix – nothing a pair of scissors can’t fix!» kipedia immer wieder höchst vergnüglich finde, ist diese irre Masse ■ von Details. Ab und zu lese ich meinen eigenen Eintrag – und zwar meist dann, wenn mir die Journalisten immer wieder die gleiche irre-

16

SURPRISE 295/13


Eurokrise Wirtschaftsfl체chtlinge aus dem Herzen Europas

BILD: REUTERS/JOHN KOLAIDIS

Aufgrund der Wirtschaftskrise verlassen immer mehr Menschen ihre europ채ische Heimat. Sie suchen nach einem besseren Leben in Schwellenl채ndern auf der ganzen Welt. Drei Auswanderer erz채hlen.

SURPRISE 295/13

17


BILD: REUTERS/JOHN KOLAIDIS

Im Osten geht’s aufwärts: Arbeitslose Iren zieht’s nach Dubai.

VON HOMA KHALEELI, HELENA SMITH UND DAVID SMITH

Seit Jahren beschäftigt die Zuwanderung die Europäer. Sie sorgen sich um nationale Identität und die Ressourcen. Doch nun lässt sich eine Veränderung feststellen. Von Irland bis Griechenland suchen junge Europäer nach Möglichkeiten, um ihre Heimat zu verlassen, deren Märkte sich im freien Fall befinden. Gleichzeitig werben Schwellenmärkte wie Brasilien oder Länder mit Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften wie Australien mit Kampagnen um Arbeitnehmer aus der alten Welt. Doch wie sieht das Leben derjenigen aus, die dem Geld folgen und im Ausland nach Arbeit suchen?

neuen Welt. Litsa Georgiou, 49, die mit ihrem Ehemann Vlassis und der fünfjährigen Tochter Iliana von Griechenland nach Australien auswanderte, ist keine Ausnahme. Aber auch das hat den Aufbruch nicht einfacher gemacht. Litsa Georgiou erzählt: «Wir haben den grossen Umzug vor zwei Jahren gewagt, und es war kräfteraubend für Körper und Seele. Die Krise ist an allem schuld. Wenn es nach mir ginge, würde ich noch immer in Griechenland leben. Daran denke ich jeden Tag, und mit Freunden spreche ich mindestens einmal in der Woche darüber. Ich vermisse den Lebensstil, der ist sehr viel entspannter als in Australien – und natürlich die Atmosphäre und Traditionen. Mir fällt kein einziger hässlicher Ort in Griechenland ein. In Australien tue ich mich schwer, obwohl ich hier für eine Zeitlang aufgewachsen bin. Wir mussten ein Jahr lang bei meinen Eltern leben, die schon vor der Krise hierher zurückgezogen sind. Jetzt mieten wir eine eigene 3-Zimmer-Wohnung in Kingsgrove, einem Vorort von Sydney. Unsere Tochter Iliana hat sich schnell eingelebt. Kinder passen sich an – den Erwachsenen fällt das oft schwerer. Wir haben noch immer Heimweh. Oft schauen wir uns DVDs und Videos an, die wir daheim in Griechenland aufgenommen haben, und an unserem Kühlschrank hängen viele Fotos von Familie und Freunden. Wir bekommen sehr viel mit, weil wir über Satellit griechische Sender schauen, und es sieht nicht gut aus. Wenn ich mir die Situation dort anschaue, weiss ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, vor allem für die Kleine. Immerhin müssen wir hier nicht so rumkrebsen. Wir haben Glück und zahlen nur 300 australische Dollar (etwa 286 Franken) Miete pro Woche und können unsere Rechnungen bezahlen – wir kommen über die Runden. Der australische Lebensstil und die Kultur hier sind sehr verschieden von Griechenland. Und alles ist ganz genau geregelt. Hier kommt man mit nichts ungeschoren davon. Aber bezüglich Zukunftsaussichten, Arbeit und Ilianas Perspektiven und Bildung wird hier sehr viel mehr geboten. Es ist immer noch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, auch wenn die Lebenskosten unglaublich hoch sind. Vor sieben Monaten habe ich einen Arbeitsplatz bei einem Unternehmen im Gastgewerbe gefunden. Die Arbeit ist anders als die im Modegeschäft, wo ich bisher gearbeitet habe, aber der Verdienst ist nicht schlecht und das Einkommen hilft uns, die Kinderbetreuung sowie Tanz- und Schwimmunterricht für die Kleine zu bezahlen. Unser Wunsch aber bleibt es, nach Griechenland zurückkehren zu können. Mein Mann Vlassis sagt immer ‹wenn wir› und nicht ‹falls wir› nach Griechenland gehen. Und jede Woche spiele ich Lotto, in der Hoffnung, dass wir eines Tages zurückkehren können.» Von Irland in die Vereinigten Arabischen Emirate In Irland hat Massenauswanderung eine lange Geschichte. Die derzeitige Emigrationswelle ist die grösste seit 25 Jahren: Allein im ersten Quartal 2012 verliessen 87 000 Menschen das Land. Irland, noch vor wenigen Jahren der «keltische Tiger» mit spektakulären Wachstumsraten, hat heute mit 14,6 Prozent die vierthöchste Arbeitslosenrate Europas. Einige Beobachter bezeichnen die Auswanderung als ein «soziales Sicherheitsventil», das Irland vor noch ernsteren sozialen und politi-

Von Griechenland nach Australien Seit die Wirtschaftskrise Griechenland getroffen hat, ist Australien zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten für die geworden, die vor den Geldsorgen und den sozialen Unruhen in ihrem Heimatland fliehen. Als sich die Situa«Mein Mann Vlassis sagt immer ‹wenn wir› und nicht ‹falls tion in Europa letztes Jahr verschärfte, erlebte wir› nach Griechenland gehen.» Australien einen Zuwachs griechischer Immigranten von 65 Prozent – und angesichts einer schen Problemen bewahrt, indem durch weniger Arbeitslose der Druck Arbeitslosenrate von 26,8 Prozent in Hellas (die höchste, die in der EU auf die Sozialsysteme verringert wird. Das Magazin Economist vermuje verzeichnet wurde) wird diese Quote aller Wahrscheinlichkeit nach tet, dass Irland aus diesem Grund auch nicht so heftige soziale Unruweiter steigen. hen erlebt hat wie zum Beispiel Griechenland. Doch für Auswanderer Schon unter der Besetzung durch Nazi-Deutschland wanderten viewie Brendan Doris (62 Jahre) ist das ein schwacher Trost. le Griechen nach Australien aus. Melbourne hat mehr griechisch spre«Ich bin aus Verzweiflung in die Vereinigten Arabischen Emirate gechende Einwohner als jede andere Stadt weltweit ausser Athen und gangen. Ende September 2012 kam ich hier an und werde noch mindeThessaloniki. Darum haben viele neue Einwanderer Verwandte in der

18

SURPRISE 295/13


kräfte an portugiesische Unternehmen auf der ganzen Welt vermittelt stens vier Jahre bleiben, vielleicht sogar länger. Als selbständiger Archiund subventioniert. «Drei Wochen vor der geplanten Abreise erfuhr ich, tekt habe ich in Irland nicht mehr genug Aufträge bekommen. Alle meidass es mich für die kommenden Monate nach Maputo in Mosambik ne Kunden haben ihre Projekte aufgeschoben. So gab es zwar die Ausverschlagen würde.» sicht auf Arbeit, aber die Aussicht macht einen schliesslich nicht satt. Inzwischen geniesst der 25-jährige Gomes sein Singledasein in einer Meine Frau und ich haben sämtliche Rücklagen zu Geld gemacht, Region im Süden Afrikas, die für elegante Architektur aus der Kolonialauch die Ersparnisse für die Ausbildung der Kinder und die Lebensverzeit, ihre Küstenlandschaften und exquisite Meeresfrüchte berühmt ist. sicherung; wir hatten nichts mehr. Wir brauchten all unser Erspartes, um die Hypothek abzuzahlen, und ich wusste nicht mehr, was ich tun sollte. Laut der Be«Jeden Abend verbringe ich per Skype eineinhalb Stunden dürftigkeitsprüfung der Sozialbehörden hätte ich Anspruch auf 98 Euro pro Monat – wie soll mit meiner Familie – ich helfe den Kindern bei den Hauseine Familie davon leben? aufgaben und sehe ihnen beim Abendessen zu.» Etwa zwei Jahre lang habe ich mich gegen Jobangebote im Ausland gesträubt, aber «Eigentlich sehe ich mich selbst als echten Glückspilz. Hier herrscht ein irgendwann blieb uns einfach nichts anderes mehr übrig. Ich wusste, erstaunlicher Lebensstil, und es fiel mir sehr leicht, mich anzupassen.» dass ich meine Familie nicht würde mitnehmen können; eine unserer Gomes ist hier für das Marketing bei TD Hotels verantwortlich; die Töchter ist autistisch, und es hat Jahre gedauert, für sie genau die Kette besitzt neben Häusern in Portugal auch Hotels in Mosambik und Unterstützung zu organisieren, die sie braucht. Insgesamt haben wir Angola. Er ist damit einer von vielen Tausend Portugiesen, die in der vier Kinder zwischen zehn und 14 Jahren, sie sind also alle gerade in Hoffnung auf ein besseres Leben ihr Land in Richtung der beiden eheeinem Alter, wo sie sich ihr eigenes soziales Netz erschliessen. Wir maligen Kolonien verlassen haben, die zunehmend aufblühen. Dieser konnten sie doch nicht aus ihrem Umfeld reissen, nur um sie an eine Trend wurde bereits als eine Form des «umgekehrten Kolonialismus» Asphaltpiste mitten in der Wüste zu verpflanzen – nichts gegen die beschrieben. Emirate, aber genau das sind sie am Ende. «Mosambik erlebt durch die Erschliessung seiner Kohle- und GasvorIch lebe im Hotel, sodass ich mich nicht um Wäsche, Mahlzeiten kommen im Moment einen riesigen Aufschwung und hat die Voraussetund ähnliches kümmern muss. Jeden Abend verbringe ich per Skype zungen für ein stabiles Wachstum, sobald sich die wirtschaftlichen Ereineinhalb Stunden mit meiner Familie – ich helfe den Kindern bei den folge einstellen. Angola ist ein reiches Land mit grossen Vorkommen an Hausaufgaben und sehe ihnen beim Abendessen zu. Auf diese Weise Öl und Edelsteinen. Allerdings muss rund um die natürlichen Ressoursehen wir uns regelmässiger als zu manchen Zeiten, als ich noch dort cen ein Servicesektor entstehen, und auch die Bauindustrie muss sich war. Aber es ist sehr anstrengend, und immer wieder befallen uns noch weiter entwickeln. Hier bieten sich gute Gelegenheiten für InvesZweifel, ob wir wirklich das Richtige tun. Meine Frau kümmert sich um toren aus dem Ausland.» die Kinder und versucht, von zu Hause aus ihre kleine MontessoriDie Besetzung Mosambiks durch die Portugiesen gehört zu den schule zu leiten. dunklen Kapiteln der Geschichte Afrikas. «Die Menschen in Mosambik Ich vermisse meine Familie sehr. Zwischen dem Feierabend gegen sind sehr intelligent. Sie wissen, dass ihr schönes Land Verbesserungen sechs Uhr und sechs Uhr am nächsten Morgen denke ich praktisch an braucht, und wir sind hier, damit diese Neuerungen schneller Wirknichts anderes. Oft liege ich nachts wach und schaue einfach nur in den lichkeit werden. Der Bürgerkrieg hat zu einem Stillstand in der wirtHimmel. Ich will hier nicht auf Dauer leben, denn man kann sich nicht schaftlichen Entwicklung und bei der Bildung geführt, den das Land einbürgern lassen, und ich fühle mich meinem Heimatland stark vernur durch Know-how von aussen überwinden kann.» bunden. Zwar vermisst Gomes gelegentlich sein altes Leben, allerdings nicht Bei der Arbeit haben wir gerade eine sehr intensive Phase – das Proallzu sehr. «Trotz der vielen negativen Dinge ist Portugal immer noch jekt steht am Anfang und alles soll am besten schon seit zwei Wochen meine Heimat und ein fantastischer Ort zum Leben. Den wahren Wert fertig sein. Aber gestern Abend habe ich mich zum ersten Mal privat mancher Dinge erkennt man oft erst, wenn man weit von ihnen weg mit einem Kollegen getroffen; er ist gerade aus Kanada hergezogen. ist. Trotzdem bin ich hier sehr glücklich, und es genügt mir, zweimal Und ich versuche nach und nach, mir hier ein Leben aufzubauen: Ich pro Jahr meine Familie und Freunde zu besuchen und zu meinen Wurwill anfangen, Squash zu spielen und Arabisch zu lernen und endlich zeln zurückzukehren.» das Klavierspielen in Angriff zu nehmen.» ■ Von Portugal nach Mosambik Für junge Portugiesen auf der Suche nach Arbeit herrschen schlechte Zeiten. Die Arbeitslosenquote bei Jugendlichen liegt in Portugal bei fast 40 Prozent. Ein Mitglied der Regierung löste eine Welle der Empörung in sozialen Netzwerken aus, als er seine Landsleute aufforderte, eine Auswanderung in Betracht zu ziehen. Genau diesen Schritt hat Diogo Gomes bereits vor zwei Jahren getan. Nach seinem Universitätsabschluss in Wirtschaft und Marketing wollte er Erfahrung auf dem Arbeitsmarkt sammeln und sah die besten Chancen dafür im Ausland. «Die Situation in Portugal ist heikel», sagt Gomes. «In den vergangenen Jahren hat eine inkompetente Führung das Land tief in die roten Zahlen gebracht. Eine völlig unflexible Wirtschaft und die drastischen Sparmassnahmen verhindern das Entstehen neuer Jobs. Ein Umzug ins Ausland ist so die einzige Möglichkeit, Arbeit zu finden und Erfahrungen zu sammeln.» Gomes, der aus Oporto, einer Stadt in der Nähe von Porto, stammt, wurde in ein Programm der Regierung aufgenommen, das NachwuchsSURPRISE 295/13

Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgt gemäss einer Vereinbarung über inhaltliche Zusammenarbeit mit dem Guardian development network. Aus dem Englischen übertragen von Andrea Wieler Goodbrand, Jules Schneider und Veronica Koehn, Bearbeitung: Surprise.

19


BILD: ISTOCKPHOTO

Invalidenversicherung Arbeit um jeden Preis «Arbeit statt Rente» lautet seit Anfang 2012 der politische Auftrag an die hoch verschuldete Invalidenversicherung (IV). Tausende IV-Rentner sollen zurück an die Arbeit. Die Zahl der Neurenten wird gedrückt. Die Schwächsten der Gesellschaft werden weiter geschwächt. VON CHRISTOF MOSER

Da sind diejenigen, die einen abschlägigen Entscheid der Invalidenversicherung (IV) erhalten – und weiter arbeiten müssen, aber nicht können. Wie zum Beispiel L. M., bis vor Kurzem Wäscherin in einem Altersheim. Ihr Hausarzt hat die Geschichte der alleinerziehenden Mutter kürzlich in der Gewerkschaftszeitung Work dargelegt, um den Umgang der IV mit den Schwächsten der Gesellschaft anzuprangern. Nach einem Sturz ist L. M. an der Schulter verletzt. Cortison-Injektionen und Physiotherapie bringen die Schmerzen nicht weg, die Ursache

20

dafür ist organisch nicht klar nachweisbar. Weil nach einem wegweisenden Bundesgerichtsurteil in solchen Fällen seit 2004 kein Anspruch auf eine IV-Rente mehr besteht, wird ihr IV-Gesuch abgelehnt. «Eine klassische Reinigungsarbeit dürfte wahrscheinlich im Rahmen der vorgegebenen Einschränkungen nicht mehr möglich sein. Leichte körperliche Tätigkeiten gehend und sitzend sind vollständig zumutbar», steht in der Verfügung des IV-Gutachters. L. M. verliert ihre Stelle, findet keinen neuen Job, wird ausgesteuert und lebt heute von der Sozialhilfe. Aus der Sicht der IV ist L. M. ein Erfolg: Die Zahl der Neurenten ist in den vergangenen zehn Jahren von 28 000 auf 15 000 gesunken. Auch SURPRISE 295/13


vision wollte die Ratslinke im Parlament die Wirtschaft zur Integration weil die Invalidenversicherung Kranke und Behinderte in die Sozialhilvon IV-Bezügern verpflichten. Die bürgerliche Mehrheit hat dies verfe auslagert, um Kosten zu sparen und die Schulden des Sozialwerks zu hindert. Studien zeigen, dass kleinere und mittlere Unternehmen ihrer tilgen. «In IV-Gutachten werden systematisch Menschen für erwerbsfäfreiwilligen Verpflichtung zur Integration einigermassen nachkommen, hig erklärt, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chance haben, weil es Grossbetriebe jedoch kaum. Eine Untersuchung der «Stiftung Integrakaum behindertengerechte Arbeitsplätze gibt», sagt David Winizki, der tion für alle» aus dem Jahr 2008 (neuere, verlässliche Studien gibt es Arzt von L. M., in Zürich bekannt als «Doktor der kleinen Leute». Danicht) kam zum Schluss, dass Kleinbetriebe (bis 49 Mitarbeiter) eine IVzu kommt laut Winizki das Paradoxon, dass die IV laufend ScheinerWiedereingliederungs-Quote von 4,13 Prozent erreichen, Mittelbetriebe werbstätige produziert. Wer einen ablehnenden IV-Entscheid erhält, (bis 249 Beschäftigte) eine Quote von 3,8 Prozent und Grossfirmen gilt grundsätzlich als arbeitsfähig. Und wer wie L. M. keine Arbeit fin(über 249 Mitarbeiter) eine Quote von 1,25 Prozent. Das Schlusslicht, det, wird vom Sozialamt in Einsatzprogramme geschickt – für einen mit einem Anteil von gerade mal 0,39 Prozent körperlich oder geistig beLohn von 2000 Franken, auf 100 Prozent gerechnet. Die Ausgesteuerten erhalten zum Grundbedarf von 977 Franken einen Freibetrag von 200 bis 300 Franken, Selbst auf dem Bau arbeiten mehr Menschen mit Behinden Rest müssen sie abgeben, um die Sozialderung als in der Finanz- und Versicherungsindustrie. hilfekosten tief zu halten. Verweigert sich ein Sozialhilfebezüger diesen Arbeitsbedingunhinderter Mitarbeiter im Vergleich zur Gesamtbelegschaft, bildet die Figen, muss er mit einer Kürzung des Grundbedarfs auf bis zu 830 Frannanz- und Versicherungsindustrie. Sie liegt damit sogar deutlich unter ken rechnen. «Staatliche Nötigung» nennt Winizki dieses Zweiklassendem Bausektor, der trotz hohen körperlichen Anforderungen und erSozialsystem: «Wer sich schlecht ausdrücken kann, wird entsorgt und heblichen Sicherheitsrisiken eine Quote von 2,75 Prozent erreicht. Trotz ausgebeutet. Ein bildungsprivilegierter Patient, der seine medizinisch der Verweigerung der Grossfirmen ist das Prinzip «Eingliederung vor nicht nachweisbaren Schmerzen differenziert darlegen kann, hat gute Rente», das bereits die 5. IV-Revision prägte, bisher ein Erfolg: Die Zahl Chancen, eine Burnout-Diagnose zu erhalten und dem sozialen Abstieg der Wiedereingegliederten stieg von 5800 im Jahr 2007 auf über 10 000 zu entkommen.» im Jahr 2011. Damit bis 2018 die vorgesehenen 17 000 IV-Rentner den Dass der Vorwurf der gezielten Auslagerung von potenziellen IVWeg zurück in den Arbeitsmarkt finden, müssen jährlich durchschnittRentnern in die Sozialhilfe keineswegs aus der Luft gegriffen ist, deckte lich 2800 IV-Bezüger eine Stelle finden. Das soll nicht zuletzt durch fi2010 der Beobachter auf. Er schilderte konkrete Fälle, wie IV-Gutachter nanzielle Anreize für Firmen erreicht werden: Sie können beantragen, unter Druck gesetzt werden, damit die Zahl der Neurenten möglichst dass Mitarbeiter, die von der IV kommen, zur Probe gratis arbeiten, und tief gehalten werden kann. Wie im Fall von R. S., einem früheren erhalten Einarbeitungszuschüsse. Die staatlich verordnete WiedereinMetallbauarbeiter, den das Basler Zentrum für Medizinische Begutachgliederung, die für IV-Bezüger schnell zur Lose-lose-Situation werden tung (ZMB) nach einem schweren Unfall als völlig arbeitsunfähig bekann, ist für Firmen also ein Win-win-Geschäft. urteilte. Die Aargauer IV-Stelle schrieb dem Gutachter, das Gutachten sei «nicht zufriedenstellend» abgefasst, und verlangte eine neue BeurProduktionsdruck in der geschützten Werkstatt teilung. Als der Arzt sich weigerte und auf die umfassende UntersuAuf denjenigen, die einen positiven IV-Entscheid erhalten haben chung des Patienten verwies, drohte der Leiter der IV-Stelle, dem Basund trotzdem arbeiten müssen, lastet ein gewaltiger Druck, wie die ler Institut keine Aufträge mehr zu erteilen – was dann auch geschah: SonntagsZeitung kürzlich aufgedeckt hat. Die insgesamt 25 000 BehinIm Folgejahr wurden dem ZMB keine Aufträge mehr für IV-Gutachten derten, die sich in der Schweiz in sogenannten geschützten Werkstäterteilt. Die «Rechtsberatungsstelle UP für Unfallopfer und Patienten», ten in den Arbeitsmarkt integrieren sollen, geraten durch die Finanzein Verein spezialisierter Anwälte, äusserte bereits damals die Vermuund Wirtschaftskrise immer mehr an ihre Grenzen. Weil der Franken tung, dass «Hunderte, wenn nicht Tausende solcher Gutachten in unstark ist, weichen die Kunden der Werkstätten zunehmend auf osteugesetzlicher Weise zuungunsten der Versicherten abgeändert werden», ropäische Firmen aus, die simple Arbeiten wie die Montage elektrischer um «IV-Renten zu verweigern oder bereits bestehende zu entziehen Schaltkreise ebenfalls zu Dumpingpreisen anbieten. Der deutsche Konoder zu reduzieren». Die Leute sollen arbeiten. Koste es, was es wolle. zern Bosch hat bereits Aufträge gestrichen. Der härtere Wettbewerb führt zu einer Selektion der IV-Bezüger wie auf dem regulären ArbeitsAbgeschoben in die Sozialhilfe markt. «Um die Produktivität unserer Werkstätte zu steigern, wurden Seit Anfang 2012 ist die IV-Revision 6a in Kraft, der das Prinzip «Arbei uns gezielt schwach behinderte Personen, die viel leisten, bevorbeit statt Rente» zugrunde liegt. 17 000 IV-Bezüger sollen nach dem zugt», berichtet die Mitarbeiterin einer Werkstätte in Fribourg. Die Willen der Politik bis 2018 wieder in den Arbeitsmarkt integriert werWerkstätten-Leiter werden angehalten, «die Perlen zu finden», damit den. Die Zahl ist kein Zufall, sondern knallhart kalkuliert: 17 000 Wiedie Produktion möglichst hoch und die Kosten tief gehalten werden dereingliederungen sind nötig, weil die IV bis 2018 eine ausgeglichene können. Wer zu langsam ist, wandert in die Sozialhilfe, wer bleibt, leiRechnung präsentieren muss. Bis 2025 muss die IV zudem ihren Schulstet Fliessbandarbeit mit vielen Überstunden. Teilweise arbeiten die Bedenberg von 15 Milliarden Franken abgebaut haben. Ein Ziel, gegen das treuer mit, damit die angepeilte Produktionsquote erreicht werden nichts einzuwenden ist, würde die IV-Sanierung nicht auf dem Buckel kann. «Zuerst werden die Behinderten in ihren bisherigen Firmen entder Beeinträchtigten vollzogen und damit die Idee des Sozialwerks, das lassen, weil sie dem Druck in der Berufswelt nicht mehr standhalten 1960 gegründet wurde, um die sozialen Folgen von Invalidität abzufekönnen. Danach müssen sie sich über Behindertenwerkstätten wieder dern, pervertiert. Das Parlament hat die Lasten der IV-Sanierung auf eingliedern. Und weil der Druck da ebenfalls steigt, wird das Ganze zu Druck der Wirtschaft vollständig auf die IV-Rentner abgewälzt. Wer zu einem Teufelskreis», schildert René Knüsel, Professor für Sozialpolitik einer Wiedereingliederung verpflichtet wird, ist auf dem Papier zwar an der Universität Lausanne, die Situation. drei Jahre lang abgesichert, falls er oder sie seine Stelle verliert – und Derweil zieht die Politik die Sparschraube weiter an. Geht es nach der kann wieder eine IV-Rente beantragen. Diese Absicherung hat allerdings Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerats (SGK), einen Haken: Die Kriterien für eine Rente werden parallel dazu versollen mit der IV-Revision 6b volle IV-Renten nur noch Menschen ausgeschärft. Das Bundesamt für Sozialversicherungen rechnet mit «einigen zahlt werden, die zu 80 Prozent invalid sind. Bisher gab es eine volle hundert Härtefällen», die in der Sozialhilfe landen werden. Das gleiche Rente ab 70 Prozent. Bei den Schwächsten wird weiter gespart. Schicksal droht jenen, die keine Stelle finden. In den Beratungen zur Re■ SURPRISE 295/13

21


BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Boxset Vor ein paar Tagen erhielt ich ein schweres Paket. Keine Überraschung, ich hatte es eigenhändig bestellt. Es enthielt eine Box mit 14 Schallplatten der Beatles. Es war teuer. Meine erste Beatles-Platte hatte ich im Alter von vier Jahren bekommen. Wie sich auch später herausstellte, war es gar keine richtige Beatles-Platte, sondern bloss die Aufnahmen von Tony Sheridan, der die Beatles 1961 als Studiomusiker engagiert hatte, um ein paar Rock ’n’ Roll-Standards aufzunehmen (damals noch ohne Ringo Starr, dafür noch mit Stuart Sutcliffe). Doch bei meiner ersten Platte war ich noch nicht allzu kritisch und hatte grosse Freude daran. Ich habe sie immer noch. So wie auch weitere über die Jahre dazugekommene Beatles-Alben, teils die Originalplatten, teils billig erworbene und krud zusammengestiefelte Hitsammlungen aus zweifelhafter Quelle.

22

Elektronisch lagert der ganze Katalog schon längst auf meiner Festplatte, und ich habe auch immer wieder reingehört. Grundsätzlich herrschte in meinen Haushalt also kein Mangel an der Musik der Beatles. Der Box war noch ein schönes Buch mit vielen Bildern beigelegt, das ich bisher einmal durchgeblättert habe und gewiss irgendwann einmal genauer anschauen werde. Aber trotzdem. Warum, so musste ich mich selber fragen, war ich bereit, einen Haufen Geld für Musik auszugeben, die ich nicht nur kannte, sondern auswendig kannte? Als Argument hätte mir dienen mögen, dass es zur Allgemeinbildung des noch nicht vorhandenen Nachwuchses gehöre, diese Platten hören und betrachten zu können. Doch wahrscheinlich wird diese Einführung in die Welt der Popmusik dann doch eher auf meinen alten, abgewetzten und verkratzten Scheiben stattfinden, indes das teure Box-Set irgendwo im Schrank lagert. Bis es aber so weit ist, höre ich fast jeden Tag eine oder zwei der Platten und wundere mich darüber, wie unverleidbar sie noch immer sind. Wie unschlagbar das LP-Format. Das vorsichtige Herausziehen aus der Hülle, aus der noch allerlei Plakate, Postkarten und andere Gadgets fallen, die man Alben in der Hochblüte des Vinylzeitalters beifügte. Das Studieren der abgedruckten Fotos und Texte. Die wohlausgewogenen 20 Minuten, ehe es die Platte umzudrehen gilt. Das Abwägen, welche

Seite einem besser gefällt. Diese grosse sinnliche Freude wird einzig gestört durch das bohrende Bewusstsein, dass doch ständig neue, schöne Musik aufgenommen wird, die zu erstehen und hören sich lohnen würde. Ist es der Beginn der Vergreisung, wenn man nicht mehr genug von Dingen bekommt, die man schon kennt, anstatt sich am Neuen zu freuen? Die ungebrochene Popularität von Konzerten der Rolling Stones stützt diese Vermutung. Werde ich den Rest des Lebens damit zubringen, all die Platten, die ich schon einmal gekauft habe, noch einmal zu kaufen, in sperrigen, überteuerten Box-Sets, denen allerlei Bonus-Material beigefügt ist, ohne das ich bisher bestens leben konnte? Nein, ich werde die Musikindustrie, der ich über lange Lebensabschnitte monatlich mehr abgeliefert habe als der Krankenkasse, nicht am Leben erhalten durch dröges Wiederkaufen. «We Won’t Get Fooled Again», wie The Who sangen. Zu hören auf einem ihrer Alben. Das eben als Teil eines 14-LP-Box-Sets wieder erschienen ist. Ich habe es gestern bestellt.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 295/13


Ausstellung Von stolzen Löwen und falschen Schlangen Die Ausstellung «Animali» im Zürcher Landesmuseum beleuchtet das Verhältnis des Menschen zum Tier. Eine Beziehung voller Faszination, Misstrauen und Bewunderung.

Ob als Nahrungsquelle, Transporthilfe, Bedrohung oder treue Begleiter: Tiere spielen in unserem Leben eine bedeutende Rolle. Die Natur hat zwar dank den Naturwissenschaften einen Grossteil ihres Schreckens verloren. Doch auch wenn wir stolz sind auf unsere rationale, aufgeklärte Weltsicht, ist unser europäisches Kulturgut voller animalischer Symbolik, die bis in die Antike zurückreicht. Ein mutiger, gütiger Mensch hat im Volksmund ein Löwenherz und eine hinterhältige Person wird als falsche Schlange bezeichnet. «Obwohl wir nicht mehr so eng mit der Natur leben, treten Tiere auch heute in Religion, Kunst und Literatur auf. Diese Mythen und Legenden haben eine jahrtausendealte Geschichte», sagt Luca Tori, Archäologe und Kurator der Ausstellung «Animali» am Landesmuseum in Zürich. Der Mensch verband seine Wünsche und Ängste schon immer mit jenen Tieren, die ihn umgaben. Er deutete unbewusst deren Verhalten und projizierte menschliche Laster und Tugenden in die Fauna. Diese Verknüpfung begünstigte die Vorstellung von Mischwesen und Fabeltieren mit übernatürlichen Fähigkeiten: Sie ist die Basis der griechischen Götterwelt, für Sphinxe und Sirenen. «Heute wissen wir ganz selbstverständlich, dass Wesen wie Drachen, Greife oder Kentauren der menschlichen Fantasie entspringen. Aber die Welt der Vormoderne beherbergt neben Menschen und Tieren auch solche Mischwesen. Bis zur Aufklärung im 17. Jahrhundert wurde die Existenz von Fabelwesen selten infrage gestellt. Sie gehörten wie Mensch und Tier zur Ordnung der Welt», so Tori. Deshalb habe man für «Animali» bewusst Ausstellungsobjekte ab der Antike bis zur Aufklärung ausgewählt. Auf engem Raum zeigt zum Beispiel der im 16. Jahrhundert vom Schweizer Mathematiker Jost Bürgi geschaffene Himmelsglobus 49 Sternbilder, wovon ein Grossteil Mischwesen darstellen. Sie erzählen antike Mythen, zum Beispiel vom Helden Perseus, der die schöne Prinzessin Andromeda aus den Fängen des Meeresungeheuers Ketos befreien musste. Ketos zeigt sich am Nachthimmel seit alters her im Sternbild Walfisch. «In ‹Animali› spielen wir mit all diesen überlieferten Geschichten, damit ihre Gegenwärtigkeit bis heute verdeutlicht wird», so Luca Tori. In Bezug auf die Schweizer Kulturgeschichte verweist er auf eine besondere Auffälligkeit. «In der Schweiz finden wir sehr häufig den Löwen auf Wappen, Bannern oder Gebäuden, obwohl dieses Tier ungefähr seit Ende des ersten Jahrtausends nach Christus auf europäischem Boden nicht mehr nachgewiesen werden kann.» Das stärkste einheimische Tier wäre eigentlich der Bär, doch da dieser in vorchristlichen Kulturen, zum Beispiel in germanischen und keltischen Kulten, eine wichtige Rolle spielte, war er der katholischen Kirche im Mittelalter suspekt. «So wurde der Bär von seinem Thron gestürzt und durch den Löwen, der für die Völker der Bibel und die mediterrane Welt der griechisch-römischen Antike schon immer der König der Tiere war, ersetzt», erzählt Tori. SURPRISE 295/13

BILD: TINTORETTOS «LEDA UND DER SCHWAN», © GALLERIA DEGLI UFFIZI, FIRENZE, SU CONCESSIONE DEL MINISTERO PER I BENI E LE ATTIVITÀ CULTURALI

VON MONIKA BETTSCHEN

Zeus meint, als Schwan könne er bei Leda besser punkten als in natura.

Die Ausstellung «Animali» beeindruckt mit 180 Exponaten aus Kunst, Literatur und dem alltäglichen Gebrauch, spürt in Wort und Bild der Entstehung vieler Sinnbilder der einheimischen Kulturgeschichte nach und wirft auch aktuelle Fragen zum Verhältnis zwischen Mensch und Tier auf. Neben einem Prolog umfasst die Ausstellung zwölf reich ausgestaltete Galerien, die jeweils einem Tier und seinen verwandten Mischwesen gewidmet sind; zum Beispiel der Schlange und dem von ihr abgeleiteten Fabelwesen Drache. Neben Geschichten aus den einzelnen Epochen wird der Wandel der Bedeutung eines Tieres im Laufe der Zeit illustriert. «Gerade die Schlange ist Begleiterin von Tod und Teufel, gilt gleichzeitig aber auch als Sinnbild für die Heilkunde», so Luca Tori. «Animali» bietet rund um die Hauptausstellung ein vielseitiges Rahmenprogramm mit einem Referat des ehemaligen Tieranwalts Antoine Götschel, weiteren Vorträgen und Workshops sowie Angeboten für Kinder und Jugendliche. Psychologische Faktoren werden genauso erörtert wie Aspekte der Animal Studies – eines jungen, transdisziplinären Forschungsfelds, das sich unter anderem mit der kulturell-symbolischen Bedeutung von Tieren beschäftigt. ■ Ausstellung «Animali – Tiere und Fabelwesen von der Antike bis zur Neuzeit», vom 1. März bis 14. Juli, Landesmuseum Zürich. www.animali.landesmuseum.ch

23


BILD: ZVG

BILD: ZVG

Kultur

Ein Jahrhundertgenie schlägt fiktionale Funken.

Eine minderjährige Prostituierte als Untermieterin macht den Aushilfslehrer ratlos.

Buch Manisch, panisch, genial

Kino Bröckelnde Schule

In «Blitze» schildert der Prix-Goncourt-Preisträger Jean Echenoz das Leben eines tragisch scheiternden Genies.

Nur in einer Szene scheint im packenden Highschool-Drama «Detachment» die Sonne: Tony Kayes Film ist Pessimismus pur. Aber er fährt extrem ein, weil er subtil anders ist.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON YVONNE KUNZ

Gregor ist manisch: Zwanghaft zählt er alles und klammert sich an Zahlen, die durch drei teilbar sind. Gregor ist panisch: Er hat eine extreme Furcht vor Mikroben, Bazillen und Keimen, wechselt Handschuhe wie andere Papiertaschentücher. Aber Gregor ist auch genial: Ein Erfinder, der seine Apparate bis ins kleinste Detail vor dem inneren Auge sieht und intuitiv bauen kann, wo andere an Plänen kleben. Fast immer haben seine Erfindungen mit Elektrizität zu tun. Als hätte das Gewitter, das bei seiner Geburt (irgendwo auf dem Balkan) tobt, ihn mit gewaltigen Blitzen in diese Laufbahn geschleudert. Eine Laufbahn, die vielversprechend beginnt. Denn trotz seiner Schrullen kann Gregor in Amerika zahlungskräftige Investoren von seinen Ideen überzeugen und den Stromkrieg gegen Edison gewinnen, in dem der Wechselstrom über den Gleichstrom triumphiert. Er wird zum Liebling der High Society, für die einen der grösste Erfinder aller Zeiten, für die anderen ein Scharlatan. Denn Gregor liebt die grosse Inszenierung, in der er wie ein Magier Blitze sprühen und Lampen leuchten lässt und auch schon mal behauptet, mit Marsmenschen in Kontakt zu treten. Nur eines versäumt er: Seine Erfindungen ordentlich patentieren zu lassen. Es sind andere, die seine Ideen vermarkten und dabei reich werden, während Gregor, der ständig auf Kredit lebt, unaufhaltsam in den Ruin treibt. Als es mit ihm zu Ende geht, redet er mit den Blitzen – und mit den Tauben, die er den Frauen vorzieht. Er stirbt einsam, von seinen hungrigen Schützlingen umgeben. Nach dem Komponisten Maurice Ravel und dem tschechischen Langstreckenläufer Emil Zapotek widmet sich Jean Echenoz im dritten seiner Lebens-Romane dem Erfinder Nikola Tesla (der unter anderem die Grundlagen für Radar, Röntgen, Funk und Neon schuf) in der Gestalt des fiktiven Gregor. Dabei hält er sich weitgehend an die historischen Fakten, überspitzt diese aber in einer Weise, die den Roman zu einem hollywoodreifen Biopic macht – mit einem atemlosen Beginn, der die Hauptfigur wie einen Blitz im Leben einschlagen lässt, und einem Ausklang, in dem dieses Leben immer mehr zum Stillstand kommt, als wäre ihm der Strom ausgegangen. Jean Echenoz: Blitze. Roman. Berlin Verlag 2012. 25.40 CHF.

Die Figuren stehen bereits alle am Abgrund. Und Skandalregisseur Tony Kaye lässt sie immer tiefer in Lebensangst, Entfremdung und Hoffnungslosigkeit versinken. Der Rektorin (Marcia Gay Harden) droht wegen der schlechten Leistungen an ihrer Schule der Rausschmiss. Die Berufsberaterin (Lucy Liu) verliert die Nerven und nennt eine besonders abgelöschte Schülerin eine «oberflächliche, widerliche Kreatur». Ein Lehrer schluckt im Stundentakt Psychopharmaka, ein anderer ist überzeugt, unsichtbar zu sein. Und ihre Schüler spucken ihnen schon mal ins Gesicht. Wenn sie nicht gerade Katzen zu Tode quälen. Mitten in dieses Chaos gerät der Aushilfslehrer Henry Barthes (grandios: Oskarpreisträger «The Pianist» Adrien Brody). Von aussen erscheint er mit seinem warmen Stoizismus wie der rettende Samariter. Nur einen Heiligenschein hat er nicht, vielmehr scheint er eine dunkle Wolke über seinem Kopf zu tragen. Er ringt mit schwersten Belastungen. Sein Grossvater, dement und sterbend und von Schuld zerfressen, weil er seine Tochter missbrauchte, die sich dann umbrachte. Dann sind da noch eine minderjährige Prostituierte, der Henry Obdach gewährte, und bald auch eine suizidale, übergewichtige Schülerin, die seine Nähe sucht. Das Konzentrat der Misere wird durch eine geballte Ladung Kino vermittelt: Rückblenden, Animationen auf der Wandtafel und Schnitte in ein künftiges Interview-Setting, in dem Henry seine Erlebnisse reflektiert. Je schriller die Didaktik, desto überdrehter wird der Film. Aber selbst wenn er ins Alberne zu kippen droht, rettet ihn seine schiere Dreistigkeit. So endet «Detachment» mit einer Rezitation von Edgar Allan Poes «The Fall of the House of Usher» – eine wenig subtile Metapher für das zerfallende Schulsystem. Man fragt sich: Wie viel reisserische Sensationslust verträgt sich mit edler Gesinnung? Wie die früheren Filme des britischen Regisseurs Tony Kaye, etwa das Neonazi-Drama «American History X», ist auch «Detachment» eine Provokation, darauf angelegt, Selbstgefälligkeit und Schönfärberei zu pulverisieren. Es ist das Werk eines hemdsärmligen Filmemachers, der das Publikum aufrütteln will. Und das gelingt ihm hier auf eindrucksvolle Weise. Tony Kaye: «Detachment», USA 2011, 97 Min. Mit Adrien Brody, Marcia Gay Harden, James Caan. Ab 7. März in den Deutschschweizer Kinos.

24

SURPRISE 295/13


BILD: ZVG

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Kaum Blumen: Besuch auf einem verseuchten Friedhof.

Event Atomkraftvolle Bilder In gleich drei Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima kam es am 11. März 2011 zur Kernschmelze, das Ereignis jährt sich zum zweiten Mal. Ein Filmevent zum Gedenken.

01

Solvias AG, Basel

02

Ernst Schweizer AG, Metallbau, Hedingen

03

confidas Treuhand AG, Zürich

04

ratatat – freies Kreativteam, Zürich

05

G.A.T.E.S., Hôteliers & Restaurateurs SA, Basel

06

Claude Schluep & Patrick Degen, Rechtsanwälte, Bern

07

homegate AG, Adliswil

08

Sprenger & Partner Bauingenieure SIA USIC,

VON NATALIE GYÖNGYÖSI

In eindringlichen Bildern zeigt der japanische Regisseur Kazu Kurimoto, wie die Menschen mit dem Alltag in ihrer radioaktiv verpesteten Heimat in Fukushima umgehen. Unter die Haut fahren die Szenen, bei denen die Filmcrew eine Frau begleitet, welche ihr Haus im ausgesiedelten Gebiet besucht. Besonders eindrücklich ist die Stellungnahme des Gouverneurs von Fukushima, Eisaku Sato, der als Kritiker der Atomkraft und auch der politischen Machtverhältnisse in Japan gilt. «Forbidden Ground, Fukushima» ist die dritte Episode einer Trilogie über die verheerenden Folgen des Erdbebens an der Pazifik-Küste vor der Tohoku-Region. Nach dem Unglück im Kernkraftwerk in Japan wurden radioaktive Stoffe in rauen Mengen freigesetzt. Rund 70 000 Menschen wurden an der japanischen Nordküste aus den verseuchten Gebieten evakuiert. Die Aufräumarbeiten dürften noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen. «Halbwertszeit 2013 – zwei Jahre nach Fukushima» nennt die AG-Film der Roten Fabrik ihre Veranstaltung zum zweijährigen Gedenktag an die Katastrophe. Der Dokumentarfilm «Forbidden Ground, Fukushima» aus dem Jahr 2012 ist der Hauptbeitrag und wird in Zürich und in Bern gespielt. Kurzfilme und Podiumsgespräche begleiten die Vorführungen. Regisseur Kurimoto wird in Zürich persönlich anwesend sein und an der Gesprächsrunde zum Thema «Leben mit der Radioaktivität» teilnehmen. Zu den weiteren Diskussionsteilnehmern zählen Florian Kasser, Atomcampaigner von Greenpeace Schweiz, sowie Mitglieder der Ajisaino-Kai, einer Organisation, die sich in der Schweiz für den Atomausstieg in Japan engagiert. Am Event in Bern läuft eine Diskussion unter dem Titel «Mühleberg – Alles im Griff?». Das Werk Mühleberg ist eine der weltweit ältesten Siedwasser-Reaktoren. Pikanterweise entspricht seine Bauart derjenigen von Fukushima. Man darf sich fragen: Ist Mühleberg heute noch sicher? Mögliche Antworten gibt’s in Bern.

Arlesheim 09

Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

10

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

11

IBP – Institut für Integrative Körperpsychotherapie, Winterthur

12

Knackeboul Entertainment

13

Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

14

Girod Gründisch & Partner, Visuelle Kommu-

15

Paul & Peter Fritz AG, Literary Agency, Zürich

16

TYDAC AG, Web-Mapping-Software, Bern

17

Kaiser Software GmbH, Bern

18

Balcart AG, Carton, Ideen, Lösungen, Therwil

19

Lions Club Zürich-Seefeld

20

Klimaneutrale Druckerei Hürzeler AG,

nikation, Baden

Regensdorf 21

Scherrer & Partner GmbH, Basel

22

Balcart AG, Carton Ideen Lösungen, Therwil

23

Psychiatrische Dienste Aargau AG (PDAG)

24

Locher, Schwittay Gebäudetechnik GmbH, BS

25

fast4meter, storytelling, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

«Halbwertszeit 2013 – zwei Jahre nach Fukushima», Do, 7. März, 19.30 Uhr, Rote Fabrik Zürich; Mo, 11. März, 20 Uhr, Lichtspiel Bern. Türöffnung jeweils 19 Uhr. Eintritt frei – Kollekte. www.rotefabrik.ch / www.lichtspiel.ch

295/13 SURPRISE 295/13

25


BILD: ALPHONSE MUCHA

BILD: JAN MÜHLENTHALERS «GRAATZUG»

BILD: ZVG

Ausgehtipps

Tote Seelen auf dem Weg in die Walliser Gletscher.

«Unser Bier»: Männer kämpfen um die Vorherrschaft am Bügelbrett.

Basel Eiserne Männer

Zürich Bewegtes Ich

17 bis 22 Uhr, Brauerei Unser Bier, Gundeldinger-

German Jauregui will einen Ort der Ethik und Moral schaffen, und zwar mittels Tanz. Profane Zeit will er in heilige verwandeln, und so richtet er auf der Bühne «Confession» ein – eine Beichte: Ein Puzzlespiel, dass die Intimität des Geständnisses wahrt und uns an einem Moment der äussersten Privatheit teilnehmen lässt. «zürich moves!» heisst die zweite Ausgabe des Festivals für Zeitgenössischen Tanz, das vom Tanzhaus Zürich und dem Kino Riffraff wortwörtlich auf die Beine gestellt wurde, und Thema ist nichts weniger als die Identität. Das Ich-Sein. Mit dem Medium Film und auf der Bühne getanzt wird ein Blick hinter die Fassade der menschlichen Maskerade geworfen. Es wird gehen um: den Weg von toten Seelen hinauf zu den Walliser Gletschern. Oder um einen Faun, der Nymphen zu verführen gedachte und sich plötzlich nicht mehr sicher ist: War er in einen Traum verliebt? (dif)

strasse 287, Basel. Man kann entweder bügeln oder

zürich moves!, Festival für Zeitgenössischen Tanz,

seine Hemden zum Bügeln bringen.

2. bis 10. März, Tanzhaus Zürich, Kino Riffraff, Wäsche-

Anmeldung unter: info@unser-bier.ch

rei Kunstverein Zürich. www.tanzhaus-zuerich.ch

Während Heineken mit einem Werbespot Männer ansprechen will, die freudig grunzen, wenn sie einen Kühlraum voll Bier erblicken, und die Frauen lieben, welche ins Kreischen kommen, wenn sie einen Raum voller Schuhe sehen, wählt Unser Bier aus Basel den umgekehrten Weg. Die Kleinbrauerei organisiert zum Tag der Frau am 8. März, einen «Iron Man»-Event: Zugunsten des Frauenhauses sind Männer aufgerufen, gegen Entgelt Hemden anderer Männern zu bügeln, die sich dazu nicht fähig fühlen. Das klingt doch nach einem vernünftigen Angebot: bügelnd gegen überkommene Rollenbilder ankämpfen, mit einem Bierchen in der freien Hand. (fer) «First National Iron Men Charity Event», Fr, 8. März,

Anzeigen:

Dieses Bier lässt man sich gerne munden.

Zürich Muchas Makkaroni Muchas Makkaroni, so nannte man die üppigen Haarlocken, die der tschechische Künstler Alphonse Mucha um die Jahrhundertwende malte. Er prägte unser Bild der Belle Epoque mit seiner Handschrift, indem er unzählige Theater- und Werbeplakate gestaltete: Sinnliche Frauenfiguren mit verträumtem Blick verkörperten als Objekte der Begierde förmlich die aufkommende Kaufkraft um 1900. Sie warben im «Style Mucha» für Zigarettenpapier, Champagner und Ferien am Mittelmeer. Das war schönster Jugendstil. Und der ist heute nicht einfach vorbei. Muchas Stil erlebte in den Sechzigern und Siebzigern nämlich eine Renaissance und fand sich auf Konzertplakaten und Hippie-Plattencovers wieder. Und taucht heute in der Manga-Generation wieder auf. Schliesslich hat Mucha bei den Japanern vor über 100 Jahren auch ein bisschen abgeschaut. (dif) «Mucha Manga Mystery – Alphonse Muchas wegweisende Grafik», 6. März bis 14. Juli, Museum Bellerive, Zürich. www.museum-bellerive.ch

26

SURPRISE 295/13


BILD: TABEA HÜBERLI

BILD: ZVG

Rockhistoriker: My Name Is George.

Auf Tour Vorwärts in die Achtziger

Wie wachsen Städte? Die Zürcher Hardbrücke im Bau, 1972.

Winterthur Architektur im Bild

Zu den verlässlichsten Tanzkapellen des Landes gehören My Name Is George aus Winterthur. Seit zehn Jahren spielen sie Rockmusik aus den Geschichtsbüchern. Räucherstäbchen und Lavalampen tauchen vor dem geistigen Auge auf, sobald das Quintett seine Gitarren einstöpselt. Mit dem neuen Album «This Is Real» machen die Herren nun einen Schritt vorwärts, was in ihrem Fall bedeutet, dass sie nach den Sechzigern und Siebzigern nun die Achtziger entdecken. Da fanfart der Synthie und die Drums rumpeln im Disco-Rhythmus. Aber keine Bange: Neben Pomp gibt’s auch weiterhin Prog und Psychedelik im Popsongformat. (ash)

Wie wachsen Siedlungen zu Städten zusammen? Wieso verschränken sich Leben und Arbeit in Zürich anders als in Shanghai? Welche Ideologien wohnen eigentlich in einem Einfamilienhaus? Und vor allem: Wieso beeinflusst die Fotografie nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Gestaltung von Architektur? Diesen und anderen Fragen geht eine Ausstellung im Fotomuseum Winterthur auf den Grund, das dieses Jahr sein 20-jähriges Bestehen feiert. Neben Alltagsarchitektur und Prachtbauten, Haus und Heim, Utopie, Plan und Wirklichkeit spielt auch die Vergänglichkeit der Architektur und die Anziehungskraft von zerstörten Bauten eine wichtige Rolle. (mek)

Fr, 1. März, 20 Uhr, Musikbistro, Bern; Sa, 2. März, 21 Uhr, Kaff, Frauenfeld; Di, 5., 12., 19. und 26. März, jeweils 21.30 Uhr, La Catrina, Zürich; 8. März, 21 Uhr, Kuppel, Basel.

BILD: ZVG

«Concrete», 2. März bis 20. Mai, Fotomuseum Winterthur. www.fotomuseum.ch

Rache für Rabe: The Tarantinos spielen in der Reitschule auf.

Bern Occupy Reitschule 17 Jahre alt wird Rabe dieses Jahr und wird immer noch behandelt wie ein Halbwüchsiger. Das 1000. Mitglied wollte das Alternativradio letzten Herbst feiern, ein lang ersehnter, weil die Finanzen einigermassen sichernder Wert, und hatte sich dafür das leerstehende Restaurant Äussere Enge ausgesucht. Doch Vater Stadt machte Klein-Rabe einen Strich durch die Rechnung: Aus versicherungstechnischen Gründen verweigerte man der Veranstaltung die Erlaubnis – Polizeistunde schon vor Türöffnung. Jetzt erst Recht!, kann das Motto also nur heissen, wenn nun das jährliche, grosse Rabe-Geburifest ansteht. Abgehalten wird es traditionell in der Reitschule, einem Ort also, der seine Kämpfe mit Papa Stadt schon ausgefochten hat und bei dem nicht damit zu rechnen ist, dass man ihn plötzlich für unsicher hält. «Occupieren» will Rabe die Reitschule zur Sicherheit denn auch gleich, wie es in der Ausschreibung heisst. Doch dies ist nicht feindselig gemeint, sondern soll ausdrücken, dass Rabe im ganzen Haus, vom Frauenraum bis zum Dachstock, für kulturelle Darbietungen der Extraklasse sorgen wird. Ein doppeltes Hoch auf den Raben! (fer) Rabe Fest 2013, Fr, 8. und Sa, 9. März, Reitschule Bern. Detailliertes Programm auf www.rabe.ch, frühzeitiger Ticketkauf empfiehlt sich.

SURPRISE 295/13

27


Verkäuferinnenporträt «An kalten Tagen denke ich an Teneriffa» BILD: MADO

Fünf Tage die Woche steht Jela Veraguth am Limmatplatz in Zürich und trotzt dem Wetter. Dabei helfen ihr Erinnerungen an eine glückliche Ferienwoche in Spanien mit ihrem kranken Sohn. AUFGEZEICHNET VON MANUELA DONATI

«Im Moment habe ich viele Sorgen: Mein Ellbogen schmerzt, ich kann nicht einmal einen nassen Lappen auswringen. Ich war beim Arzt, aber der konnte mir nicht helfen. Zudem geht es meinem jüngsten Sohn Sascha wieder schlechter. Seit er 22 ist, leidet er an Diabetes und Polyarthritis. In letzter Zeit hatte er wieder schlimmere Zucker-Schübe und wegen der Polyarthritis Eiterbeulen an Händen und Füssen. Weil er seinen Fuss nicht mehr spürte, musste ich mit ihm in die Notfallaufnahme. Ich hatte grosse Angst, dass sie ihm den Fuss amputieren würden, dazu ist es dann aber zum Glück nicht gekommen. Auch mein Mann hatte im letzten halben Jahr viele gesundheitliche Probleme. Er wäre fast an einer Lungenentzündung gestorben. Einen Monat lang war er im Spital, eine ganze Woche lang lag er sogar im Koma. Das war eine schwierige und traurige Zeit für mich. Da mein Mann wegen der Lungenentzündung nicht mehr als Gabelstaplerfahrer arbeiten konnte, wurde es auch finanziell knapp für uns. Ausserdem musste ich meinen Schreibkurs abbrechen, vor lauter Sorge konnte ich mich nicht mehr auf die Buchstaben konzentrieren. Als Kind habe ich nie eine Schule besucht. Weil ich aber alles, was ich erlebt habe, aufschreiben möchte, habe ich vor drei Jahren mit diesem Kurs angefangen. Ein bisschen habe ich schon lesen und schreiben gelernt, kurze Worte gehen schon, längere bereiten mir aber noch Schwierigkeiten. Wenn es dann noch so viel schneit wie in den letzten Wochen und mir die Leute weniger Hefte abkaufen, dann ist es schon schwierig, nicht aufzugeben, gerade wenn man den Kopf so voll hat und sich ständig fragt, wie man all die Rechnungen bezahlen soll. Dennoch verkaufe ich gerne Surprise, schon seit neun Jahren arbeite ich am Limmatplatz und es gefällt mir hier. Ich habe ein paar Stammkunden und kenne die Verkäuferinnen der umliegenden Läden. Wenn das Wetter schlecht ist, ziehe ich mich halt einfach doppelt so warm an und rufe lauter. Immer wieder werde ich gefragt: ‹Wie kannst du nur so lange stehen?› Auch wenn ich bald 60 Jahre alt werde, macht es mir überhaupt nichts aus, den ganzen Tag auf den Füssen zu sein. Es gefällt mir, dass ich die Leute beobachten und mir dazu meine Gedanken machen kann. In die Schweiz bin ich 1977 gekommen. Ich bin in der Nähe von Belgrad in armen Verhältnissen aufgewachsen und wollte eigentlich nur einen Winter als Zimmermädchen in St. Moritz arbeiten. Doch dann verliebte ich mich in einen Bündner, der in der Tankstelle neben meinem Hotel arbeitete. Ich blieb also hier und drei Jahre später haben wir geheiratet. Damals war für mich der grösste Unterschied zwischen meiner alten und meiner neuen Heimat, dass es in der Schweiz immer warm ist in den Wohnungen. Darüber bin ich noch immer froh, denn in meiner Kindheit lebten wir ständig mit der Sorge, ob genug Holz und Kohle für den Winter da sei. Die Leute in meinem Dorf sind immer noch sehr arm. Wenn ich könnte, würde ich ihnen gerne Geld schicken, aber wie auch? Wir haben ja selber nicht genug. Mir gefällt es zwar in der Schweiz, aber

28

meine alte Heimat vermisse ich noch immer. Vor allem meine Familie. Meistens gehe ich so um 18 Uhr nach Hause. Dann koche ich für meinen Sohn und meinen Mann. Früher habe ich häufig jugoslawische Speisen gekocht, zum Beispiel Kohlsuppe mit Speck oder gefüllte Paprika. Jetzt mache ich meistens etwas, das auch bei vielen Schweizern auf dem Tisch steht: paniertes Schnitzel, Geschnetzeltes oder Fleischvogel. Wenn ich dann noch nicht zu müde bin, putze ich ein bisschen. Manchmal schaue ich aber einfach fern, wir bekommen jetzt einen jugoslawischen Sender rein mit Filmen und Musik aus meiner Heimat. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir wünschen, dass es meinem Sohn wieder besser geht. Als Mutter macht man sich eben immer Gedanken um seine Kinder. Und wenn es mir gelingen würde zu sparen, dann würde ich mit Sascha wieder nach Spanien fahren. Vor drei Jahren waren wir eine Woche auf Teneriffa. Die Menschen waren so freundlich und das Wetter war immer gut. Wir sind jeden Tag am Strand spazieren gegangen und mein Sohn hatte überhaupt keine Schmerzen. Es war wunderschön.» ■ SURPRISE 295/13


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Andreas Ammann Bern

Jela Veraguth Zürich

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Kurt Brügger Basel

Fatima Keranovic Basel

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Marika Jonuzi Basel

Peter Gamma Basel

‹›

Jovanka Rogger Zürich

Ralf Rohr Zürich

Anja Uehlinger Aargau

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

Telefon

Strasse

E-Mail

PLZ, Ort

Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

295/13 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 295/13

29


Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Geschenkabonnement für: Vorname, Name Impressum Strasse

PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name

Strasse

PLZ, Ort

Telefon

E-Mail

Datum, Unterschrift 295/13 Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

30

Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden (Nummernverantwortlicher), Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Amir Ali, Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Manuela Donati, Natalie Gyöngyösi, Homa Khaleeli, Hanspeter Künzler, Christof Moser, Nandor Nagy, Eva Rosenfelder, David Smith, Helena Smith Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15000, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83, M +41 79 428 97 27 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10, F +41 61 564 90 99 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat, David Möller o.joliat@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 295/13


BILD: DOMINIK PLÜSS

Surprise Da läuft was

Strassenfussball Benefizturnier – jetzt anmelden!

Strassenchor Auf in die vierte Saison!

Am Samstag, 13. April 2013 findet von 17 bis 23 Uhr unser traditionelles Benefizturnier in der Sporthalle Bäumlihof in Basel statt. Auch in diesem Jahr werden die Spiele dieser intensiven und schnellen Sportart unter anderem von der ehemaligen FIFA-Schiedsrichterin Nicole Petignat und zwei aktuellen holländischen FIFASchiedsrichtern des Homeless World Cup geleitet. Zur Eröffnung begrüsst uns alle ein Vertreter aus der Basler Politik.

«Gemeinsames Singen ist wundervoll – ich bin glücklich, dabei zu sein!» Nadine Gartmann (Chorsängerin)

BILD: ZVG

Rund 150 sozial benachteiligte Menschen aus der Deutschschweiz spielen in der Surprise Strassenfussball Liga. Wir benötigen eure Hilfe, um dieses Sportprojekt nach vorne zu kicken! Wenn du mit deinem Team beim Benefizturnier am Ball sein willst, informiere dich auf www.strassensport.ch oder sende direkt eine EMail an l.biert@vereinsurprise.ch. Verpasse nicht die Chance, gegen Mannschaften unserer Hauptsponsoren Hyundai und Erdgas sowie gegen die Surprise-Nationalmannschaft anzutreten!

Der Surprise Strassenchor mit seinen 18 Mitgliedern hat den Probenbetrieb im neuen Jahr wieder aufgenommen. Der Chor ist international zusammengesetzt und gibt seit 2009 Surprise-Verkaufenden und Mitgliedern anderer sozialer Organisationen eine Möglichkeit zu regelmässiger musikalischer Aktivität. Der Surprise Strassenchor singt Lieder aus aller Welt und liefert den lebendigen Beweis, dass Singen und Musik Herz und Gemüt erfreuen und die Gemeinschaft stärken, auch wenn wenig musikalische Vorkenntnisse vorhanden sind. Bei allen Teilnehmenden nimmt die zweistündige Chorprobe einen festen Platz im persönlichen Wochenkalender ein. Für viele von ihnen ist die Probe ein wichtiger Ort, um Spass, Gemeinschaft und das Gefühl des Angenommenseins zu erleben. Die Proben finden jeweils am Dienstag von 17 bis 19 Uhr in der Musikschule «archemusia» statt. Eingeladen sind alle, die Freude am Singen haben und Lust, sich regelmässig zu treffen. Anmeldungen und weitere Informationen: p.selma@vereinsurprise.ch, 061 564 90 40 oder www.vereinsurprise.ch Proberaum: Kinder Musikschule «archemusia», Aeschenplatz 2, 4052 Basel

Hier könnte Ihre Werbung stehen. Werfen Sie Ihr Werbegeld nicht auf die Strasse. Investieren Sie es dort. Anzeigenverkauf, T +41 76 325 10 60, anzeigen@vereinsurprise.ch SURPRISE 295/13

31


Von Aarberg bis Zuoz. Surprise gibt es beim Strassenhändler Ihres Vertrauens. Oder im Abo per Post.

24 Ausgaben für 189 Franken oder als Gönner-Abo für 260 Franken. Gutes lesen, Gutes tun und gleich bestellen! www.vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch, Spendenkonto PC 12-551455-3 Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.