800 Aromen Die Schweiz entdeckt den echten Kaffeegeschmack
Familienrat – wie Demokratie am Wohnzimmertisch geübt wird
«Der Lauf der Dinge»: Kurzkrimi von Sabina Altermatt
Nr. 306 | 9. bis 22. August 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.
Lösungen aus Heft 304 und 305
Mittelschwer
Lösungswort aus Heft Nr. 304: All you need Wir bedanken uns für die zahlreich eingesandten Lösungen! Die Gewinner sind: 1. Preis: Nathalie Becker, Wattwil 2. Preis: Peter Bloesch, Winterthur 3. Preis: Jürg Reller, Zürich
Teuflisch schwer
Surprise singt – auch für Sie!
Surprise fördert seit 1997 die Selbsthilfe von Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Das Magazin erscheint 14-täglich und wird auf den Strassen der deutschen Schweiz von über 200 Verkaufenden angepriesen. Surprise geniesst eine breite öffentliche Unterstützung.
Für unsere Geschäftsstelle Basel suchen wir:
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www.vereinsurprise.ch SURPRISE 306/13
Titelbild: iStockphoto
Vergessen Sie Coffee to go mit Extrashot und Zimtgeschmack, vergessen Sie die Nespresso-Kapsel. Wir bereiten Ihnen den perfekten Kaffee zu – oder bieten zumindest die Anleitung dazu. Was heute zählt, ist allein die Bohne. Aber die richtige, und richtig zubereitet. Damit kennen sich Reto Häner, Dina Horowitz und James Page aus. Sie betreiben eine Kleinrösterei in einem Basler Wohnquartier und hören persönlich den Bohnen zu, wie sie knacken in der grossen, glänzenden Röstmaschine, Marke Coffeetool. Und eben haben sie ihren Produzenten in Ecuador einen Besuch abgestattet, um zu sehen, woher ihre Ware wirklich kommt. Heute ist Genuss mit Gewissen gefragt. Früher, als das «braune Gold» noch nicht eine ausgesaugte Leerformel war, sondern eine Tatsache, gab es Kaffee nur in teuren Kaffeehäusern. Und man geht immer noch oft davon aus, dass ohne eine Maschine von mehreren Tausend Franken kein richtig guter Kaffee zu haben sei. Das ist falsch. Unser Gastrokolumnist klärt auf S. 13 auf: Es geht auch mit wenig Geld. Jeder kann guten Kaffee machen. So demokratisch ist Kaffeetrinken heute geworden.
BILD: ZVG
Editorial Kaffee und Kuchen
DIANA FREI REDAKTORIN
Auch etwas ganz anderes ist in den letzten Jahren demokratischer geworden: die Erziehung. Immer mehr Familien, hört man zumindest im privaten Umfeld, halten bei Kaffee und Kuchen sogenannte Familienräte ab. Da hängen in der Küche kleine Plakate, auf denen steht: «Am Familienrat beschlossen: Nicht mehr sofort dreinschlagen, sondern sagen, wenn man wütend ist.» Oder: «Noëmi kriegt ab nächsten Monat einen Franken mehr Sackgeld, wenn sie abwaschen hilft.» Auch in der Schule wird immer mehr diskutiert statt Gehorsam verlangt. So überlegen sich die Schüler im Klassenrat gemeinsam, wohin die Klassenreise gehen soll oder wie man sich im Konfliktfall am besten verhält. Die Kinder werden heute zum Reden angeleitet. Widerspruch ist verlangt, denn er bedeutet, dass die Menschen mitdenken. Und Verantwortung übernehmen. Wer allerdings oft nicht mitreden kann, sind Menschen mit Handicaps. Gerade die technischen Möglichkeiten des Internets wären eine einzigartige Chance für Behinderte, aber oft wird nicht daran gedacht, diese auch tatsächlich zugänglich zu machen. Was zu Absurditäten führt. Lesen Sie die Groteske auf S. 14. Und reden Sie bei Gelegenheit mit. Herzlich Diana Frei PS: Wir freuen uns, dass der Text «Im Nichts», den mein Kollege Florian Blumer geschrieben hat (Surprise Nr. 283/12, «Feindbild Flüchtling»), für die INSP-Awards 2013, die Auszeichnungen des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen, in der Kategorie «Best Feature Story – writing for Social impact» nominiert ist.
Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 306/13
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10 Kaffee Edle Bohne statt Nescafé Erst war er ein exotisches Getränk, welches die Elite in Kaffeehäusern schlürfte, dann fing die ganze Welt an, sich mit heissem Wasser Nescafé anzurühren, und jetzt kommt die dritte Welle der genussvollen Koffeinzufuhr bei uns an: Zum vollendeten Lifestyle gehört heute nicht nur das Wissen um Bohnen, Brühtemperaturen und Druck, sondern auch das gute Gewissen. Ein Besuch bei jungen Kaffeeröstern in Basel, die ihren Kaffee als Erste in der Schweiz zu 100 Prozent direkt aus Ecuador einführen.
BILD: MATTHIAS WILLI
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Inhalt Editorial Reden Sie mit Die Sozialzahl Können wir uns den Sozialstaat leisten? Aufgelesen Stadtführung kommt gut an Zugerichtet Blaue Eier und Schwedenküsse Leserbriefe Eine Stunde Mittagspause Nachruf Andreas Hilfiker Porträt Versteckt in Waldlichtungen Kurzkrimi Das grüne Paket Fremd für Deutschsprachige Jugend auf Abwegen Zauberlaterne Mehr als ein Kinderfilmklub Kultur My Way auf Französisch Ausgehtipps Gastlichkeit als Kunst Fussballerporträt Koksen in der Gastrobranche Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP
14 Barrierefreiheit Treppensteigen im Internet BILD: FOTOLIA
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Wenn ein Rollstuhlfahrer in einem Gebäude aufs WC gehen kann und ihm keine Treppe den Weg in den dritten Stock versperrt, ist das behindertengerecht. Im Internet ist es nicht anders. Der technologische Fortschritt bietet grosse Chancen für Behinderte, um am beruflichen und sozialen Leben teilzunehmen. Gleichzeitig bietet er oft auch die höchsten Hürden. Dann zum Beispiel, wenn die monotone Computerstimme, die den Blinden durch eine Website führen sollte, nur Unsinn brabbelt. Die Zürcher Stiftung «Access for all» kämpft für Barrierefreiheit.
16 Erziehung Debattieren mit Mami und Papi
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BILD: PETER LAUTH
Die Zeiten, in denen der Vater das Sagen hatte und die Kinder gehorchten, sind passé. Dafür hält die Sitzungskultur Einzug ins heimische Wohnzimmer: In der Familie werden Verhandlungen geführt, Protokolle geschrieben und Beschlüsse gefasst. Die Kinder reden mit und übernehmen Verantwortung. Erzogen werden sie trotzdem: Zu mündigen Mitgliedern einer demokratischen Gesellschaft.
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Die Sozialzahl Gut tragbarer Sozial st
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Kann sich die Schweiz ihren Sozialstaat noch leisten? Diese Frage beschäftigt vie le. Die Alten haben An gst , dass ihnen die AHV-Renten bald gekürzt werden könn ten , die Jungen glauben gar nicht mehr, dass sie später eine Re nte be ko mmen werden. In den letzte n Revisionen der Arbe itslosenversicherung (ALV) und der IV wurden einschneidend e Leistungskürzungen für Stellensuch ende und behinderte Me nschen vorgenommen. Die Begründung war einfach: Wenn nichts gemacht wird, laufen die Ausgaben den Einnahmen davo n un d der Schuldenberg kann auf lan ge Sicht nicht mehr ab gebaut werden. Diese Reformen habe n an der Urne Mehrheit en gefunden. Inzwischen wird auch he ftig über eine Schulden bremse bei den verschiedenen Sozialve rsicherungen gestritten . Die ALV hat sie schon, bei der IV konnte sie verhindert werden, für die AHV wird sie erneut aus wirtschaftsnahen Kreisen gefordert. Eine solche Schulden bremse umgeht die de mokratische Auseinandersetzung, ind em sie quasi autom ati sch einen Ausgleich zwischen wach senden Ausgaben und po litisch festgeschriebenen Einnahm en herstellen soll – un ter Ink aufnahme weiterer Verschlechter ungen bei der sozialen Sic he rhe it. Die sozialpolitischen Schlagzeilen der letzte n Ze it vermitteln den Eindruck, dass schleunigst das Ruder herumgeworfen werden sollte, weil son st der Sozialstaat auf ein Riff auflaufen und untergehen würde . Dieser Polemik ist ein e Statistik entgegen zu halten, welch e die Entwicklung der So zialausgaben und der sozialstaatlich en Einnahmen mit de m wirtschaftlichen Wachstum vergle icht. Das Verhältnis zw ischen den Sozialversicherungseinn ahmen und dem Bru ttoinlandprodukt
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t für Sozialversic
herungen
ein Indikator für (BIP) wird Soziallastquote genannt. Sie ist durch die Sozialdie relative Belastung der Volkswirtschaft ntlichen aus versicherungseinnahmen, die sich im Wese etzen. Die SoLohnabzügen und Konsumsteuern zusammens , welchen Teil zialleistungsquote gibt Auskunft auf die Frage ängerinnen und der gesamten Wirtschaftsleistung die Empf beanspruchen. ngen lleistu Sozia ichen Empfänger von staatl Sozialtransfers en zahlt ausbe der en Sie vergleicht das Volum Jahr. einem in ng mit der wirtschaftlichen Leistu wird ob dem Wer nun einen Blick auf die Grafik wirft, eder ententw en Kurv n «langweiligen» Verlauf der beide letzten einem Seit sein. t täuscht, überrascht oder beeindruck jahre ziger Neun der e deutlichen Anstieg in der ersten Hälft gleich r imme einem verlaufen beide Quoten praktisch auf r auf der Seite hohen Niveau. Der Sozialstaat wächst wede ller als die schne der Einnahmen noch auf jener der Ausgaben dass der sein, n Wirtschaft. Es kann also keine Rede davo Sozialstaat aus dem Ruder laufen würde. lichen LaIm Gegenteil: Die Schweiz ist in der wirtschaft n zu können. ge, sich einen gut ausgebauten Sozialstaat leiste n der demoDie steigenden Ausgaben – insbesondere wege svorsorge in abgrafischen Entwicklung wird es in der Alter en durch das sehbarer Zeit mehr Mittel brauchen – werd ziert. Welfinan gegen dukts ndpro Wachstum des Bruttoinla ökonomikeine darum ist hat, eiz chen Sozialstaat die Schw Frieden len sozia Den . Frage sche, sondern eine politische umnicht es gibt nhalt mme und den gesellschaftlichen Zusa n. leiste lstaat Sozia den sonst. Wir können und dürfen uns SURP RISE. CH) CARL O KNÖP FEL (C.KN OEPF EL@V EREIN M WOM FUS, BILD : SIMO N DREY
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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
Lob für Surprise-Stadtrundgänge Stuttgart. Der soziale Stadtrundgang der Kollegen aus Stuttgart stand Pate für die Surprise-Rundgänge in Basel. Unlängst war Stadtführer Thomas Schuler in Basel, um sich vor Ort anzuschauen, was daraus geworden ist. «Ich habe mein Hobby zum Beruf machen können und gedacht, das sei das Beste, was mir passieren konnte. Dass es noch besser geht, habe ich bis jetzt noch nicht gewusst», resümiert Schuler nach seinem Besuch. Vielen Dank!
Einsam im Massenlehrbetrieb Dortmund. Mit fast 40 000 Studenten zählt die Universität Bochum zu den grössten Deutschlands. In internationalen Vergleichen wird sie regelmässig der Kategorie «Weltelite» zugerechnet. Die Erfahrungen ehemaliger Studenten stehen im Kontrast dazu. Sie berichten von Vereinsamung, mangelnder Betreuung und heillos überfüllten Hörsälen. Die Uni-Leitung widerspricht diesen Darstellungen. Doch die Statistik deutet darauf hin, dass die Ruhr Universität Bochum Probleme hat: Die Uni weist die höchste Selbstmordrate aller deutschen Hochschulen auf.
Aufschreckende Abschreckung München. In einem Münchner Vorort wollte eine Bürgerinitiative eine Sammelunterkunft für Asylsuchende verhindern. SPD-Landrätin Rumschöttel kritisiert dabei die Politik: «Die Regierung richtet als Mittel der Abschreckung Sammelunterkünfte ein.» Diese würden dann von Bürgerbegehren instrumentalisiert. Die Initianten führten eine wilde Mischung an Argumenten an: Schutz der Senioren, Schattenwurf des Neubaus – gar die unmenschlichen Bedingungen für die Flüchtlinge.
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Zugerichtet Champagner fürs Mädchen Der entthronte Zürcher Kebabkönig hat sich dispensieren lassen. Warum, erfährt man nicht. Auch wenn dies seiner Berufung am Zürcher Obergericht nicht zum Vorteil gereicht, so schadet es auch nicht, denn Herr Gökhan gilt nicht als Sympathieträger. Er gibt sich ganz offen als Misanthrop, ist leicht reizbar, gewalttätig und vorbestraft. Nach einem Sonntagsspaziergang mit seinen zwei Töchtern gelüstete Herrn Gökhan nach Whisky und Unterhaltung für Erwachsene. Zu diesem Zwecke suchte er ein Etablissement im Niederdorf auf. Ludmilla gesellte sich zu ihm, trank Champagner auf seine Kosten. Als der Chef sie zum Stripteasetanzen auf die Bühne beorderte, goutierte Herr Gökhan das gar nicht. Er habe schliesslich 200 Franken in das Mädchen investiert, krakeelte er herum, und wolle jetzt etwas von ihr haben. Der Barbesitzer gab ihm zu verstehen, dass er hier der Boss sei, und begleitete ihn zur Türe. Just in dem Moment verliessen zwei andere Gäste die Venus-Bar. Es gab ein Gerempel. Herr Gökhan zog auf der Strasse seinen geladenen Revolver und feuerte auf die jungen Männer fünf Schüsse ab. So weit herrscht Einigkeit unter den Beteiligten. Die Sache mit dem Revolver passierte bereits vor acht Jahren, beschäftigte mittlerweile vier Gerichte und mehrere Gutachter, und der Pflichtverteidiger, auch schon der vierte, kündigt gleich zu Beginn an, wohin die Reise gehe, wenn das Obergericht seinen Forderungen nicht nachkomme: «Nach Lausanne und, wenn nötig, bis nach Strassburg.» Schliesslich gelte es, sämtliche Rechtsmittel auszuschöpfen, damit die Ausschaffung seines Mandanten in die Türkei verhindert wer-
de, denn das wäre für diesen «die Todesstrafe». Herr Gökhan war wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zu fünfeinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. 44 Monate hat er bereits abgesessen. Sein Pflichtverteidiger fordert einen Freispruch. Sein Mandant habe aus reiner Notwehr die Schreckschüsse gegen die beiden jungen Kosovo-Albaner abgegeben. «Abgesehen davon kann man mit diesem Damenrevölverli noch nicht mal einen Chüngel töten», meint er zur Waffe, einem Mini-Revolver. Dem widersprechen freilich mehrere Gutachten. Auch kleinkalibrige Munition kann töten. Und wieso hat Herr Gökhan seine unerlaubt besessene Waffe nicht zuhause gelassen? Um sich verteidigen zu können. Bekanntlich sei das Einfordern von Schutzgeldzahlungen zur Finanzierung von politischen Organisationen im Heimatland keine Seltenheit in diesen Kreisen. Als sich sein Mandant einst weigerte zu bezahlen, sei er angeschossen worden, seither leide er unter Verfolgungswahn. Pöbelt jemand, der unter massiven Ängsten leidet, in Nachtclubs rum? Wohl kaum, meint der Staatsanwalt. Der «aggressive Tunichtgut» habe im Ausgang selber ständig Streit gesucht, Schwedenküsse verteilt, das halbe Niederdorf könne ein Liedchen davon singen. Der Strafantrag der Anklage lautet auf sechs Jahre Freiheitsstrafe. Die Richter kommen zu keinem Urteil mehr an diesem Tag. Jetzt komme es ja wohl auch nicht mehr auf ein paar Wochen mehr oder weniger an. Herr Gökhan kann vorerst weiter Kebabs verkaufen – als Angestellter seines Bruders. * persönliche Angaben geändert. ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 306/13
Leserbriefe «Für mein Mittagessen habe ich mir eine ganze Stunde Zeit genommen» Nr. 303: Holcims Hinterhofarbeiter
Nr. 302: Wasserschlacht
Erstklassig Ihr Editorial über die «Arbeitstiere» ist erstklassig. Richtig lustig! Gratuliere! Margret Renner, Bern
«Reisserische Schlagzeilen» Als bekennender Surprise-Leser habe ich natürlich auch die letzte Nummer gekauft, wie fast immer bei Kumar, dem markanten Verkäufer in der Berner Bahnhofunterführung, der ein treuer Gast beim Präsenzdienst der Offenen Kirche Heiliggeist ist, gleich neben dem Bahnhof. Dabei ist mir auf dem Titelbild gleich die Linthebene ins Auge gesprungen. Die Gegend ist mir seit Langem vertraut, und ich habe beim Vorbeifahren jeweils mit Freude die Fortschritte bei der Sanierung des Linthwerks beobachtet. Aber was soll die Schlagzeile «Wasserschlacht»? Der Artikel zeigt ja gerade, wie es möglich war, bei diesem grossen Werk die verschiedenen Interessen einigermassen unter einen Hut zu bringen! Dies ganz im Gegensatz zum Linthwerk vor 200 Jahren; sein Schöpfer, Conrad Escher von Linth, ist daran zerbrochen. Meine Bitte: Lassen Sie sich nicht zu Blick-artigen, reisserischen Schlagzeilen verführen! Das hat Surprise gar nicht nötig. Urs Steinemann, Bern
«Basler Stadtsound» Oft schon bin ich an einem, zumindest zum «Basler Stadtsound» gehörenden, «Süürpriiiis-Verkäufer» vorbeigekommen, und jetzt habe ich zum ersten Mal eine Surprise-Zeitung gekauft. Zwischen Mittagessen und der nächsten Sitzung habe ich mir kurz Zeit genommen, reinzulesen. Und da war sie – die Reue, Surprise nicht schon früher gekauft zu haben! Entlarvt war ich schon beim Editorial («… Selbstausbeutung gehört zum guten Ton»). Für mein Mittagessen habe ich mir eine ganze Stunde Zeit genommen – das gab es schon lange nicht mehr. Samantha A. Schaffner, Basel «Ihr habt mich inspiriert» Nach 80 Tagen und 2200 Kilometern zu Fuss, in denen ich jede Magazin-, TV- und Radio-News verweigerte, habe ich euer neues Heft gekauft. Es war einer der ersten wichtigen Schritte wieder zuhause. Und ich habe es nicht bereut! Jetzt weiss ich wieder mehr über die ganze Heuchelei in der Welt und dass es auch positive Meldungen gibt. Und vor allem habt ihr mich inspiriert, zum Beispiel zu diesem Leserbrief. Kurt Baldauf, Luzern
Nr. 301: Ausgeträumt «Es ist so einfach, Politiker zu demontieren» Seit über einem Jahr lese ich Surprise regelmässig, da einer Ihrer Verkäufer in meinem Block wohnt. Ihre Beiträge fand ich bis anhin zwar kritisch, aber differenziert, das heisst ausgewogen, was die Argumente und Hintergründe eines Problems oder Themas anbelangt. Dass Sie sich vor allem mit Themen von Randständigen, Zukurzgekommenen befassen, ist für mich selbstverständlich, und ich begrüsse es sehr, gibt Surprise ihnen ein Gesicht. Was Sie mir aber nun in der Surprise Nr. 301 zumuten, finde ich äusserst billig und Ihrer Zeitung nicht würdig. Wenn Sie persönlich den Bastelbogen mit dem Bundeshampelmann lustig finden, ist das Ihre Sache, diesen aber den Leserinnen und Lesern vorzusetzen, finde ich sehr billig, ja geradezu primitiv. Es ist so einfach, Politiker zu demontieren, wenn man selber nicht in der Verantwortung steht! Susanna Urfer, Burgdorf
Nachruf Andreas Hilfiker Andreas Hilfiker hat sich am 23. Juni vom Leben verabschiedet. Mit Andi haben wir einen charmanten, intelligenten, aber auch nachdenklichen und manchmal grüblerischen Menschen verloren. Er war der erste Surprise-Verkäufer in Luzern. In einem Porträt, das vor zwei Jahren im Heft erschien, bezeichnete er sich als «Stadteinsiedler» und sagte illusionslos: «Dass ich auf dem Trottoir Magazine verkaufe, ist für mich eine Endstation.» Er hatte einige Semester Philosophie studiert und schrieb Texte, die er «Weltuntergangsgeschichten» nannte und in der Luzerner GasseZiitig veröffentlichte. Neben diesen dunklen Seiten verfügte Andi auch über Schalk und Charme, der ihm bei der Käuferschaft genauso Sympathien einbrachte wie die selbstverfassten Gedichte, die er seiner Kundschaft gerne vortrug. Für sein Grab wählte er selber eine Inschrift aus: «Eine intakte Seele ist das wahre Gut des Menschen». SURPRISE 306/13
Armut Armut ist Weinen ohne Tränen Sehnsucht ohne Hoffnung Leben ohne Du Demut ohne Wahl Menschen ohne Blicke Armut heisst jeden Tag ein bisschen Weltuntergang (Andreas Hilfiker)
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Porträt Auf Rädern daheim Wenn sie zur Schule durfte, musste sie immer einen anderen Weg nehmen. Die Verfolgung der Jenischen hat Maria Mehr geprägt. Heute ermöglicht sie den Sesshaften mit ihrem mobilen «Zigeuner-Kulturzentrum» Einblicke ins Leben der Fahrenden. VON EVA ROSENFELDER (TEXT) UND ANDREA GANZ (BILD)
Auf einer Reise begegnete die damals 17-Jährige ihrer grossen Liebe. Mit David Burri blieb sie über ein halbes Jahrhundert zusammen, bis er vor zwei Jahren an einer schweren Krankheit starb. «Das ist eine riesige Lücke, als wäre ein Stück meines Herzens herausgerissen worden.» Schmerz überflutet das Gesicht der schwarz gekleideten zierlichen Frau. Es wird ruhig im Wohnwagen. Schwere Zeiten seien es gewesen. Sie habe ihn gepflegt, zuerst im Wohnwagen, dann sei sie zwischen Spital und «Rotel» – dem Wohnwagen – hin und her gefahren. Er habe gekämpft, doch keine Chance gehabt, sei einfach innerhalb eines Jahres hinweggerafft worden. 50 gemeinsame Jahre unterwegs, unzählige Hoffnungen, Kämpfe, Projekte. Die beiden lebten von den alten Tätigkeiten der Fahrenden: Korben, Stuhlflechten, Schirmflicken, Textilien verkaufen, Antiquitätenhandel. Die grösste Leidenschaft aber waren ihre Araber-Pferde, die zur fahrenden Lebensweise dazugehörten. Maria Mehr versteht sich auch aufs Kartenlesen, eine Begabung, die sie von ihrer Grossmutter hat. «Wir Jenischen verdienen unser Leben mit Vielseitigkeit, jeder Tag präsentiert sich wieder anders. Ich habe so vieles erlebt auf Reisen», sinniert sie, «sogar eine Taufe unter freiem Himmel.» Eigene Kinder hat Maria Mehr keine. Doch da ist ihr Göttibueb
Nicht weit vom Bahnhof sei ihr Standplatz. Den Bahngeleisen entlang, vorbei an den Containern des Asylbewerber-Zentrums – dahinter würde ich die Wohnwagen gleich sehen. Sie werde zur vereinbarten Zeit draussen stehen und mir winken. Maria Mehr ist eine Jenische. Schätzungsweise 30 000 Personen zählt heute die Gemeinschaft der Fahrenden in der Schweiz, eine grosse Mehrheit von ihnen lebt allerdings sesshaft, und viele von ihnen verschweigen ihre Herkunft lieber. Grund dafür sind die schmerzlichen Erfahrungen, die viele Jenische im Rahmen der Pro-Juventute-Aktion «Kinder der Landstrasse» haben erdulden müssen. «Diese Wunden sitzen tief», sagt Maria Mehr und ihre blaugrünen Augen funkeln, «das kann und darf nie vergessen werden. Eine Institution wie die Pro Juventute hätte nie mehr weiter existieren dürfen.» Geboren 1943, blieb Maria als jüngstes Kind der Familie Mehr zwar verschont von der sogenannten Vagantenverfolgung, doch ihre beiden älteren Brüder wurden eines Tages einfach abgeholt: «Über drei Jahre mussten sie in Heimen und an Pflegeplätzen verbringen. Sie haben viel mitgemacht.» Dank dem unermüdlichen Kampf der Eltern konnten die Buben schliesslich wieder heim. «Meine Eltern waren voller Maria Mehrs Vater war der beste der Welt: «Alles hat er mit Angst. Ständig wechselten wir den Standplatz, uns geteilt. Hatte er mal einen Cervelat, so bekam jedes von versteckten uns in Waldlichtungen. Wenn ich uns ein ‹Rugeli›.» wieder für eine Weile die Schule besuchen durfte, holte mich der Vater immer ab. Ein ‹Gspänli› durfte ich keines haben, es hätte ja das Kind eines Beamten mit seiner Frau, die sich beide liebevoll um sie kümmern. Früher hatte sein können. Jeden Tag musste ich einen anderen Heimweg nehmen, der sie stets Kinder am Rockzipfel, auch die der Sesshaften, von denen manVater wartete immer woanders – niemand sollte mir abpassen und mich che sie heute noch gerne besuchen. Etwa ihr Meitli – notabene eine gemitnehmen können. Weil ich oft in der Schule fehlen musste, wurde mir standene Frau – die jeden Morgen kurz hereinschaut und auch heute an auch ein Teil der Bildung gestohlen.» die Türe klopfen und sich dazusetzen wird. Draussen zwitschern die Vögel, die Wohnwagentüre steht offen, KafAls sich die Opfer von «Kinder der Landstrasse» anfangs der Siebzifeeduft hängt in der Luft. Den Standplatz in Adliswil haben Maria Mehr gerjahre organisierten, waren Maria Mehr (deren Cousine Mariella Mehr und ihre Sippe ganzjährig gepachtet. «So können wir auch während der als Autorin über die Verfolgung von Jenischen publizierte) und David Reisezeit im Sommer etwas hierlassen oder zurückkehren, wenn wir keiBurri dabei. Von der ersten Stunde an engagierten sie sich für die Anlienen Durchgangsplatz finden.» Die 70-Jährige ist im Wohnwagen geboren gen der Fahrenden, kämpften um mehr Lebensraum und Durchgangsund hat zeitlebens so gelebt: «Meine Heimat ist auf Rädern, ich bin und plätze. Sie waren Mitglieder der «Radgenossenschaft», später gingen sie lebe gern jenisch.» Abgesehen von der Verfolgung der Fahrenden habe eigene Wege und gründeten 1985 mit Freunden das «Fahrende Zigeunersie eine glückliche Kindheit gehabt, sagt Mehr. Der Vater handelte mit Kulturzentrum». In den Sommermonaten zogen sie fortan mit WohnwaMetall und Eisen – die Tochter verehrt ihn bis heute: «Er war der beste gen, Festzelt und Pferden durch die Deutschschweiz. Bis heute veranVater der Welt, lebte nur für seine Kinder. Alles hat er mit uns geteilt. staltet Maria Mehr in verschiedenen Städten «Zigeuner-Kulturtage», um Hatte er mal einen Cervelat, so bekam jedes von uns ein ‹Rugeli›, für sich den Sesshaften die jenische Kultur nahezubringen. selbst nahm er fast nichts. Manchmal gingen wir mit ihm Beeren suchen Letzten Winter erlitt sie eine Lungenentzündung, das hat sie sehr mitim Wald, einen Riesenkessel voll. Dann gab’s Birchermüesli – einen genommen. Es sei der Heustaub, den sie bei der Pferdepflege eingeatmet prächtigen Topf voll, an dem wir uns mehrere Tage lang satt essen konnhabe. Das chronische Asthma mache ihr schon lange zu schaffen, und ten.» jede Erkältung bedeute ein Risiko. Das Reisen aber wird sie nicht aufgeSchon im zarten Alter ging Maria mit der Mutter «Schränzen», also ben. Jeden Frühling geht es los. Sind die Anhänger vorgeführt, das Hausieren. «Die Mutter war eine geschickte Händlerin. Sie hielt SeilerFleisch für unterwegs eingekauft, dann können weder Wind noch Wetwaren und Textilien feil.» «Fineli», wie Maria Mehr von ihren Leuten bis ter sie abhalten, die Wagen brechen auf – die nächste Reise ruft. ■ heute genannt wird, lernte früh das Handwerk, mit fünf Jahren schon bot sie Ware feil, als Zwölfjährige verdiente sie selbst ihr Brot. Maria Mehrs Fahrendes Zigeuner-Kulturzentrum: www.zigeunerkultur.ch SURPRISE 306/13
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Kaffee Besser als Fair Trade Die Jung-Röster Reto Häner und Dina Horowitz sind soeben zurück von einer Ecuador-Reise, auf der sie ihre Kaffee-Bauern besucht haben. Als erste Schweizer setzen sie mit ihrer Basler Kleinrösterei ausschliesslich auf direkten Handel – und treffen damit den Nerv einer wachsenden Gemeinde von Kaffeegeniessern.
VON OLIVIER JOLIAT (TEXT) UND MATTHIAS WILLI (BILDER)
ern, deren Anbaumethoden und Kooperativen-Stukturen sie sehr genau kennen. Horowitz und Häner sind gerade von einer Reise nach Ecuador zurückgekehrt, wo sie einige ihrer Kaffeebauern trafen und sich über die Anbaumethoden informierten und über ihre Probleme sprachen. Horowitz berichtet: «Obwohl der Kaffee nicht in Monokulturen, sondern frei von Chemie im Mischwald nach altem Symbioseprinzip mit anderen Früchten und freilaufenden Viechern gezogen wird, ist er von der ‹Roya›, dem Kaffee-Rost, bedroht. Menschengemachte Gefahren für die Kooperativen sind die Ölförderung im Amazonasbecken und der Kaffeediebstahl.» Eigentlich hätten sie aber vor allem Zukunftsträchtiges gesehen: «Viele Kooperativen werden von innovativen und gut ausgebildeten Leuten geleitet, die nach Studienaufenthalten wieder zurück ins Dorf zogen. Die wissen, was Qualität wert ist.» Um ihre Erfahrungen mit den Kunden zu teilen, veröffentlichten Horowitz und Häner ein ausführliches Reisetagebuch auf ihrer Website.
«Die Schweiz steckt noch in der Kaffee-Steinzeit», schüttelt Röster Reto Häner den Kopf. Dann setzt er nochmals die Kopfhörer auf, horcht, wie die Bohnen knacken, kontrolliert die Röstkurve auf dem Bildschirm, und schon prasseln die veredelten Bohnen braun und duftend ins «Chillout-Becken». Heute wird bei Hænowitz & Page ein Blend geröstet, also eine Mischung verschiedener Kaffeesorten. Gemeinsam ist den Bohnen die hohe Qualität und dass sie direkt von Bauern-Kooperativen gekauft wurden. «Direct Trade», direkter Handel, nennt sich dies im Fachjargon. Die Hinterhof-Rösterei in einem biederen Wohnquartier nahe dem Basler Schützenmattpark bietet also quasi einen «Kaffee ab Hof»-Verkauf und leistet damit wertvolle Entwicklungsarbeit – vor allem für die Schweiz. Die Schweiz als Kaffee-Entwicklungsland – das mag erstaunen. Berichteten die Zeitungen doch gerade, dass die Schweiz die «führende Nation» im Geschäft mit der begehrten Bohne sei. Das klingt zwar so unMehr Aromen als im Wein Heidi, wie eine Segelnation zu sein. Doch geht es beim Kaffee nicht um Für das Kilo Bohnen zahlen Hænowitz & Page gut das Doppelte des die sportlichen Ambitionen eines Milliardärs, sondern um ein MilliarFairtrade-Preises, und erst noch im Voraus. Horowitz und Häner sagen, dengeschäft für viele: Nach Rohöl ist die Kaffeebohne der zweitmeist gesie fühlten sich dennoch nicht als Wohltäter oder Entwicklungshelfer. handelte Rohstoff der Welt, rund 80 Prozent des weltweiten Handels laufen über die Schweiz. 4,67 Milliarden Franken erwirtschaftete die heimische Kaffeebranche Lieber als in die Zertifizierung investieren Hænowitz & Page im letzten Jahr, inklusive Röstereien und Herihr Geld direkt in die Bauern, deren Anbaumethoden und stellern von Kaffeemaschinen, das ist ein ProKooperativen-Strukturen sie sehr genau kennen. zent des gesamten Bruttoinlandproduktes. Die Schweiz, ein Land der Banken? Gemäss einer neuen Studie erreichen die Branchenleader CS und UBS zusammen eiKaffee ist für sie einfach ein wertvolles Kultur- und Genussgut, das alnen geschätzten Verkaufswert von 7,3 Milliarden. Nescafé allein ist 10,6 len daran Beteiligten, vom Bauern bis zum Konsumenten, nachhaltig Milliarden Franken wert und damit die wertvollste Marke der Schweiz. Freude bereiten soll. Häner stiess auf diese Geschäftsphilosophie, als er mit einer 200-Gramm-Heimmaschine erste Rösterfahrungen sammelte Klein und fein und sich im Internet auf die Suche nach den besten Bohnen machte. In Auch beim Konsum belegen wir international einen Spitzenplatz. den USA, Japan und Korea ist diese Geschäftsidee bereits etabliert. DiWährend immer mehr Schweizer Wert darauf legen, mit gutem Brot rect Traders sind Teil der «Third Wave», wie der aktuelle Trend in der vom Bäcker sowie Käse, Milch und Eiern aus der Region in den Tag zu Kaffeebewegung genannt wird. starten, zählt beim Kaffee vor allem, dass er schmeckt. Bio- und FairDie erste Welle brachte den «Museltrank» aus den elitären Kaffeetrade-Labels spielen eine untergeordnete Rolle. Denn wer einmal einen häusern in die privaten Stuben. Der Boom setzte in den Nachkriegsjahgängigen Bio- und Fairtrade-Kaffee getrunken hat, weiss, warum er bilren ein, als Kaffee, abgepackt in den Supermärkten, plötzlich für alle erliger ist als Qualitäts-Kaffees, und greift wieder zur Bohne seines Gustos. hältlich und erschwinglich wurde – Pulvergigant Nescafé feiert gerade Dazu kooperiert Max Havelaar neuerdings im grossen Stil mit Nestlé – sein 75-jähriges Jubiläum. Die zweite Welle bezeichnet ab 1960 den was die Beliebtheit des Labels bei bewussten Konsumentinnen kaum Übergang, als mit der Einführung von Espressoautomaten und später fördern wird. Kapselmaschinen Kaffee immer und überall, auch über die Gasse, geBei Hænowitz & Page pfeift man auf Labels. Ihre organisch abbaubatrunken wurde. Dank Zusatz von Milch, Sirup und künstlichen Aromen ren Verpackungen ziert nur das von Co-Geschäftsführerin Dina Horowitz wird den Kaffeetrinkern ein spezielles Genusserlebnis suggeriert. Wirteigenhändig per Siebdruck angebrachte Firmenlogo. «Um ein Fairtradeschaftlich kann man so auch aus billigen Bohnen hohen Profit schöpfen. oder Bio-Logo aufdrucken zu dürfen, müssten wir die Bohnen über eiMit der dritten Welle wird der Kaffee wieder als qualitativ hochstenen zertifizierten Händler beziehen, wodurch unnötige Kosten entstehendes Genussmittel betrachtet. Bei den Anhängern kann man durchhen würden», erklärt sie. Lieber investieren sie ihr Geld direkt in die Bauaus von Nerds sprechen, die alles über die Bohne wissen wollen: WoSURPRISE 306/13
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Von Ecuador bis Basel: Kaffee soll allen Beteiligten Freude bereiten.
her sie kommt, wie sie angebaut, gehandelt, geröstet, gemahlen und zubereitet wurde. Die Bewegung hat ihre Ursprünge in den Neunzigerjahren. In Europa rollte die Welle über die Trend-affinen Skandinavier hinunter nach Deutschland und erreicht langsam auch die Schweiz. Die Diskussionen über das braun-schwarze Gold klingen ähnlich wie bei Weinliebhabern. Wobei Horowitz betont: «Beim Wein konnte man bisher 300 Aromen feststellen, beim Kaffee sind es 800!» Einige davon hat sie bei den rund 100 geschlürften Testtassen in Ecuador selbst herausgeschmeckt. Dabei ist sie selbst alles andere als ein Koffeinjunkie: Bis zum 20. Lebensjahr trank sie gar keinen Kaffee, heute kommt sie auf einen Schnitt von einer Tasse die Woche. «Mich begeistert mehr die Sensorik des Kaffees und das Ganzheitliche unserer Geschäftsidee. Es ist auch ein guter Ausgleich zu meinem kopflastigen Job als Psychologin.» Endlich ein Kaffee in der Beiz Auch für Häner und den Dritten im Bund, James Page, ist das Engagement bei Hænowitz & Page nur eine Nebenbeschäftigung. Sie arbeiten zu 80 bis 100 Prozent als Baustellenleiter beziehungsweise IT-Manager. Horowitz ist im Trio nebst den Verpackungen vor allem für das Organisatorische zuständig. Page ist mehr für das Technische wie Internet-Auftritt und Backoffice verantwortlich. Häner ist der Mann an der Röstmaschine: «Das ist eine ‹Coffeetool›! Da steckt fast unsere gesamte Geschäftseinlage drin. Aber sie ist auch nonplusultra.» Das Rösten, also Veredeln der grün angelieferten Kaffeebohnen, ist eine Wissenschaft für sich. Wobei Alchemie fast passender ist, da jeder Röster nach dem Gold strebt, das die Kunden bezirzt. Häner nennt es «die Seele der Bohne herauskitzeln». Hænowitz & Page landeten schon im ersten Jahr ihres Bestehens einen Achtungserfolg. Mit ihrer Röstung holte ein Barista bei den Schweizermeisterschaften 2012 den fünften Rang.
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Im Land des Café crème kommen ihre Kaffeevariationen aus Ecuador, Brasilien, Honduras und Guatemala gut an – obwohl man dafür ein paar Franken mehr bezahlt als für die Packung Kaffee im Supermarkt. Noch besteht die Kundschaft vor allem aus Kaffee-Hipstern, welche die Hænowitz & Page-Papiertaschen auch im Ausgang mit sich tragen, und stilbewussten Architekten und Designern über 40, die zuhause wie im Büro auf ihre 4000 Franken teure Espressomaschine schwören. Doch ist das kein schlechtes Indiz für einen wachsenden Markt. Die dritte Welle ist am Kommen: Immer mehr Cafés verschreiben sich – analog der «Slow-Food-Bewegung» – dem «Slow Coffee», im Internet florieren entsprechende Freak-Foren, Barista-Schulen erfreuen sich eines grossen Andrangs, und die Medien berichten eifrig über das Comeback des Filterkaffees. Die 1,5 Tonnen verarbeiteten Bohnen des ersten Jahres wollen Hænowitz & Page nun verdoppeln. Verglichen mit den 63 000 Tonnen, die jährlich in die Schweiz importiert werden, ist das natürlich nichts. Doch hoffen die drei Kaffee-Aficionados, dass sie in Zukunft wenigstens Röster Häner ein Teilpensum zahlen können, und freuen sich, dass in der Schweiz immer mehr Kleinröstereien zumindest teilweise auf Direct Trade umstellen (die Kafischmitte in Langnau im Emmental zum Beispiel hat schon seit einigen Jahren auch direkt gehandelten Kaffee im Sortiment) – obwohl sie ihren Kunden mit der Umstellung neue Bohnen und einen Preisaufschlag schmackhaft machen müssen, was natürlich nicht von heute auf morgen geht, wie Häner anmerkt. Wenn sich der Third-Wave-Gedanke in der Schweiz weiter verbreitet, profitieren alle: Die Bauern in den Entwicklungsländern können, wie unsere, biologisch nachhaltig wirtschaften und werden dafür gut bezahlt. Wir Kaffeekultur-Hinterwäldler können einen Entwicklungssprung nach vorne machen. Und Häner kann sich «endlich mal wieder trauen, im Restaurant einen Kaffee zu bestellen». ■ SURPRISE 306/13
BILD: WOMM
Tazza forte Von feinfruchtig bis erdig Unser Gastrokolumnist («Piatto forte») und Barista Tom Wiederkehr verrät, wie man guten Kaffee macht. VON TOM WIEDERKEHR
Das Wichtigste gleich vorneweg: Unser liebster Muntermacher ist ein hundertprozentiges Frischeprodukt. Mit im Voraus gemahlenen Bohnen, im Vakuum ihrer flüchtigen Aromen beraubten Pulvern und abgestandenem Wasser in der Maschine kann zwar ein koffeinhaltiges Getränk hergestellt werden – mit Kaffee aber hat das nichts zu tun. Bei der Herstellung und Verarbeitung von Kaffee gibt es unzählige Faktoren, die über die Qualität des Endprodukts entscheiden. Klar ist: Ein Qualitätsprodukt werden Sie nicht bei industriellen Grossröstereien und nicht für unter fünf Franken für ein halbes Pfund finden. Als Erstes müssen Sie sich für eine Mischung entscheiden: In der Schweiz werden oft solche verwendet, die zu 100 Prozent aus Arabica bestehen. Arabica stehen für feinfruchtige, frische und säurebetonte Kaffees. Wenn Sie diese Mischungen aber als sauer bis bitter empfinden, dann sollten Sie es mit Robusta-Mischungen probieren. Der typisch italienische Espresso wird häufig mit bis zu 40 Prozent Robusta gemischt. Robusta hat nahezu keine Säure, bietet Körper und Erdigkeit im Geschmack und enthält dazu mehr Koffein. Der Kaffeehändler Ihres Vertrauens wird Ihnen die passende Mischung zu Ihren Vorlieben nennen können. Als Nächstes ist die Röstung entscheidend: Erst durch sie werden die typischen Kaffeearomen freigesetzt. Der Röstmeister stimmt Mischung, SURPRISE 306/13
Temperatur und Röstdauer auf die spätere Verwendung ab. Deshalb gibt es unterschiedliche Röstungen für Filter-, Mokka- und Espressokaffee, die selten für verschiedene Zubereitungsarten geeignet sind. Mahlen Sie die Bohnen möglichst frisch: Kaffee verliert in den ersten 15 Minuten nach dem Mahlen 60 Prozent seines Aromas. Schliesslich müssen Sie eine Brühmethode wählen. Grundsätzlich stehen Ihnen Filtermethoden oder Zubereitung mit Druck zur Auswahl. Der Preis der Kaffeemaschine hat dabei wenig Einfluss auf das Ergebnis in Ihrer Tasse. Als Faustregel gilt, dass Filtermethoden eine längere Extraktionszeit aufweisen und daher mehr und vielfältigere, aber auch dezentere Aromen aus dem Kaffee lösen. Methoden mit Druck ergeben kräftige, konzentrierte Kaffees. Verwenden Sie immer frisches, nicht zu kalkhaltiges Wasser und erhitzen Sie es nie über 96 Grad, da die Aromen sonst verbrennen und der Kaffee bitter wird. Die beliebten italienischen Mokkakannen zum Beispiel funktionieren mit Dampf – das Wasser ist folglich zu heiss. Bessere Ergebnisse erzielt man mit der nur unwesentlich teureren Aeropress: Die Wassertemperatur ist steuerbar und von Hand kann mittels einem Kolben genügend Druck aufgebaut werden. Wenn Sie sich nun noch eine kleine, handbetriebene Mühle dazu anschaffen, haben Sie für wenig Geld alles, um sich zu Hause einen guten Kaffee zu machen. ■ Mehr Wissenswertes rund um den Kaffee: www.kaffeemacher.ch
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3 Barrierefreiheit Wie der Esel am Berg Viele Websites sind falsch programmiert, Unterstützungs-Software ist oft überfordert. Sehbehinderte werden so von der elektronischen Kommunikation abgeschnitten. Eine Zürcher Stiftung kämpft für die Beseitigung von Barrieren.
VON YVONNE KUNZ
«Suchfeld oder Eingabefeld geben Sie in diesem Feld Text ein oder drücken Sie die Pfeiltasten rauf oder runter zum Navigieren durch die Elemente Punkt», erklärt eine weibliche Computerstimme in galoppierendem Stakkato. Der fast vollständig erblindete Softwaretester und Programmierer Daniele Corciulo dekliniert sich genüsslich durch verschiedene Beispiele von Barrieren im Internet, auf die Sehbehinderte wie er stossen. Corciulo ruft www.news.ch auf und fragt mich: «Welche Story wollen Sie lesen? Der Ast, an dem wir sägen, Teil II? Gut, das interessiert mich auch.» Jetzt ruft er über die Vorlesesoftware einige Strukturelemente ab. «Es geht!», freut sich die Frau mit der Computerstimme, was?, möchte man fragen, aber schon geht’s weiter: «Liste der Überschriften Inland 3 Nebenspalter 3 Ausland 3 Wirtschaft 3 Kultur Doppelpunkt drei Boulevard Doppelpunkt 3 Digital Lifestyle 1 Doppelpunkt.» Corciulo: «Der Blinde weiss nun also, wie viele Artikel es in welcher Rubrik hat – aber das war’s auch schon.» Über den Inhalt der Nachrichten erfährt er nichts. Noch ist die Tatsache, dass Behinderte moderne Informations- und Kommunikationstechnologien (also Handy oder Internet) rege nutzen, nicht in der Allgemeinheit angekommen. Auch nicht, wie viel sie ihnen bedeuten. Markus Riesch ist Geschäftsführer der Stiftung «Access for All» (Zugang für alle), die sich für barrierefreies Surfen von Sehbehinderten im Internet einsetzt. Er sagt: «Es ist erwiesen: Wenn die Kommunikation in irgendeiner Form möglich ist, kann der grösste Teil der Lebensqualität wiederhergestellt werden.» Die im Jahr 2000 gegründete Stiftung hat sich deshalb unter anderem die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für dieses Thema auf die Fahnen geschrieben. Doch das Bewusstsein fehlt nicht nur in der Bevölkerung, auch bei Behörden und Politikern ist es noch nicht so richtig angekommen. In Bundesbern weibelt Access for All deshalb in Kommissionen und Gremien für die Interessen von Menschen mit Behinderungen.
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Das Internet, aber auch Billettautomaten, Bankomaten oder Smartphones nehmen einen immer grösseren Stellenwert in unserem Alltag ein. Zwar gibt es auf Bundesebene bereits seit 2004 die Behindertengleichstellungsverordnung, die verlangt, dass alle Internet-Dienstleistungen des Bundes barrierefrei sein müssen. Und auch eine dazugehörige Strategie des Bundesrates über die Teilnahme der Gesellschaft an den Informationstechnologien liegt vor. Doch bei der Umsetzung auf Ebene der Gemeinden hapert es. Föderalistisch wie die Schweiz ist, bestimmt jede Kommune selbst über ihren Internetauftritt, und niemand lässt sich gerne dreinreden. «Bedauerlich für einen Blinden, der etwa durch e-Voting autonom abstimmen oder online seine Steuererklärung ausfüllen könnte», sagt Riesch. Think-Tank statt Wehklagen «Brauchen Sie gute Nachrichten im Job Fragezeichen Doppelpunkt 3? Webseiten Bindestrich Stil Eingabe Samsung Galaxy Standard Bindestrich», plappert der Computer, während Corciulo durch die einzelnen Felder navigiert und den Text schliesslich findet. «Ein ziemliches Chaos», kommentiert er trocken. Lange hiess das Schlagwort in der Behindertenförderung «Integration», doch die Avantgardisten in der Gleichstellungsbewegung haben längst die «Inklusion» als gesellschaftliches Ideal erkannt. Das Prinzip dabei ist, dass sich nicht die Behinderten in die Gesellschaft der NichtBehinderten integrieren müssen, sondern die Gesellschaft die Barrieren für deren Zutritt abbauen soll. Als Veranschaulichung kann eine Treppe in einem Restaurant dienen. Wo liegt die Behinderung? Beim Menschen? Oder bei der Treppe? «Für diesen Paradigmenwechsel steht Access for All», hält Riesch fest. Doch der Weg zur Inklusion ist noch lang. Oft bekommt Riesch zu hören: «Zu teuer für ein paar Behinderte». Doch Behinderte sind keineswegs eine zu vernachlässigende Grösse, wie Riesch betont: «Gemäss WHO sind 15 Prozent der Weltbevölkerung von einer Behinderung betroffen, allein in der Schweiz geht man von eiSURPRISE 306/13
3 ner Million aus. Dass Menschen mit Behinderung auch ein Recht auf die Dienstleistungen des Internets, das Bedienen eines Bankomaten oder die Nutzung eines iPhones haben, ist noch nicht Allgemeingut. Dies zu sehen schmerzt.» Bei Access for All hält man sich aber nicht mit Wehklagen auf. «Der Behinderte hat ein Recht darauf, dass die Unterstützungsprogramme so gemacht werden, dass es auch funktioniert.» Access for All ist deshalb nicht einfach eine Lobbyorganisation, sondern auch eine Art Test- und Entwicklungslabor und sprudelnder ThinkTank. Von den acht Mitarbeitenden sind vier selbst von einer Behinderung betroffen: Zwei sind blind, einer ist mehrfachbehindert und eine Person lebt mit einer Behinderung des Bewegungsapparats.
Das wichtigste Projekt von Access for All heisst e-Inclusion: Vorbild dafür ist die Fachstelle für behindertengerechtes Bauen. Access for All will eine Fachstelle für behindertengerechte Bildung werden. Bereits heute bietet die Stiftung Ausbildungs- und Praktikumsplätze für Behinderte an und bildet sie zu Experten für e-Inclusion aus. Ehemalige Mitarbeiter arbeiten heute bei Behörden, Kantonen und in Unternehmen wie IBM. Noch scheitern jedoch viele solcher Projekte an der Finanzierung. Deshalb muss die zu 100 Prozent eigenfinanzierte Stiftung einige Eisen im Feuer haben, um zu bestehen. Access for All finanziert sich zu einem guten Teil mit ihren Dienstleistungen, vor allem Tests für Behörden, Banken und Post, und verleiht auch ein eigenes Qualitätslabel. Gerade bei Banken sei die Erkenntnis gereift, dass sich der Aufwand lohnt, rollstuhlgängige, mit Kopfhörerstecker ausgestattete Bankomaten zu installieren – es sind eben 15 Prozent ihrer potenziellen Kunden, die von einer Behinderung betroffen sind. «Dazu altert die Bevölkerung, was heisst, dass es sehr bald viel mehr seh- und motorisch Behinderte geben wird.» Solche Kunden werden von Access for All beraten. «Die behinderten Mitarbeiter testen die Webangebote der Kunden und werden befragt, denn Barrieren erkennt man nur als Betroffener», so Riesch. Mit
Experten mit Behinderung Daniele Corciulo ist einer der acht Mitarbeiter von Access for All. Ein häufiges Problem, sagt er, seien auch Icons, die etwas auslösen, aber nicht korrekt beschriftet sind, etwa eine Lupe, die eine Suchfunktion anzeigt: «Gesuchter Link http Doppelpunkt Schrägstrich Schrägstrich Media Neu News.ch Schrägstrich emd Schrägstrich ein Pixel Unterstrich Punkt GIF Schalter.» Corciulo: «Aha, ein Schalter! Aber wofür ist er?» Kaum vorstellbar, immer mit dieser nervigmonotonen Stimme surfen zu müssen. Und «Wenn die Kommunikation in irgendeiner Form möglich doch sind assistierende Technologien die Vorist, kann der grösste Teil der Lebensqualität wiederheraussetzung für Barrierefreiheit und Inklusion. In Oerlikon beschäftigt man sich deshalb ingestellt werden.» tensiv damit. Das Team von Access arbeitet an der «Schweizer Accessibility Studie» präsentiert die Stiftung alle zwei einer Fülle von Projekten, die sinnbildlich dafür stehen, was Inklusion Jahre einen Überblick, wie barrierefrei die grösseren Schweizer Websiin der Praxis heisst: etwa ein sehender High-Tech-Blindenstock. Er ertes sind. Heute erfüllen gerade einmal rund drei Prozent aller Websites kennt Hindernisse mittels 3D-Kamera, die Distanzen misst und über Vidie Kriterien. brationsmuster kommuniziert. Das Hauptaugenmerk liegt aber klar auf Software-Projekten. Vor Kurzem zeigte die Stiftung in einem Zürcher Alle Anklick-Felder heissen «Namen» Kino einen Film inklusive einer App aus Deutschland, die man sich «Formulare sind natürlich auch so ein tückisches Thema», meint Coraufs Handy lädt und mit dem man eine Audio-Deskription via Kopfhöciulo und zeigt als «wunderbares Beispiel» das Einschreibeformular von rer zum Film hören kann, eine Hörfilmfassung also. Würde dies stanNebis, dem Online-Bibliothekensystem der Schweizer Universitäten. dardmässig gemacht, hiesse das, Blinde könnten mit sehenden Kolle«Erweiterte Einschreibeformular Eingabe Einschreibeformular runde gen gemeinsam ins Kino gehen. Das Ziel von Access for All ist eine Klammer auf öffnet ein neues Fenster runde Klammer zu», orientiert der möglichst grosse Datenbank von Filmen mit Hörfilmfassung, damit es Screenreader Webnutzer Corciulo. Der Screenreader hat einen Formueines Tages keine gesonderten Vorführungen für Sehbehinderte mehr larmodus, das heisst, wenn man auf Tabulator drückt, springt er von braucht. Feld zu Feld und sollte das verknüpfte Label lesen. Wenn es da aber imEin weiteres Ziel sind barrierefreie Lehrmittel. Ein Blinder in einer mer nur «Name» heisst, steht der Blinde wie der Esel am Berg. Das geRegelklasse muss heute für jedes Buch einen Antrag bei der kantonalen samte Formular ist falsch programmiert. Überall heisst es auch bei VorIV-Stelle für Lehrmittel stellen. Die Blindenbibliothek scannt dann das name, Adresse etc. immer nur «Name Stern Eingabefeld TAP», jeweils Buch Seite für Seite ein. «Bis alle Fehler korrigiert und die Bilder beverbunden mit der Aufforderung «Geben Sie Text ein», was fast zynisch schriftet sind, hat der Schüler schon den Anschluss verloren», sagt klingt. Nur zwei Felder funktionieren, sagt Corciulo: «Ich kann bestätiRiesch. Ein Paradebeispiel für Chancenungleichheit. Bereits umgesetzt gen, dass ich ein Mann bin. Und ich kann den Newsletter abonnieren. sind dafür Projekte in der Sparte «Medien für alle» zur Förderung der Grosse Klasse.» Es gibt noch viel zu tun für Programmierer Corciulo und Medienkompetenz von Jugendlichen. Bereits erstellen Kinder und Juseine Arbeitskollegen bei Access for All. gendliche in Blindenschulen ihre eigene Schülerzeitung. ■ SURPRISE 306/13
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Noé hat den Antrag gestellt, mehr Fussball spielen zu dürfen.
Aimée will öfter raus zum Rollerbladen.
Simone verlangt Mithilfe beim Tischdecken.
René möchte, dass die Kinder selber aufräumen.
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Erziehung Demokratie am Familientisch Aimée (9) und Noé (6) sitzen alle paar Wochen mit ihren Eltern am Tisch und diskutieren. Darüber, wer aufräumt, wer beim Auftischen hilft und wohin es in die Ferien gehen wird. Die Kinder sollen nicht nur mitbestimmen können, sondern auch Verantwortung übernehmen.
VON DIANA FREI (TEXT) UND PETER LAUTH (BILDER)
ren, für eine demokratische Gesellschaft zu kämpfen, in der menschliche Gleichwertigkeit, der Traum der Menschheit, sich verwirklichen und jedem Einzelnen Friede und Erfüllung bringen würde, schreibt Sadie Dreikurs.» Das klingt pathetisch. Ruth Aschilier dagegen ist alles andere pathetisch. Kinder zum mitverantwortlichen Mitglied der demokratischen Gesellschaft erziehen? «Da hat er natürlich recht», sagt sie, aber sie findet es unzeitgemäss formuliert: «Er meint, dass die Eltern begreifen müssen, dass die Familie eine Lebensschule ist und die Verantwortung dafür bei ihnen liegt.» Sie ist Coach und Persönlichkeitstrainerin mit eigener Praxis in Glattbrugg und gibt Entspannungskurse genauso wie Workshops zu Familienthemen, speziell zum Familienrat. Ihr Thema ist die Work-Life-Balance, ihre Praxis heisst SimplyYou. Simone Aschwanden war in Sarnen an Ruth Aschiliers Vortrag «Wenn der Familienrat tagt» und hat daraufhin zuhause vorgeschlagen, Sitzungen einzuführen. Aschilier sagt, die Familienkultur – mit gemeinsamem Znacht ohne Smartphone – sei weitgehend verschwunden. Sie selber ist jetzt 59, 20 Jahre lang hat sie beim Schweizer Fernsehen gearbeitet, bevor sie sich als Coach selbständig machte. Sie redet schnell und spitzt gerne zu: «Die heutigen Eltern gehen lieber beide go chrampfe, damit sie irgendein Must Have kaufen können. Für Rituale bleibt praktisch keine Zeit. Die
Seit fünf Monaten gibt es bei der Familie Gamma Aschwanden keinen Alkohol mehr unter der Woche. Die Kinder haben es so gewollt, nun ist es beschlossen und protokolliert. Nicht, dass die Eltern zum Alkoholismus neigen würden. Es geht nur um das gelegentliche Feierabendbier. Das wurde gestrichen, weil Aimée findet, Alkohol sei ungesund. «Machen wir es nun gut?», fragt Simone, die Mutter. «Nein, ihr hattet ein Bier», sagt Aimée streng. Sie ist neun Jahre alt, Protokollführerin des Familienrats und etwas gereizt heute. Selber ist sie den Eltern in einem anderen Punkt entgegengekommen. Sie hat sich verpflichtet, immer freitags ihr Zimmer aufzuräumen. Ihr Vorteil: Die Mutter darf unter der Woche nicht mehr über die Unordnung schimpfen. Es ist Mittwochnachmittag, Aimée, Noé, Simone und René halten ihren sechsten Familienrat ab. Man sitzt am Esstisch des modernen Hauses auf der Anhöhe in Sachseln, Obwalden, Blick auf den Sarnersee. Wohnküche mit Fenstern bis zum Boden, ein Strauss Blumen auf dem Tisch, es gibt Linzertorte und Kaffee. Der Vater ist Schulleiter und Lehrer an der Integrierten Orientierungsstufe IOS Sarnen, die Mutter arbeitet zu 30 Prozent als Assistentin in einer Seniorenresidenz. Wurde eine Abmachung zur Zufriedenheit aller eingehalten, gibt es einen Kleber ins Protokoll, wenn nicht, «wird das Thema weiter bearbeitet», wie Vater René «Die Erwachsenen untergraben den sozialen es nennt. Der sechsjährige Noé ist müde und Zusammenhalt. Sie reden nicht mehr mit den wenig gesprächig, aber er hat einen Antrag gestellt: Er will öfter raus zum Fussballspielen. Kindern, weil sie selber unter Dauerstress Die Traktanden nebst Fussball: mehr Rollerstehen.» Ruth Aschilier, Coach und Persönlichkeitstrainerin bladen (von Aimée eingebracht), Mithilfe beim Tischdecken (Simone), Unordnung (René). Kultur des Miteinander-Redens ist verschwunden, die Eltern verlangen Später wird protokolliert werden: Gegen Rollerbladen und Fussballspieentweder nur noch Gehorsam oder es herrscht Laisser-faire. Und darlen ist nichts einzuwenden, aber die Kinder müssen es frühzeitig anunter leiden schlussendlich die Kinder. Spätestens dann, wenn sie einkündigen. Beim Tischdecken hilft jede Woche jemand anders, und zwar geschult werden. Dann wird schnell mal über Ritalin nachgedacht und verbindlich. Und beim Aufräumen im Kinderzimmer hilft der Vater am nach Schuldigen gesucht.» Anfang ein paar Mal mit, danach ist es Kindersache. Der Familienrat ist eine Form der Familienkultur, die der österreiMachtspiel ums Kinderzimmer chisch-amerikanische Psychiater, Pädagoge und Psychologe Rudolf Die heutigen Eltern, findet sie, seien selber «Hochkonjunkturkinder», Dreikurs bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hat. sähen nur noch das Materielle und hätten in den Familienbeziehungen Sein Handbuch «Familienrat» haben zwei Co-Autoren nach seinem Tod «völlig den Fokus verloren». «Die Erwachsenen untergraben den soziafertiggestellt, im Vorwort schreibt seine Witwe Sadie E. Dreikurs: «Wenn len Zusammenhalt. Sie reden nicht mehr mit den Kindern, weil sie selein Kind in der Familie als vollwertiger Partner anerkannt wird, ist das ber unter Dauerstress stehen», sagt sie und fährt nahtlos fort: «Die ElFundament für sein zukünftiges Leben gelegt, und es kann seinen Beitern sollen endlich einmal aufhören, sich wegen den unordentlichen trag in Schule und Gesellschaft leisten.» Kinderzimmern so aufzuregen und die Kinder damit zu schikanieren. Die hören eines Tages gar nicht mehr hin. Sie werden muttertaub.» Der Ritalin statt Rituale Streit um die Ordnung im Kinderzimmer, findet Aschilier, ist nur ein Die Grundsätze des Familienrats sind einfach: Im Alltag werden TrakMachtspiel. «Das ist das, was den Familienrat für die Eltern so schwietanden gesammelt und aufgeschrieben, die zum Beispiel einmal pro Worig macht: Dass sie dabei – ob es ihnen bewusst ist oder nicht – nicht che zusammen besprochen werden. Die Sitzung wird im Turnus von mehr nur befehlen dürfen.» Kindern und Erwachsenen gleichermassen geleitet: Die Rollen sollen Ruth Aschilier lebte lange ein Patchwork-Familienleben und hat selsich abwechseln. Es wird ein Protokoll geführt und Beschlüsse werden ber eine erwachsene Tochter. Die war «extrem schwierig, als sie puberschriftlich festgehalten. «Rudolf Dreikurs wollte die Menschen motivieSURPRISE 306/13
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Familienrat bei Gamma Aschwandens: «Was sollen wir denn machen, wenn wir nicht zufrieden sind?»
liert sein: «Erramun wollte allen mitteilen, dass er einen Spiderman zu tiert hat», sie hätte sie verschenkt, wenn jemand sie genommen hätte. Hause hat.» Es geht darum, dass die Kinder Themen auf den Tisch leEs war der Moment, als sie auf Dreikurs’ Konzepte gestossen ist und gen können, die sie beschäftigen. selbst ein Familien-Coaching in Anspruch nehmen musste. Vor einigen Jahrzehnten waren die Autoritäten klar definiert. Eltern Ihre Vorträge über den Familienrat besuchen in der Regel nicht die, und Lehrer sagten, was gemacht wird, und die Kinder haben gehorcht. die es am nötigsten hätten. Deshalb schreibt Ruth Aschilier zurzeit an eiHeute wird über fehlende Disziplin in den Klassenzimmern geklagt, nem «Konzept Elternhaus und Schule: Dauerstress oder Bereicherung». Sie wird dazu Vorträge halten und Workshops durchführen, und zwar in Zusammenarbeit «Im Vorfeld des Familienrats überlegte ich jemit Schulen: Dort, wo es zu korrigieren gilt, weils, mit welchen Argumenten ich am meisten was in vielen Familien schiefläuft. In den Schulen wird auch von offizieller Aussicht auf Erfolg haben könnte.» Seite her einiges getan. Seit ein paar Jahren Pascale Bruderer, Ständerätin gibt es Klassenräte und Horträte, und auch René Gamma kannte die Sitzungen bereits aus Lehrer können sich nicht mehr durchsetzen. Mit lautem Getöse wird der IOS Sarnen, bevor seine Frau die Idee des Familienrats nach Hause über Sinn und Unsinn von Tiger-Mom-Methoden fürs Elternhaus debatbrachte. Nicht überall hat das Ratswesen Einzug gehalten, aber im Kantiert. Fast scheint es, man wünschte sich die alten Autoritäten zurück. ton Zürich zum Beispiel ist es im Volksschulgesetz verankert: Paragraph In Wirklichkeit geschieht seit einigen Jahren aber genau das Gegenteil. 50 umschreibt das Recht auf allgemeine Mitwirkung, und der stützt sich Relativ leise und selbstverständlich erzieht man die Kinder statt zu Geauf die UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 12, «Berücksichtigung des horsam dazu, Teil eines Ganzen zu sein, Teil einer Demokratie. Auch InKindeswillens». Konkret heisst das: Die Kinder sollen mitreden und Vertegration funktioniert so. Vielleicht ist das nicht unbedeutend in Klassen antwortung tragen. und Horten wie im Zürcher Kreis 4, wo die Kinder aus unterschiedlichen Kulturen stammen und unterschiedliche Wertvorstellungen mitbringen. Traktandum Spiderman «Kinder werden vermehrt als eigenständig wahrgenommen, sie solSo kann man zum Beispiel in den Protokollen eines Horts im Zürcher len auch Rechte haben und nicht nur gehorchen», meint Martin WenKreis 4 nachlesen: «Piri hatte mehrmals Angst, in den Hort zu kommen delspiess, Amtschef der Bildungsdirektion Kanton Zürich, und nennt oder wurde nicht durchgelassen, weil Fünftklässler ihm den Weg verweitere Gründe, wieso die Partizipation in Schulen immer wichtiger sperrten. Die anderen Kinder hatten das Problem früher mal, aber im wird: «Immer mehr Kinder wachsen in Kleinfamilien auf, weshalb die Moment ist kein anderes Kind davon betroffen. Lena und Lilly bieten Auseinandersetzung mit anderen nicht mehr ‹automatisch› gelernt wird. sich an, jeweils dienstags auf Piri zu warten und ihn zu begleiten.» GeIn der Arbeitswelt wird Teamarbeit immer wichtiger, und Mitsprache nauso kann aber unter dem Traktandum «Spiderman» einfach protokol-
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René: Ich glaube, es hat sich ein bisschen gebessert, aber wir können aufschreiben: Weniger schimpfen. «Noé stört es sehr, wenn ich laut werde, was ich absolut verstehe», sagt Simone später. «Aber als er mir das so sagte, ist es mir sehr eingefahren, und ich achte nun stärker darauf, dass ich mich zurückhalte.» Im Familienrat kommen oft Themen auf den Tisch, die auch im Alltag immer wieder auftauchen: Aufräumen und Pünktlichkeit etwa. Im Alltag kommen sie aber in emotionalen Momenten hoch oder wenn’s pressiert. «In der Konfliktsituation reagiert man anders als in einer Sitzung, wenn die Stimmung gut ist. Man hört als Erwachsener besser hin», sagt Vater René.
Protokollführerin ist Aimée.
und Demokratie sollen nicht nur gelehrt, sondern auch geübt werden.» Die Schweizer Schulen werden langsam demokratischer.
«Ich sage immer noch, wo es langgeht» Die Aschwandens reden miteinander. Die Wohnwagenferien wären vielleicht anders nicht zustande gekommen: keine Zeit, schon gebucht, ein andermal. Jedes Mal geht man auch die Themen vom letzten Familienrat nochmals durch. Zum Beispiel das Traktandum «Respekt im Umgang miteinander». Die Eltern sind der Meinung, dass immer noch zu oft «fiese Sachen» gesagt werden: kein Kleber. «Das muss sich bessern», sagt Simone Aschwanden, «sonst gibt’s Konsequenzen. Eine Stunde Hausarrest.» Die Androhung von Hausarrest läuft Dreikurs’ Prinzipien allerdings zuwider. «Viele Eltern besprechen sich mit ihren Kindern, aber nicht in demokratischer Weise. Die Eltern nennen es eine Diskussion, aber es gleicht gewöhnlich mehr einer Gerichtssitzung», steht im Handbuch «Familienrat». Aschwandens haben nicht den Anspruch, nach Dreikurs’ Weltbild miteinander umzugehen. «Ist er denn komplett antiautoritär eingestellt?», fragt Simone Aschwanden nach. Ist er, natürlich. Aber das Wort kommt in Dreikurs’ «Familienrat» nicht ein einziges Mal vor. Es wird von Demokratie gesprochen, und die wird konsequent zu Ende gedacht: «Es kann nicht bessere und schlechtere Menschen geben. Es gibt verschiedene Menschen mit verschiedenen Rollen innerhalb der Gruppe. Jeder hat das Recht, etwas beizutragen und seinen Beitrag mit Respekt behandelt zu sehen.» In einem demokratischen Land gibt es Leute mit Universitätsabschluss und Leute mit abgebrochener Schulkarriere. Abstimmen und wählen dürfen alle. Das ist das Prinzip, das Rudolf Dreikurs auf die Familie überträgt. Simone Aschwandens und René Gammas Ziel ist nicht eine anti-autoritäre Erziehung. «Was ist denn Autorität? Ist Autorität, wenn ich sage, wo es langgeht?», fragt René
Vom Familien- zum Ständerat Eine, die das Ratswesen als Kind kennengelernt, die daheim diskutieren und argumentieren geübt hat, ist Pascale Bruderer. Heute ist sie als Ständerätin tatsächlich in der Politik zuhause: «Ich lernte am Familienrat schon früh, einen eige«Viele Eltern besprechen sich mit ihren Kindern und nennen nen Standpunkt geschickt zu formulieren und im richtigen Moment einzubringen. Ich erines eine Diskussion, aber es gleicht gewöhnlich mehr einer nere mich, dass ich jeweils im Vorfeld des FaDreikurs, Gould, Corsini: Familienrat Gerichtssitzung.» milienrats nochmals überlegte, mit welchen Argumenten ich am meisten Aussicht auf ErAschwanden. «Aber das tue ich ja trotzdem noch.» Auch im Klassenrat folg haben könnte.» Bruderer ist die jüngste von drei Schwestern. Die rean seiner Schule sei es nicht die Meinung, dass er seine Autorität abgegelmässige «Besprechung am Familientisch» wurde eingeführt, als sie be: «Ich weiss, wie man diskutiert. Die Schüler müssen diskutieren lerwenige Jahre alt war. «Die Diskussion am Familienrat war – wegen des nen, und ich muss sie dabei anleiten. Da übernehme ich die Verantetwas formelleren Rahmens – rücksichtsvoller als im Alltag, wo man wortung, die mir zusteht als Lehrperson.» sich halt auch mal ins Wort fällt oder keine Zeit hat, wirklich auf den Vielleicht ist der Familienrat die Utopie einer Gesellschaft. Vielleicht ist anderen einzugehen. Das Zuhören war ganz wichtig – und das ist sicher er aber einfach ein Versuch, alle paar Wochen an den Tisch zu sitzen und etwas, das in der Politik eine wichtige Rolle spielt», schreibt Pascale Brueine halbe Stunde zusammen zu reden. «Für jedes Individuum ist die Faderer per E-Mail. milie ein verkleinertes Modell der Welt, und besonders für die Kinder ist Noé: Ich finde, ihr solltet weniger schimpfen. das Lebenskonzept der Familie massgebend dafür, wie sie sich später Simone: Was sollen wir denn machen, wenn wir nicht zufrieden sind? anderen gegenüber verhalten», ist bei Rudolf Dreikurs nachzulesen. Noé: Es normal sagen. Und dabei könnten auch die Autoritäten noch diskutieren lernen. Aimée: Mami, ich hab’s lieber, wenn du schimpfst als wenn du so ko■ misch «Ohhhhhh nein!» sagst. Simone: Du meinst, wenn ich ironisch reagiere? Aimée: Ja. Rudolf Dreikurs, Shirley Gould, Raymond J. Corsini: Familienrat – Der Weg zu einem Simone: Noé, weisst du, was Ironie ist? Wenn du fragst: Habe ich gut glücklichen Zusammenleben von Eltern und Kindern. Klett-Cotta, zweite Auflage aufgeräumt?, und ich sage: Ja klar, super!, aber das Gegenteil meine. 2003. SURPRISE 306/13
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Der Lauf der Dinge VON SABINA ALTERMATT ILLUSTRATIONEN: PRISKA WENGER
Es war ungewöhnlich still. Der Schnee, der über Nacht gefallen war, dämpfte die Geräusche auf der Brücke. Die Autos fuhren im Schritttempo. Sie blickte über die Gleise, die sich irgendwo in der Dunkelheit unter einem fleckig-grauen Himmel verloren, und zog den Reissverschluss ihres Mantels nach oben, bis es nicht mehr weiterging, stiess die Hände in die Taschen. Ihre Finger ertasteten etwas Spitzes. Es war immer noch da, das kleine Paket mit den kantigen Ecken. Sie konnte sie durch die Handschuhe hindurch spüren. Auch die rote Schleife. Ein Velofahrer überholte, die dünnen Reifen pflügten sich durch den Matsch und hinterliessen eine Schlangenlinie. Weiter vorne leuchteten weisse Pfeile auf rotem Grund und deuteten den Abgang zum Bahnhof an. Die Digitaluhr bei der Treppe zeigte 07:02. Sie ging nicht zu den Gleisen hinunter. Sie blickte zum Turm hoch, der mit seiner Glasfassade die Umgebung widerspiegelte. Bei schönem Wetter wirkte er hellblau, heute stahlgrau. Die obersten Fenster waren erhellt. Leuchtende Vierecke bildeten ein Muster. Auf ihrer Etage war noch alles dunkel. Sie musste sich beeilen. Schnell lief sie die Rampe hinunter, die von der Brücke Richtung Turm führt. Die Ledersohlen ihrer Stiefel rutschten. Der Vorplatz des Hochhauses war leer. Nicht wie sonst, wenn die Züge Hunderte von Menschen heraufspülen. Von Weitem hörte sie eine blecherne Stimme, die etwas von Betriebsstörung sagte. Es würden wohl alle später kommen. Ihr war das recht. Sehr recht. Sie stand vor der glasigen Fassade. Schaute daran hoch, zu den beiden Kerben, die dem Turm etwas Vogelhaftes gaben. Spürte, wie sich ihr Nacken verkrampfte. Einige Fenster traten wie grosse Tasten aus der Fläche hervor. Es war noch niemand im Büro. Schnell nahm sie das grüne Paket aus der Manteltasche, ihre Finger zitterten leicht, legte es im Pausenraum zu den anderen. Ein kleiner Turm aus farbigen Päckchen. Geschafft. Jetzt brauchte sie einen Kaffee. Aber nicht hier. Die Frau an der Garderobe wollte ihr den Mantel abnehmen. Doch den würde sie nicht hergeben. Den brauchte sie jetzt. Der Lift brachte
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sie in den 35. Stock. Auf der Fahrt schluckte sie einmal leer, um den Druck auf das Trommelfell auszugleichen. Das Bistro war beinahe unbesetzt. Sie nahm einen der begehrten Tische am Fenster. Die Servierfrau wirkte etwas verloren im kurzen Rock und den flachen Ballerinas und nahm die Bestellung, einen Cappuccino, freundlich entgegen. Sie schaute nach unten. Ein Räumfahrzeug kämpfte sich orange blinkend durch den Schnee, schob das Weiss beiseite und liess schwarz glänzenden Asphalt zurück. Bald würde der Schnee schmutzig und grau sein. Die Frau brachte den Cappuccino. Sie liess Zucker auf den Milchschaum rieseln, sah zu, wie er langsam versank, nahm den Löffel und rührte um, der weisse Schaum vermischte sich mit dem Schokoladenpulver. Sie dachte an das grüne Päckchen mit der roten Schleife. Die ersten Kollegen mussten inzwischen bereits im Büro sein. Das Schild mit seinem Namen hatte sie gut sichtbar drapiert. Niemand würde wissen, dass es von ihr war. Das entsprach dem Sinn dieses Brauchs. Draussen wurde es heller, der Himmel immer noch verhangen. Sie beobachtete die Schneeflocken, wie sie durch die Luft wirbelten, nach unten schwebten. Die einen würden auf der Strasse landen und sich in Nichts auflösen. Andere auf einer Wiese. Die hatten es besser. Sie blieben noch lange liegen, wurden vielleicht zu einem Schneeball oder einem Schneemann. Oder sie trafen auf einen Kinderhandschuh. Und wurden bestaunt, angehaucht, bis es auch sie nicht mehr gab. Verlierer und Gewinner. Das war die Natur. Niemand konnte beeinflussen, wer wie oder wie was endete. Das hatte letzte Woche auch Caroline gesagt. «Es tut mir leid, Mia», hatte ihre Vorgesetzte gesagt. Mindestens zehnmal in diesem Gespräch. Sie könne es nicht ändern. Jemand müsse gehen. Mia hatte an Louis gedacht, wie er ihr eines Abends mitteilte, dass es aus war. Ohne grosse Erklärung. Nur, dass er sie nicht mehr liebe. Einfach so. Er könne es auch nicht ändern. SURPRISE 306/13
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BILD: VANESSA PÜNTENER
«Nichts ist einfach so», hatte Mia Caroline erwidert. Vergeblich. Unten auf der Strasse war es inzwischen belebter. Schwarze Menschenpunkte bewegten sich durcheinander, strömten in Gebäude und verschwanden. Wieso gerade sie? Eine Flocke landete auf der Fensterscheibe und schmolz. Zurück blieb ein Wassertropf. Wieso gerade sie? Sie trank den letzten Schluck Cappuccino und winkte der Servierfrau. Die Fahrt mit dem Lift dauerte ewig. Statt bis ins Erdgeschoss schien sie in den Untergrund zu fahren. Sie betrachtete sich in den Spiegelwänden, sah sich von allen Seiten, vervielfachte sich, bis sie nicht mehr wusste, welches der Bilder sie selbst war. Der Lift fuhr tiefer und tiefer. Es klackte in den Ohren. Dann hielt er an, die Türen blieben geschlossen. Sie stellte sich vor, wie sie mitten in der Erde genau an dem Punkt war, der sich nicht drehte. Würde dann alles aufhören? Beim Verlassen des Lifts schwankte sie leicht, wie wenn sie die innere und die äussere Welt wieder in Übereinstimmung bringen müsste. Im Grossraumbüro brannten nur ein paar Schreibtischlampen. Draussen vor den Fensterfronten überwog das Grau. Das Kamin der Kehrichtverbrennungsanlage stiess weissen Rauch aus, der sich mit seiner Umgebung vermischte, sich darin verlor. Aus dem Pausenraum drang Gelächter. Plötzlich stand Priska hinter ihr. «Schön, dass du kommst», sie zog Mia am Ärmel in den grell beleuchteten Raum. Mia konnte nicht einmal den Mantel ausziehen. Eric war da und Brigitte, Anna, die Praktikantin sowie ein paar andere Kollegen. Eric, der sich mehr für sich selber als für andere Menschen interessierte. «Wieso Eric und nicht ich?», wollte sie von Caroline wissen. «Er hat Familie, für dich ist es leichter, etwas Neues zu finden, du bist flexibler», hatte Caroline gesagt. «Komm!» Priska schob Mia auf einen Stuhl. Ihr war heiss im Mantel. Auf dem Tisch lagen die Geschenke. Priska schob ihr ein Paket zu. «Es tut mir leid, Mia», hatte ihre Vorgesetzte gesagt. Sie könne «Da steht aber nicht mein Name drauf», es nicht ändern. Jemand müsse gehen. sagte Mia und schob es ihr wieder zurück. «Wir haben die Spielregeln geändert. Wäre «Wir können die Dinge nicht ändern.» Louis’ Stimme vermischte sich doch langweilig, wenn jeder das Geschenk erhält, das für ihn gedacht mit der Durchsage am Bahnhof. «Betriebsstörung.» war.» Ihr war kalt. Sie wünschte sich an den Mittelpunkt der Erde zurück. Mias Gesicht glühte. Sie spürte jede Pore, wie sie stossweise Schweiss Dort, wo alles stillstand. absonderte. Fühlte den Raum um sich herum, fensterlos, wie er immer Vielleicht hätte sie Eric nicht zuerst drohen sollen, seine Affäre mit kleiner wurde. Die Wände schienen ihre Ellbogen zu berühren, drückder Praktikantin auffliegen zu lassen. Sondern ihn gleich vergiften. ten sie gegen ihren Körper. Aber das konnte sie nun nicht mehr ändern. Die Dinge nahmen ihren Sie beobachtete das grüne Paket, wie es reihum geschoben wurde. Lauf. Es drückte ihr die Luftröhre zu, das Atmen fiel ihr schwer. Sie rang ■ nach Luft, wie wenn sie diese über längere Zeit angehalten hätte. «Wenn es so schlimm ist, kannst du natürlich auch deines haben.» Priska schob ihr ein silbriges Paket mit goldiger Schlaufe zu. Auf dem Etikett stand Mias Name. Das grüne Paket war nun bei Brigitte angekommen. «Es wäre deines gewesen, Eric», sagte sie und riss es auf. «Wienerkonfekt!» Sogleich steckte sie einen der himbeerroten Würfel in den Mund. Mia wollte etwas sagen, doch ihre Worte verloren sich im Raum. Sabina Altermatt ist 1966 in Chur geboren «Nun mach schon auf!» Priska stiess sie in die Seite. Mia löste den und aufgewachsen. Sie studierte StaatswissenBändel. Entfaltete das Papier. Es waren Pralinen. schaften an der Hochschule St. Gallen. Heute Mia schaute sich dabei zu, wie sie die Hand ausstreckte. Nach einer lebt sie als freie Schriftstellerin in Zürich und Praline griff. Sie in den Mund schob. im Glarnerland. Sie schreibt Kolumnen, KurzSie blickte zu Brigitte, die immer blasser wurde und schliesslich vom geschichten, Hörspiele und Romane. Ende Stuhl kippte. Jahr erscheint bei Piper der Kriminalroman Der Raum begann sich zu drehen, die Pakete flogen durcheinander, «Bergwasser». Für ihr literarisches Schaffen erMia hörte Priskas Stimme. Dann Carolines. hielt sie zahlreiche Auszeichnungen und Sti«Du bist eine gute Asset-Managerin, aber …» pendien. www.sabina-altermatt.ch
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Fremd für Deutschsprachige Rebellion In der Schweiz fängt es mit Erbsli und Rüebli an. Sie wollen sie nicht aufessen. Bald schon sperren sie sich gegen Familientreffen, brüllen ihre Eltern an und schlagen wutschnaubend die Tür zum muffigen Zimmer hinter sich zu. Einen signalroten Lippenstift verstecken sie im Schultornister. Ihre Garderobe besteht aus zerrissenen Jeans und T-Shirts mit gehörnten Kreaturen drauf, denen das Fleisch fetzenweise von den Knochen fällt. Heimlich rauchen, kiffen, saufen sie an Bahnhöfen und kritzeln ungewitzte Botschaften auf Hauswände und Werbetafeln. Manche unter ihnen gründen gar eine kurzlebige Band oder Partei. Andere tun Es im am Dorfrand parkierten Familienauto. Es gibt auch solche, die nach Südamerika aufbrechen, um die Welt zu erfahren – und immerhin bis Niederbipp kommen. Wieder andere ziehen mit siebzehn von zu-
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hause aus und hängen in der neuen Bleibe gestohlene Verkehrsschilder und Baustellenlampen auf. All das sind hierzulande wohlbekannte Ausprägungen des rebellierenden Teenagers. Rebellion hat aber auch andere Gesichter. Zum Beispiel dasjenige meiner dreizehnjährigen Cousine Florenta aus Mazedonien. Der Gegenstand, in dem sich ihre Rebellion verfestigt: ein Kopftuch. Streng umfasst es ihr pausbäckiges Gesicht und lässt ihre ohnehin verschlossene Miene noch unzugänglicher erscheinen. So finde ich sie vor, als ich während meines Mazedonienaufenthaltes meine Tante besuche. Florenta sitzt auf dem mit LeopardenmusterDecken überzogenen Ecksofa im Halbdunkel zwischen ihren Geschwistern, deren Haare gegelt und vom stundenlangen Telenovelas Schauen plattgedrückt sind. Als ich sie so vor mir sehe, sitzt sie nicht eigentlich, vielmehr schwebt sie in deren Mitte. Das textile Zeichen ihres Sinnes für Höheres erhebt sie über die schnöde Alltäglichkeit der kollektiven Unterhaltungssituation. Mein Erstaunen über die Neuerung halte ich zunächst zurück. Doch noch bevor ich alle zur Begrüssung geküsst habe, prescht meine Tante vor: Na, erkennst du dieses Mädchen? Die anderen Kinder legen sofort mit ihren offenbar bereits gut eingeübten Hänseleien los: Wie ein Gespenst sieht sie aus! Eine Räuberin! Nein, wie ein Ninja! He Ninja, besiegst du auch Van Damme?!
Florenta sagt nichts. Das fein gekräuselte Lächeln um ihre Mundwinkel jedoch vieles. Die Tante wirft ihr einen Blick von der Seite zu und beginnt ihre Leidklage: Ein Kopftuch! Ich kann das nicht sehen! Sie habe das Gefühl, ihre Tochter stehe ausserhalb des Lebens, weit weg von ihren Altersgenossinnen. Sie wisse nicht mehr weiter, alles habe sie schon versucht: Ihr das Kopftuch weggenommen, eine Handtasche gekauft, den Koran versteckt, dessen Lektüre an schier unerfüllbare Bedingungen geknüpft und stundenlang auf sie eingeredet. Doch es nütze alles nichts. Florenta schweigt noch immer. Die Tante nimmt einen letzten Anlauf: Wir mussten uns damals jeden Zentimeter entblössten Armes und jede Schicht Wimperntusche hart erkämpfen! Sie sei eine der Ersten in ihrem Dorf gewesen, die das Kopftuch abgenommen habe. Und nun das! Da macht Florenta doch noch den Mund auf, kurz: Also bist du gar keine Muslimin mehr, Mama? Mama stolpert über ihre Inkonsequenz und stösst heftig die Luft durch die Nasenlöcher. Nun ist Florentas Lächeln breit. Und der Blick darüber: Als hätte sie gerade den Teller mit den Erbsli und Rüebli von der Tischkante gestossen. SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 306/13
Zauberlaterne «Es ist okay, Angst zu haben» Kino hat nicht mehr denselben Stellenwert wie vor 20 Jahren, als die Zauberlaterne gegründet wurde. Trotzdem ist der Filmklub für Kinder heute wichtiger denn je, sagt Gründungsmitglied Vincent Adatte.
«In allen guten Kinos» steht auf dem Flyer des Kinderfilmklubs Zauberlaterne. Da nimmt man schnell an, das Programm richte sich ausschliesslich an den Nachwuchs bildungsbeflissener Eltern, die einen Unterschied zwischen schlechten (man stellt sich Multiplexe vor) und guten Kinos (vermutlich Studiokinos) machen. Im Gegenteil, sagt Vincent Adatte, Gründungsmitglied der Zauberlaterne: «In der Deutschschweiz sind es tatsächlich viele cinephile Eltern, die ihre Kinder in die Zauberlaterne schicken. In der Romandie dagegen haben wir Kinder, die aus allen Ecken der Bevölkerung kommen.» Und das ist auch das Ziel: «Wir wollen für alle Kinder da sein.» Grundsätzlich steckt das Kino bekanntlich in einer Krise, und es ist auch für Kinder nicht mehr die Attraktion Nummer eins. Ist die Zauberlaterne überhaupt noch zeitgemäss? «Unsere Mission war von Anfang an, Medienerziehung zu bieten, und das ist unterdessen noch wichtiger geworden», sagt Adatte, der vor gut 20 Jahren das Konzept des Kinderfilmklubs geschrieben hat. Zusammen mit Frédéric Maire – später Direktor des Filmfestivals Locarno und heute Direktor des Schweizer Filmarchivs Cinémathèque Suisse, dem Illustrator Yves Nussbaum (Noyau) und Francine Pickel gründete er in Neuchâtel 1992 «La Lanterne Magique». Vincent Adatte meint: «Unterdessen sind die Möglichkeiten, Filme zu sehen, durch Computer und Smartphones noch vielfältiger geworden. Und die Kinder schauen sie allein. Dabei sind sie mit den Gefühlen, die die Filme wecken, alleingelassen.» In der Zauberlaterne sehen die Kinder Filme mit Gleichaltrigen zusammen, der Kinobesuch wird als sozialer Event inszeniert, mit einer kleinen Theatervorstellung als Einführung und mit Klubzeitschrift. «So sollen die Kinder ihre Gefühle einschätzen lernen. Wir sagen ihnen: Es ist okay, Angst zu haben, es ist okay, zu lachen. Aber sie sollen herausfinden, wieso das die Filmbilder in ihnen auslösen», sagt Adatte. Seit ein paar Jahren findet die Zauberlaterne nicht mehr nur im Kino statt, sondern auch da, wo die Kinder sowieso schon sind. Zum Beispiel am Fernseh- oder Computerbildschirm. Das Welschschweizer Fernsehen zeigt mit «Mission: ciné» in Zusammenarbeit mit der Zauberlaterne eine wöchentliche Kinosendung für Kinder, in einer Online-Serie zeigt ihnen eine animierte Katze, wie man einen Film herstellt und lehrt die Jüngsten den Umgang mit dem Internet. Das neuste Projekt ist eine Sammlung von Kurzfilmen, mit denen gestandene Filmemacher wie Jean-Stéphane Bron («Mais im Bundeshuus») oder Ursula Meier («Home») den Kindern das Filmschaffen und das Kino erklären. In Workshops wiederum dürfen sich Schüler als Filmkritiker versuchen. Oder man spricht mit ihnen über ethische Themen: Jugendfreigabe, Urheberrecht, das volle Programm. Das Gesicht der Zauberlaterne passt sich den Veränderungen der Zeit an, aber ein Problem hat der Kinderfilmklub zurzeit tatsächlich: Die Digitalisierung, bei neuen Filmen eine Selbstverständlichkeit, ist hier zum Hindernis geworden. Viele ältere Filme können nicht mehr gezeigt werden, weil sie nicht in digitalem Format existieren. Zum Teil kann man auf Blue Rays ausweichen, oft gibt es aber auch die nicht, und so muss man Filmklassiker aus dem Programm streichen. «Einige Klassiker von SURPRISE 306/13
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VON DIANA FREI
Nicht nur Filmklub: Die Zauberlaterne redet mit Kindern über Medienethik.
Laurel and Hardy haben wir auf eigene Kosten digitalisieren lassen, und wir suchen nun Geld, um das auch mit anderen Filmen zu tun», sagt Adatte. Es ist eigentlich erstaunlich, dass die Idee eines Kinderfilmklubs über die Romandie hinaus Fuss gefasst hat. Erstens ist Frankreich – und damit die Romandie – ein cinephileres Terrain als etwa die Deutschschweiz, und zweitens, meint Vincent Adatte, seien Deutschschweizer Kinder stärker behütet als ihre französischsprachigen Alterskollegen. Es gibt Filme, auf die die Deutschschweizer empfindlicher reagieren, und das schlägt sich ansatzweise im Programm nieder: «Den Spielfilm Jason und die Argonauten aus den Sechzigern würden wir in der Deutschschweiz nicht zeigen, weil eine Szene darin etwas Angst einjagen kann.» Unterdessen gibt es die Zauberlaterne aber in Ramallah genauso wie in Mexiko: Das im beschaulichen Neuchâtel geborene Konzept hat sich als international bekannte Marke durchgesetzt. Die Idee des Kinderfilmklubs scheint also eher universell zu sein als elitär. ■ In den meisten Deutschschweizer Städten beginnt die neue Saison im September. www.zauberlaterne.org
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Kultur
Zielgerichtet in die Orientierungslosigkeit.
Nie war Kitsch und Oberflächlichkeit schöner.
Buch Mitten im Nirgendwo
Kino Narziss sucht Nestwärme
Dave Shelton erzählt die abenteuerliche Seefahrt eines Jungen und eines Bären als schrecklich schönen Traum.
Der französische Chansonnier Claude François starb 1978, als er eine Glühbirne auswechseln wollte. Das Biopic «Cloclo» zeigt ihn mit charakterlichen Brüchen. Und als ungelöstes Rätsel.
VON CHRISTOPHER ZIMMER VON MICHAEL GASSER
In einem Traum ist alles möglich, und selbst das Unglaublichste hat seine Logik und muss nicht erklärt werden. Also kann man auch getrost in ein Boot steigen, das von einem Bären gesteuert wird. So wie der Junge in dem Buch, von dem hier die Rede ist. Zwar wundert er sich ein bisschen, aber das hält ihn nicht davon ab, sich von dieser Nussschale und ihrem eigenartigen Kapitän übersetzen zu lassen. Auch als er einschläft und erst am nächsten Morgen erwacht, und auch als kein Ufer in Sicht ist und das Meer endlos weit, ist dies noch kein Anlass zur Sorge. Schliesslich handelt es sich nur um eine «Anomalie im Strömungsverlauf», die sie ein wenig vom Kurs abgebracht hat. Sagt jedenfalls der Bär. Allerdings ist dem Jungen irgendwann dann doch sehr nach Aufwachen zumute. Vor allem, als die Tage vergehen und ihre Fahrt übers Meer kein Ende nimmt. Da hilft es auch nicht viel, dass der Bär steif und fest und verschnupft behauptet, dass sie sich keineswegs verirrt hätten, sondern dass er genau wüsste, wo sie seien, schliesslich hätte er nicht umsonst eine Kapitänsmütze auf. Seltsam nur, dass auf den Seekarten, die der Bär hervorkramt, nichts als eine blaue Fläche zu sehen ist, ohne das geringste bisschen Land. Ausserdem gehen die Vorräte zur Neige, bis nur noch ein Sandwich übrigbleibt, so uralt und geruchsintensiv, dass allein schon der Gedanke daran … Überhaupt kommt alles noch viel schlimmer. Das ganze Programm, von dem man lieber liest, als es selber wirklich zu erleben: Stürme, ein Seeungeheuer, ein Geisterschiff und natürlich Schiffbruch – und das alles «mit einem grossen, stinkenden Bären in einem kleinen Boot mitten im Nirgendwo». Trotzdem bleibt da auch viel Zeit: zum Reden und Streiten, für Geduldsproben und Sternennächte – und für die langsam wachsende Freundschaft zwischen einem Jungen, der seinen Mut entdeckt, und einem Bären, der ihn fast verliert. Der Ausgang dieser vom Autor selbst wunderbar illustrierten Geschichte bleibt offen. Wie ein Traum, dem nur das Erwachen ein Ende setzen und nur ein nächster Traum (vielleicht) eine Auflösung schenken kann. Dave Shelton: Bär im Boot. Carlsen 2013. 21.90 CHF.
Claude François ist ein Phänomen. Zumindest im frankophonen Raum. Während man den 1978 verstorbenen Musiker anderswo beinahe vergessen hat, liessen sich seine Werke in Frankreich selbst nach seinem Tod bis dato noch über 28 Millionen Mal verkaufen, was das Total auf 63 Millionen Platten bringt. Hierzulande kennt man mindestens eine seiner Kompositionen. Allerdings nicht in seiner Version als «Comme d’habitude», sondern in der Fassung von Frank Sinatra – als «My Way». Jetzt hat Florent-Emilio Siri das Leben von François unter dem Titel «Cloclo», dem Spitznamen des Künstlers, verfilmt. Zunächst habe er in seinen eigenen Erinnerungen gekramt, sagt der Regisseur. «Und ich hatte lauter Klischees im Kopf. Bilder von François, dem Mädchenschwarm, von seinem Hang zu Kitsch und zur Oberflächlichkeit.» Was im Streifen auch thematisiert wird. Doch im Zentrum steht anderes: der soziale Aufstieg des Beamtensohnes, der 1956 mit seiner Familie aus Ägypten flüchten muss, sein Durchbruch, seine Liebschaften und seine unzähligen Widersprüche. Siri zeichnet François (Jérémie Renier) als Narziss, der sich nach Nestwärme sehnt, gefühlskalt agiert und privat nie Verantwortung übernimmt, nie erwachsen wird. Weil er befürchtet, es könnte seinem Image schaden, hält er etwa jahrelang geheim, dass er zweifacher Vater ist. Im Kontrast dazu steht die Karriere, die François instinktsicher vorantreibt. Seinen Sound passt er der jeweiligen Mode an, selbst als der Disco aufkommt. Er ist der erste Musiker, der seinen eigenen Fan-Club gründet und schwarze Backgroundsängerinnen ins französische Fernsehen bringt. Und so ganz nebenher betreibt der ruhelose François auch noch eine Modellagentur und ein People-Magazin. Bis er beim Duschen eine defekte Lampe richten will und durch einen Stromschlag stirbt, kurz vor seinem 40. Geburtstag. «Cloclo» ist Filmbiografie und Musical in einem und setzt mehr auf Stimmungen als auf allzu Hintergründiges. Claude François bleibt dem Zuschauer auch nach 148 Minuten ein ziemliches Rätsel. Aber eins, das zunehmend fasziniert. Florent-Emilio Siri: «Cloclo», Frankreich 2012, 148 Min. Mit Jérémie Renier, Benoît Magimel, Joséphine Japy, Ana Girardot. Der Film läuft zurzeit in den Deutschschweizer Kinos.
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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.
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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten
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Margareta Peters Gastronomie, Zürich
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Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau
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Schweizer Tropeninstitut, Basel
Piatto forte Schnee vom Ätna
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VeloNummern.ch
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Scherrer & Partner GmbH, Basel
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Applied Acoustics GmbH, Gelterkinden
Wasser und Zucker bilden die Grundlage, frische Früchte, Mandelmasse oder Espresso die Zutaten. Die sizilianische Granita gehört zu den raffiniertesten Eisspeisen der Welt.
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Buchhandlung zum Zytglogge, Bern
09
hervorragend.ch, Kaufdorf
10
Kaiser Software GmbH, Bern
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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar
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Coop Genossenschaft, Basel
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Cilag AG, Schaffhausen
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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach
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Novartis International AG, Basel
16
Solvias AG, Basel
17
Ernst Schweizer AG, Metallbau, Hedingen
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confidas Treuhand AG, Zürich
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ratatat – freies Kreativteam, Zürich
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G.A.T.E.S., Hôteliers & Restaurateurs SA, Basel
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Claude Schluep & Patrick Degen, Rechts-
Jetzt aber schnell, die Granita schmilzt schon beim Essen.
VON TOM WIEDERKEHR
Die Sizilianer essen schon seit über 1000 Jahren Granita. Auf dem Ätna, Siziliens Wahrzeichen, liegt länger als die Hälfte des Jahres Schnee. Auf rund 2050 Metern Höhe befindet sich die 125 Meter tiefe Eisgrotte Grotta del Gelo. Als Sizilien im 9. Jahrhundert von den Arabern erobert wurde, speicherten sie den Schnee in diesen Grotten, pressten ihn – sobald es wärmer wurde – zu Eis und trugen die Blöcke nach Catania. So wurde der wegen der kochenden Lava gefürchtete Vulkan zugleich ein grosser Kühlschrank. Da an den Hängen des Ätna auch die süssesten Zitronen und die schönsten Mandelbäume wachsen, lag die Erfindung der Granita auf der Hand. Was die Granita ausmacht, ist ihre feinkörnige Konsistenz aus kleinen Eiskristallen, die nur entstehen, wenn sie regelmässig gerührt wird, während sie gefriert. Sie lässt sich daher nicht aufbewahren oder fertig kaufen. Granita wird zügig gegessen, fast schon getrunken: Sie schmilzt schnell, und am Schluss löffelt man den kalten Saft um den noch eisigen Kern herum. Die Granita di Caffè wird in Sizilien bereits zum Frühstück genossen – oft zusammen mit einer Brioche. Dafür wird mit 2,5 Deziliter Wasser und 70 Gramm Zucker ein einfacher Sirup gekocht. Wer es noch etwas aromatischer mag, kann diesem Sirup die Samen einer halben Vanilleschote oder eine Messerspitze Zimt beifügen. Einen orientalischen Touch bekommt die Granita mit etwas gemahlenem grünem Kardamom. Dann dem erkalteten Sirup 2,5 Deziliter kalten Espresso beifügen. Alles verrühren und in eine genügend grosse, flache Form geben. Jetzt kommt die Mischung in das Eisfach, wo sie mindestens jede halbe Stunde mit der Gabel vorsichtig gelockert und verrührt wird. Der Mixer eignet sich nicht dafür, da zuviel Luft in die feinen Eiskristalle kommt. Nach rund zwei Stunden ist die Granita fertig. Buon appetito.
anwälte, Bern 22
homegate AG, Adliswil
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Sprenger & Partner Bauingenieure SIA USIC, Arlesheim
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Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg
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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen
Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.
Bezugsquellen und Rezepte: http://piattoforte.ch/surprise
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BILD: DANIEL SPOERRI, FONDATION CARTIER 1983
BILD: ZVG BILD: MARC RABOY, SPARK PUBLICATION, 1944
Ausgehtipps
En Guete! Déjeuner sur l’herbe.
Zürich Zu Tisch bitte!
Mit verspielter Leichtigkeit tief in Gefühlswelten.
Auch in Tibet gibt’s Superhelden in Strumpfhosen.
Zürich Wo selbst Hunde meditieren Dass Reinhold Messner dort den Yeti getroffen hat, ist bekannt. Nur einem eingeweihten Kreis war aber bis jetzt bewusst, welch illustre Reihe an sonstigen Promis sich auch schon in Tibet herumgetrieben hat: Bugs Bunny war dort, Dagobert Duck, Buffy die Vampirtöterin, Supergirl und natürlich Tim, Struppi und Kapitän Haddock – um nur ein paar wenige zu nennen. Doch die Ausstellung, die dies einer breiten Öffentlichkeit bekannt machen will, zieht auch gleich wieder in Zweifel, ob die Comic-Promis wirklich in Tibet waren. Oder ob sie nicht eher in einem westlichen Klischeebild Tibets unterwegs waren. Das Museum Rietberg lädt dazu ein, dass wir uns auf bunte Hocker fläzen und uns in eigene und fremde Träume vertiefen. Dazu liegen 80 Comics der letzten 60 Jahre auf, die allesamt (vorgeben,) in Tibet (zu) spielen. Atmen Sie tief durch, denken Sie einfach mal an nichts und lassen Sie sich dann von ComicHelden entführen in ein Land, wo edle Menschen leben, selbst Hunde meditieren und sich Supergirls um einen Schneemenschen streiten. (fer)
Luzern Meet the artist Ich gebe es zu: Ich bin Fan. Das ist zwar schlecht, um Kritiken zu schreiben, aber in dieser Rubrik wollen wir ja Tipps geben. Also: Gehen Sie in den Erfrischungsraum zu Benedikt Notter! Der junge Luzerner schafft es in seinen Bildern, unaufgeregt und mit verspielter Leichtigkeit tief in Gefühlswelten einzutauchen. Seine Zeichnungen und Illustrationen treffen nicht nur ins Herz, sie machen dank des Künstlers Liebe zu schönen Mustern, Formen und Details auch einfach Freude. So, genug geschwurbelt und gehimmelt, hier die Fakten: Notter hat ein Büchlein gemacht mit einem Sammelsurium, so auch der Titel, an Zeichnungen, Illus und Skizzen, darunter die Illustrierung von Träumen, Auseinandersetzungen mit dem Gefühl des Fliegens und ein neues Set Jasskarten. Die Originale der Bilder zeigt (und verkauft) Notter in seiner Ausstellung. Dies ist wortwörtlich zu verstehen, denn der Künstler selbst wird täglich von morgens bis abends am Eingang zur Ausstellung sitzen, um mit Ihnen über seine Werke, Gott und die Welt zu diskutieren. Vielleicht wird er dabei ja auch Sie in seinen Bann ziehen. (fer)
Gastlichkeit ist Kunst. Sagen die Leute hinter den Itinerant Projects, einer Künstlerinitiative, die an unüblichen Orten Kunst macht, um nah bei den Leuten zu sein. Diesmal wird in The Proposal – Off-Space und Bed&Breakfast in einem – die Beziehung zwischen Gast und Gastgeber ergründet. Mit interaktiven Performances, Installationen, Videoprojektionen und Fotografien. Da gibt’s ein Tableau vivant von Mo Diener, einen Dok über Daniel Spoerris «Déjeuner sur l’herbe», ein Projekt von 1983 in der Pariser Fondation Cartier oder ein Menü namens «Son of a Bitch», zwei peruanische Gerichte, zubereitet von Jeremie Maret. Und wie sagte schon Jacques Derrida? «Ein Akt der Gastfreundschaft kann nur poetisch sein.» (dif) «Guess Who’s Coming to Dinner: Hospitality as Artistic Practice», Do, 22. bis So, 25. August (Do 18 bis 22 Uhr, Fr bis So 12 bis 19 Uhr), The Proposal, Dubsstrasse 33 a, Zürich.
Anzeige:
«Sammelsurium», Ausstellung von Benedikt Notter, Mo bis So 9 bis 19 Uhr, bis 18. August, Erfrischungsraum, Rössligasse 12, Luzern.
«Yaks, Yetis, Yogis. Tibet im Comic», noch bis 10. November, Museum Rietberg, Zürich.
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BILD: ANDRÉ A. NIEDERBERGER
Teffli-Rally: Mit Anlauf zurück in die Pubertät.
Palmensound im Platanenhof.
Ennetmoos Zweitakterknattern
Basel Hula goes Tiki
Zu einer Jugend auf dem Land gehörte früher ein Mofa einfach dazu. Oder je nach Dialekt ein Pfupfer oder ein Hödi. In Nidwalden sagt man Teffli, und darum heisst die zweitägige Rückkehr in die Pubertät Teffli-Rally. Dabei geht es um Tempo, aber auch darum, eine gute Falle zu machen – so wie es schon früher war. Und deshalb gibt es nicht nur Preise für die Schnellsten, sondern auch für die Schönsten und Schrägsten. Und vor allem gibt es auch Musik. Am Freitag spielen das Ländlertrio Gantegruess, Rotzbub und Triggerfinger aus Belgien, die lauter und noch einen Tick knackiger knattern als der bestfrisierte Zweitakter. Am Samstag laden dann das Trio St. Jakob, die Monsignores und das Johnny Trouble Trio zum Tanz. Also: Tank füllen und lostuckern nach Ennetmoos. (ash)
Süsser die Saiten nie klingen, als wenn The Hula Hawaiians spielen. Die Basler Band-Pioniere zupften schon Steel-Gitarre als die Herren Jagger und Richards noch Buben waren. Ab 1947veröffentlichten sie unzählige Singles und landeten mit dem ersten Schweizer Rock’n’RollSong «The Chimpanzee Rock» 1957 gar einen veritablen Hit. Zur grossen internationalen Karriere reichte es leider doch nicht. Spielen tun die Hawaiians aber bis heute, jeden Dienstag in ihrem Club. Nun wagen sich die letzten Original-Mitglieder, ergänzt mit ein paar weniger lange Ergrauten, wieder einmal näher an den Rhein. Genauer in die Tiki-Bar, der zur Palmen-Oase umgemodelten Sommerecke im Platanenhof. In dem Ambiente wird das süsse Säuseln der Gitarren die Hüften wunderbar wiegen lassen. Und wer tiefer in die Südsee driften will, gönnt sich einen Atomic Bikini. Der Abend wird ein Weihnachten für Aloha-Fans – mehr Sommer wird es hierzulande nimmer. (ojo)
Teffli-Rally, 23. und 24. August, Sübiel, Ennetmoos.
BILD: ZVG
Fr, 16. August, 21 Uhr, Tiki-Bar, Platanenhof, Basel.
Chur/Zürich/Basel Wispernde Wegbereiterin Seit einigen Jahren gibt es eine erfreuliche Schwemme an Schweizer Sängerinnen mit speziellen Stimmen. Eine Wegbereiterin dieser Musikerinnen ist Nadia Leonti. Die Baslerin mischte seit den Neunzigerjahren bei Bands wie Bartrek, Popmonster und Shilf mit. Diesen Frühling veröffentlichte sie mit «Pink Maria» ihr zweites Soloalbum – eine stimmige, runde Songsammlung. Stilistisch bedient sie sich mit ihrer Band aus Basler Musikgrössen bei Indierocks verschiedener Herkunft, der dann zu Popsongs geformt wird. Das klingt angenehm altmodisch: Eine Band spielt Songs – mit Sinn und Verstand und viel Charme. Vor allem aber verfügt Nadia Leonti über eine Stimme, die ganz nah am Mikro wispert, schmeichelt und betört. Und das will man auch und gerade live hören. (ash) So, 11. August, 11 Uhr, La Chapella Open Air, Chur; Do, 15. August, 20.30 Uhr, Kaufleuten, Zürich; Fr, 16. August, 21 Uhr, Im Fluss, Basel. SURPRISE 306/13
Angenehm altmodisch: Nadia Leonti und Band.
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Fussballerporträt Ins Spiel zurückgekämpft Enrico Mistretta (42) leitete ein Migros-Restaurant mit 28 Angestellten, als ihm die Kontrolle über die Drogen entglitt und er auf der Strasse landete. Nach kaltem Entzug und einer bitteren Lektion löst er sich von seinen Lastern und fährt nun für die Schweiz an den Homeless World Cup.
«Ich gehe gerne kaputt nach Hause. Damit meine ich nicht verladen, sondern verschwitzt, wie jetzt, nach dem zweiten Trainingswochenende der Surprise Nationalmannschaft. Obwohl ich eigentlich Goalie bin, läuft das Spiel auf dem Feld auch okay. Ich persönlich kann als Feldspieler noch besser werden, aber der Zusammenhalt im Team ist jetzt schon gewaltig und es macht allen Spass. Das erstaunt mich, denn beim ersten Treffen dachte ich: Wie soll aus einem so bunt zusammengewürfelten Haufen ein Team entstehen? Aber der Fussball macht vieles möglich. Sogar, dass ich für die Schweizer Nati spiele! Das hat meinen Sohn am meisten erstaunt. Denn ich bin der Einzige meiner Geschwister, der noch immer nur den italienischen Pass hat, obwohl ich immer in der Umgebung von Luzern gelebt und hier 25 Jahre als Küchenchef in der Gastrobranche gearbeitet habe. Bevor ich komplett abgestürzt bin, habe ich ein Migros-Restaurant geleitet, mit 28 Mitarbeitern. Das war drei, vier Jahre nach der Scheidung. Ich war das, was man einen klassischen Polytoxikomanen nennt. Ich hab gesoffen, gekifft und gekokst. Zum Glück hab ich den Stoff nie gefixt. Aber 200 Franken täglich gingen für Koks und Kiffen drauf. Während der Arbeit hab ich mich noch zurückgehalten. In der Freizeit liess ich mich aber vollkommen gehen. Irgendwann war mir dann auch alles scheissegal. Ich hatte null Bock mehr auf Arbeit. Ja, da war die Kohle schnell durch und ich verlor die Wohnung. Weder Freunde noch Familie wollten einen voll verladenen Kokser aufnehmen, und so landete ich im Winter 2010 auf der Gasse. Drei, vier Wochen kam ich in der Notschlafstelle unter. Da wurde mir, wenn auch voll benebelt, klar: Ich muss was ändern! In der Gassenküche lernte ich gute Leute kennen, und über die Anlaufstelle der Gassenküche Luzern kam ich in eine dreieinhalb Monate dauernde Therapie. Ich wollte den kalten Entzug, da ich – so komisch das klingen mag – eine Aversion gegen Medikamente habe. Ja, als mein Sohn auf die Welt kam, hatte ich während gut zehn Jahren sogar eine Aversion gegen Tabak und Alkohol. Viel lieber stürzte ich mich mit dem Downhill-Bike die Berge runter. Seit dem 19. Geburtstag meines Sohnes letztes Jahr bin ich wieder definitiv clean. Ich Depp hatte nach dem Entzug im Therapiezentrum noch ein altes Koks-Briefchen in meiner Hosentasche gefunden und dachte: Wäre ja schade, das wegzuschmeissen! Natürlich flog mein Rückfall auf und ich bekam eine Ausgangssperre – am Geburtstag meines Sohnes. Das war schmerzhaft. Aber die richtige Lektion für meinen weiteren Weg. Meine Drogenkarriere scheint etwas untypisch zu sein. Ich wurde deswegen schon in der Luzerner Gassenzeitung porträtiert, und es ist unglaublich, wie viele Leute mich darauf ansprechen. Klar kennen mich eh viele, da ich in der Gastroszene gearbeitet habe und selbst viel unterwegs war. Manche fragen, ob es nicht peinlich ist, jetzt mit so einer Lebensgeschichte bekannt zu werden. Ich finde nicht! So kann ich ja Vorbild sein und zeigen, dass man auch nach einer Krise oder Crash-Landung wieder auf die Beine kommt. In die Gastrobranche will ich aber
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BILD: ZVG
AUFGEZEICHNET VON OLIVIER JOLIAT
nicht zurück. Alkohol und Koks sind mir da zu präsent. Lieber will ich mich umschulen und etwas in der Pflege suchen. Über die Gassenküche kam ich nicht nur zur Drogentherapie, sondern auch zum Strassenfussball – ein wichtiges Element, um zurück zu mir zu finden. In der Kindheit spielte ich jede freie Minute, später beim FC Emmen, dann quer durch die Stufen. Ich machte gar den Trainerschein, coachte die Junioren des FC Alpnach, leitete Lager und war Club-Funktionär. Die AC Gasse Chuchi spielt ja seit Beginn weg in der Surprise Strassenfussball-Liga und die beiden ehemaligen Nati-Spieler Stefan und Ralf trommeln immer Leute zusammen, damit wir am Wochenende spielen gehen. Das macht unheimlich Spass, selbst wenn es im Leben gerade nicht so läuft. Mit dem Aufgebot in die Nati bin ich natürlich besonders motiviert: jetzt will ich im Fussball wieder etwas reissen! Mit Ralf und Stefan wollen wir ein Surprise-Strassensport-Turnier bei uns auf die Beine stellen. Aber das erste Ziel heisst Homeless World Cup im polnischen Poznan. Ich hoffe, wir toppen das Resultat der letzten Nationalmannschaft in Mexiko. Und persönlich will ich endlich mal wieder aufhören zu rauchen – mein letztes Laster.» ■ SURPRISE 306/13
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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer, Diana Frei (Nummernverantwortliche), Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Amir Ali, Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Renato Beck, Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Sabina Altermatt, Andrea Ganz, Michael Gasser, Olivier Joliat, Peter Lauth, Eva Rosenfelder, Matthias Willi Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15000, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen
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Surprise Da läuft was Charity Run 2013 Surprise läuft weiter! Laufen Sie mit! Als offizieller Partner des IWB Basler Marathons 2013 ist Surprise auch in diesem Jahr wieder sportlich unterwegs! Der Marathon findet am 22.9.2013 in Basel statt und wir werden auch in diesem Jahr wieder ein eigenes Team aufstellen. Deshalb suchen wir engagierte Persönlichkeiten, die als Teil unseres Teams an den Start gehen und ein Zeichen gegen soziale Ausgrenzung und Ungerechtigkeit setzen möchten! Laufen Sie gemeinsam mit uns und unterstützen Sie Surprise, seine Verkaufenden, sein Engagement und seine Ziele! Oder unterstützen Sie unsere Läufer mit einer Spende! Nähere Infos zur Anmeldung und zum Basler Marathon auf www.charityrun.vereinsurprise.ch oder unter www.iwbbaselmarathon.ch
Surprise feiert vor Ort! Kommen Sie vorbei und feiern Sie mit! Da wir in diesem Jahr sowohl unser 15-jähriges Bestehen als auch das Erscheinen der Ausgabe unseres 300. Strassenmagazins feiern, möchten wir dies gerne gemeinsam mit Ihnen tun! Dazu haben wir an zahlreichen Daten in diversen Schweizer Städten Standaktionen geplant. Wir laden Sie herzlich ein, an den jeweiligen Daten zwischen 10 und 17 Uhr bei uns vorbeizuschauen und sich überraschen zu lassen. Das nächste Datum lautet: Liestal, 21.08.2013, Marktgasse
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