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Saat gut? Das Geschäft mit unserer Nahrungsgrundlage «Fairphone» – der gescheiterte Versuch

Vorurteile? Jugendliche aus Osteuropa über ihr Leben und die Schweiz

Nr. 307 | 23. August bis 5. September 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Schön und gut. Ab sofort sind die neuen Surprise-Caps bei uns in Einheitsgrösse erhältlich: Zur Auswahl stehen sie in den Farben Schwarz und Beige. Zugreifen! Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

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schwarz

50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

Alle Preise exkl. Versandkosten.

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Titelbild: WOMM

Werbung ist manchmal entlarvend. «Jetzt kann sich jeder alles leisten!» war vor einer Weile in Grossbuchstaben auf Inseraten zu lesen. Ein Elektronikdiscounter warb dafür, dass er seine Geräte neuerdings ohne Zins auf Pump abgab. Das war kurz bevor in den USA die Hypothekarkrise ausbrach – weil sich viele Amerikaner wegen der niedrigen Zinsen und Anzahlungsraten Häuser kauften, die sie sich nicht leisten konnten. Wie die Faust aufs Auge passt auch die jüngste Werbekampagne eines Schweizer Mobilnetzanbieters auf unseren Bericht über das Fairphone. «Du willst immer das Neuste haben? Du kannst», heisst es auf den Plakaten. Gemeint ist immer das neuste Handy, das einem der Anbieter zu günstigen Konditionen offeriert, wann immer man Lust darauf hat. FLORIAN BLUMER Unser Bericht über das Fairphone zeigt auf, warum wir das können und wer dafür REDAKTOR bezahlt: Es sind die Kriegsopfer im Kongo, wo sich Warlords über den Verkauf von Kobalt für die Handyherstellung finanzieren, es sind Kinder und Jugendliche im Kongo und anderswo, die den ganzen Tag im Kupferabbau schuften, es sind Arbeiterinnen und Arbeiter in chinesischen Fabriken, die sich nicht gewerkschaftlich gegen unfaire bis unmenschliche Arbeitsbedingungen wehren dürfen. Der Bericht unseres Autors Stefan Michel zeigt auf, warum der Versuch, ein faires Smartphone zu produzieren, gescheitert ist. Werbung darf heute praktisch alles. Logisch, sie befeuert ja den Konsum, und der wiederum ist Grundlage für das Wirtschaftswachstum, das in unserem Wirtschaftssystem den Status eines praktisch unanfechtbaren Dogmas geniesst. Doch was ist mit Werbekampagnen, die zu exzessivem Konsum von Produkten aufrufen, die nur mit groben Menschenrechtsverletzungen herstellbar sind? «Geiz ist geil» wurde uns vor ein paar Jahren eingetrichtert, ebenfalls von einem Elektronikdiscounter. Der Slogan steht sinnbildlich für eine Mentalität der Preisdrückerei, koste es (andere), was es wolle. Und angesichts des Wissens, das wir heute über die Hintergründe haben, klingt er wie eine Verhöhnung der Männer, Frauen und Kinder, die in Kupferminen schuften und in Ausbeutungsfabriken malochen, damit sich hier jeder alles leisten kann. Vielleicht doch irgendwie ungeil. In eigener Sache: Surprise-Geschäftsleiterin Paola Gallo wurde an der Jahreskonferenz des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen in den Vorstand der weltumspannenden Organisation gewählt. Wir freuen uns, dass Surprise in Zukunft an vorderster Front an der Weiterentwicklung des Mediums Strassenzeitung mitwirken wird! Ich wünsche eine anregende Lektüre, Florian Blumer

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 307/13

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BILD: ZVG

Editorial Geiz ist ungeil


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10 Smartphones Nicht ohne Kinderarbeit Erst wollten sie einfach auf die Problematik der Rohstoffförderung im Kongo aufmerksam machen. Dann kam das Projektteam um den Holländer Bas van Abel auf die Idee, gleich ein eigenes, faires Handy herzustellen. Das Experiment ist gleichzeitig geglückt und gescheitert: Das «Fairphone» kommt diesen Herbst heraus und wird das am fairsten produzierte Smartphone auf dem Markt sein. Die Macher mussten aber einsehen: Es ist heute nicht möglich, ein Smartphone ohne Kinderarbeit und Ausbeutung zu produzieren.

BILD: FAIRPHONE

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Inhalt Editorial Ungeile Werbung Basteln für eine bessere Welt Beruhigungstasse Brief aus San Francisco Das ist Amerika Zugerichtet Wie eine Weihnachtsgans INSP-Konferenz Zukunft mit Surprise Starverkäufer Hans Peter Meier Porträt Graffitis in Kabul Kurzgeschichte Liebesbrief von Urs Mannhart Wörter von Pörtner Stadt- und Landflucht Franz Ferdinand Sie sind zurück Kultur Mörderische High Society Ausgehtipps Spiderman trägt Bierbauch Verkäuferporträt Haimanot Ghebremichael Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

13 Kinderdorf Schritt für Schritt die Welt verändern BILD: LUC-FRANÇOIS GEORGI

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Aleksandra möchte Politikerin werden – und zwar eine, die nicht korrupt ist. Blaže wird sich für Roma und Homosexuelle stark machen. Valeria will in Zukunft nicht mehr auf die Landbevölkerung herabschauen. Und Radovan will den angestaubten Unterricht aufmischen. Diesen Sommer waren rund 120 Jugendliche aus Moldawien, Mazedonien und Serbien im Kinderdorf Pestalozzi zu Gast. Surprise hat vier von ihnen getroffen und mit ihnen über ihre Heimat, ihre Zukunftswünsche und die Schweiz gesprochen.

16 Saatgut Sag mir, wo die Samen sind

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BILD: FABIAN VON UNWERTH

Der Handel mit Saatgut ist ein Milliardengeschäft, beherrscht von zehn multinationalen Unternehmen. Diese dominieren auch gleich den Markt für Pflanzenschutzmittel und Dünger. Verlierer dieser Entwicklung ist die Vielfalt: Drei Viertel der Kulturpflanzensorten sind im Laufe der letzten 100 Jahre verschwunden. Die Schweizer Bio-Saatgutpionierin Christine Zollinger kämpft für die Rettung alter Sorten. Und sie ist entschlossen, auch der neusten EU-Verordnung zugunsten der Multis zu trotzen.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

1. Kaufen Sie sich eine grosse, weisse Kaffeetasse Modell «Detective Mug» und ein Set Porzellanstifte (erhältlich im Bastelladen).

2. Bemalen Sie die Tasse mit beruhigenden Motiven wie Regenbogen, Sonnenuntergang, Schildkröten, Schnecken oder Buddhas. Ergänzen Sie diese mit gut gemeinten Aufforderungen an sich selbst wie: Go slow, take it easy oder shanti, shanti. Einmal mehr ist Ihre Kreativität gefragt!

3. Schalten Sie das Handy aus, machen Sie sich einen guten Kaffee, setzen Sie sich hin und trinken Sie schön langsam Schluck für Schluck, während Sie das Design Ihrer neuen Tasse auf sich wirken lassen.

Basteln für eine bessere Welt Coffee to stay Erinnern Sie sich noch an Kaffeewerbungen von vor 15, 20 Jahren? «… und plötzlich hat man Zeit»? Die Zeiten haben sich geändert, Zeit hat man keine mehr. Zwar wird heute wieder Wert auf Bohnensorte, Röstung und den Preis der Kaffeemaschine gelegt (Surprise berichtete), am liebsten aber lässt der moderne Mensch den schönen Kaffee dann in einem Kartonbecher lauwarm werden, um ihn sich auf den Zug rennend ins Gesicht zu schütten. Wir empfehlen eine Rückkehr zu den guten alten Zeiten. SURPRISE 307/13

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Brief aus San Francisco Das ist Amerika VON AMIR ALI

Zwei Monate und tausende Meilen von Küste zu Küste sollten reichen, um sich eine Meinung über Amerika zu bilden – könnte man meinen. Ich bin, ehrlich gesagt, weiter davon entfernt als je zuvor. Besser, ich lasse die Menschen und Geschichten sprechen, die ich hier antraf. «Es mag eitel klingen», entschuldigte sich Kevin, als wir uns über amerikanische Einwanderungspolitik im Allgemeinen und unfreundliche Grenzbeamte im Speziellen unterhielten. «Aber viele hier glauben, wir seien der einzige erstrebenswerte Ort auf der Welt. Und den gilt es zu verteidigen.» Kevin selbst hat acht Jahre in der Marine gedient. Jetzt, mit 26, holt er seinen Uni-Abschluss nach, auf Kosten des Staates. «Für mich hat sich die Armee gelohnt», sagt er offen. Das Schicksal von Kate und Jen bleibt ihm damit erspart. Wie fast alle amerikanischen Uni-Absolventen mussten sie für ihr Studium Darlehen aufnehmen. Bis sie ihre Schulden abbezahlt haben, werden Jahre vergehen. Trotzdem haben sie es nicht eilig damit, Karriere zu machen. Beide haben ihr schönes Philadelphia verlassen, um den Sommer mit Fronarbeit im serbelnden Detroit zu verbringen. Sie bauen in Stadtfarmen Gemüse an und helfen beim Abriss von zerfallenen Häusern. «Hier braucht es uns, also sind wir hier», sagte die zierliche blonde Kate. Daneben stand Chris, der einst als Musikproduzent zu Geld kam. Sein Vermögen investiert er heute in Immobilien in der bankrotten Stadt, in der angeblich keiner mehr leben will. Chris meinte nur, Häuser seien «better business» als Welthits. Roger traf ich on the road. Unsere Hintern litten 20 Stunden lang nebeneinander auf den staubigen Sitzen eines klapprigen Greyhound-Busses. Irgendwo im Nirgendwo von Iowa oder South Dakota erzählte er mir von jenem Sheriff in Arkansas, der ihn wegen eines halben Pfundes Gras zwei Monate eingebuchtet hatte. «Ich habe die Steuerzahler gerade zehntausende Dollar gekostet. Und eine Knastfirma verdient sich eine goldene Nase», sagte er unbeeindruckt. Der Schotte, der das kleine Hotel in San Francisco führt, meinte nur, nach 17 Jahren sei es Zeit, nach Hause zu gehen. «Der Nebel hier ist unerträglich», sagte er. «Es ist arschkalt – und sie nennen es Gottes Klimaanlage! Das ist Amerika.»

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Zugerichtet Er wird nicht ruhen Der Angeklagte hatte vor Schranken alles gegeben. Sein Geständnis war nicht nur umfassend, sondern auch filmreif vorgetragen. Mit wallendem Blondhaar beteuerte er wiederholt seine tiefste Reue. Durch die betrügerischen Taten und den daraus entstandenen Schaden von über drei Millionen Franken befinde er sich nun «in einem mentalen Gefängnis», «stehe vor einem Scherbenhaufen». Er werde nicht ruhen, bis die Schuld getilgt sei, weshalb es besser sei, wenn er eben nicht ins Gefängnis müsse. Und man glaubte ihm sein Leid sogar – wenn auch eher sein Selbstmitleid. Schliesslich war es jetzt vorbei mit seinem aufwendigen Lebensstil: Keine schicken Ferien mehr an exotischen Destinationen, auch keine feinen italienischen Massanzüge, und der Luxuswagen ist auch weg. Sowie die edle Zweitwohnung an der Goldküste für sage und schreibe 13 000 Franken Monatsmiete. Und nicht zuletzt hatte er mit dem ergaunerten Geld eine eigene Firma gegründet, die jetzt aber im Konkurs ist. All dies weist natürlich auf eine fette Beute hin – die Tat war im Gegensatz zu seinem Lebensstil alles andere als nobel. Der damals rund 40-jährige Finanzberater zog 2003 in ein Zweifamilienhaus in einer feinen Zürcher Seegemeinde und lernte schon bald seine 60jährige Nachbarin kennen. Innert weniger Monate entstand ein solch inniges Vertrauensverhältnis, dass die, wie sich zeigte, sehr vermögende Dame dem feschen jungen Schweizer ihr Vermögen anvertraute. Man mag ihm ja vielleicht glauben, dass er ihr durchaus eine professionelle Vermögensverwaltung zukommen lassen wollte – doch sobald das Geld in seinen Fingern war, war er

«wie vom Teufel geritten», wie er vor Gericht sagt. Er zog denn auch sämtliche Register. «Raffiniert, dreist und gründlich» – mit einem solchen Slogan hätte er für sich und sein Vorgehen werben können. Er konstruierte eine ganze Schattenbuchhaltung mittels gefälschter Bankauszüge, unterdrückter Urkunden und getürkter Steuerausweise. Zwischen all diesen millionenschweren Betrügereien nahm er bei der Geschädigten zwei Privatdarlehen auf, insgesamt fast eine halbe Million Franken, die er der Dame mit deren eigenem Geld zurückbezahlte. Eng wurde es für den Betrüger erst Jahre später, als die Nachbarin ihre Vermögenswerte neu auf eine etablierte Bank verschieben wollte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen – nach vorn. Er gestand ihr, was er getan hatte, sie zeigte ihn an, und die eingeleitete Strafuntersuchung brachte das Ausmass ans Licht: 3,4 Millionen Franken hatte der Angeklagte ertrogen. Diesen Betrag muss er der Geschädigten laut Urteil zurückerstatten. Die mitreissend gemimte Reue brachte ihm fast gar nichts, der Richter glaubte ihm kein Wort und zürnte: «Wie eine Weihnachtsgans haben Sie die Geschädigte gerupft.» Und weshalb? «Aus reiner Geldgier.» Schliesslich habe er als Finanzberater ja schon einen ordentlichen Lohn gehabt: 13 000 Franken! Es ist ein tiefer Fall: Der Mann, der heute bei seiner Mutter lebt und kein stetes Einkommen mehr hat, aber 3,4 Millionen Schulden, wird nun für 15 Monate den Gefängnisalltag kennenlernen. Dazu kommt ein Berufsverbot von drei Jahren – und da muss man sagen, da hat er Glück und die Welt Pech gehabt. Lebenslänglich wäre beruhigender gewesen. YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 307/13


INSP-Konferenz 2013 Gemeinsam in die Zukunft An der diesjährigen INSP-Konferenz in München wurde über die Zukunft im digitalen Zeitalter diskutiert. Und Surprise-Geschäftsleiterin Paola Gallo wurde in den Vorstand des internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen gewählt.

Paola Gallo (vorne, in den pinkfarbenen Hosen) inmitten der INSP-Familie.

«Wie können Strassenzeitungen im digitalen Zeitalter überleben?» Mit dieser Frage beschäftigten sich die über 100 Teilnehmer aus 40 Ländern an der Konferenz des internationalen Netzwerks INSP in München, darunter auch Vertreterinnen und Vertreter von Surprise. Strassenzeitungen aus aller Welt probieren gegenwärtig neue Konzepte aus. Big Issue

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

Mittendrin statt nur dabei: Surprise-Geschäftsleiterin und INSP-Vorstandsmitglied

in the North aus Manchester testete eine digitale Ausgabe, die die Verkäufer mittels QR-Codes verkauften – es zeigte sich allerdings, dass die Käufer nach wie vor die Papierausgabe bevorzugen. Street Roots aus Portland, USA, dagegen machte gute Erfahrungen mit dem Aufbau einer Internet-Community über Twitter. Fazit der Workshops und Diskussionen: Strassenzeitungen müssen mit der Zeit gehen, auch online und in den sozialen Netzwerken präsent sein – doch mit ihrem speziellen Konzept und dem Verkauf auf der Strasse dürften sie auch in Papierform eine Zukunft haben. Ein Höhepunkt der diesjährigen Konferenz aus Surprise-Sicht war die Neubestellung des INSP-Vorstands: Surprise-Geschäftsleiterin Paola Gallo wurde für die nächsten fünf Jahre in das fünfköpfige Gremium gewählt. Sie sagt: «Ich freue mich darauf, im Vorstand des Dachverbandes der Strassenzeitungen mitzuwirken. Die Strassenzeitungen weltweit zu unterstützen und zu stärken, ist eine herausfordernde und spannende Aufgabe, die auch bei Surprise Synergien ergeben wird.» Zum Schluss der Konferenz wurden die «International Street Paper Awards 2013» verliehen. Auch Surprise war mit der Reportage «Im Nichts» über das Flüchtlings-Ausreisezentrum im bündnerischen Valzeina nominiert (aus Surprise 283, abrufbar im Archiv auf www.vereinsurprise.ch). Der Preis ging dann aber an den Autor einer RechercheStory aus England, die aufdeckte, wie Obdachlose von privaten Anbietern von Übernachtungsgelegenheiten ausgenutzt werden. Ob bei den Entwicklungen in den digitalen Medien oder auszeichnungswürdigen Geschichten: Wir bleiben dran! (fer) ■

Starverkäufer Hans Peter Meier Yvonne Lenzlinger aus Winterthur schreibt: «Als begeisterte Surprise-Leserin der ersten Stunde möchte ich ein kleines Loblied auf meinen Starverkäufer singen: Hans Peter Meier gehört zum Bellevue in Zürich wie die Apotheke, vor der er täglich anzutreffen ist, und die vielen Trams, die dort vorbeifahren. Er ist ein unauffälliger, etwas scheu wirkender Mann. Doch wer auf ihn zugeht, eine Zeitschrift kauft und vielleicht ein paar Worte mit ihm wechselt, dem schenkt er ein wunderbares Lächeln; ein kurzes Strahlen huscht über sein Gesicht und begleitet mich ein Stück in meinem geschäftigen Alltag. Danke, Herr Meier!»

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SURPRISE 307/13 BILD: FRANK NORDMANN FÜR TERRE DES FEMMES SCHWEIZ


Porträt Freiheit aus der Spraydose Shamsia Hassani ist Uni-Professorin und Graffiti-Künstlerin. Sie wird zu Vorträgen und Ausstellungen auf der ganzen Welt eingeladen, doch wenn sie daheim in Kabul sprayen will, braucht sie männliche Begleitung. VON FRANZISKA KOHLER

ja, das würde sie auch gern eines Tages, sagt Hassani. Aber einen afghanischen Mann zu finden, der eine Professorin zur Frau will, eine Künstlerin, eine Graffiti-Sprayerin noch dazu – «das ist fast unmöglich». An der Uni lernt sie zwar Männer kennen, «doch das sind nur gute Freunde». Die Uni in Kabul ist der einzige Ort, an dem sich Hassani mit ihren Freunden treffen kann. Von morgens um acht bis abends um sechs Uhr studiert und unterrichtet sie hier, ihre Tage sind lang und anstrengend. Die Abende verbringt sie zuhause, mit Malen und Musikhören. Die Songlist auf ihrem PC liest sich wie eine Aufzählung der Orte, die ihr wichtig sind und die sie schon besucht hat: Viele afghanische Künstler sind darauf zu finden, Musik aus Indien, aus Grossbritannien. Eine Freundin aus Deutschland spielte ihr vor einiger Zeit Songs von The XX vor, einer Indie-Elektro-Band aus London. «So hört sich Freiheit an», habe sie da gedacht, und: «Sie klingen wie meine Bilder.» Mit Freiheit haben Hassanis Bilder auf den ersten Blick nicht viel zu tun: Sie malt vor allem mit blauen Burkas verhüllte Frauen, alleine oder in Gruppen, die in den Himmel ragen oder dann auf dem Boden sitzen, in sich zusammengesunken. Trotzdem brechen ihre Graffitis die Regeln: Die Burkas sind, anders als in der Realität, eng anliegend, lassen Hüften und Schultern der Frauen erkennen. Manchmal schweben neben ihnen weisse Figuren in der Luft, fischähnlich, mit einem grossen Auge in der Mitte. «Sie stellen die vielen unausgesprochenen Worte und Wünsche der afghanischen Frauen dar», sagt Hassani. «Ich gebe ihnen eine Gestalt und lasse sie frei.» Indem sie die Wände Kabuls mit den Bildern und Gedanken der Frauen besprayt, will Hassani ihnen ihren Platz in der afghanischen Gesellschaft zurückgeben. Und schlechte Erinnerungen auslöschen, indem sie die Einschusslöcher in den Wänden übermalt, die aus den kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte stammen. Ob sie mit ihren Graffitis auch eigene schlechte Erinnerungen übermalen möchte? Nein, sagt Hassani, ihr Leben sei bis jetzt vergleichsweise glücklich verlaufen. Ihre Familie unterstützt sie, mag ihre Kunst – «zumindest behauptet sie das» –, lässt sie auf Reisen gehen und freut

Als Shamsia Hassani im Juni in Zürich war, stürzten sich die Medien auf sie. Eine Frau, gerade mal 25-jährig, aus Afghanistan, dem Land der Taliban und der Bombenanschläge, die Kunst macht und erst noch Graffiti – das ist spannender Stoff. «Ich bin eine gute Story», sagte Shamsia damals zu einem Schweizer Journalisten. Sie weiss um ihren Seltenheitswert und nutzt ihn gekonnt. Um zu zeigen, dass Afghanistan nicht nur das Land der Taliban und der Bombenanschläge ist. Sondern auch das Land, in dem Frauen Kunst machen. Eine grosse Aufgabe für eine so junge, zarte Person. Denn egal ob sie im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Voix des Femmes» von Terres des Femmes Schweiz auf dem Podium in Zürich über ihre Kunst spricht oder am Telefon erzählt, wie ihr Tag in Kabul war: Mit ihrer leisen Stimme und dem kleinen Lachen, das sie jedem Satz hinterherschickt, wirkt Shamsia schüchtern. Sie trägt Kopftuch und einen knielangen Mantel, hat sorgfältig geschminkte Augen und feine Hände. Eine Graffiti-Künstlerin stellt man sich anders vor – bis sie sich einen Schal ums Gesicht wickelt, an die Wand steht und loslegt. So sieht also eine afghanische Sprayerin aus. Eine gute Story, das ist Shamsia Hassani bestimmt. Wer zwischen den Zeilen dieser Story liest, der merkt: Sie zu schreiben war und ist für Hassani nicht leicht. Ihre Kindheit verbrachte sie im Nachbarland Iran, die Familie war nach der sowjetischen Intervention in Afghanistan in den Achtzigerjahren dorthin geflüchtet. Schon als Kind wusste sie, dass sie nichts anderes als Künstlerin werden wollte. Doch als sie sich an der Uni in Teheran bewarb, wies man sie ab – man wollte keine afghanischen Flüchtlinge. Sie fing an, Buchhaltung zu studieren, bis ihre Familie 2005 nach Afghanistan zurückkehrte und sie sich in Kabul an der Kunstfakultät einschreiben durfte. Mit 21 Jahren schloss sie ihr Studium ab – schon in der Grundschule hatte sie einige Klassen übersprungen. Heute unterrichtet sie an der Uni Zeichnen und macht gleichzeitig ein Masterstudium. Sie ist oft im Ausland unterwegs, wird zu Ausstellungen und Vorträgen in der ganzen Welt eingeladen, gibt Interviews und vermarktet ihre Bilder. Ihr Atelier musste Shamsia Hassani selber Manchmal wacht sie am Morgen auf und fühlt sich grundlos traurig. zusammenzimmern. Denn im Haus, in dem Dann setzt sie sich in ihren Kleiderschrank, weint und zeichnet. sie mit ihren Eltern und zwei ihrer drei Geschwister wohnt, gibt es nur zwei Zimmer. Aus Brettern baute sie sich in einer Ecke einen kleinen Raum, knapp sich, wenn sie wieder da ist. Manchmal aber wacht sie am Morgen auf sechs Quadratmeter gross, in den sie sich zurückzieht, um zu malen. und fühlt sich grundlos traurig. Dann setzt sie sich in ihren Kleider«Manchmal kann ich die Tür nicht hinter mir schliessen, weil alles so schrank, weint und zeichnet. «Die Schrankwände sind schon total vollvollgestopft ist», erzählt sie. Wenn sie auf der Strasse arbeitet, muss gekritzelt.» sich Hassani fürchten. Denn Graffitis werden in Afghanistan nicht gern Die Zahl 2014 macht ihr Angst: Niemand weiss, was aus Afghanistan gesehen, von Frauen gemalte erst recht nicht, ausserdem ist es für sie wird, wenn die NATO Ende des Jahres ihre Truppen abgezogen hat. fast unmöglich, ohne männliche Begleitung nach draussen zu gehen. Viele fürchten einen Rückfall ins Chaos, in die Zeiten der Taliban. Das Darum hat sie angefangen, manche Wände nicht direkt zu bemalen, würde das Ende der eben erst wiederauferstandenen Kunstszene Afsondern zu fotografieren und die Fotos danach mit Pinsel und Akrylghanistans bedeuten. Hassani will sich nicht ausmalen, was aus ihr farbe zu bemalen – «Dreaming Graffiti» nennt sie diese Bilder. «Es ist werden würde, wenn ihre Graffitis plötzlich verpönt oder gar verboten nicht dasselbe, aber wenigstens muss ich dabei keine Angst haben.» wären. «Themawechsel», sagt sie, als die Frage danach aufkommt. DieShamsia Hassani gibt für ihre Leidenschaft viel auf. Ihre älteste ses Kapitel der Story ist noch nicht geschrieben, weder für Shamsia Schwester wohnt nicht mehr zuhause, sie ist verheiratet, und heiraten, Hassani noch für Afghanistan. ■ SURPRISE 307/13

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BILD: FAIRPHONE

Schuften für unser Handy: Kinder aus Kolwezi, Kongo, beschäftigt im Abbau von Kupfer und Kobalt.

Smartphones Fairer geht’s nicht Wenn das Fairphone Ende Herbst 2013 herauskommt, wird es das nachhaltigste und sozialverträglichste Smartphone auf dem Markt sein. Blutdollars, Kinderarbeit und Gewerkschaftsverbot stecken aber auch in dessen Produktion.

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VON STEFAN MICHEL

Das Beste unter Schlechten Das Projekt Fairphone war anfänglich eine Bewusstseinskampagne: Man wollte auf die Kollateralschäden der Mobiltelefon-Herstellung aufmerksam machen. Dann realisierten die Campaigner um Gründer Bas van Abel, dass sie ein Handy bauen mussten, um ihr Ziel zu erreichen. «Unser Telefon ist ein praktisches Beispiel, um zu zeigen, wie unsere Wirt-

BILD: ZVG

Bei Fairphone herrscht Euphorie. Mehr als 12 000 Menschen haben innert zwei Monaten das faire Smartphone bestellt, ohne es je in den Händen gehalten zu haben. Das Medienecho ist riesig, Handynutzer bestürmen Provider, das Fairphone mit Vertrag anzubieten. In den Büros der Firma in Amsterdam brummt es. «Als ich vor sieben Monaten einstieg, arbeiteten hier sieben Leute. Jetzt sind wir schon zu zwölft», sagt Roos van de Weerd von Fairphone. Die Website versprüht Optimismus: «Unsere Geschichte. Sie ist gross, klein und sie dreht sich um dich», heisst es dort auf Englisch. Keine Euphorie ob des neuen Telefons ist bei der Erklärung von Bern auszumachen. Flurina Doppler vom Fachbereich Konsum erklärt: «Der Name Fairphone ist etwas irreführend, es ist kein faires Handy.» Dennoch begrüsst die EvB die Lancierung, denn dadurch erhalte die Diskussion über die Herstellungsbedingungen von Handys neuen Schub.

die Arbeitskosten für das Zusammensetzen machen davon um die acht Franken aus. Nicht enthalten sind die Kosten für Entwicklung, Transport und Marketing. Dennoch, bei einem Verkaufspreis um 700 Franken (ohne Vertrag bei einem Netzanbieter) ist die Gewinnspanne für Apple enorm. Für das Samsung Galaxy S4 errechnete isuppli.com 230 Franken Herstellungskosten. Auch dieses Gerät kostet ohne Vertrag um 700 Franken. Das Fairphone ist für 400 Franken zu haben.

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«Wir wollen in China etwas ändern, darum lassen wir nicht in Europa produzieren.» Roos van de Weerd, Mediensprecherin Fairphone.

schaft funktioniert. Indem wir es produzieren, gehen wir die grossen Fragen und Herausforderungen an, die sich uns aus menschlicher Perspektive stellen», heisst es dazu auf der Fairphone-Website. 20 000 Smartphones versprachen die Amsterdamer zu produzieren, sollten innert vier Wochen mindestens 5000 Stück bestellt werden. Das Ziel wurde locker erreicht, und es könnten wohl mehr als die 20 000 Geräte abgesetzt werden. Doch man will klein bleiben, und das mit gutem Grund. Roos van de Weerd erklärt: «Die Rohstoffmengen, die wir brauchen, sind überschaubar. Und als kleiner Hersteller können wir persönliche Beziehungen zu den Lieferanten aufbauen. Würden wir doppelt so viele Telefone produzieren, hätte unser Partner, von dem wir das Tantal beziehen, ein Problem.» Je grösser die Stückzahl, desto schwieriger ist es, etwas zu ändern. Nicht nur wissen die grossen Hersteller oft kaum, wo das Rohmaterial und die Einzelteile herkommen. Sie brauchen auch so grosse Mengen davon, dass in kurzer Zeit kaum genügend fair geförderte oder produzierte Ware verfügbar wäre. Drei Jahre Arbeit kostete BILD: FAIRPHONE

Dollars für Warlords Ein Smartphone, also ein Mobiltelefon, das auch ein tragbarer Personal Computer und eine Digitalkamera ist, besteht aus rund 30 verschiedenen Metallen und insgesamt aus über 60 Stoffen. Um die 300 Einzelteile werden in einem Gerät verbaut. Hersteller wie Apple und Samsung (die eigentlich keine Hersteller, sondern lediglich Entwickler und Vermarkter sind) geben an, über 150 verschiedene Zulieferer zu haben. Einige dieser Zulieferer beziehen ihrerseits von weiteren Zulieferern Material und Einzelteile. Zudem wechseln Lieferanten laufend. Die Lieferkette von den Rohstoffen bis zum fertigen Telefon ist hoch komplex. Wo und unter welchen Bedingungen ein einzelnes Gerät entsteht, lässt sich bei den konventionellen Anbietern nicht feststellen. Die negativen Folgen hingegen sind offensichtlich. Eine Studie der deutschen NGO Südwind zeigt von den Rohstoffen über die Herstellung bis zur Entsorgung, welche Schäden der Handymarkt verursacht, wer die Leidtragenden und wer die Profiteure sind. Am Anfang der Lieferkette steht die Rohstoffgewinnung. Bekanntestes Beispiel ist Tantal, das für die Herstellung hitzebeständiger Kondensatoren gebraucht wird. Grosse Vorkommen liegen in der Demokratischen Republik Kongo, mitten im Bürgerkriegsgebiet. Mit dem Verkauf füllen Warlords ihre Kriegskasse. Der Abbau erfolgt meist unter menschenverachtenden Bedingungen. Die Förderung anderer Metalle wie Aluminium oder Gold schädigt an vielen Orten die Umwelt und zerstört zum Beispiel in Indonesien die Lebensgrundlage der Bauern in der Umgebung von Minen. Berüchtigt sind auch die Arbeitsbedingungen in den Fabriken in Asien, wo die meisten Mobiltelefone zusammengebaut werden. In Schutzanzüge verpackt setzen Arbeiterinnen und Arbeiter Handys oder dafür benötigte Bauteile zusammen. Die klinisch reine High-Tech-Atmosphäre kontrastiert scharf mit meist prekären Arbeitsbedingungen: Löhne unter dem Existenzminimum, erzwungene und manchmal unbezahlte Überstunden, mangelhafter Schutz vor giftigen Stoffen, verschlossene Notausgänge und Gewerkschaftsverbot sind die gewichtigsten Vorwürfe. Ein Teil der Missstände ist hausgemacht. Soll heissen, es ist in China, Vietnam oder Indien schlicht üblich – wenn auch nicht immer legal –, einfachen Angestellten grundlegende Arbeitsrechte zu verweigern (siehe auch die Titelgeschichte im Surprise 303, vereinsurprise.ch, Archiv). Bei Millionen von Arbeitssuchenden finden sich immer genügend Menschen, die schlechte Bedingungen akzeptieren (müssen). Umso störender ist es, dass auch die grossen Mobiltelefon-Marken Druck auf die Hersteller ausüben, die Kosten zu senken und mit jeder noch so grossen Schwankung der Nachfrage Schritt zu halten. Ein iPhone 5 herzustellen, kostet laut dem Technologie-Portal isuppli.com rund 205 Franken,

Fairphone: Das erste Handy mit einem Gewissen.

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BILD: FAIRPHONE

es Fairphone, Tantal und Zinn aus konfliktfreien Quellen beziehen zu können – hätten sie nicht mit bestehenden Initiativen zusammenspannen können, wäre es noch schwieriger geworden. In der ersten Fairphone-Serie sind gerade mal zwei von 30 verwendeten Metallen «konfliktfrei». Kinderarbeit in den Minen können aber auch die «Conflict-free Tin Initiative» (Zinn) und das «Solutions For Hope Project» (Tantal) noch nicht verhindern. «Wie fair ist das?», fragt Roos van de Weerd, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit bei Fairphone, rhetorisch. Zu verbergen, wo das Fairphone seinem Namen nicht gerecht wird, gehört offensichtlich nicht zu ihrem Job-Profil. Strategie von Fairphone ist es hingegen, den Problemen nicht aus dem Weg zu gehen: «Es wäre einfacher gewesen, Tantal und Zinn woanders zu beschaffen als in der Demokratischen Republik Kongo», betont Roos van de Weerd, «aber damit wären wir vor dem Problem davongelaufen.» Aus dem gleichen Grund wird das Fairphone in China zusammengebaut. «Wir wollen in China etwas ändern, darum lassen wir nicht in Europa produzieren», gibt die Sprecherin selbstbewusst zu Protokoll. Dass sich mit einer Stückzahl von 20 000 die Verhältnisse ändern lassen, erscheint nicht sehr wahrscheinlich – die Grossen lassen jährlich Mobiltelefone im dreistelligen Millionenbereich produzieren. Oder, Frau Van de Weerd? «Wir zeigen, dass es möglich ist», sagt sie. Und erklärt: Eine externe Stelle überprüfe die Arbeitsbedingungen in Fairphones Partnerfirma. Ein Arbeiter-Fonds, gespiesen aus Zahlungen von Fairphone und verwaltet durch das chinesische Unternehmen und die Angestellten, stocke die Löhne auf ein existenzsicherndes Niveau auf, gebe den Arbeitenden Mitspracherecht und sei gedacht als Mittel zu ihrer Emanzipation. Kein Weltfrieden, kein faires Phone Das Fairphone ist ein Demonstrationsobjekt, nicht mehr und nicht weniger. Ziel ist es, eine transparente Lieferkette aufzubauen, die Stufe für Stufe zeigt, unter welchen Bedingungen, zu welchem Preis und mit welchen Folgen das Telefon produziert wurde. Ausserdem wollen die Minenarbeiter in Kolwezi, Kongo, schleppen Eisenerz, um es danach zu waschen. Fairphone-Macher demonstrieren, dass es möglich ist, die ProduktionsUNO-Mitgliedern akzeptierte Standards werden in der Mobiltelefonprobedingungen zu verbessern. Wenn das Telefon in den Verkauf kommt duktion – wie in der Elektronik-Branche überhaupt – laufend verletzt. (die Auslieferung ist auf Ende Herbst 2013 versprochen), dann wird es Ohne Folgen für die Verantwortlichen. das unter den besten Bedingungen produzierte Smartphone auf dem Würden die ILO-Konventionen sowie nationale Arbeits- und UmMarkt sein. Fair ist es noch lange nicht. weltgesetze durchgesetzt, ginge es den Beschäftigten und der Umwelt Auch im Fairphone stecken Blutdollars, Kinderarbeit, Organisationsschon sehr viel besser. Dennoch bliebe genügend Luft nach oben, was verbot für die Arbeitenden und Umweltschäden. Ist ein zu 100 Prozent die Schaffung wirklich fairer Verhältnisse angeht. Traurige Realität ist, faires Telefon überhaupt möglich? Roos van de Weerd macht sich nichts dass heute schon minimale Verbesserungen der Produktionsbedingunvor: «Dazu müssten wir zuerst Weltfrieden schaffen. Nein, ich glaube gen reichen, um ein neues Smartphone zum Klassenbesten und zum nicht, dass das möglich ist.» Fairphone verspricht, die Produktion internationalen Medien-Ereignis zu machen. Schritt für Schritt fairer zu machen. «Damit wollen wir die Grossen der ■ Industrie inspirieren, vielleicht auch ein wenig unter Druck setzen.» Damit die grossen Hersteller etwas ändern, braucht es den Damit die grossen Hersteller etwas ändern, Druck der Kunden – und eine Umsetzung der Gesetze. braucht es den Druck der Kunden. Freiwillig bewegen sich die Firmen nicht, allen gut gemeinten Initiativen der Unternehmensverantwortung (Corporate Social Responsibility) zum Trotz. Weit wirksamer wäre es allerdings, wenn alle Staaten ihr geltendes Recht bezüglich Umwelt- und Sozialverträglichkeit durchsetzten und bestehende internationale Standards eingehalten würden. Und wenn Konzerne im Land ihres Hauptsitzes für die Schäden haftbar gemacht werden könnten, die ihre Tochterfirmen oder Zulieferer fernab der westlichen Justiz anrichten. In der Schweiz fordert dies die Kampagne «Recht ohne Grenzen», hinter der 50 Schweizer NGOs stehen. Die Internationale Arbeitsorganisation (eine Sonderorganisation der UNO) hat diverse weltweit verbindliche Konventionen verabschiedet, über die Bezahlung existenzsichernder Löhne, gegen Kinderarbeit, über Arbeits- und Gesundheitsschutz oder über wöchentliche Arbeitszeitbegrenzung (48 Stunden, maximal zwölf freiwillige Überstunden). Diese und weitere von den

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Kinderdorf «Wo bleibt das Spanferkel?»

Rund 120 Jugendliche aus Serbien, Mazedonien und Moldawien haben diesen Sommer das Kinderdorf Pestalozzi besucht. Surprise hat vier von ihnen getroffen – und sie zu ihrer Heimat und ihrem Eindruck von der ländlichen Schweiz befragt. VON MENA KOST (TEXT) UND LUC-FRANÇOIS GEORGI (BILDER)

Die Welt scheint nirgends heiler als im malerischen Trogen im Appenzell: Die Hügel sind mit sattem Grün überzogen, vor jedem Fenster blühen Blumen und selbst die Neubauten sind mit Holzschindeln verkleidet. Etwas oberhalb des Dorfes liegt das Kinderdorf Pestalozzi: Wohnhäuser, Gemeinschaftsräume, Cafeteria, Turnhalle und Spielplatz. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier Kriegswaisen aus ganz Europa untergebracht. Heute engagiert sich die Stiftung als gemeinnützige

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Bildungsorganisation weltweit in der Entwicklungszusammenarbeit. Diesen Sommer waren hier während zwei Wochen Jugendliche aus Serbien, Mazedonien und Moldawien zu Gast. Diese Länder sind noch immer geprägt von den ethischen Konflikten und Kriegen der vergangenen Jahrzehnte. In Workshops zu Themen wie Geschlechterrollen oder Diskriminierung hatten die Jugendlichen die Gelegenheit, eigene Werte zu hinterfragen und Vorurteile zu überdenken. An der 1.-August-Feier und am Grillabend standen dagegen das gegenseitige Kennenlernen und die Schweizer Kultur im Vordergrund.

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«Wer diskriminiert, ist mächtig»

«Häuser wie im Mittelalter»

Blaže Mukatetov, 15, kommt aus Kavadarci, einer mazedonischen Stadt mit rund 28 000 Einwohnern. Mit dem Zerfall Jugoslawiens 1991 wurde Mazedonien zur unabhängigen Nation, das Land befindet sich im strukturellen Aufbau. Mazedonien ist von hoher Arbeitslosigkeit und noch höherer Jugendarbeitslosigkeit betroffen.

Aleksandra Kovacevic, 16, kommt aus Backa Palanka, einer Stadt im Norden Serbiens in der autonomen Provinz Vojvodina. Serbien hat als Beitrittskandidat zur Europäischen Union eine westliche Orientierung. Trotzdem stellen die Bekämpfung von Korruption, die Achtung der Menschenrechte und die soziale Integration benachteiligter Gruppen grosse Herausforderungen dar.

«Als mich die Vereinigung für Interkulturalität in Kavadarci anrief und mir mitteilte, dass ich in die Schweiz fahren dürfe, war ich sehr glücklich. Ich bin immer für ein Abenteuer zu haben. Es ist bereits das zweite Mal, dass ich hier im Pestalozzi-Dorf bin. Und ich liebe die Schweiz! Ans Schweizer Essen musste ich mich allerdings erst gewöhnen, hier wird schon sehr viel Pasta gegessen … Was ich auch sehr lustig fand: An einem Abend haben wir gegrillt. Auf dem Grill lagen lauter kleine Würstchen. Jeder hat eines bekommen. Ich habe mich gefragt: Wo bleibt das Spanferkel? Wo sind die Fleischstücke? Aber wir haben hier natürlich nicht nur gegessen, sondern vor allem gearbeitet: Ich habe den Anti-Diskriminierungs-Workshop besucht. Mazedonien ist zwar ein kleines Land, aber wir haben ein sehr grosses Diskriminierungsproblem. Am stärksten Betroffen sind Roma und Homosexuelle. Im Workshop haben wir viel darüber gesprochen, wie Diskriminierung funktioniert. Das Problem ist: Wer diskriminiert, der ist mächtig. Und niemand gibt eine Machtposition gerne auf. Es hat deshalb keinen Wert, sich allzu sehr mit denen zu beschäftigen, die andere abwerten und ausgrenzen. Und diejenigen, die selber ausgeschlossen werden, können sich meist nicht wehren. Deshalb muss man sich auf jene konzentrieren, welche die Situation beobachten und wegschauen – oder eben nicht. Sie muss man dazu bringen, dass sie sich für die Opfer einsetzen. Das braucht Mut. Denn alle haben Angst, selbst diskriminiert zu werden. Also muss man versuchen, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Nur so kann der Teufelskreis aus Angst und Schweigen gebrochen werden. Wenn ich wieder in Mazedonien bin, werde ich einen Workshop für Kinder zum Thema Anti-Diskriminierung durchführen. Ich werde versuchen weiterzugeben, was ich hier gelernt habe. Hier in der Schweiz war ich der Schüler. In Mazedonien werde ich der Lehrer sein. Ich denke, wir Mazedonier können von der Schweiz viel lernen. Vor allem, wie das friedliche Zusammenleben verschiedener Sprachgruppen funktionieren kann. Aber die Schweizer können auch etwas von uns lernen. Nämlich Gastfreundschaft. Wenn du in Mazedonien durch ein Dorf wie Trogen spazierst, kommst du nicht weit: Jeder wird dich in seine Stube bitten und dir Tee und Gebäck servieren. Man wird dich fragen, was du hier tust und dich bitten, von deinem Leben zu erzählen. Hier in der Schweiz scheint das nicht so zu laufen. Die Menschen grüssen zwar höflich, aber das ist alles.»

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«Backa Palanka heisst übersetzt ‹kleine Stadt›. Dort wohne ich mit meiner Familie. Ich habe noch zwei Jahre Schule vor mir. Danach möchte ich Politikwissenschaften studieren und dann in die Politik gehen. Das grösste Problem Serbiens ist die Korruption. Deshalb ist es wichtig, dass es Politiker gibt, die unbestechlich sind. So eine Politikerin möchte ich werden. Ich werde mich dafür einsetzen, dass Jobs fair vergeben werden. Das ist mir sehr wichtig. Ich habe viele Bekannte, die gut ausgebildet sind und trotzdem seit Jahren im Service arbeiten – nur, weil sie nicht die richtigen Leute kennen. Natürlich kann man sagen: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Aber damit dieses Sprichwort zutreffen kann, muss die Korruption bekämpft werden. Sie untergräbt die Chancengleichheit. Besonders schwer haben es bei uns in Serbien die Roma. Sie gelten als faul. Jene, die gerne arbeiten möchten, werden deshalb nicht angestellt. Wie aber soll sich das Bild der Roma je verändern, wenn sie nicht die Chance bekommen, es zu korrigieren? Ein weiteres Thema, das mich beschäftigt, ist die Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen. Viele sprechen von ‹patriarchalen Strukturen›. Aber das tönt mir zu harmlos und zu zivilisiert. Natürlich sind Frauen und Männer in Serbien auf dem Papier gleichberechtigt. In der Realität aber werden Frauen bei der Jobvergabe benachteiligt. Einfach nur, weil sie Frauen sind. Das finde ich schlimm! Das Zusammensein mit den anderen Jugendlichen aus Mazedonien und Moldawien war sehr interessant. Ganz besonders gefallen hat mir der Kultur-Tag. Jede Gruppe hat ihr Land präsentiert. Wir haben die traditionellen Tänze gelernt und besondere Speisen gegessen. Man konnte sehen, wie ähnlich und trotzdem unterschiedlich unsere Kulturen sind. An den Schweizern ist mir ihre Freundlichkeit aufgefallen. Es scheint mir, dass alle sehr am Leben der anderen interessiert sind. Wenn man jemanden auf der Strasse etwas fragt, gibt er gerne Auskunft. Auch die Architektur hier ist sehr speziell. In Trogen etwa sehen die Häuser aus wie aus dem Mittelalter. Das ist irgendwie romantisch, mir gefällt das. Vor allem aber ist die Schweiz ein sehr reiches und sehr sicheres Land ohne Kriegsvergangenheit. Das zeigt sich zum Beispiel am guten Bildungssystem und an der Chancengleichheit. In Serbien ist der Krieg noch allgegenwärtig. Er hat mein Land weit zurückgeworfen – wir haben noch immer einen weiten Weg zu gehen.»

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«Gender? Das war mir neu»

«Auch Menschen vom Land sind gut»

Radovan Jovicic, 16, kommt aus Užice, einer Stadt in Serbien mit rund 60 000 Einwohner, nahe der Grenze zu Bosnien und Herzegowina. Die Zusammensetzung der Bevölkerung ist in den verschiedenen Landesteilen sehr unterschiedlich: Die bedeutendsten Minderheiten sind Ungarn, Bosnier und Roma. Laut offizieller Statistik leben in Serbien rund 108 000 Roma, inoffiziell wird ihre Zahl auf 500 000 geschätzt.

Valeria Umanet, 16, kommt aus Cricova, einem Vorort der moldawischen Hauptstadt Chisinau. Moldawien ist eines der ärmsten Länder Europas. Besonders die Situation der Kinder ist prekär: Rund 30 Prozent der Kinder im Alter zwischen fünf und 14 müssen arbeiten, 19 Prozent von ihnen sind verheiratet. 25 Prozent der Teenager finden es normal, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt.

«Vom Pestalozzi-Camp habe ich in der Schule erfahren. Ein Lehrer hat die Ausschreibung in der Klasse vorgelesen. Dann wurde ich ausgewählt. Warum, weiss ich nicht. Aber ich bin sehr glücklich darüber. Ich liebe es, neue Menschen zu treffen. Und ich liebe es zu reisen. Das kann ich jetzt sagen: Es ist nämlich das erste Mal, dass ich im Ausland bin. In Serbien spiele ich sehr oft Schach. Ich nehme auch an professionellen Wettbewerben teil und habe schon mehrmals gewonnen. Mit drei Jahren habe ich mit diesem Spiel angefangen. Mein Grossvater hat es mir beigebracht. Meine Eltern und ich wohnten damals bei ihm, in seinem Dorf. Es war eine harte, eine traurige Zeit, die Zeit der Luftangriffe auf Serbien. Für mich ist Schach ein wunderbares Spiel – und ich bin sehr stolz auf mein Können. Da ich in Serbien auch Schach unterrichte, konnte ich vom Unterricht hier sehr profitieren. Ich habe einen Workshop zum Thema Gender besucht. Zuerst habe ich mir gedacht: Ich freue mich auf die freie Zeit – und den Workshop werde ich schon irgendwie hinter mich kriegen. Aber es kam anders: Die freie Zeit war okay. Der Workshop hingegen war fantastisch. Wir haben viele spielerische Unterrichtsformen kennengelernt, die ich nun in meine Schach-Stunden einbauen werde. Das Schach-Training ist sehr hart – und etwas trocken. In Zukunft werde ich schauen, dass meine Schülerinnen und Schüler mehr Spass im Unterricht haben. Das Thema Gender war für mich neu. Ich habe vorher nie gross über die unterschiedlichen Rollenmodelle von Mann und Frau nachgedacht. Das war interessant. Aber ich finde, dass Männer und Frauen in Serbien gleichberechtigt sind. Wir haben diesbezüglich keine Probleme. Mein erster Eindruck von der Schweiz hat sich bestätigt: Es gefällt mir hier gut. Aber mir fehlt die serbische Mentalität, meine Freunde, meine Familie. Ich freue mich darauf, dass es bald nach Hause geht. Der Balkan ist ein Ort, wo man gut isst … Allerdings werde ich die anderen Leute aus dem Camp vermissen. Ich werde eine Facebook-Gruppe gründen, um mit einigen in Kontakt zu bleiben. Was ich einmal werden will, weiss ich noch nicht. Aber man sollte auch nicht zu sehr an die Zukunft denken, sondern Schritt für Schritt nehmen. Natürlich möchte ich gerne weiter Schach spielen. Aber vorerst ist meine Schulbildung wichtiger.» SURPRISE 307/13

«In Cricova wohnen viele reiche und berühmte Leute. Denn Cricova ist bekannt für seinen Wein. Viele hier haben eine grosse Weinsammlung. Sowieso ist Moldawien ein wunderbares Land. Wir haben wunderbare Landschaften. Auf das Camp in der Schweiz hat mich meine Mutter aufmerksam gemacht. Eine NGO hatte das Anmeldeformular auf der Homepage. Ich durfte mich vorstellen – und es hat geklappt. Nun bin ich hier. Die Workshops sind gut: Ich habe jede Minute davon genossen. Wir haben viel darüber gelernt, wie man miteinander umgehen sollte. Zum Beispiel sollte man mehr über seine Gefühle sprechen und nicht einfach den anderen die Schuld geben. So kommt man in Konflikten eher weiter. Wichtig ist auch, dass man etwas gegen die Diskriminierung bestimmter Gruppen unternimmt. In meinem Land hat besonders die Landbevölkerung zu leiden. In den grossen Städten gibt es gebildete Leute, die es zu etwas gebracht haben. Auf dem Land sind die Menschen arm und haben nur wenig Schulbildung. Einige versuchen ihr Glück in der Stadt. Aber die Städter schauen auf die Leute vom Land herab. Anstatt ihnen bei der Integration zu helfen, werden sie ausgeschlossen. Ich selbst bin in Moldawien noch nicht weit herumgekommen. Genauer gesagt: Ich kenne die ländlichen Gegenden kaum. Hier im Camp sind 40 Jugendliche aus Moldawien, viele von ihnen kommen vom Land. Es war gut, sie kennenzulernen. Auch Menschen vom Land sind gute Leute, das war für mich eine wichtige Erkenntnis. Ich werde mich in Zukunft mehr um ihre Integration in der Stadt bemühen. Und ich werde das Wort gegen jene erheben, die auf die Landbevölkerung herunterschauen. Hier in Trogen sind wir ja auch auf dem Land. Aber in der Schweiz ist es anders als in Moldawien. Auch auf dem Land ist es sauber, es gibt Läden und die Strassen sind intakt. Die Leute sind freundlich, und alles ist so grün. Etwas speziell finde ich, dass das Gras überall so akkurat geschnitten ist, wie mit dem Lineal. Das gibt es bei uns nicht. Bei uns steht das Gras im Sommer überall hoch. Hier sorgen sich die Leute anscheinend sehr um ihren Rasen. Natürlich bin ich etwas traurig, dass wir schon bald wieder nach Hause fahren. Ich habe hier einiges gelernt: zum Beispiel, dass Serben sehr laut sind. Bisher habe ich immer gedacht, wir Moldawier seien laut. Aber jetzt kann ich sagen: Im Vergleich zu den Serben sind wir leise! Serben lachen und reden und singen die ganze Zeit, es ist wunderbar.» ■

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Rettich-Samen aus der biologischen Saatgutz端chtung des Ehepaars Zollinger.

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Saatgut David gegen Goliath Seit Jahren fördert die EU eine industrielle Landwirtschaft mit uniformem Saatgut. Ein Grossteil der Kulturpflanzensorten ist im letzten Jahrhundert ausgestorben, eine neue Verordnung verschärft nun die Lage zusätzlich. Gegner schlagen Alarm, die Schweizer Biosaatgut-Pionierin Christine Zollinger gibt sich kämpferisch. VON MATHIAS STALDER (TEXT) UND FABIAN VON UNWERTH (BILDER)

Im aktuellen Katalog widmen die Zollingers der Zwiebel besondere Aufmerksamkeit. Erzählen, wie sie von den asiatischen Steppenvölkern über die mesopotamischen Hochkulturen zu den Ägyptern und über Rom zu uns fand. Das Ehepaar hat im letzten Jahr 45 bewährte, alte und teilweise unbekannte Sorten angebaut. Früher war die Zwiebel je nach Region in Aussehen und Geschmack verschieden und hat sich über Hunderte von Jahren weiterentwickelt. Mit viel Recherchearbeit machen sich Zollingers auf die Suche nach alten Sorten oder lassen sich Proben zuschicken. Diese bauen sie an und wählen die besten nach

Christine Zollinger läuft federnden Schrittes barfuss durchs Gras. Die Frau ist geerdet. Das verwundet nicht, denn seit 30 Jahren vermehrt und züchtet sie gemeinsam mit ihrem Mann Robert Zollinger biologische Samen für Gemüse, Kräuter und Blumen. Unweit des Genfersees, in Les Evouettes am Eingang ins Rhonetal, bewirtschaften sie insgesamt 30 Hektaren an drei verschiedenen Standorten und beschäftigen neun Angestellte. Christine Zollinger ist gelernte Gemüsegärtnerin, zu ihrer heutigen Beschäftigung brachte sie aber erst die Teilnahme an einem Hilfsprogramm der Sogar das Wachsen und das Ernten der Pflanze gelten als FAO (Ernährungs- und LandwirtschaftsorganiErfindung und können patentiert werden. sation der Vereinten Nationen) zur Förderung der Saatgut-Autonomie in Nepal. Zurück in Aussehen und Geschmack, um daraus Saatgut zu gewinnen. Ein Handder Schweiz, haben sie möglichst alles gesammelt, um hier zur Vielfalt werk, das mit viel Aufwand verbunden ist und erst nach Jahren eine beizutragen. Nach drei Jahren Vorarbeit erschien 1987 der erste Katalog handelsfähige Sorte hervorbringt. mit zwölf Sorten. Sie waren damit die ersten biologischen Saatgutproduzenten in der Schweiz. «Mit diesem Katalog haben wir unsere ersten Pflanzenwachstum gilt als Erfindung 600 Kunden gewonnen», erzählt Zollinger. Mittlerweile sind es über 300 Gemäss der FAO sind im Laufe der letzten 100 Jahre 75 Prozent der Sorten. Wir gehen mit ihr übers Feld, vorbei an Spezialitäten wie der Kulturpflanzensorten verschwunden. Heute wird ein Grossteil des Nahstark eiweisshaltigen Adzukibohne, schwarzen Sojabohnen oder indirungsbedarfs der Menschheit mit einem Dutzend Pflanzensorten und 14 schem Basilikum, auch bekannt als Tulsi und von Hindus als heiliges Tierarten gedeckt. Nahezu alle alten Sorten, die während 12 000 Jahren Kraut verehrt. Der Garten und die Gewächshäuser bilden eine Oase inmenschlicher Landwirtschaft kultiviert worden sind, wurden im Laufe mitten der industrialisierten Landwirtschaft, das schätzen auch die Biedes 20. Jahrhunderts durch hochentwickelte Varianten ersetzt. Nehmen nen. «Es ist so steril geworden», klagt die Pionierin der biologischen wir als Beispiel des Schweizers liebstes Gemüse, das Rüebli. Weltweit Saatzucht in der Schweiz. SURPRISE 307/13

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gab es rund 500 Sorten, erste schriftliche Zeugnisse der Pflanze gehen auf das antike Griechenland zurück, wo sie als Heilpflanze genutzt wurde. 80 Prozent der heute angebauten Sorten sind genetisch uniforme Hybride. Diese werden nach und nach durch sogenannte CMS-Sorten (für cytoplasmatische männliche Sterilität) abgelöst, die sich nicht vermehren können. Bei der Herstellung werden gentechnische Verfahren (Zellfusionstechniken) angewendet. Immer häufiger sichern sich SaatgutMultis ihre Züchtungen und Produkte durch Patente und verlangen für den Anbau Lizenzgebühren. Erst im Mai dieses Jahres hat das Europäische Patentamt (EPA) der Basler Syngenta, einem der grössten Agrar-Konzerne der Welt, das Patent für die Chili-Pflanze «red hot chili peppers» aus konventioneller Züchtung erteilt. Gemäss einer Medienmitteilung von «Save our Seeds», einer europaweiten Initiative zur Reinhaltung des Saatguts von gentechnisch veränderten Organismen, werden darin die Pflanze, das Saatgut und die Früchte geschützt, aber sogar das Wachsen und das Ernten der Pflanze gelten als Erfindung. Das Patentieren einer Pflanze oder Teilen davon bedeutet immer einen Verlust für die traditionellen Nutzer – Landwirte oder Indigene. Wem gehört die Natur? Der Reis, die Tomaten oder die Zucchetti im Supermarkt stammen möglicherweise vom selben Saatgut-Hersteller. Bereits heute kontrollieren die Saatgut-Riesen Monsanto und Syngenta bei gewissen Gemüsen mehr als die Hälfte der in der Schweiz angebauten Sorten. Mittlerweile wird der Weltmarkt von zehn Konzernen dominiert, diese haben zusammen einen Marktanteil von 74 Prozent bei einem geschätzten Umsatz von rund 27,4 Milliarden US-Dollar. Die von der Erklärung von Bern (EvB) mitherausgegebene Studie «Agropoly» zeigt die Folgen auf: Die hochgezüchteten Sorten haben einen grossen Bedarf an Düngemitteln (Marktanteil Top-10-Konzerne 55 Prozent, das entspricht 90,2 Milliarden US-Dollar) und gesundheitsschädigenden Pestiziden (Marktanteil der Top-10-Konzerne: 90 Prozent – dies entspricht 44 Milliarden US-Dollar). Udo Schilling, Saatgutaktivist und Mitglied von Longo Maï, einem Netzwerk agrikultureller Kooperativen, betrachtet diese Entwicklung mit Sorge: «Die international agierenden Saatgut-Konzerne wollen die Bauern weltweit von ihrem Saatgut abhängig machen und sich so einerseits Monopolstellungen und andererseits über Jahrzehnte sichere Profite garantieren.» Die Europäische Kommission legte am 6. Mai den Entwurf einer Neuregelung des Saatgutrechtes vor. Daniel Braxton, Mediensprecher von Syngenta, meint dazu: «Syngenta erhofft sich von der Reform mehr Innovation im Saatgutsektor, eine schnellere Registrierung neuer Sorten und eine Verbesserung in der Sicherheit des in Europa verwendeten Saatguts.» Iga Niznik vom Verein für die Erhaltung der Kulturpflanzenvielfalt Arche Noah aus Österreich befürchtet hingegen, dass «viele der althergebrachten, seltenen und nicht industriellen Sorten von Obst, Gemüse und Getreide aussterben, wenn sie nur noch unter höchst bürokratischen Auflagen zur Verfügung gestellt werden können.» Sie befürchtet auch, dass der freie Tausch von Saat- und Pflanzgut zwischen Bauern und Gärtnern strafbar werden könnte. Denn um ins europäische Sortenregister zu kommen, ist der sogenannte DUS-Test Voraussetzung. Dabei muss eine Sorte Kriterien wie Homogenität, Beständigkeit und Unterscheidbarkeit erfüllen, eine Pflanze und ihre Früchte müssen möglichst einheitlich sein. Diese Anforderungen sind einseitig auf hochgezüchtete Hybridsorten ausgerichtet. Öko-Neuzüchtungen zum Beispiel werden diese Bedingungen nicht erfüllen. Bereits jetzt ist der legale Rahmen für die Bereitstellung von Saatgut strikt. Jede handelsfähige Sorte muss staatlich anerkannt und im nationalen und europäischen Sortenregister eingetragen werden. Danach untersteht die Pflanzenzüchtung dem Sortenschutz, der Namensschutz

Vielfalt statt Hightech: Bio-Saatgutproduzentin Zollinger im Kornblumenfeld.

und Tantiemen während durchschnittlich 20 Jahren gewährt. Iga Niznik kritisiert: «Es ist interessant, dass gerade die Saatgutindustrie nach staatlichen Prüfungen schreit. Man braucht keine derart restriktive und bürokratische Gesetzgebung, um qualitätsvolles und gesundes Saatgut zu erzeugen, auch die Saatgutindustrie nicht.» Eine Online-Petition gegen die neue Verordnung brachte innert kürzester Zeit 250 000 Unterschriften zusammen. Aufgrund der Proteste legte die Kommission eine abgeschwächte Version vor. Ausnahmen sollen jetzt für traditionelle, bäuerliche Kultursorten (auch Erhaltungs- oder Vielfaltssorten genannt) sowie heterogenes Material gewährt werden. Darüber hinaus sind für Erhaltungssorten und Kleinunternehmer (bis zu zehn Beschäftigte, bis zu zwei Millionen Eu-

Heute wird ein Grossteil des Nahrungsbedarfs der Menschheit mit einem Dutzend Pflanzensorten und 14 Tierarten gedeckt.

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ro Jahresumsatz) weitreichende Befreiungen von den Registrierungsgebühren vorgesehen. Weiter soll der Austausch von Vermehrungsmaterial zwischen Privatpersonen ausgenommen werden. Das betrifft in erster Linie Hobbygärtner und den Nachbau von Saatgut durch Landwirte für den Eigenbedarf. Iga Niznik reicht das nicht: «Die Nischen für Vielfaltssorten, die die EU-Kommission im letzten Augenblick eingeführt hat, sind völlig unzureichend.» Das EU-Parlament und der Rat müssen nun über den Vorschlag verhandeln und sich auf einen gemeinsamen Gesetzestext einigen. Pikant ist allerdings, dass in 39 «delegierten Rechtsakten» von der Kommission SURPRISE 307/13


Natternkopfblüten: ein Fest für Hummeln und andere Bienen.

Bei Zollingers am Genfersee spriesst auch der Japanische Basilikum.

rechtliche Fragen erst im Nachhinein festgelegt «Die internationalen Saatgut-Konzerne wollen die Bauern werden. Bei weiteren 19 Punkten wird nur den weltweit von ihrem Saatgut abhängig machen und sich Mitgliedstaaten, nicht aber dem EU-Parlament so über Jahrzehnte sichere Profite garantieren.» Mitspracherecht eingeräumt. In insgesamt 58 Punkten können, so Niznik, «die Volksvertreter des EU-Parlaments nicht mitreden». Offen ist, wann und wie das Vertragswerk in der Schweiz angewandt sein», kommentiert die Pionierin und ergänzt mit einem Quäntchen Gewird. Peter Latus vom Bundesamt für Landwirtschaft meint: «Da erst lassenheit: «Wir haben in den letzten 30 Jahren schon viele Hürden geein Vorschlag der EU-Kommission vorliegt, ist es zu früh zu sagen, ob nommen, und diese neue Gesetzgebung wird uns erneut fordern. Wir oder wenn ja was die Schweiz umsetzen würde.» Die Kritik der Saatgutsind aber sicher, dass wir auch hier einen Weg finden werden.» Iga Nizorganisationen «können wir noch nicht ganz nachvollziehen, kommt nik meint: «Hier geht es nicht um die Anliegen von ein paar Pflanzendie Kommission mit den vier vorgeschlagenen ‹Pfeilern› zugelassene/ liebhabern, die Exoten schützen wollen. Hier geht es um die Frage, was geprüfte Sorten, alte Sorten, heterogenes Material und Nischenmarktam Ende des Tages auf unseren Tellern landet.» ■ material den Bedürfnissen aller Interessensgruppen aus unserer Sicht doch weit entgegen.» AGROPOLY – Wenige Konzerne beherrschen die weltweite Lebensmittelproduktion, 2011, CHF 6, zu beziehen bei der Erklärung von Bern www.evb.ch

Die Macht der Gärtner Das Interesse an der Landwirtschaft wächst, in den städtischen Zentren verlangt eine neue Bewegung Raum für urbane Gärten. Sie bauen eigenständige Netzwerke zwischen Konsumenten und Produzenten in Vertragslandwirtschaften auf. Mit Erfolg bauen immer mehr Menschen offen abblühende Pflanzen an, die sich natürlich vermehren, und tragen gerade mit dem Trend zu Urban Gardening zur Biodiversität bei. «All diese Initiativen sind auf unsere biologischen und gentechfreien Sorten angewiesen», meint Christine Zollinger von der biologischen Samengärtnerei am Genfersee. Schweizweit, so schätzt Zollinger, werden rund 14 000 Hektaren Gemüse angebaut, davon ein Viertel in Hausgärten und kleinststrukturierten Betrieben. «Wenn die neue Verordnung in aller Härte umgesetzt wird, kann das für unsere Arbeit einschränkend SURPRISE 307/13

Kritische und aktuelle Informationen zur neuen Saatgutverordnung auf www.saatgutkampagne.org oder www.arche-noah.at

ProSpecieRara – die schweizerische Stiftung für die kulturhistorische und genetische Vielfalt von Pflanzen und Tieren: www.prospecierara.ch

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Liebesbrief aus Minsk VON URS MANNHART

Minsk, Weissrussland, am 5. Juni 2011

hin! Aber die Verkehrspsychologie hier ist dominiert von Rücksicht, Vorsicht und Umsicht. Auch an einem Samstagabend finden sich nur etwa zwölf Autos, die sich diese sechs Spuren teilen, und hundert Meter vor der Ampel drosseln sie ihre Fahrt auf 42 km/h, weil die Ampel doch der Möglichkeit nach und vielleicht bald einmal auf Rot schalten könnte, und mein Gehsteig ist natürlich auch schon wieder acht Meter breit, ich komme gar nicht an den zögerlichen Lärm heran, und auf der anderen Seite des Gehsteigs befinden sich nicht etwa dichte Häuserzeilen, die den Lärm schön reflektieren würden, nein, da ergiesst sich, das habe ich nicht von Anfang an sehen können, schon wieder der nächste, unsinnig ausgedehnte, von schönheitsbewussten Grashalmen geschmückte, von besoffenen Rasenmähmenschen gemähte Park, ich sehe nicht einmal, ob er überhaupt endet, aber irgendwo erkenne ich noch ein verliebtes Paar auf einem Pedalo, das auf einem lieblich mäandrierenden Kanal durch diesen lieblichen Park pedaliert! Meine irgendwo tief in mir drinnen hockende Italianità revoltiert!, und ich denke an meinen weisshaarigen, dickschädligen, stumpenrauchenden Urgrossvater im Brand (jenem Fleck zwischen Huttwil und Rohrbach, den Du nun auch kennengelernt hast) und denke daran, dass der sich mit einer Flasche Schnaps und dem Gas des Kochherds hochbetagt das Leben genommen hat, und vielleicht stammt ja genau diese meist völlig versteckte Italianità in mir noch von ihm. Keine Ahnung, vielleicht stand ich gerade unter einem italienischen Stern, oder ich habe, mit dem USB-Stick in meiner vorderen Hosentasche, so nahe am Schwanz, Deine dicklippigen Sprüche und Deine Energie schon aufgesogen, jedenfalls habe ich gedacht: Mann, hier ist alles

geliebte, geliebte Komplettsaugschlauchfrancesca! oh, gestern endlich ist Deine dicke Schlauchsaugpost hier angekommen, oh, die hatte es aber in sich mit Sprüchen und Faxen! Siamo in due und molto dickolippowetzky! Ich habe sehr lachen müssen allein in meiner Wohnung, Du hast Dich da wirklich in eine ganz typische Dicklippigkeit hineingeschrieben, ich habe Dich sehr erkennen können in diesen Zeilen, Du Eichenumarmerin Du, und geistig habe ich Dich hart verfolgt um den Küchentisch herum! Ist ja klar, habe ich gedacht, dass Du einen männlichen Baum umarmst! Gut ist auch, dass diese Eichen zwar männlich sind, mich aber nicht in Eifersucht kochen lassen. Aber wer zum Henker ist Bernhard Naturlyriker von Clairvaux? Bei aller Liebe zum Wald: Er (und Du auch) wird zugeben müssen, dass Du den im Mail zitierten Satz nicht im Wald, sondern in einem Buch gefunden hast. Ach, spitzfindiger, spielverderbender Ürsel! Aber ich bin wohl gerade etwas baumfeindlich eingestellt, weil mir gestern zum ersten Mal dieser Park hier auf die Nerven gegangen ist, den ich vier Mal täglich auf dem Weg zum Internet-Café abspaziere: Er ist so lieblich! Er ist so beschaulich! Der Boden ist so löwenzahnig! Alle Bäume stehen so brav! Es gibt kein Unterholz! Kein Unkraut! Keinen Busch! Keinen Sumpf! Nicht einmal Abfall, über den man sich ärgern kann wie am Kasthoferplatz! Nein, es ist einfach wie ein dressiertes, handzahmes Fussballfeld, grün, flach, gepflegt ohne Ende, an irgendeiner Ecke steht immer ein unübersehbar besoffener Parkpflegemensch mit einem Fadenmäher und mäht ein müdes Büschel Gras, das schon gestern gemäht worden ist (das ergibt dann Arbeitslosenquoten von 1,2 Prozent!), und dann hat’s halt Ich habe etwas Erholung gesucht von dieser künstlichen noch wohlerzogene Bäume drauf auf diesem wohlerzogenen Löwenzahnrasen mit striktem Idylle und habe mit wenig Mühe eine sechsspurige Strasse Golfspielverbot, und ein kanalisiertes Bächlein gefunden, immerhin! plätschert geistlos und in hübsch ausgedachten Mäandern quer durch die ganze Chose, so mild, so mild, so mild! Ja, ich komme langsam aber sicher zur Übernein, es plätschert nicht einmal, es schleicht eben sehr lautlos und sehr zeugung, dass das hier das Gegenteil ist von Genua. wohlgefällig dahin, bunte Vögel zwitschern im Takt, schönfarbene EntJetzt erinnere ich mich auch, dass Volya ganz leise geflüstert hat, als lein putzen ihr Gefieder, und wenn man Pech hat, dann ist auch, aus wir am ersten Tag zusammen in einer kleinen Buchhandlung standen, kleinen, hinterhältig überall aufgestellten, teils an den Bäumen angeum einen Stadtplan zu kaufen. Sofort habe auch ich geflüstert, aber brachten Lautsprechern, noch ein wohldressierter, handzahmer Kindann habe ich gedacht: Moment, das ist doch keine Bibliothek, hier derchor zu hören, wie er ein himmlisch erhabenes, wahrscheinlich das liest doch eigentlich keiner so richtig, hier schmökern nur alle rum! unvergleichlich schöne Weissrussland lobpreisende Liedchen singt! Das einzig Lautstarke in Weissrussland ist, jedenfalls nach meinen Himmel, Arsch und Zwirn! bisher sehr unvollständigen, fragmentierten Eindrücken, die DamenIch habe auf dem Rückweg vom Internet-Café dann etwas Erholung mode. Freilich kleiden sich auch viele Frauen eher unauffällig, aber von gesucht von dieser künstlichen Idylle im Lärm des Strassenverkehrs zehn ist immer mindestens eine ausstaffiert wie eine exaltierte Brautund habe mit wenig Mühe eine sechsspurige Strasse gefunden, immer-

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lefonliebeschose dann eben 230.– Franken oder mehr kostet, dann kann ich einfach denken: Ach, das ist ja nur etwas mehr als eine Heilsarmeeflüchtlingszentrumsnacht, das ist ja nichts! Wichtig ist, dass wir uns gut verbunden und trotz aller Distanz ganz nah fühlen! Nun sage ich Malva, malva silvestris!!! Wie viele Malven gibt’s denn bei mir hinten? Zögerlich wie immer die meinen, rasch und gross und kraftvoll wie immer die Deinen! Ich freue mich. Ulianoitalionoürsel, sehr der Deine ■ Diesen Liebesbrief hat Urs Mannhart während eines Aufenthalts in Minsk, Weissrussland, seiner Gefährtin in der Schweiz zukommen lassen.

Urs Mannhart, geboren 1975, bildet zusammen mit Christoph Simon, Bern, und Lorenz Langenegger, Wien, die Literaturgruppe «die Autören». Im Bilgerverlag erschienen 2004 die Romane «Luchs» und 2006 «Die Anomalie des geomagnetischen Feldes südöstlich von Domodossola». Als Beitrag im «Velokurierbuch», erschienen im Herbst 2008 im Verlag X-Time, veröffentlichte Mannhart die «Kuriernovelle oder Der heimlich noch zu überbringende Schlüsselbund der Antonia Settembrini». Als Reporter berichtet Mannhart unter anderem aus Ungarn, Serbien, Kosova/Kosovo, Rumänien, Russland, Weissrussland und aus der Ukraine. Er lebt als Schriftsteller im bernischen Langenthal und gleichwelchen anderen Ortschaften, zu denen hin, sei es auch ausserplanmässig, ein Zug rollt.

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BILD: BEAT SCHWEIZER

führerin, mit Netzstrümpfen und irgendeinem seidenen, kaum etwas richtig bedeckenden Nichts von einem Oberteil, und weil die Schuhe, die sie tragen, auch vorne schon um drei, vier Zentimeter erhöht sind, schaffen es die Stilettos hinten locker über zehn Zentimeter. In Genua wäre das Pflaster zu uneben, um damit einen Fuss vor den nächsten zu stellen, hier aber, wo auch das Pflaster gut betütelt wird, geht das so knapp – in Genua aber wäre so ein Stil allein für jene Frauen tauglich, die Freier anwerben wollen. Hier sieht man solche Frauen stets in Begleitung eines eher unmodisch gekleideten, ungepflegten Haudegens, dem sie über die Strasse helfen müssen, weil der die ganze Zeit nur in ihren Ausschnitt starrt. (Soll ich solche und ähnliche Beschreibungen wohl an HALMA schicken, damit da neben den blutleeren architekturphilosophischen Essays auch noch etwas anderes zu lesen ist?) Freut mich zu hören, dass Du Dich mit mir dereinst komplett versaugschlauchen willst – ich bin sehr dafür, dass in unserer Liebesgeschichte viel Platz ist für Liebesblödigkeiten, und ich wünsche mir sehr, dass uns dies erhalten bleibt. Ich mag sie halt, die Dinge, die bleiben, ich mag auch die Wochenendbeilage der NZZ vom 1./2. Dezember 2001, die ich mit dabei habe, weil es da eine Reportage drin hat mit dem Titel «Serbien nach Milosevic», und ich mag diesen Laptop, den ich, das muss ich einmal erfragen, wohl auch ungefähr so um das Jahr 2001 geschenkt bekommen habe vom Vater Beat Schaffners, von dem ich rätselhafterweise schon Ewigkeiten nichts mehr gehört habe. Bei welcher Zeitdauer liegt Dein Liebesrekord? Dreieinhalb Jahre? Hmm, meiner liegt bei circa fünf Jahren. Ich habe grosse Lust, das alles ganz deutlich in den Schatten zu stellen mit Dir! Und dicklippige Schlaugsauchersprüche sind da sicher förderlich! Du Stauchsauer, Du! Du dickdampfnudlige Süssschlauchvernudlerin! Ich bin sehr vernarrt in Dich und närrisch verliebt; ja, ich werde Dir gerne mit dem nachhaltigen Gerät die Unter- und Oberwäsche von der Wolle saugen, nur Geduld! Dass Kurt überrascht war zu hören, dass es Frauen gibt, die nicht in den oder die IKEA wollen, das überrascht mich. Da kennt er Dich aber erstaunlich schlecht. Und einer, der selber darunter leidet, wenn er dann dort ist in diesem geistlosen Konsumbetrieb und vor lauter Leuten die Möbel nicht mehr sieht, wieso kommt so einer nicht auf die Idee, es gäbe vielleicht doch auch zahlreiche Menschen, die sich so etwas auch nicht gegen Bezahlung antun würden? Wieso kommt der nicht auf die Idee, dass es Menschen gibt, die mit Freude einem alten, herrenlosen Möbel eine neue Heimat bieten wollen? Ich freue mich, dass da Zeit und Interesse vorhanden war von Kurt und Claudia für die Schorenfusshaldenstrassenchose, und je mehr Menschen es gibt, die davon wissen, desto mehr wünsche ich mir, dass es da vorwärts geht. Das soll doch jetzt spriessen wie die Radieschen im Garten! Erzähl mir bitte bei Gelegenheit alles von Lous Fest, ich hoffe, sie habe es auch geschafft, Dir gegenüber ein bisschen Dankbarkeit zu zeigen, gewiss nicht, so lange die anderen Mädchen zugegen waren, dann ist ja Dankbarkeit der Mutter gegenüber extrem uncool, aber nachher vielleicht, anschliessend, als sich alle aus dem Staub gemacht haben, könnte sie es ja vielleicht geschafft haben, Dir ein kleines Merci zu überreichen. Ist heute eigentlich der fünfte oder der sechste Juni? Meine Agenda liegt zerdrückt unter dem Bettfuss, ich bin etwas unzufrieden mit ihr, denn der Karton wölbt sich immer, und jetzt will ich ihn eben noch ein wenig pressen und klemme ihn deswegen während Stunden unter den Bettfuss. Irgendwann muss ich dann wieder sehr genau wissen, welches Datum aktuell ist. Ich will ja meinen übernächtlichen Sehnsuchtsnachtzug zurück zu Dir nicht verpassen! Und lass uns bitte wieder telefonieren bald einmal, ich bezahle doch bitte diese Chose, ich denke nicht, dass ich sonst viel Geld ausgeben werde in diesem Minsk, das Kilo Kartoffeln kostet 60 Rappen, das absurde Privileg eines Schweizers im Ausland, einmal mehr, beschämend und ungerecht, dass es für diese Menschen hier nie und jedenfalls in den nächsten paar Jahren nie umgekehrt sein wird, und wenn diese Te-


BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Feiern und Ferien Die grossen Ferien im Sommer wurden eingerahmt von grossen Feiern. Den Auftakt machte das Zürifäscht, es folgte die Streetparade und bald ist das Eidgenössische, um nur ein paar der berühmteren der unzähligen Feste landauf, landab zu nennen. Wo das Wetter mitspielte, waren Besucherrekorde zu verzeichnen. Die meisten dieser Besucher kommen nicht aus der Stadt, sondern vom Land oder aus der Agglomeration. Also von dort, wo die Leute hinziehen, die dem Trubel und der Masse entfliehen wollen. Von dort, wo es ruhig und übersichtlich ist. Die Städter hingegen, die viel Geld dafür bezahlen, mitten im Geschehen zu leben, meiden solche Veranstaltungen grossräumig und flüchten gar, wenn der Festbetrieb vor ihrer Haustür haltmacht. Während also jene, die sich zum Feiern gerne in der Masse aufhalten,

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diese im Alltag meiden, können jene, die mitten in der Masse leben, in ihrer Freizeit nichts mit ihr anfangen. Die Städter halten eine Feier dann für gelungen, wenn sie im überschaubaren Rahmen stattfindet, ein kleiner Club, ein intimes Lokal, eine versteckte Bar. Die Landbevölkerung hingegen will dorthin, wo sich Stand an Stand reiht, eine Darbietung die andere jagt. Wenn es von allem viel hat, gilt das Fest als gelungen. Einander auf den Füssen stehen und lange Warteschlangen schrecken niemanden ab, ganz im Gegenteil. Die Leute, die diese Art von Feiern bevorzugen, sind überzeugt, dass mehr immer besser ist und Stimmung nur dann aufkommen kann, wenn das Fest aus allen Nähten platzt. Für die anderen hingegen gibt es fast kein vernichtenderes Urteil über einen Anlass als: «Es hatte sehr viele Leute.» Diese Tendenz setzte sich in den Ferien fort. Immer mehr Städter verzichten darauf, im Sommer in die Ferien zu fahren. Nicht, weil sie es sich nicht leisten könnten, sondern weil es dort, wo man eben hinfährt, viele Leute hat, während es in der Stadt, welche Wohltat, deutlich weniger Leute hat als sonst. Wie leuchten die Städteraugen, wenn sie von der Leere in der Badi, dem Tisch in der Gartenbeiz, dem Parkplatz in der Innerstadt erzählen. Nicht zu sein, wo die anderen sind, das ist ihr Glück. Indes die Vororte und Landgemeinden fast ausgestorben dahinschlummerten, weil sich

die Bevölkerung an die Strände quetschte oder auf den Wanderwegen über die Füsse stolperte. Besonders beliebt sind hier Destinationen, an denen möglichst viel geboten wird. Wasserrutschbahnen, Freilichtkonzerte, Seilparks, was immer eine Menschenmenge und damit verbundenes Anstehen und Gedränge verursacht, wird mit Begeisterung besucht und als Ferienhöhepunkt abgebucht. Möglichst da sein, wo alle sind. Es kann also niemand ohne die Masse sein, die Städter nicht im Alltag, die Landbevölkerung nicht, um auszubrechen aus demselben. Gemeinsam ist beiden Gruppen, dass sie über das Verhalten der anderen nur mitleidig grinsen oder fassungslos den Kopf schütteln können. Wie kann man bloss? Wer tut sich das freiwillig an? Weil die einen die Masse, die sich aus den anderen zusammensetzt, so gut wie möglich meiden, wird er wohl noch lange fortbestehen, der Stadt-Land-Graben. Auch ausserhalb der Festsaison.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 307/13


Franz Ferdinand Die Freuden knackiger Refrains BILD: ANDY KNOWLES

Süffig und clever zugleich – darin bestand schon immer das besondere Talent von Franz Ferdinand. Die Formel funktioniert auch nach zehn Jahren noch. VON HANSPETER KÜNZLER

«Versnobtheit ist eine der schlimmsten Krankheiten, die eine Band einfangen kann», sagt Alex Kapranos, die Stimme von Franz Ferdinand. «Nichts wirkt lähmender auf die Kreativität als das Gefühl, man sei zu gut, um von den Menschen rundum etwas lernen zu können. Oder zu gut, um sich von einer bestimmten Art von Musik berühren zu lassen.» Diese Philosophie hat sich gelohnt. Ein paar Millionen Alben haben Franz Ferdinand inzwischen abgesetzt. Fürs 2004 erschienene Debüt bekamen die Schotten aus Glasgow gleich den Mercury-Preis zugesprochen, die hochgeschätzte Auszeichnung fürs wichtigste britische Album des Jahres. Die nächsten beiden Werke schafften es selbst in den USA in die Top 10, wo sich britische Gitarrenbands notorischerweise schwertun. Franz Ferdinand schafften dieses Kunststück mit einer Musik, die zwar aufs erste Hinhören recht konventionell wirkte, beim genaueren Hinsehen aber gegen allerhand Regeln verstiess. So war die Band aus vier Musikern zusammengesetzt, die jahrelang durch die Indie-Szene von Glasgow getingelt waren. Statt den üblichen Schrummel-Nummern servierten sie aber messerscharf eingedrillte Ohrwürmer, deren funkige Synkopen zu gleichen Teilen von der New-Wave-Band Gang of Four und Disco beeinflusst waren. Sie entstammten zwar eindeutig der typisch britischen Tradition von Roxy Music oder Orange Juice – Bands, die aus den Kunstschulen kamen und sich gut mit Konzepten auskannten. Aber sie schämten sich nicht, poppige Refrains zu singen, die niemand vergessen konnte. Sie waren zudem eine Art Gegenpol zu den ungefähr gleichzeitig aufkommenden Libertines um Pete Doherty und Carl Barat, die Kumpelromantik, Dichtergehabe, Drogen und kreatives Chaos zelebrierten. Franz Ferdinand waren ebenfalls um den Kern von zwei engen Freunden – Alex Kapranos und Schlagzeuger Paul Thomson – formiert worden, setzten aber auf Witz, Disziplin, Rotwein, mutige Dance-Beats und eine breite Interessenpalette. Dazu gehörte, dass Kapranos für die Tageszeitung The Guardian eine höchlichst amüsante Kolumne über seine kulinarischen Abenteuer auf Tournee verfasste, die dann auch in Buchform publiziert wurden (Sound Bites. Essen auf Tour mit Franz Ferdinand. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007). Vier Jahre sind vergangen seit dem letzten Album, «Tonight: Franz Ferdinand». «Wir wollten wieder einmal einfach existieren», erklärt Thomson die relativ lange Pause. «Unser Leben leben, ohne die ganze Zeit Franz Ferdinand sein zu müssen.» Zwischen den Zeilen schimmert durch, dass die Band am Erfolg fast zerschellt wäre. «Wir erlaubten uns nie eine Pause», sagt Kapranos. «Paul und ich hatten lange Zeit in Bands gespielt, ohne je dafür belohnt zu werden – ausser dem Privileg, dann und wann auftreten zu dürfen. Nun wollten uns plötzlich alle. Wir konnten unser Glück kaum fassen. In der Sitation sagt man nie Nein.» Rückblickend hätten sie gewisse Dinge wohl gescheiter sein lassen. Den Auftritt bei der Grammy-Verleihung zum Beispiel. Ja, es sei schon irgendSURPRISE 307/13

Älter geworden und spritzig geblieben: Franz Ferdinand.

wie reizvoll gewesen, als Fremdkörper aus der Indie-Welt bei einer solchen Glamour-Veranstaltung mitzutun, meint Kapranos: «Aber es war wirklich nicht mein natürliches Habitat. Ich hatte ständig das Gefühl, dagegen kämpfen zu müssen, von dieser Welt absorbiert zu werden. Ich verbrachte mehr Zeit damit, meine Identität zu verteidigen als damit, meine Identität zu geniessen.» Nun das Album nach der Pause. Das Einspielen von «Right Thoughts, Right Words, Right Action» sei so etwas wie eine Therapie gewesen: «Wir entfernten uns so weit wie möglich vom Musikgeschäft.» Statt Monate im Studio zu verbringen, entstanden die Aufnahmen in einer Reihe von kurzen, konzentrierten Sessions: «Nie mehr als zwei Wochen, und nie mehr als fünf Anläufe pro Lied.» Die Erholungspause hat der Band gutgetan. «Right Thoughts, Right Words, Right Action» ist spritzig und witzig wie Franz Ferdinand in den besten, frühen Tagen. Nach dem synthilastigen Vorgänger stehen diesmal wieder die Gitarren im Vordergrund. Schräge Elektronik-Klänge und Gitarren-Effekte sorgen dennoch für ein Klangbild voller freudiger Überraschungen. Und halt wieder die Refrains: unwiderstehlich! ■ Franz Ferdinand: «Right Thoughts, Right Words, Right Action» (Domino/MV) Live: 24. August, For Noise Festival, Lausanne; 30. August, Zürich Open Air.

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Kultur

Wie dauerhaft und bedeutend ist die Bilderflut im Internet? Käuflich, lüstern, pädophil: Amsterdams High Society anno 1642.

Buch Zeitlos zeitnah

DVD Da Vinci Code für Intellektuelle

In einer packenden Story verknüpft «Der Maler der Ewigen Portrait Galerie» ein dunkles Familiengeheimnis mit der Revolte der Kunst gegen die Vergänglichkeit.

Rembrandts «Die Nachtwache» zählt zu den berühmtesten Bildern der Malerei. Peter Greenaway wagt in seinem Film die Spekulation, dass sich darin Indizien für einen nie enthüllten Mord verbergen.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON NATALIE GYÖNGYÖSI

Ein brotloser Kunstmaler entdeckt unter den Fotografien seiner Grossmutter das Portrait eines jungen Mannes. Als er es als Suchanfrage ins Internet stellt, bietet ihm ein Unbekannter eine astronomische Summe dafür. Da der Künstler ahnt, dass sich dahinter ein Familiengeheimnis verbirgt, das seinen Vater zu einem kranken Mann gemacht hat, heftet er sich an die Fersen der Unterhändlerin – und stösst auf den Maler der Ewigen Portrait Galerie. Doch damit löst er weit mehr als nur die Rätsel der Vergangenheit. Der Architekt und Comiczeichner Matthias Gnehm hat aus dieser Geschichte eine so bildreiche wie wortkarge Graphic Novel gemacht, die oft seitenweise nur mit expressiven Schwarzweiss-Zeichnungen erzählt und so die Story in die Köpfe der Betrachtenden verlagert. Dort laufen sie ab wie ein Stummfilm, zu dem jeder die Untertitel selber schreiben kann. Und selbst da, wo Text die Handlung weiterführt, ist dieser knapp wie Twittermeldungen, passend zum Handy, mit dem der Protagonist permanent mit dem Internet in Verbindung ist. Aber Gnehm geht noch weiter. Er baut seine packende Geschichte mit Mitteln aus, die über die gedruckte Graphic Novel hinausgehen. Denn es gibt die Ewige Portrait Galerie wirklich – im Internet. Wer will, kann Fotos einsenden und bei Gnehm ein Originalportrait in der Grösse 6 x 4 cm bestellen, mit dem er eine eigene Sammlung begründen, das er online stellen (62 Portraits aus der Online-Gallery finden sich im Buch) oder an einen anderen Sammler weitergeben kann, damit das Original nie verloren geht. Denn, so das Motto der Ewigen Portrait Galerie im Buch und im Web, «die Ewigkeit ist nie nur digital». Nur Originale widerstehen der Vergänglichkeit. So verknüpft Gnehm die Zeitlosigkeit der Zeichenkunst mit der zeitnahen Allgegenwart des Internet. Und stellt auf eindrückliche Weise die Frage nach der Dauerhaftigkeit und Bedeutung von Bildern in einer Zeit der digitalen Bilderflut. Dem hält er eine praktische Utopie entgegen, an der jeder teilhaben kann.

Die Geschichte beginnt 1642 in Amsterdam. Der Krieg mit Spanien ist gerade beendet. Der 36-jährige Rembrandt van Rijn (Martin Freeman) ist ein gefeierter Künstler. Als brillanter, aber auch ironischer Beobachter seiner Zeit erhält er den Auftrag, ein monumentales Gruppenbild der Amsterdamer Bürgerwehr zu malen. Die Reichen und Mächtigen Amsterdams wollen sich so als stolze Soldaten verewigen lassen. Während der aufwendigen Vorbereitungen kommt die Hauptfigur des Gemäldes, der Hauptmann der Bürgerwehr, bei einem vermeintlichen Unfall ums Leben. Die Hinweise auf weitere kriminelle Handlungen innerhalb der Bürgerwehr verdichten sich. Die Urheber des Bösen scheinen alle miteinander verbandelt zu sein; es sind dieselben Personen, die sich durch Rembrandts Gemälde ins beste Licht rücken lassen wollen. Angewidert von der Korruption und Verderbtheit seiner Auftraggeber beschliesst Rembrandt, sie als käufliche, lüsterne, pädophile und meuchelmörderische Verbrecher blosszustellen und mittels seines Bildes anzuklagen. «Nightwatching» ist ein Krimi, so verzweigt und künstlerisch ausgereizt, dass man der Geschichte nur schwer folgen kann. Die schlicht genialen Bilder des Kameramanns Reinier van Brummelen sind wie eine surreale Theateraufführung inszeniert. Filterfarben, Schlagschatten und Gegenlicht wechseln sich ab. Greenaways ausschweifende Verfilmung des Rembrandt-Komplotts ist eine Hommage an die Schönheit altniederländischer Malerei. Malereiinteressierte werden sich dieses Werk wegen der zahlreichen Details vielleicht gleich mehrmals zu Gemüte führen. Das weniger kunstversierte oder -interessierte Publikum dürfte sich jedoch vermutlich unter anderem wegen der permanenten Dialogberieselung nicht von Greenaways Sinnesrausch mitziehen lassen. Vielmehr wird es sich von der nie abreissenden und höchst komplexen Informationsflut etwas überfordert fühlen. «Nightwatching» ist ein höchst komplexer Krimi für geduldige Liebhaber von Malerei, Film und Theater.

Matthias Gnehm: Der Maler der Ewigen Portrait Galerie. Edition Moderne 2013.

Freeman, Eva Birthistle, Emily Holmes u.a. Mit freundlicher Unterstützung von Les

36 CHF. www.eternalportraitgallery.com/about.html

Videos, Zürich: www.les-videos.ch

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Peter Greenaway: «Nightwatching», CDN/NL/PL/F/GB 2007, 134 Min., mit Martin

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Die Ausserirdischen treiben’s bunt mit uns. 01

Theater Die letzte Schlacht Kommen böse Aliens, halten die Menschen zusammen. So lehrt es der gemeine Science-Fiction-Film. Nun beschäftigt sich auch das Theaterkollektiv yuri500 mit Invasorenbesuch aus dem Weltall. VON MICHAEL GASSER

Die Ausserirdischen sind unter uns, sehen aus wie Nachbars und wollen uns an den Kragen. So die Ausgangslage von «Rede an die Menschheit», einem Stück von yuri500, das vom seit 2011 bestehenden Theaterkollektiv eigens für das Basler Produktionsfestival für Nachwuchstheaterschaffende, «Treibstoff», erarbeitet wird. Knapp drei Wochen vor der Premiere steckt das Stück nicht mehr in seinen Anfängen, doch noch will vieles ausgetüftelt sein. Ein fortlaufender Prozess. Yuri500 interessieren sich insbesondere für mehrdeutige Ästhetik, utopische Gesellschaftsentwürfe und Science Fiction. Zwar werde man auch visuelle Effekte bieten, aber vor allem auf Geräusche und die Vorstellungskraft des Publikums setzen, sagt Kristofer Gudmundsson, der gemeinsam mit Stephan Stock, Yves Regenass und Simon Koschmieder yuri500 bildet. Natürlich müssten bei der Übertragung auf die Bühne neue Strategien gefunden werden, so Regenass. «Wo sich der ScienceFiction-Film gerne aufs Mittel der Animation verlässt, greifen wir stark auf die Wirklichkeit zurück.» Das Theater habe durchaus seine Möglichkeiten, Illusion zu erzeugen, gibt sich Regenass überzeugt. Derzeit sei man damit beschäftigt, sich in den Raum des Spielortes zu bauen, sagt Gudmundsson. Ergeben soll sich ein Refugium, in dem die Menschen – mittels «perfekter Rede» – zusammen beschworen werden, eine letzte Schlacht gegen die Aliens zu schlagen. Dazu habe man sich bei Versatzstücken aus Ansprachen von Helmut Schmidt oder Obama bedient, führt Stephan Stock aus. «Uns hat interessiert: Was muss eine Rede beinhalten, um die Masse zu begeistern?» Genaueres wollen yuri500 nicht verraten, nur so viel noch: Das Publikum werde unterwegs sein und nicht etwa auf Stühlen sitzen. So viel lassen die Macher durchblicken. Und: «Die Zuschauer müssen keine Rolle spielen, erfüllen aber eine.» Wenn alles so verlaufe wie geplant, dann werde zunächst mal ein Diskursfeld eröffnet. «Wir wollen die Besucher als Menschen ansprechen», sagt Regenass. «Erreichen wir dieses Ziel, dann ist das schon viel.»

advocacy ag, communication and consulting, Basel

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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

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Margareta Peters Gastronomie, Zürich

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Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

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Schweizer Tropeninstitut, Basel

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VeloNummern.ch

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Applied Acoustics GmbH, Gelterkinden

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Buchhandlung zum Zytglogge, Bern

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hervorragend.ch, Kaufdorf

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Coop Genossenschaft, Basel

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Cilag AG, Schaffhausen

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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Novartis International AG, Basel

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Solvias AG, Basel

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Ernst Schweizer AG, Metallbau, Hedingen

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confidas Treuhand AG, Zürich

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ratatat – freies Kreativteam, Zürich

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G.A.T.E.S., Hôteliers & Restaurateurs SA, Basel

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Claude Schluep & Patrick Degen, Rechtsanwälte, Bern

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homegate AG, Adliswil

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Sprenger & Partner Bauingenieure SIA USIC, Arlesheim

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Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Treibstoff 2013, 28.8. bis 8.9.2013. «Rede an die Menschheit» von yuri500: Theater Roxy, Birsfelden. Do, 29.8.; Sa, 31.8.; So, 1.9.; Fr, 6.9. und Sa, 7.9., jeweils 19 Uhr. www.treibstoffbasel.ch 307/13 SURPRISE 307/13

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Ausgehtipps

Comics bleiben Comics – auch auf dem iPad.

Bitch Queens: Einer von 180 Acts am JKF.

Baden und Winterthur Bewegte Comics

Basel Jugend rockt

Sheila She Loves You starteten ihre Karriere gefällig. Die Basler Band erspielte sich mit den munter-melancholischen Liedern ihres Debüt «Esztergom» 2011 einen Platz in der Schweizer Musikszene. Doch auf ihrem Zweitwerk «Sorry», das im Frühling erschienen ist, wühlt die Band in allerlei Abgründen und zelebriert emotionale Extreme. «Sorry» verströmt nicht einfach Melancholie, sondern einen Weltschmerz von existenzieller Wucht, wie er nur in der Adoleszenz gedeiht. Es ist die vielleicht grösste Qualität dieses Albums, dass es Emotionen weckt, deren Ausbleiben man abgestumpft von langjährigem Musikhören akzeptiert hatte. Wer sich von diesen Songs ergreifen lässt, dem schreiben sie sich in die Seele ein. (ash)

Fumetto goes North: Das legendäre Comix-Festival aus Luzern macht diesen Spätsommer einen Abstecher nach Baden und Winterthur, sehr zur Freude der dortigen Comic-Freaks. In Baden zeigt Fumetto in Zusammenarbeit mit Fantoche, dem internationalen Festival für Animationsfilm, eine Ausstellung über Motion Comics. Bewegte Comics, so erklärt der Veranstalter, entstehen, wenn Illustration, Animation, Sound-, Interaction- und Game-Design zusammenkommen. Die Ausstellung ist interaktiv, und es sollen die spannendsten neuen Werke aus Los Angeles, Amsterdam, Berlin und Genf zu sehen sein. Konventioneller und doch nicht weniger aktuell, was Fumetto in Winterthur zeigt: die prämierten Werke seines internationalen Comix-Wettbewerbs nämlich, der den Ruf eines Sprungbretts für junge Comic-Künstler geniesst. (fer)

Mi, 28. August, 20.30 Uhr, Kaufleuten, Zürich (mit My

«Motion Comics», 4. bis 8. September, DoK Galerie,

Alle zwei Jahre zeigt das Jugendkulturfestival Basel (JKF), was der Nordwest- und Restschweizer Nachwuchs so treibt. Auch diesmal wuchert der Anlass mit einer unüberschaubaren Fülle: Über 180 Acts aus den Sparten Musik, Tanz, Theater, Sport und Freestyle geben sich die Ehre. Einen Schwerpunkt bilden Konzerte, bei denen sich Newcomer wie Volta-Volta und Who Killed Peter Merian? (merke: Wenn an einem Festival viele Gruppen auftreten, nennt der Journi gerne die lustig benamsten) sowie Lokalmatadoren wie die Bitch Queens (Bild) das Mikro in die Hand geben. Zugelegt hat auch der Bereich Theater, wo die Formation Das Hellraumprojekt die Premiere ihrer Interpretation von «Biedermann und die Brandstifter» präsentiert. Was, wann, wo – dafür reicht der Platz hier nicht, auf der JKF-Homepage lässt sich aber ein prächtiges Programm nach eignem Gusto zusammenstellen. (ash)

Name Is George); Fr, 30. August, 23 Uhr, Barfüsser-

Baden. «Fumetto Selection», noch bis 20. September,

Jugenkulturfestival Basel, Fr, 30. und Sa, 31. August.

platz, Basel.

Alte Kaserne Kulturzentrum Winterthur.

Programm siehe www.jkf.ch

Melancholiker im Blumenmeer: Sheila She Loves You.

Zürich Wuchtiger Weltschmerz

Anzeigen:

ORIENTIERUNG IM SOZIALWESEN SCHWEIZ SOZIALINFO.CH – DAS INTERNETPORTAL FÜR INSTITUTIONEN, FACHPERSONEN UND INTERESSIERTE

Weitere Informationen auf www.sozialinfo.ch

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BILD: © ERINNERUNGSBÜRO / JÖRG BAUMANN

Jetzt gibt’s was auf die Ohren: Lebensgeschichten von Mats Staub.

Bern 21, wie war’s? Mats Staub ist ein grossartiger Zuhörer. Und ein guter Übermittler des Gehörten dazu. Dies hat der Schweizer Künstler mit seiner Audioarbeit «Metzgergasse 2011» unter Beweis gestellt, die mittels Erzählungen von langjährigen Bewohnern auf einmalige Art und Weise die Geschichte der Rathausgasse in der Berner Altstadt zum Leben erweckte (sie wurde umbenannt, um ihr den Beigeschmack als schweizweit bekannte Rotlichtmeile zu nehmen). Nun hat Mats Staub Menschen zugehört, die einmal 21 waren, ob 1940, 1978 oder 1995. Die älteste der Porträtierten ist 96 Jahre alt, die jüngste 26. Staub hat sie gefragt, was sie damals erlebten und wie sie erwachsen wurden. Dies hat er aufgenommen und ihnen drei Monate danach dabei zugesehen, wie sie sich die Aufnahmen anhörten. Genau dies können wir nun auch tun, in 50 Videoporträts, die einen erneut eintauchen lassen in eine Geschichte, die lebt. «21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden» ist ein Langzeitprojekt. Nach ersten Stationen in Frankfurt und Hannover sind die im Museum für Kommunikation gezeigten Porträts nun erstmals in der Schweiz zu sehen. 20 davon wurden eigens für die Ausstellung in Bern realisiert, zwölf auf Schweizerdeutsch, acht in französischer Sprache. (fer) «21 – Erinnerungen ans Erwachsenwerden», eine Videoinstallation von Mats Staub, 30. August bis 27. Oktober, Museum für Kommunikation, Bern.

Beleibt und verhaltensauffällig: Spiderman und Konsorten.

Zürich Urbane Randzonen Das Zürcher Theaterspektakel hat sich in den letzten Jahren verstärkt den urbanen Randzonen zugewandt. Künstler aus Lateinamerika, Afrika und Asien waren geladen, das Leben in der Stadt ausserhalb des Komfortbereichs zu beleuchten, lustvoll durchaus, aber oft konsequent die Bruchstellen der Gesellschaft abtastend. Einzelne Produktionen herauszuheben ist gar nicht so einfach, auch dieses Jahr nicht. Das Programm auf der Landiwiese ist dicht und aufregend besetzt. Der Performer Boyzie Cekwana aus dem südafrikanischen Soweto bringt den letzten Teil seiner Trilogie «Influx Controls» mit nach Zürich. Der ironische Titel des Werkes: «In Case of Fire, Run for the Elevator». Auf Deutsch ungefähr: «Wenn’s brennt, zum Lift rennen». Inhalt ist das Spannungsfeld zwischen Nahrung und Essen. Zweiteres ist in den Augen des Hungrigen schon von den Begrifflichkeiten her eine Erscheinung der Dekadenz. Wer Essen als kulinarisches Ereignis versteht, der ist privilegiert gegenüber demjenigen, der was in den Magen bekommen muss. Die Umsetzung des Themas soll es in sich haben; die Organisatoren versprechen «ungeahnten Einfallsreichtum und ästhetische Radikalität». Aus der Randzone kommt auch die Produktion «a-maze» der Gruppe XPATS. Diese setzt sich zusammen aus jungen Amateurtänzern, die in schwierigen sozialen Verhältnissen in Zürich, Den Haag und Tel Aviv aufgewachsen sind. Unter der Leitung der Breakdance-Grösse Lloyd Marengo feiert die Zweckgemeinschaft nun auf der Landiwiese Premiere. Drei Tanzstile, drei Lebenswelten, eine explosive Show. (reb) Zürcher Theaterspektakel: «In Case of Fire, Run for the Elevator», Fr, 30., Sa, 31. August und So, 1. September, jeweils 19.30. «XPATS a-maze», Fr, 23., Sa, 24. und So, 25. August, jeweils 21 Uhr.

Anzeige:

— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 — SURPRISE 307/13

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Verkäuferinnenporträt «Es gibt für mich keinen Ort, an den ich ‹zurückkehren› könnte» Haimanot Ghebremichael ist froh, in Bern eine Einzimmerwohnung gefunden zu haben. Doch sie lebt in ständiger Sorge um ihre drei Kinder, die sie in Äthiopien zurücklassen musste. Mit zwei von ihnen konnte sie nach acht Jahren zum ersten Mal wieder telefonieren.

«Ich bin Anfang der Siebzigerjahre in Äthiopien geboren und aufgewachsen, meine Mutter und mein Vater stammen ursprünglich aus Eritrea. Wann ich genau zur Welt kam, ist nicht klar, deshalb habe ich, wie viele Äthiopier und Eritreer, am 1. Januar ‹Geburtstag›. Als ich ungefähr sieben Jahre alt war, wurden meine Eltern beide krank und starben. Meine Verwandten wohnten weit weg, in Eritrea, damals noch eine Provinz von Äthiopien, und so lebte ich fortan bei den Nachbarn. Später heiratete ich einen Sohn dieser Nachbarn, und wir hatten zwei Töchter und einen Sohn. Als mein Mann eines Tages von zuhause mitgenommen und später getötet wurde, verlor ich als ‹Eritrea-Stämmige› das Recht, in Äthiopien zu wohnen. Mein Leben wurde zunehmend schwieriger, auch weil mich die Eltern meines Mannes schlecht behandelten. Ich sah damals nur den Weg, meine drei Kinder bei den Schwiegereltern zurückzulassen und in den Sudan, später nach Libyen zu flüchten. Nach Eritrea, das seit 1993 ein unabhängiges Land ist, konnte ich als ‹Äthiopierin› nicht gehen. 2008 habe ich in der Schweiz einen Antrag auf Asyl gestellt. Im ersten Jahr wohnte ich im Durchgangszentrum Enggistein in der Nähe von Worb, danach teilte ich mit drei Eritreerinnen eine Wohnung in Bern. Arbeiten ist sehr wichtig für mich, deshalb habe ich mich schon im Zentrum für den Putzdienst gemeldet. Zudem habe ich etwa ein Jahr lang bei der Reinigungsequipe der Berner Verkehrsbetriebe gearbeitet. Mitbewohner in Enggistein erzählten mir eines Tages, dass sie Surprise verkauften. Weil ich nicht bei Bernmobil und Surprise gleichzeitig arbeiten durfte, musste ich mich entscheiden – mittlerweile bin ich seit vier Jahren Surprise-Verkäuferin. Im August 2011 erhielt ich negativen Bescheid – mein Asylgesuch wurde abgelehnt. Das geht vielen ‹Äthiopien-Eritreern› so. Äthiopien wird als sicher genug betrachtet, um dorthin zurückzukehren. Wir sind aber ursprünglich Eritreer und nicht mehr willkommen in Äthiopien. Bei mir kommt hinzu, dass ich weder vom einen noch vom andern Land Ausweispapiere besitze. Es gibt für mich eigentlich keinen Ort, an den ich ‹zurückkehren› könnte. Nach dem Negativentscheid habe ich mich trotzdem bemüht, habe beide Botschaften aufgesucht und meine Situation erklärt, aber sowohl Äthiopien wie Eritrea haben es abgelehnt, mir irgendein Reisedokument auszustellen. Mit der Hilfe von Martina, einer Anwältin der Rechtsberatungsstelle, ist es mir, Gott sei Dank, gelungen, den Entscheid erfolgreich anzufechten. Jetzt habe ich den Status F für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge. Ich bin ihr unendlich dankbar. Auch andern Menschen hier in der Schweiz bin ich sehr dankbar, zum Beispiel dem Surprise-Team. Wenn ich ein Problem habe, helfen sie mir immer irgendwie weiter. Und dadurch, dass ich fast jeden Tag am Berner Bahnhof, bei der sogenannten Welle, Surprise verkaufe, lerne ich viele Leute kennen. Ein paar Familien haben mich schon zu sich nach Hause eingeladen – und ich sie. Wenn sie zu mir kommen, mache ich meistens eine Spezialität aus meiner Heimat, zum Beispiel Injera, das Fladenbrot aus Sauerteig.

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AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

Seit einiger Zeit habe ich im Lorraine-Quartier eine Einzimmerwohnung für mich alleine. Darüber bin ich sehr froh. Mir geht es in den eigenen vier Wänden viel besser als vorher. Einzig die Züge, die wenige Meter vor dem Haus vorbeifahren, stören mich nachts manchmal beim Schlafen. Vor ein paar Wochen ist eine äthiopische Familie, die in der Schweiz wohnt und in Äthiopien in den Ferien war, mit zwei Fotos zu mir gekommen. Ich hatte sie gefragt, ob sie nach meinen Kindern suchen könnte, und nun hat sie meinen Sohn und eine der beiden Töchter gefunden. Ich habe mit ihnen telefoniert, und die 16-jährige Marta – sie war acht Jahre alt, als ich sie zum letzten Mal sah – sagte, sie erinnere sich an mich. Der neunjährige Jarid hingegen meinte, ich sei nicht seine Mama. Das hat mir fast das Herz zerrissen. Wo die 17 Jahre alte Rahel ist, habe ich nicht herausgefunden. Dass ich zuweilen in der Nacht nicht schlafen kann, ist nicht nur, weil die Bahnlinie unmittelbar vor meinem Fenster vorbeiführt. Ich habe so viel Stress in meinem Kopf. Seit acht Jahren lebe ich in Sorge um meine drei Kinder, und auch davor war mein Leben nie einfach – ich hoffe und bete, dass alles besser wird, dass ich hier bleiben kann und eines Tages meine Töchter und meinen Sohn wiedersehe.» ■ SURPRISE 307/13


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Andreas Ammann Bern

Jela Veraguth Zürich

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Kurt Brügger Basel

Fatima Keranovic Basel

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Marika Jonuzi Basel

Peter Gamma Basel

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Jovanka Rogger Zürich

Ralf Rohr Zürich

Anja Uehlinger Aargau

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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1 Monat: 500 Franken

307/13 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 307/13

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Geschenkabonnement für: Vorname, Name Impressum Strasse

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Datum, Unterschrift 307/13 Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden, Florian Blumer (Nummernverantwortlicher), Diana Frei, Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Amir Ali, Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Renato Beck, Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Michael Gasser, Luc-François Georgi, Natalie Gyöngyösi, Franziska Kohler, Hanspeter Künzler, Urs Mannhart, Stefan Michel, Isabel Mosimann, Mathias Stalder, Fabian von Unwerth Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 15000, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 307/13


Surprise Da läuft was Charity Run 2013 Surprise läuft weiter! Laufen Sie mit! Als offizieller Partner des IWB Basel Marathon 2013 ist Surprise auch in diesem Jahr wieder sportlich unterwegs! Der Marathon findet am 22.9.2013 in Basel statt und wir werden auch in diesem Jahr wieder ein eigenes Team aufstellen. Deshalb suchen wir engagierte Persönlichkeiten, die als Teil unseres Teams an den Start gehen und ein Zeichen gegen soziale Ausgrenzung und Ungerechtigkeit setzen möchten! Laufen Sie gemeinsam mit uns und unterstützen Sie Surprise, seine Verkaufenden, sein Engagement und seine Ziele! Oder unterstützen Sie unsere Läufer mit einer Spende! Nähere Infos zur Anmeldung und zum Basel Marathon auf www.charityrun.vereinsurprise.ch oder unter www.iwbbaselmarathon.ch

Surprise singt – auch für Sie!

Surprise fördert seit 1997 die Selbsthilfe von Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Das Magazin erscheint 14-täglich und wird auf den Strassen der deutschen Schweiz von über 200 Verkaufenden angepriesen. Surprise geniesst eine breite öffentliche Unterstützung.

Für unsere Geschäftsstelle Basel suchen wir:

Buchen Sie den Surprise Strassenchor für Ihren Firmen- oder Privatanlass. Infos: www.vereinsurprise.ch/strassenchor oder Telefon 061 564 90 40.

Ca. 300 m2 Büroräumlichkeiten mit ca. 50 m2 Ladenlokal im EG an zentraler Lage im Kleinbasel oder Grossbasel City.

Angebote bitte an Frau Nicole Füllemann, +41 61 564 90 90 oder per Email an n.fuellemann@vereinsurprise.ch Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel Spendenkonto PC 12-551455-3 SURPRISE 307/13

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15 Jahre vor Ort. Feiern Sie mit. www.strassenmagazin.ch www.facebook.com/vereinsurprise Unterst端tzen Sie uns: PC-Konto 12-551455-3

WOMM

Wir feiern 15 Jahre Bahnhof Stadelhofen.


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