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Verbotene Hilfe Sans-Papiers und ihre Arbeitgeber «Ich habe Thatcher nicht getötet» – Elvis Costello im Interview

«Sie widersprechen sich» – so laufen Anhörungen von Asylsuchenden

Nr. 309 | 20. September bis 3. Oktober 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Titelbild: WOMM

Editorial Heikle Verhältnisse

Heikel ist auch das Thema, das Renato Beck für diese Ausgabe recherchiert hat. Er erhielt Zugang zu Anhörungsprotokollen von Asylsuchenden. Normalerweise erfährt die Öffentlichkeit nicht, wie diese Gespräche ablaufen, die für den Entscheid über ein Asylgesuch eine wichtige Rolle spielen. Ab Seite 10 präsentieren wir Ihnen Protokollauszüge und Einblicke in das schweizerische Asylverfahren, das immer stärker Züge einer Abwehrschlacht trägt.

BILD: DOMINIK PLÜSS

«Eine heikle Beziehung», so lautet die Überschrift unserer Titelgeschichte. Sie erzählt von Menschen, die in ihrem Haushalt Sans-Papiers beschäftigen. Damit machen sie sich der Schwarzarbeit schuldig, doch man tut ihnen unrecht, wenn man ihr Tun in simplem Schwarz-Weiss darstellt. Entgegen der naheliegenden Annahme beuten viele dieser Arbeitgeber «ihre» Sans-Papiers nicht aus. Im Gegenteil: Sie versuchen ihr Möglichstes, ihren Angestellten faire Rahmenbedingungen zu bieten. Warum das schwierig ist und wie manche Kantone auf diese Arbeitgeber losgehen, lesen Sie ab Seite 13.

RETO ASCHWANDEN REDAKTOR

Nicht nur dieses Thema ist heikel, sondern auch der Umgang damit. Kollege Beck fand zwar Leute, die ihm Auskunft gaben. Doch kurz vor Redaktionsschluss schaltete sich die Medienstelle von HEKS ein, um bereits autorisierte Zitate zurückzuziehen. Wohlgemerkt: Das Hilfswerk bietet Rechtsberatung für Asylsuchende an, sollte also ein Interesse an transparenten Verfahren haben. Es wirkt befremdend, wenn eine solche Einrichtung kritische Medienberichte abwürgen will. Über die Motive lässt sich spekulieren. Bei den neuen, verkürzten Verfahren ist ein Rechtsschutz für Asylsuchende vorgesehen, der vom Bundesamt für Migration BFM bezahlt wird. Mitte Juli wurde ein erster solcher Auftrag ausgeschrieben. Es gibt Stimmen, die verlangen, diese Rechtsvertretung dürfe nicht von Hilfswerken übernommen werden, sondern von einer neutralen Instanz. Das ist etwa so, wie wenn man den Pflichtverteidiger in einem Strafprozess zur Unparteilichkeit verpflichten wollte – absurd. Wer immer diesen Auftrag übernehmen wird, steckt in der Zwickmühle: Hier die Asylsuchenden, die Anspruch auf Anwälte haben, die ihre Interessen vertreten. Dort das BFM als Auftrag- und Geldgeber, das kein Interesse an langwierigen Verfahren hat. Vor diesem Hintergrund wird das Verhalten der HEKS-Medienstelle nachvollziehbar. Akzeptabel ist es aber nicht: Wenn selbst Hilfswerke im Interesse eines guten Einvernehmens mit dem BFM auf Kritik verzichten, ist das nicht nur heikel, sondern es bedeutet auch, dass Asylsuchende ihre letzten Verbündeten verlieren. Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre Reto Aschwanden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 309/13

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10 Asylwesen Die Anhörung als Verhör Ob jemand in der Schweiz Asyl erhält, ist abhängig vom Ergebnis einer Anhörung. Befrager des Bundes lassen sich von den Flüchtlingen die Hintergründe ihres Asylgesuchs erläutern. Protokolle solcher Anhörungen legen nahe: Die Behörden suchen mehr nach Widersprüchen als nach der Wahrheit. Und entscheiden im Zweifelsfall nicht für, sondern gegen die Aufnahme.

13 Verbotene Hilfe Die Angst der Schwarzarbeitgeber Sans-Papiers sind ihren Arbeitgebern ausgeliefert, denn sie können ihre Rechte nicht einfordern. Umgekehrt tun sich auch viele Arbeitgeber schwer mit ihrer Rolle. Sie schwanken zwischen schlechtem Gewissen, dem Wunsch, ihren Angestellten zu helfen, und der Angst, selber vor Gericht zu landen. Betroffen sind Tausende von Haushalten, eine Frau erzählt ihre Geschichte hier im Heft.

BILD: SIMON DREYFUS UND SOPHIE AMMANN, WOMM

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Inhalt Editorial Befremdendes Verhalten Brief aus Kentucky Die Freiheit der Veteranen Zugerichtet Ein allzu offensichtlicher Fall Leserbriefe Menschenverachtende Slogans Starverkäufer Yusuf Ahmed Jama Porträt Zwischen Bühne und Gassenküche Kurzgeschichte Exkremente von Katja Brunner Wörter von Pörtner Das Leid der Drängler Film Wer bestimmt über die Alten? Kultur Die Parabel vom Schneemann Ausgehtipps Hitchcock mit Orchester Verkäuferporträt «Im Grunde bin ich ein Optimist» Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

BILD: ISTOCKPHOTO

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BILD: DANNY CLINCH

16 Elvis Costello Meister aller Stile

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Elvis Costello ist einer der stilsichersten Songwriter der Gegenwart. Er begann im New Wave, bewegte sich durch Rock, Soul, Jazz und Klassik. Nun hat er ein Album mit der Hip-Hop-Gruppe The Roots aufgenommen. Wie es dazu kam, warum seine Lieder schwierig nachzusingen sind und was er zum Tod von Margaret Thatcher zu sagen hat, erzählt er im Interview.

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Brief aus Kentucky Von der Freiheit VON AMIR ALI

Ich war Kaffee trinken. In Karens Bücherscheune, wo es zwischen meterhoch gestapelten Bibelbüchern eine gemütliche Sitzecke und starken Espresso gab. Weil in La Grange, Kentucky alle alle kennen, kommt man leicht ins Gespräch. Vor allem, wenn einen niemand kennt. «Ah, Switzerland!», singsangte der Cowboy mit dem riesigen weissen Bonanza-Hut und dem Holster am Gurt. «Dürft ihr da drüben auch eure Meinung sagen wie wir in Amerika?», fragte er. Ich wählte die Kurzversion und sagte: «Über so was wie Obamacare hätte bei uns das Volk entschieden.» Er staunte und nickte anerkennend. (Die umstrittene Gesundheitsreform fand er zu meiner Überraschung «eine gute Sache». Bibelshop-Besitzerin Karen hingegen feixte, dem hätten sie es schon gezeigt, hätten sie bloss etwas zu sagen gehabt.) Aber, erklärte der Cowboy, er wolle mit keinem anderen Land tauschen: «Wo sonst habe ich die Freiheit, mit meiner Pistole an der Hüfte herumzuspazieren?» (Dass sein Holster leer war, lag einzig und allein an Karen, die in ihrem Laden keine Waffen duldet. Und wo sie etwas zu sagen hat, da setzt sie sich durch.) «Geniesst du deine Freiheit? Bedanke dich bei einem Veteranen!», lautet ein populärer Spruch auf Stossstangen-Klebern. Frank, 26, ist Veteran. Ihm hat niemand Danke gesagt. Ich traf ihn, aufgekratzt vom Kokain und ohne einen Dollar, in einem schäbigen Motel, wo ihn der Sozialdienst für seine erste Nacht in Freiheit einquartiert hatte. «Mir lief einer in die Faust», erklärte er seinen jüngsten Aufenthalt im Knast. Nach zwei Jahren im Irak, wo er mit Laser Ziele für die Kampfjets markiert hatte, wollte er nicht mehr zurück an die Front. «Ich darf nichts erzählen», sagte er verschwörerisch, «aber wir haben dort Scheussliches getan.» Er wurde eingesperrt, unehrenhaft entlassen und verlor alle Leistungen. Die Armee wurde für ihn von der Chance des Lebens zur Sackgasse. «Alle gaben etwas. Einige gaben alles», heisst es auf einem anderen Kleber, der einen Soldaten an einem Grab zeigt. Frank hat den Krieg überlebt und seine Menschlichkeit bewahrt. Aber als Bürger im «Land der Freiheit» ist er tot. Und mich beschlich das dumpfe Gefühl: Die grösste Freiheit ist es, nichts zu wissen.

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Zugerichtet Das Beweisfundament Schwer zu sagen, wie das passieren konnte. Zumal jahrelang ermittelt und meterhohe Aktenberge angehäuft wurden, bis es zum erstinstanzlichen Prozess kam. Ein simples Versehen der Strafverfolgungsbehörden konnte es also nicht gewesen sein. Zunächst ging es ja auch noch gut: Der Bezirksrichter verurteilte die beiden Angeklagten wegen Betrugs zu je 27 Monaten teilbedingt. Doch die liessen das nicht auf sich sitzen und zogen das Urteil weiter ans Zürcher Obergericht. Dieses stellte nach einigen weiteren Prozessstunden kurz und bündig fest: «Ein Beweisfundament fehlt fast vollständig.» Vielleicht war sich die Staatsanwaltschaft ihrer Sache von Anfang an viel zu sicher. Denn was die beiden Angeklagten veranstaltet hatten, stinkt tatsächlich bis zum Himmel – so drückte es eine Zeugin aus. Zehntausende Haushalte riefen die Angeklagten per Computer von einer unverdächtigen Nummer an. Wer zurückrief, erreichte ein Tonband – und wer nicht rechtzeitig, das heisst innert weniger Sekunden, auflegte, war stolzer Neuabonnent bei einer Grippe- und PandemieHotline. Das Thema war raffiniert gewählt, waren doch zum Tatzeitpunkt gerade Hühner- und Schweinegrippewellen rund um den Erdball geschwappt. 10 000 Personen reagierten auf die Computeranrufe und erhielten in der Folge eine Rechnung über 130 Franken Jahresgebühr. 174 von ihnen zahlten tatsächlich für den Informationsdienst, bei dem ihnen zeitweise nur Musik vorgespielt wurde, vielleicht zur Beruhigung. Wie schon der Aufhänger für den ersten eingeklagten Sachverhalt, Pandemie, war auch der zweite hochaktuell und äusserst emotio-

nal: Jugendgewalt. Die Beschuldigten sammelten Spenden für den Verein PeaceAid, der sich vorgeblich gegen Jugendgewalt engagierte – dies aber nachweislich nicht tat. Er trat mit einer Website auf, auf der die Namen der Vorstandsmitglieder erfunden und mit Bildern von unbekannten Personen versehen waren. Die Call-Agentinnen wurden instruiert, von Beschäftigungsprogrammen auf Bauernhöfen und im Wald zu schwärmen. PeaceAid sorge für mehr Sicherheit, indem mehr Sicherheitsleute aufgestellt würden, «damit auch ältere und schwächere Personen ohne Angst einkaufen oder zum Bahnhof gehen können». Um Gewaltopfer kümmere man sich ebenso. 1200 Personen glaubten den Anruferinnen und tätigten «eine kleine, einmalige Spende». Auf den ersten Blick steht fest, dass der Staatsanwalt recht haben muss, wenn er sagt: «Mit ausgeklügelten Methoden und dreisten Lügen haben die Angeklagten die notorische Spendenfreude der Schweizer ausgenutzt.» Man kann gut nachvollziehen, warum die Behörden so sicher sind, dass es sich bei den Angeklagten um «raffinierte und skrupellose Berufsbetrüger» handelt. Immerhin scheinen sie 1400 Personen um insgesamt fast 70 000 Franken erleichtert zu haben. Die Indizien sprechen für sich – so klar und deutlich, dass es die Staatsanwaltschaft unterliess, auch nur einen einzigen der 1400 Geschädigten zu befragen. Das wäre dann besagtes Beweisfundament. Der Fall geht nun zurück an die Untersuchungsbehörden, um ebendieses zu erstellen. Und die Zeit, das heisst die Verjährungsfrist, die läuft für die Angeklagten.

YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 309/13


Leserbriefe «Das Fremde lebendig nah» Nr. 307: Saat gut?

Fremd für Deutschsprachige: Rebellion

Editorial: Geiz ist ungeil

Umwerfende Beobachtungsgabe Wie ich die Kolumnen von Frau Jashari geniesse! Und die in Nr. 306 hat mich durch ihre erfrischende, klare Sprache und umwerfende Beobachtungsgabe aus dem Alltag («Als ich sie so vor mir sehe, sitzt sie nicht eigentlich, vielmehr schwebt sie in deren Mitte.») wieder sehr beeindruckt. Nicht zuletzt bringt sie uns allen das Fremde ganz lebendig nah und zeigt, wie vertraut es ist. Louise Wilson, Bern

Die Galle kommt hoch Das Editorial der aktuellen Nummer ist mir aus dem Herzen geschrieben. Bereits eine etwas ältere Werbung, die jedem das Recht auf Luxus verspricht, liess mir die Galle hochkommen; wie absolut egoistisch und menschen- und umweltverachtend sind solche Slogans! Danke für eure gute Zeitschrift, ich freue mich immer über die nächste, neue Nummer. Daniela Vavrecka, Füllinsdorf

Kaffee: Besser als Fairtrade

Nr. 309: Wunderbares Nichts

Weder billig noch schlecht Der Autor schreibt, der gängige Bio- und Fairtrade-Kaffee sei billig und von schlechter Qualität. Dazu eine Ergänzung und Korrektur. Ich kenne den Fairtrade-Kaffee der Grossverteiler nicht. Dagegen bietet die claro fair trade zum Beispiel fair gehandelten Kaffee in hoher Bioqualität. Dieser Kaffee ist weder im Preis noch in der Qualität billig. Es profitieren beide: die Konsumentinnen dank der Auswahl und der hochstehenden Qualität und ebenso die Produzenten, die einen deutlich höheren Preis als den marktüblichen erhalten und ausserdem Förderung und Unterstützung in vielen Belangen erfahren. Johanna Raggenbass, Belp

Meier übersetzen Darf ich Sie bitten, mir die Übersetzung des Interviews mit Dieter Meier zukommen zu lassen. Obwohl ich die deutsche Sprache beherrsche und trotz zweimaligem Lesen der teilweise aneinandergereihten Sätze habe ich schlussendlich den Sinn des Interviews nicht verstanden. Angelika Dunner, via Mail

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

Nr. 306: 800 Aromen

Starverkäufer Yusuf Ahmed Jama Marianne Luchsinger aus Richterswil nominiert Yusuf Ahmed Jama als Starverkäufer: «Yusuf verkauft beim Coop in Richterswil seine Hefte. Er strahlt alle an, egal, ob sie ein Heft kaufen oder nicht. Als ich nach meiner Scheidung hierher zog, hat mir seine liebe Art immer Kraft gegeben und Hoffnung. Es hat sich so eingebürgert, dass wir einen kleinen Schwatz halten, während ich das Heft kaufe, und dann gehe ich immer gelöst und glücklich weg. Yusuf ist demütig, bescheiden, freundlich, optimistisch – die Welt könnte von mehr Yusufs profitieren!»

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Porträt Dämonen aus dem Wandschrank Bekannt ist Nadia Leonti vor allem als Musikerin. Doch weil die Baslerin Gegensätze liebt, arbeitet sie auch als Velokurierin und in einer Gassenküche. Und das wiederum verändert ihre Musik. VON MICHAEL GASSER (TEXT) UND DOMINIK PLÜSS (BILD)

Eine kleine Unkonzentriertheit liess sie von den Pedalen rutschen, und plötzlich fand sich Nadia Leonti am Boden wieder. Resultat: eine Riss-Quetschwunde der gröberen Sorte. Auch zwei Wochen nach dem Unfall muss sie noch an Krücken gehen. Wann die Musikerin wieder auf den Sattel und in ihren 20-Prozent-Job als Velokurierin zurückkehren kann, weiss sie nicht. Aber sie sehnt den Moment herbei. «Mein Körper braucht die Bewegung.» Trotz der temporären Einschränkung mag Leonti nicht untätig sein. Sie nutzt die Zeit, um neue Lieder zu erarbeiten. Ihr zweites Album «Pink Maria» erschien Mitte März, heimste viele positive Kritiken ein und gefiel mit facettenreichem Indie-Pop. Nun soll ein weiterer Schritt folgen. Wohin dieser führen wird, muss die Baslerin erst noch eruieren. «Aber ich habe schon mal die Dämonen aus dem Wandschrank gelassen», sagt sie. Womit sie zum Ausdruck bringen will, dass das Komponieren neuer Songs ein verrückter, aber auch spannender Prozess sei, der sie kaum mehr loslasse. «Die Inspiration kommt schliesslich nur, wenn man sich mit ihr beschäftigt.» Aufgewachsen ist die hochgewachsene Leonti in Riehen, in unmittelbarer Nachbarschaft von Basel. Als Teenager hegte sie leise Träume von einer Teilnahme an Olympischen Spielen. Sie liebte die Leichtathletik, insbesondere den Hochsprung, und als 14-Jährige überquerte sie die Latte bis zu einer Höhe von 1 Meter 62. Sie winkt ab, wechselt das Thema und erzählt davon, wie die Schule sie kaum mehr interessiert habe. Anders als die Musik, die für sie schon von klein auf «Rückzugsgebiet» war und zusehends relevanter wurde. Leonti, die heute die Gitarre bevorzugt, begann Klavier zu spielen und mit Sounds und einem sechsspurigen Aufnahmegerät zu tüfteln. Weil sie sich eine Zukunft ohne Musik nicht ausmalen wollte, entschied sie sich für eine Verkäuferlehre im Musik Hug. Einem Metier, dem sie lange treu blieb. Zuletzt war sie im legendären, inzwischen allerdings eingegangenen Basler Plattengeschäft Roxy engagiert, wo auch andere Musiker wie der Rapper Black Tiger oder die Singer/Songwriterin Bettina Schelker hinter der Kasse sassen. «Ein tolles Team, eine super Szene, aber fast zu viel der Musik.» Ein Inserat war dafür verantwortlich, dass Leonti als Keyboarderin bei der Basler Pop-Folk-Band Bartrek landete, bei der sie den Musiker Jakob Künzel kennenlernte. «Unser erstes Konzert fand im Berner Bierhübeli statt», entsinnt sich die Künstlerin, lacht ganz leise und sagt: «Ich dachte, so bleibt das jetzt.» Später fand sie sich – erneut zusammen mit Künzel – beim Trio Popmonster wieder, wo sie zunehmend mit ihrem Gesang und eigenen Kompositionen auf sich aufmerksam machte. «Mein Englisch war damals noch nicht so toll», gesteht Leonti. Das habe dazu geführt, dass sich in ihre Lyrics der eine oder andere Fehler eingeschlichen habe. «Damals wollte ich das nicht so genau wissen, ich

wollte einfach singen.» Das habe sich geändert. «Jetzt nehme ich das Texten sehr ernst.» Was sich nicht zuletzt an der engen Zusammenarbeit mit dem in Basel ansässigen US-Poeten Andrew Shields zeigt. Neben Popmonster war Leonti lange Jahre Teil der Americana-Truppe Shilf, deren bis dato letztes Album «Walter» 2011 erschienen ist und das Sound-Spektrum der Band um Gospel und Noise-Rock erweitert hat. Weil die Künstlerin vermehrt ihre eigenen Wege gehen wollte, unterhält sie seit einigen Jahren auch eine eigene Formation – unter dem Namen: Leonti. Da die Musik nicht zum Lebensunterhalt ausreicht, geht die 40Jährige weiteren Jobs nach. Und dies überaus gerne. Sie ist nicht nur Velokurierin, sondern arbeitet seit zwei Jahren auch in der Basler Gassenküche. Dank der Vermittlung eines Musikerkollegen konnte sie dort als Aushilfe einspringen und stellte dabei fest: «Diese Arbeit würde mir ge-

«Früher wollte ich einfach singen. Jetzt nehme ich das Texten sehr ernst.»

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fallen.» Als man ihr eine 50-Prozent-Stelle offerierte, habe sie keinen Moment gezögert. Berührungsängste ob der randständigen Klientel hätte sie nie verspürt, sagt Leonti. Nicht das Äussere zähle, sondern der Mensch dahinter. «Man muss vor allem präsent sein und zuhören können.» Die Besucher der Gassenküche kämen auf sie zu, weshalb es auch keine Rolle spiele, dass sie eher ein ruhiger Typ sei. Leontis Aufgabenfeld ist breit, reicht von der Entgegennahme von Spenden über die Koordination freiwilliger Helferinnen und Helfer bis hin zum Kochen. «Ein schöner Job. Vor allem, wenn Situationen kreiert werden können, bei denen man sich gegenseitigen Respekt entgegenbringt», so Leonti. Toll sei natürlich auch, wenn ein Klient in seinem Leben vorwärtskomme, aber: «Unser Einfluss ist da eher gering.» Via Essen könne man jemandem auf einfache Art und Weise Gutes tun, ist sich die gebürtige Italienerin sicher. «Man setzt sich hin, kommt zur Ruhe, und nach der Mahlzeit kommt die Wärme und Müdigkeit.» Für sie sei Kochen Befriedigung pur. Dass sie als Velokurierin, Mitarbeiterin in der Gassenküche und Musikerin drei sehr unterschiedliche Tätigkeiten in Einklang zu bringen hat, empfindet Leonti als bereichernd. «Ich mag die Gegensätze.» Aus Leonti spricht ein neues Selbstvertrauen – genährt von ihrer Arbeit in der Gassenküche und vom Gefühl, endlich Musik kreieren zu können, die ihr wirklich gefalle. Ein Selbstvertrauen, das sich auch auf ihre Bühnenpräsenz auswirkt. Die Musikerin, die zum Rampenlicht lange ein eher zwiespältiges Verhältnis verspürte, agiert in Konzerten neuerdings souverän. «Ich bin mir selber näher gekommen», sagt Nadia Leonti. Man glaubt ihr aufs Wort. ■ www.leontimusic.ch SURPRISE 309/13


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BILD: ISTOCKPHOTO

Asylwesen Protokolle des Misstrauens Ein Fl체chtling darf in der Schweiz bleiben, wenn der zust채ndige Beamte seine Geschichte glaubt. So auch im Fall der Tamilin S.: Ihr Befragungsprotokoll zeigt, wie ihr angebliche Widerspr체che zum Verh채ngnis wurden. Und wie problematisch die Suche nach der Wahrheit sein kann.

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VON RENATO BECK

Eine Anhörung und die Bewertungen daraus entschieden darüber, ob S. in der Schweiz bleiben durfte. Angesetzt war die Anhörung auf neun Uhr morgens. S. wurde in einen Befragungsraum des Empfangs- und Verfahrenszentrums bestellt. An ihrer Seite war eine Rechtsvertreterin der Freiplatzaktion Basel; ihr gegenüber sass die Befragerin des Bundesamts für Migration (BFM), die auch das Protokoll verfasste, sowie eine Dolmetscherin, die auf Tamilisch übersetzte. Die folgende Anhörung, die gemäss Protokoll drei Stunden und 40 Minuten dauerte, sollte Aufschluss darüber geben, ob S. das Recht zugestanden würde, in der Schweiz zu bleiben. Die Anhörung bildet den Kern der Schweizer Asylprüfung. In zwei Befragungen, einer kürzeren zur Person und einer ausführlichen zu den Fluchthintergründen, hören sich die Beamten die Geschichte eines Flüchtlings an und bewerten die Glaubwürdigkeit der Schilderungen. Ihre Aufgabe ist es, die Falschen von den Echten zu trennen, wie man es mit Banknoten macht, nur dass man diese einfach unter den Scanner legen kann. Manchmal trifft der Befrager einen negativen Entscheid noch am selben Tag, bei S. dauerte es über zwei Jahre. Ob es an der Arbeitslast des BFM lag oder an der Komplexität des Falls, ist unklar. Die Geschichte von S., wie sie den Akten zu entnehmen ist, hat es jedenfalls in sich.

B: «Vorhin sagten Sie, Sie wären das zweite Mal zwei Wochen festgenommen worden.» «Ja. Ich kann mich nicht erinnern.» B: «Aber es macht einen Unterschied, ob es einige Stunden sind oder zwei Wochen.» «Ja.» B: «Wie lange wurden Sie jetzt festgehalten?» «Bis abends war ich dort. Und weinte. Danach gaben sie mir Kleider. Ich konnte mich anziehen. Ich bekam nichts zu essen.» B: «Sie machen immer widersprüchliche Angaben zur Dauer der Festnahme: Sie sagen einmal zwei Wochen, dann zwei Tage, dann einige Stunden.» «Nachdem sie mich geschlagen haben, ist mir immer schwindlig. Letzte Woche war ich im Spital und ich bin vergesslich. Nur an die Daten, an welchen sie mich festgenommen haben, mag ich mich erinnern. Wie lange ich festgenommen wurde, weiss ich nicht.» Es ist die wichtigste Sequenz der Anhörung. Das BFM baut seinen Entscheid um die darin vorkommenden Unstimmigkeiten: «Die Vorbringen der Gesuchstellerin weisen diverse Widersprüche auf, weshalb der Eindruck entsteht, es handle sich beim geschilderten Sachverhalt um eine konstruierte Geschichte.» «Ferner entspricht die geschilderte Verhaltensweise der Gesuchstellerin nicht dem Verhalten einer tatsächlich verfolgten Person.» S. hatte nach der Haftentlassung eine Weile weiterhin im Geheimen für das Hilfswerk gearbeitet. Wäre sie wirklich bedroht gewesen, hätte sie sich versteckt, mutmasst das BFM. Das Fazit der Be-

Nackt im Armeecamp S. lebte mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern im östlichen Teil von Sri Lanka, auf dem Land, in einem Gebiet, das zwar unter Regierungskontrolle stand, in dem aber auch die Tamil Tigers eine starke Präsenz hatten. S. arbeitete für ein Hilfswerk, ihre Aufgabe war es, die Arbeitgeber verschleppter Frauen über deren Verschwinden zu informieren. Zuvor hatte sie für Das Gesetz verlangt, dass der Asylsuchende mit überwieMédecins Sans Frontières Medikamente verteilt und im Dorf Verletzte behandelt. gender Wahrscheinlichkeit seine Gefährdung glaubhaft Eine gefährliche, eine mutige Arbeit. Eine, macht. Beweise muss er aber keine liefern. die mit einem hohen Preis versehen war. S. wurde von den Sicherheitskräften beschuldigt, amten: «Der Gesuchstellerin kann nicht geglaubt werden, sie sei in Sri sie habe mit den Tamil Tigers kollaboriert und deren Kämpfer behanLanka seitens der Behörden verfolgt gewesen.» Ihr Gesuch wurde abgedelt, S. erwiderte, sie habe sich um alle Verletzten gekümmert. Jeden lehnt, die Wegweisung durch den Kanton Baselland, wo sie wohnte, auf Sonntag musste sie fortan ein nahes Armeecamp aufsuchen und sich Mitte Juli festgelegt. Weil sie und ihre Rechtsvertretung Beschwerde einmelden, zweimal wurde sie dabei festgenommen, verhört und inhafgelegt haben, muss jetzt das Bundesverwaltungsgericht entscheiden. tiert. Die Vorgänge bei der zweiten Festnahme sind zentral für den späteren Asyl-Entscheid. Das Protokoll gibt sie wie folgt wieder: Auf der Suche nach Widersprüchen Beim Lesen der Akten, nicht nur jener von S., entsteht der Eindruck, Befragerin: «Können Sie mir von der zweiten Festnahme erzählen?» das Schweizer Asylsystem nehme nicht gerne in Kauf, auch mal einen «Sie haben mich festgehalten und mich geschlagen. Sie haben meine Menschen aufzunehmen, bei dem nicht sicher ist, ob er die Wahrheit Kleider zerrissen. Sie gaben mir Stromschläge.» sagt und wirklich gefährdet ist. Es scheint eher bereit, jemanden zurückzuschicken, dem hätte Schutz gewährt werden müssen. Die Frage B: «Können Sie bitte etwas detaillierter erzählen?» lautet: Legt das Bundesamt für Migration den gesetzlichen Spielraum, «Sie haben meine Kleider zerrissen, mich geschlagen und meinen Kopf den es hat, konsequent gegen die Asylsuchenden aus? verletzt. Sie haben meine Kleider zerrissen und mich fotografiert. Ich Tilla Jacomet, die in der Rechtberatungsstelle für Asylsuchende des sagte, sie dürfen das nicht machen. Als ich weinte, haben sie einen Hilfswerks HEKS in St. Gallen arbeitet, kennt auch die andere Seite. ZuMann erschossen und gesagt, sie würden das Gleiche mit mir tun. Das vor war die Juristin vier Jahre lang im Bundesamt für Migration als Behabe ich letztes Mal nicht erzählt.» fragerin und Entscheiderin tätig. «Der bewusst gesetzte tiefe Beweismassstab wird zu wenig beachtet, sowohl vom BFM wie auch vom B: «Wie lange wurden sie festgehalten?» Bundesverwaltungsgericht», sagt Jacomet. Die Wertung in der Praxis sei «Ich weiss nicht, wie lange. Weil sie mich geschlagen haben, bekam ich härter, als vom Gesetzgeber gewollt. Das Gesetz sei klar, es verlange, die Periode.» dass der Asylsuchende mit überwiegender Wahrscheinlichkeit seine Gefährdung glaubhaft mache, Beweise müsse er aber keine liefern. In B: «Wieso wissen Sie nicht, wie lange Sie dort waren?» anderen Worten: Obwohl 51 Prozent reichen würden, wird nach der «Weil sie mich geschlagen haben, weiss ich nicht, wie viele Stunden ich hundertprozentigen Wahrheit gesucht. Die Glaubwürdigkeitsprüfung geschlagen wurde. Danach kam der Dorfvorsteher.» SURPRISE 309/13

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Den Eindruck der BFM-Mitarbeiterin, belogen zu werden, trifft man konzentriert sich, das zeigen die Akten wie auch Aussagen aus dem Inauch in der Befragung von S. nern des BFM, oft auf eine reine Suche nach Widersprüchen. Man hofft, einen Fehler in der Erzählung zu finden, damit die komplizierte inhaltBefragerin: «Was ist mit Ihrer Tochter gewesen?» liche Bewertung der Glaubhaftigkeit entfällt. «Sie wurde festgenommen und geschlagen. Durch die Hilfe des DorfDie Art und Weise der Befragung sei wichtig, sagt Jacomet und bringt vorstehers kam sie frei. Sie muss auch Unterschrift leisten gehen.» ein Beispiel: «Ob einer wirklich ein tibetischer Kuhhirte ist, finde ich nicht heraus, indem ich ihn frage, wie viele Kilometer die Distanz zum Nachbardorf beträgt. «Protokolle sind manipulierbar, sie können Fragen wegIch muss ihn fragen, wie gross eine tibetische Kuh ist, wie viel Milch sie gibt, wie es sich anlassen oder Gefühlsregungen streichen, und sie können fühlt, so ein Tier zu melken.» Doch in der Pradas Gespräch in eine gewünschte Richtung lenken.» xis wird nach Ortsnamen gefragt, nach Adressen und Distanzen, nach der Anzahl von B: «In der Befragung zur Person sagten Sie, Ihre Tochter habe zur OrSchlägen und Elektroschocks. Oder wie im Fall von S. nach verwechganisation gehen wollen und sei dann verschwunden.» selten Daten oder Zeitangaben. «Doch daran erinnert sich ein Mensch «Sie wurde geschlagen, deshalb ging sie zur Organisation. Sonst würden nicht unbedingt», sagt Jacomet. sie meine Tochter wieder festnehmen.» Ach, nicht schon wieder diese Geschichte B: «Das müssen Sie jetzt erklären. Ich verstehe das nicht.» Die St. Galler Rechtspsychologin Revital Ludewig teilt diese Ein«Sie sagte zu mir, ich solle mich verstecken. Ich solle ihren Bruder dem schätzung. «Menschen mit traumatischen Erfahrungen vergessen über Priester übergeben. Sie würde zur LTTE [Tamil Tigers, d. Red.] gehen. die Zeit hinweg einen bestimmten Prozentteil des Erlebten». Meist beDort sei sie in Sicherheit.» trifft das eher Detailaspekte des Geschehens, aber nicht die traumatische Situation an sich. Eine wissenschaftliche Studie zeigt beispielsB: «Was hielten Sie davon?» weise, dass Menschen autobiografische Ereignisse, die für sie wichtig «Ich sagte ihr, sie dürfe das nicht tun, und sie sei immer noch Schülewaren, sogar sechs Jahre später zu 75 Prozent korrekt wiedergeben. rin. Wir würden noch mehr Schwierigkeiten bekommen.» Vergessen werden die genaue Anzahl der Schläge, aber nicht die Schläge an sich. B: «Ist dann Ihre Tochter zur LTTE gegangen? Ludewig bildet als Dozentin sowohl die Beamten des BFM wie auch «Ja, sie hatte Angst vor den Schlägen. Deshalb ging sie. Danach hielt ich Richter und Hilfswerke darin aus, Erzählungen von Flüchtlingen auf mich versteckt. Ich weiss nicht genau, was passiert ist. Jetzt habe ich erderen Wahrheitsgehalt abzuklopfen. Zentral dafür sei es zu wissen, wie fahren, dass sie frei und bei meiner Mutter ist.» Menschen von traumatischen Erfahrungen berichten. «Sie tun das relativ ausführlich, mit überraschenden Details. Aber nur, wenn man ihnen B: «Verstehe ich das richtig: Ihre Tochter war bei der LTTE und wurZeit gibt und empathisch vorgeht, ihnen zu verstehen gibt, dass man de nachher wieder freigelassen?» für sie da ist.» Erzähle dagegen ein Bewerber plakativ, weniger detail«Ja, jetzt ist sie bei meiner Mutter.» liert, nur das, was zu erwarten ist, sei die Wahrscheinlichkeit gross, dass die Geschichte konstruiert wurde. Ludewig bezeichnet das als B: «Meines Wissens entspricht es nicht der Praxis der SLA [StreitSchemawissen. kräfte Sri Lankas], dass Angehörige der LTTE wieder freigelassen Es liegt viel Verantwortung auf den Schultern des Befragers, zumal er werden.» meist den Asylentscheid auch selbständig fällt, der Sektionschef setzt in der Praxis nur die Unterschrift drunter. Auch das BundesverwaltungsOb es wirklich eine Tendenz gibt, die Asylverfahren fairer und progericht stützt sich auf die Befragungsprotokolle, eine eigene Anhörung fessioneller zu gestalten, darf bezweifelt werden. Das BFM will sie abwird aus Effizienzgründen nicht gemacht. Dadurch könne der Befrager kürzen und Geld sparen, dazu soll gemäss mehreren Aussagen die Erstüber das Protokoll alles, was danach kommt, steuern, sagt Ludewig. befragung gestrichen werden. Das BFM sagt, in den aktuellen Diskus«Protokolle sind manipulierbar, sie können Fragen weglassen oder Gesionen um kürzere Verfahren sei eine Reduktion auf eine Befragung kein fühlsregungen streichen, und sie können das Gespräch in eine geThema. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. wünschte Richtung lenken.» Das gilt auch im Fall S., über den das Gericht befinden muss. Ihre Deshalb will Ausbildnerin Ludewig die Gerichte davon überzeugen, Chancen stehen nicht allzu gut, 2012 wurden nur zehn Prozent aller Beauch mal Befragungen wiederholen zu lassen, denn das geschieht in der schwerden gutgeheissen oder der Fall an das BFM zurückgewiesen. Das Praxis heute kaum einmal. Die Befrager will sie dazu bringen, dass sie Gericht muss dann auch bestimmen, inwiefern eine ärztlich festgestelloffen fragen, nicht gleich unterbrechen, dass sie sich ihrer eigenen te, durch die Folter erlittene posttraumatische Störung als Erklärung daSchwächen und Vorurteile bewusst sind. Das BFM mache dabei Fortfür dient, dass sich S. verzettelt hat. Die posttraumatische Störung hat schritte: «Seit drei, vier Jahren wird viel Wert auf eine gute Ausbildung die Freiplatzaktion Basel in ihrer Beschwerde geltend gemacht. Das gelegt. Die Beamten sind offen, sie wollen lernen und den richtigen OpBFM hat in seinem Entscheid die Erkrankung noch nicht einmal erfern helfen. Aber es ist wichtig, weiterhin die Qualität zu verbessern, wähnt. um echte Fälle von politischer Verfolgung aufgrund der täglichen RoutiS. ist auch in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Eher ein typischer. Gene nicht zu übersehen.» nauso der Umgang des BFM damit. Es laste ein hoher Druck auf den Tilla Jacomets Erfahrungen aus der Praxis decken sich mit den guten Beamten, sagt ein Kenner des Amts. Sie müssen schnell entscheiden Vorsätzen des BFM nicht immer. «Schwierig wird es, wenn Befrager ihund sie dürfen politisch nicht den Anschein erwecken, grosszügig zu re neutrale Rolle verlieren und es persönlich nehmen, wenn sie das Geurteilen. Das BFM sollte primär das Ziel haben, Verfolgte zu schützen, fühl haben, belogen zu werden. Dann kann ein Gespräch eine boshafte, darauf sollte das Leitbild ausgerichtet sein. Doch die Behörde habe sich negative Tendenz nehmen. Das ist keine gute Grundlage, aber es ist halt in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Heutzutage steht der Abwehrso, es gibt Momente, in denen man sich als Befrager sagt, ach, nicht gedanke im Vordergrund. schon wieder diese Geschichte.» ■

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Verbotene Hilfe Eine heikle Beziehung Viele Sans-Papiers verdienen ihr Geld als Haushalthilfe. Das bringt die Arbeitgeber in die Zwickmühle, denn auch sie machen sich der Schwarzarbeit strafbar. Doch wer sich informiert und Zivilcourage zeigt, kann die Rahmenbedingungen für Angestellte ohne Aufenthaltsbewilligung trotzdem verbessern.

VON RETO ASCHWANDEN (TEXT), SIMON DREYFUS UND SOPHIE AMMANN, WOMM (BILD)

Es ist eine besondere Beziehung: jene zwischen Sans-Papiers, die in Privathaushalten tätig sind, und ihren Arbeitgebern. Hier die Hausangestellte, meist eine Frau, oft aus Lateinamerika, die ihren Auftraggebern ausgeliefert ist, weil sie bei Arbeitskonflikten keine Möglichkeiten hat, ihre Rechte mit Behördenhilfe einzufordern. Dort die Arbeitgeber, die jemanden, der sich irregulär in der Schweiz aufhält, in ihre Privatsphäre lassen und sich der Schwarzarbeit schuldig machen. SURPRISE 309/13

Diese heikle Beziehung ist ganz unterschiedlich geprägt. Es gibt krasse Fälle von Ausbeutung, speziell im Kanton Genf, wo im Umfeld der UN-Organisationen wiederholt Hausangestellte wie Leibeigene behandelt wurden. Andere Arbeitgeber wollen lieber nichts Näheres wissen über die Lebensumstände ihrer Angestellten. Sie kümmern sich auch nicht um Unfall- oder Sozialversicherungen, bezahlen aber im Sinne eines Ablasshandels oft Löhne, die für Reinigungsarbeiten vergleichsweise anständig sind. Mehr als die Hälfte der Hausangestellten, die für die Studie «Wisch und weg! Sans-Papiers-Hausarbeiterinnen zwischen Prekarität und Selbstbestimmung» befragt wurden, verdient

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zu verrichten hatte. (…) Die Arbeitgeber haben sich wegen Beschäftizwischen 21 und 25 Franken pro Stunde. Manche verdienen weniger, eigung einer ausländischen Person ohne Bewilligung vor der Staatsannige aber auch bis zu 30 Franken und mehr. Für viele Sans-Papiers bewaltschaft Zürich-Sihl zu vertreten.» Die Ausrede, man habe vom Aufdeutet Arbeit gleichzeitig auch die Möglichkeit eines selbstbestimmten enthaltsstatus der Angestellten keine Kenntnis gehabt, zieht übrigens Lebens. nicht. Denn gemäss Ausländergesetz müssen sich Arbeitgeber vergewisNeben Ausbeutern und Ablasshändlern gibt es auch Arbeitgeber, die sern, dass ihre Angestellten zur Arbeit in der Schweiz berechtigt sind. um die Situation ihrer Angestellten wissen und gerne bei einer RegulariVon Regierung und Parlament sind im gegenwärtigen Klima in der sierung des Aufenthalts helfen würden. Doch das ist gar nicht so einfach, Ausländerpolitik keine Massnahmen zur Verbesserung der Lage von wie die Geschichte von Tamara Domeisen* (siehe Seite 15) zeigt. Sans-Papiers und ihrer Arbeitgeber zu erwarten. An der Basis aber Grundsätzlich können sich auch Sans-Papiers bei der AHV anmelden, formierten sich Anfang Jahr Gruppierungen aus migrationspolitischen, sofern sie ein Identitätspapier vorlegen können. Es ist nicht so, dass Sans-Papiers keinerlei Papiere hätten. Viele besitzen einen Pass ihres Herkunftslandes, In Zürich werden aufgeflogene Arbeitgeber von Sanswas ihnen aber fehlt, sind Papiere, die ihnen Papiers konsequent verzeigt. ein Aufenthaltsrecht in der Schweiz bescheinigen. Die AHV interessiert der Aufenthaltsstatus gewerkschaftlichen und kirchlichen Kreisen zur Kampagne «Keine nicht, ihr geht es darum, dass die Beiträge korrekt abgerechnet werden. Hausarbeiterin ist illegal». Derzeit werden Unterschriften für eine PetiDiese Haltung wurde durch einen Bundesratsentscheid bestätigt, wonach tion gesammelt, die Massnahmen zur Besserstellung von Sans-Papiers die AHV nicht zu einer Meldung an die Migrationsbehörden verpflichtet in Privathaushalten verlangt. ist. So weit die Theorie. «In der Praxis aber», sagt Marianne Kilchenmann Ob und wann die Politik auf diese Forderungen eintritt, ist höchst unvon der Sans-Papiers-Anlaufstelle Bern, «ist es auch schon vorgekomklar. Viele Arbeitgeber wünschen sich, die Situation «ihrer» Sans-Papiers men, dass beim vereinfachten AHV-Abrechnungssystem Informationen verbessern zu können. Doch bis auf Weiteres bleiben sie sowohl Bean die Behörden rausgingen mit dem Resultat, dass die Arbeitgeber Poliwohner wie auch Gefangene der Festung Europa, die sich gegenüber zeibesuch bekamen und die Angestellte die Ausreiseverfügung erhielt.» Menschen von anderen Kontinenten abschottet und lediglich Hintereingänge für rechtlose Haushalthilfen offen hält. Wenn ein Unfall passiert ■ Keine Probleme machen Krankenkassen, denn seit der Einführung der obligatorischen Grundversicherung gibt es keine Handhabe, Versi*Name geändert cherungswillige abzulehnen. Sans-Papiers können sich also – vorausgesetzt, sie sind in der Lage, die Prämien zu bezahlen – problemlos krankenversichern lassen. Schwieriger ist die Situation bei der Unfallwww.khii.ch versicherung. Zwar bezahlt die bei jedem Arbeitsunfall, auch bei Pierre-Alain Niklaus: Nicht gerufen und doch gefragt – Sans-Papiers in Schweizer Schwarzarbeit, doch dazu muss die verunfallte Person ihren ArbeitgeHaushalten. Lenos, 2013. ber nennen. Vor diesem «Verrat» schrecken viele Sans-Papiers zurück. Alex Knoll, Sarah Schilliger, Bea Schwager: Wisch und weg! Sans-Papiers-HausarKilchenmann erinnert sich etwa an eine Frau, die sich bei der Hausarbeiterinnen zwischen Prekarität und Selbstbestimmung, Seismo, 2012. beit das Bein gebrochen hatte und den Bruch bei sich daheim auskurierte, statt medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Das Denunzieren des Arbeitgebers ist auch ein Hindernis bei Bemühungen um eine Regularisierung des Aufenthaltsstatus. Wie die Geschichte von Tamara Domeisen zeigt, erfordert ein Härtefallgesuch (siehe Kasten) die Offenlegung der Arbeitgeber. Welche Konsequenzen diese zu tragen haben, hängt von ihrem Wohnkanton ab. Bern beispielsweise verfolgt einen pragmatischen Kurs, dort sind weniger strafrechtliche Sanktionen ein Thema als die Bezahlung der Sozialversicherungsbeiträge. Im Kanton Zürich hingegen, wo laut der KonjunkturHärtefallbewilligung – in der Deutschschweiz fast hoffnungslos forschungsstelle der ETH in jedem siebzehnten Haushalt jemand ohne Es gibt zwei Formen von Härtefallbewilligungen. Die eine bezieht legalen Aufenthaltsstatus arbeitet, müssen Arbeitgeber mit Strafen – sich auf die Legalisierung des Aufenthalts von Menschen, die urmeist bedingt ausgesprochenen Bussen – rechnen. sprünglich als Asylsuchende in die Schweiz kamen. Die andere Form Auch bedingte Bussen wirken abschreckend – und verschärfen den ist die ausländerrechtliche Härtefallbewilligung, unter die in der Regel Zwiespalt, in dem viele Arbeitgeber von Sans-Papiers stecken. Denn auf Sans-Papiers fallen. Von den Behörden wurde sie vor gut zehn Jahren der einen Seite möchten sie gerne bei der Verbesserung der schwierigen als Antwort auf die Forderung nach einer kollektiven Regularisierung Lebensumstände helfen. Die Sans-Papiers-Anlaufstellen in Zürich und von Sans-Papiers eingeführt. In der Praxis aber kommt sie selten zur Bern erhalten viele Anfragen von Arbeitgebern, die sich erkundigen, Anwendung – zumindest in der Deutschschweiz. Eine Auswertung wie sie ihre Angestellten unterstützen können. Bedingt diese Hilfe – des Bundesamtes für Migration (BFM) für die Zeit zwischen Septemetwa bei einem Härtefallgesuch – die Offenlegung der eigenen Rolle, ber 2001 und Dezember 2011 zeigt einen ausgesprochen tiefen Röstischrecken viele Arbeitgeber zurück. Das ist dann die andere Seite, die graben. So erteilte der Kanton Genf 1389 ausländerrechtliche HärteAngst vor den Konsequenzen für sich selber. fallbewilligungen, deren 371 aber vom BFM verweigert wurden. In der Diese Angst machen sich die Behörden in manchen Kantonen zunutWaadt wurden knapp 1000 Härtefalle anerkannt, wobei das BFM anze. In Zürich werden aufgeflogene Arbeitgeber von Sans-Papiers konseschliessend mehr als die Hälfte ablehnte. Ganz anders das Bild in quent verzeigt. Und damit das auch bekannt wird, publiziert die KanBasel-Stadt und Bern: Hier wurden nur 43 (BS) beziehungsweise 40 tonspolizei entsprechende Fälle gerne einmal. Im August 2011 verschick(BE) Gesuche bewilligt, wobei das BFM 20 beziehungsweise 10 abte sie eine Medienmitteilung über die Verhaftung und Ausschaffung eilehnte. Akzeptiert wurden vom BFM alle Härtefallbewilligungen im ner Brasilianerin. Darin heisst es: «Die weiteren Ermittlungen führten zu Kanton Zürich – was kein Wunder ist angesichts von gerade mal zehn neun Arbeitgebern, bei welchen die Verhaftete Putz- und Bügelarbeiten Fällen in elf Jahren. (ash)

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Verbotene Hilfe «Wir waren jeden Tag nervös» Tamara Domeisen* beschäftigte über viele Jahre eine Frau ohne Papiere in ihrem Haushalt. Was sie dabei fühlte und wie sie schliesslich dazu beitragen konnte, dass ihre Angestellte einen legalen Aufenthaltsstatus erhielt, erzählt sie hier. AUFGEZEICHNET VON RETO ASCHWANDEN, BILD SIMON DREYFUS UND SOPHIE AMMANN (WOMM)

«Mitte der Neunzigerjahre erhielt ich einen Anruf von einer Freundin. Sie fragte: Könntest du jemandem helfen, der in Not ist? Hättest du Arbeit für diese Frau? Wir konnten eine Haushalthilfe gut gebrauchen, also habe ich meine Freundin und diese Frau eingeladen. Wir tranken Kaffee und haben probeweise zusammen den Haushalt gemacht. Ich stellte ihr keine Fragen zu ihrem Aufenthaltsstatus, aber ich wusste genau, worum es geht. Sie anzustellen war ein Bauchentscheid. Ich hatte Skrupel: Einerseits dieser Frau gegenüber, weil ich sie ausbeuten könnte, andererseits auch für uns als Familie, weil wir wussten, dass wir etwas Verbotenes machten. Jemanden schwarz zu beschäftigen – das tut man nicht gern. Ich habe das nicht gesucht. Damals wusste ich nicht, dass man für Sans-Papiers AHV bezahlen kann. Anfangs dachte ich, dass die Schweiz vielleicht ein Abkommen hätte mit Kolumbien, wo Valentina* herkommt, damit ein bestimmtes Kontingent an Leuten hier arbeiten kann. Aber so etwas gab es mit keinem südamerikanischen Land. Immerhin konnten wir sie gegen Krankheit und Unfall versichern. Dadurch wurde die Beschäftigung für mich ein bisschen grau statt schwarz. Und die furchtbare Angst, was wäre, wenn ein Unfall geschähe, war dadurch gebannt. Bezahlt habe ich von Anfang an einen relativ guten Lohn von damals 25 Franken. Und ich schaute, dass es keine Ferienlücken gab. Darum hatte sie von Anfang an den Schlüssel und machte während unserer Ferien das ganze Haus piekfein. Mir waren ihre Lebensumstände bewusst. Sie konnte weder ausnoch wieder einreisen. Ihre Mutter und ihr Vater sind gestorben und sie konnte nicht zur Beerdigung. Die Illegalität ist bedrückend. Natürlich in erster Linie für Valentina, aber auch für uns: Unsere Kinder sind mit dieser Frau grossgeworden, sie ist quasi ein Familienmitglied geworden. Valentina hat noch andere Auftraggeber, manche sind Bekannte von uns, andere nicht. Bei den meisten geht sie alle zwei Wochen einmal vorbei, bei mir macht sie vier Stunden pro Woche. Kennengelernt haben wir die anderen Arbeitgeber aber erst, als sie erzählte, dass es allenfalls einen Weg gäbe, ihren Aufenthalt zu legalisieren. Konkret bedeutete das, ein Härtefallgesuch zu stellen. Bei der Anlaufstelle für Sans-Papiers hiess es, dass die Erfolgsaussichten mit Unterstützung von uns als Arbeitgeber viel besser wären. Natürlich hatten wir Angst und wir klärten ab, was uns blühen könnte. Theoretisch ist das immens: Es können Geld- oder sogar Gefängnisstrafen ausgesprochen werden. Für mich war das wie eine Waage – auf der einen Seite die Situation von Valentina, auf der anderen unsere. Für mich war klar: Das können wir nicht allein bewältigen, jetzt müssen wir das Netzwerk der verschiedenen Arbeitgeber aktivieren. Ich rief also alle an, und fast alle machten mit. Gemeinsam gingen wir zur Anlaufstelle. Wir waren so viele, dass die Stühle nicht für alle reichten. Unsere Rolle beim Gesuch war es, gegenüber den Behörden zu bezeugen, dass diese Frau schon so und so lange hier ist und sich selber durchbringen kann. Natürlich waren wir während des Verfahrens jeden Tag nervös, wenn wir zum Briefkasten gingen, aber wir wurden von keiner Behörde beSURPRISE 309/13

langt. Letzten Dezember hat Valentina die Aufenthaltsbewilligung erhalten. Dann gab es natürlich ein grosses Fest, sie hielt eine Rede, die wir alle sehr berührend fanden. Für uns als Arbeitgeber ist die Beschäftigung umständlicher geworden. Jetzt muss jeder Arbeitgeber AHV, Quellensteuer und Unfallversicherung abrechnen. Ich hatte den Papierkram irgendwann da oben. Aber das ist es mir wert. Diese Erfahrung hat bei mir ein Umdenken ausgelöst. Je länger, desto mehr fokussiere ich auf Einzelschicksale. Im grossen Ganzen kann ich gegen Ungerechtigkeiten nichts machen. Sie machen mich nur ratlos, hilflos, wütend. Aber im Einzelfall kann ich etwas bewirken. Ich konnte nicht rational wählen, ob ich diese Frau beschäftige. Es kam überfallmässig. Wenn das passiert, überlegt man sich die Folgen nicht, denn dann könnte man es nicht machen. Ich bin aber froh, dass ich damals so entschieden habe. Ich habe nie gedacht: Hätte ich doch bei diesem Anruf damals Nein gesagt.» ■ * Namen geändert

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Elvis Costello «Man darf nur Lieder singen, die einem etwas bedeuten» Schon mit seinem eleganten Debütalbum mitten in der ungehobelten Punkzeit schwamm Elvis Costello gegen den Strom. Seither hat er ständig neue Herausforderungen gesucht und immer wieder unerwartete Haken geschlagen. Auch jetzt wieder: Nach Kollaborationen mit Paul McCartney, Burt Bacharach und der Sopranistin Anne Sofie von Otter hat er sich mit der wegweisenden Hip-Hop-Gruppe The Roots zusammengetan. Surprise hat den Meister des bissigen Songs in London getroffen.

INTERVIEW VON HANS-PETER KÜNZLER

Herr Costello, als Erstes möchten wir natürlich wissen, wie es zur Zusammenarbeit mit den Roots gekommen ist. Ich wurde eines Tages eingeladen, in der TV-Sendung von Jimmy Fallon auf NBC aufzutreten. Seit geraumer Zeit walten The Roots dort als Hausband. Als ich im Studio ankam, überraschten sie mich mit einem völlig neuen Arrangement für mein altes Lied «High Fidelity». Und dann machten wir einfach weiter. Ein Song, dann vier, und auf einmal hatten wir deren 15 oder sogar 20 beisammen.

Klassik und bei T. Rex, darum war unsere Musik gespickt mit solchen Zitaten. Im Jazz und im Hip-Hop, aus dem The Roots kommen, gehört Zitieren ohnehin zum Alltag. Allerdings zitieren Sie nicht nur Geräusche und ohrwurmige Melodien, sondern auch Worte. Das zeigt doch, dass Sie glauben, Ihre Texte von damals seien heute noch genauso relevant wie zu der Zeit, als Margaret Thatcher britische Soldaten auf die Falklands schickte. Ich würde einige Texte auf dem neuen Album als Collagen bezeichnen. Ich wollte Gedanken aus verschiedenen Quellen zusammenbringen und in einen neuen Zusammenhang stellen. Es stimmt, gewisse Vorgänge, über die ich in den Achtzigerjahren gesungen habe, wirken

Textlich beschäftigen Sie sich oft mit politischen Themen – da macht «Wise Up Ghost» keine Ausnahme. Wie wichtig ist es, dass Sie sich mit Ihren Mitmusikern auf dieser Ebene verstehen? «England wird immer noch von der gleichen SchweineWir haben darüber nie konkret gesprochen, herde regiert wie zur Zeit von Thatcher.» so wie wir auch nie einen philosophischen Dialog darüber geführt hätten, warum wir dieses heute sogar noch bedrohlicher. «Refused To Be Saved» stammt aus der Album machen wollten. Hingegen verbinden Questlove (alias Ahmir Zeit der Invasion von Panama. Nun blickt man auf die Invasionen von Thompson, Drummer, Journalist und Kopf der Roots) und mich einige Irak und Afghanistan und stellt fest, dass dort die gleichen Fehler besehr persönliche Umstände. gangen worden sind. Das finde ich äusserst beunruhigend. Indes hoffe ich sehr, dass man aus diesem Album nicht nur das Dunkle und BrutaWelche denn? le heraushört, sondern auch den Humor und die Spielfreude, die darin Unsere Väter waren beide Sänger. Wir waren von Kindesbeinen an stecken. Die Aufnahmen haben mächtig Spass gemacht – das kann ich von Musik umgeben und darum vertraut mit der Idee, dass Musik eine nicht genug betonen. Berufung und ein Beruf sein kann. Aber auf politischer und sozialer Ebene haben wir einen vollkommen anderen Background. Zudem geIn den Augen vieler politisch motivierter Songschreiber war Marhören wir verschiedenen Generationen an. Wobei The Roots auch keine garet Thatcher in den Achtzigerjahren so etwas wie eine lebendiAnfänger sind. Ich bin bloss zehn Jahre länger im Geschäft als sie. ge Metapher für alles, was faul war im Staat. Sie selber haben sich Ihren Zorn mit «Tramp the Dirt Down» von der Seele geAn verschiedenen Stellen begegnen wir auf dem neuen Album schrieben, als Sie davon sangen, auf Thatchers Grab die Erde Zitaten aus alten Liedern von Ihnen. Wie sind diese historischen festzustampfen. Wie haben Sie den Tod der einstigen PremierTupfer zu verstehen? ministerin im Frühling aufgenommen? Es sind quasi Samples, halt Samples aus meinen eigenen Platten und Ich habe sie ja nicht persönlich umgebracht, deswegen hatte ich weneu eingespielt, aber doch irgendwie Samples. Es tauchen auch Samples der Schuldgefühle noch fühlte ich Genugtuung. Vor ungefähr 18 Monavon anderen Künstlern auf, aber thematisch und melodisch passten die ten habe ich meinen Vater verloren. Er litt – wie Margaret Thatcher – an eigenen Zitate schlicht am besten. Das Zitieren gehört schon zum Stil Demenz. So weiss ich aus eigener Anschauung, wie traurig und elend meiner ersten Band The Attractions. Unser Keyboarder, Steve Nieve, war ein solches Schicksal ist. Ich möchte es auch meinem übelsten Feind nie beim ersten Album 1977 noch sehr jung, aber er kannte sich aus in der

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BILD: DANNY CLINCH

Musikersprรถsslinge unter sich: Elvis Costello und Questlove von The Roots. SURPRISE 309/13

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wünschen. Was «Tramp the Dirt Down» angeht: Der Text ist keineswegs schwarz-weiss. Sobald man ein bisschen zu graben anfängt, wird der Sachverhalt sehr viel komplexer, als man es sich bei der Lektüre der Schlagzeilen vorstellen würde. Hingegen ist klar, dass die Zukunft nicht so herausgekommen ist, wie wir uns das in unserer Jugend vorgestellt haben. Eine Menge Dinge in England, die uns einst als Gemeinschaft gehört hatten, sind uns genommen und verscherbelt worden. Darum habe ich «Tramp the Dirt Down» wieder ins Live-Repertoire aufgenommen. Das Land wird immer noch von der gleichen Schweineherde regiert wie damals.

Interessante These – sie ist mir völlig neu. Das ist so auch noch nirgends gesagt worden. Da fange ich jetzt selber damit an! Es ist die Tradition von Chuck Berry und Bob Dylan. Sehr rhythmisch, viele Silben, und doch Gesang, nicht Deklamation. Klar, es gibt genug Leute, die finden, meine Lieder hätten zu viele Wörter. Aber das kann es doch gar nicht geben, «zu viele Wörter»! Es ist dasselbe, wie wenn einer kritisiert: «Er spielt zu viele Töne.» Sagen Sie so was mal zu John Coltrane! Das Handy von Elvis Costello sirrt – er entschuldigt sich und liest kurz das SMS. Verzeihen Sie – ich behalte das Handy angeschaltet, weil ich mit meinen beiden Buben in Kontakt bleiben möchte (die Zwillinge sind sechs Jahre alt, Costello ist seit zehn Jahren mit der Sängerin Diana Krall verheiratet, Red.). Es ist ein grosser Tag für sie. Heute beginnt die Tournee ihrer Mutter in Deutschland, und sie sind dabei.

Drei musikalische Elemente greifen auf «Wise Up Ghost» ineinander. Auf der einen Seite sind da Ihre bösen und bissigen Texte. Dazu kommen die gewohnt herrlichen Gesangsmelodien – und dann die oft sehr spröde musikalische Begleitung durch die Roots und vor allem das beinharte Schlagzeug von Questlove. Das ist richtig. Unglaublich, wie hart Questlove draufschlägt! Ich als Wie hat die Geburt der Buben Ihre Haltung zur Arbeit beeinflusst? Sänger hatte durch das sparsame Spiel der Roots viel mehr Platz, als ich Ich vermisse sie natürlich schrecklich, wenn ich allein unterwegs das gewöhnt bin. Ich konnte die Worte nach Lust und Laune dehnen bin. Wir hatten sehr viel Spass zusammen in den letzten paar Wochen. und biegen. Ein Text wie «Bedlam» bekam in diesem Umfeld mehr Platz Zwischen dem Ende meiner England-Tournee und jetzt haben wir Fezum Atmen. Das kam mir sehr entgegen. Ich bin – ohne dass ich mich selbst loben will – in «Ich habe ein gutes Gefühl für verbalen Rhythmus. Desrhythmischen Belangen ein recht virtuoser wegen sind gute Cover-Versionen von meinen Liedern so Sänger. Es fehlt mir wohl der feine Ton eines selten. Technisch gesehen sind sie schwierig zu singen.» Tony Bennett, dafür habe ich ein gutes Gefühl für verbalen Rhythmus. Deswegen sind gute Cover-Versionen von meinen Liedern so selten. Technisch gesehen sind rien gemacht. Es ist ein unglaublicher Luxus, mehrere Wochen lang nur sie schwierig zu singen. In diesem Punkt gleichen sie dem Hip-Hop, mit ihnen verbringen zu können. Wir sind in der schönen Lage, uns dieauch wenn ich mich nie als Rapper bezeichnen würde. se Zeit nehmen zu können. Anders als Leute, die im Büro oder in einer Fabrik oder gar an der Börse arbeiten. Die sehen ihre Kinder nur am Weekend und im Urlaub. Anzeige: Sie werden nächstes Jahr 60. Ist mit dem Älterwerden das Bedürfnis, gewisse Ziele zu erreichen, dringlicher geworden? Vor allem ist das Bedürfnis grösser geworden, keine Zeit ohne meine Familie zu verschwenden. Wenn ich allein auf eine Reise gehe, dann muss sie einen Sinn haben. Sie muss im Dienste meiner Identität als Mensch und Künstler stehen. Man will nicht mehr die ganze Nacht irgendwelchen neuen «Thrills» nachjagen, die nicht direkt mit Musik zu tun haben. Ich bin disziplinierter geworden in den letzten Jahren. Wobei ich mich auch hier ein bisschen loben muss: Als derart undisziplinierter Mensch, wie ich es bin, so viele Platten aufgenommen zu haben ist nicht so schlecht, oder?

Viele einst kühne Musiker ruhen sich im Alter auf ihren Lorbeeren aus. Sie nicht – das beweist auch dieses neue Album wieder. Wie bewahren Sie die Lust und Energie dafür, Neues zu wagen? Ha! Es gibt durchaus auch die Meinung, ich solle dieses Herumblödeln endlich lassen und bloss noch Platten machen, die tönen wie ich. Klar, es tut gut, ab und zu zur alten Formel zurückzukehren. Andererseits ist Musik doch einfach ein einziges grosses, wunderbares Abenteuer, das uns als Menschen hoffentlich ein bisschen bereichern kann. Markenidentität und all so was ist doch Nonsens. Alles nicht so wichtig. Hingegen darf man nur Lieder singen, die einem etwas bedeuten. Ich trage noch immer Songs mit mir herum, die ich vor 35 Jahren geschrieben habe – Lieder, hinter denen ich stehen kann und die die Leute freundlicherweise immer noch hören wollen. Mir haben immer die alten Country-Typen gefallen, die auf der Bühne Sprüche fallen liessen wie: «Jetzt kommt ein Lied, das über die Jahre hinweg sehr gut gewesen ist zu mir und den Boys.» Ich glaube, bald bin ich auch so weit. ■

Elvis Costello & The Roots, «Wise Up Ghost» (Blue Note/Universal).

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Exkremente sind Relikte einer vormaligen Verdauungsaktivität VON KATJA BRUNNER (TEXT) UND PRISKA WENGER (ILLUSTRATIONEN)

Wo die Liebe wohnt, in demselben Haus wohnt auch die Freundschaft, bloss bewohnt die Freundschaft stets die Toilette, den Ausscheidungsort, das tagtäglich benutzte, dort, wo man runterspült, dort, wo man den Exkrementen, die man sich gerade in Verausgabung oder mit Leichtigkeit ausgewrungen hat aus dem Unterleib, ihnen freien Lauf gibt, dort, wo man ihnen beim suizidalen Strudel der Kanalisation entgegen zuschauen kann, dort, in diesem tagtäglich von Flatulenzen geschmückten und durch Körperveranstaltungen lebhaft gehaltenen Raum, dort wohnt also die Freundschaft. Der Freundschaft also gehören die Toiletten. Das dachten wir uns auch, standen in den hornhautfarben verkachelten Ausschaffungsorten unserer Schule herum, warfen die Schwämmchen, die wir uns einführten, um das Blut innerkörperlich zu bewahren und nicht unkontrolliert herumzuverteilen auf den Böden, den Strassen, die zusammenliefen und so unsere Stadt ausmachten, eben jene Schwämmchen warfen wir punktgenau bewusst an den Mülleimern vorbei. Manchmal verwendeten wir sie als Malutensilien, um grosse, gedankenreiche Striche an die Innenwände der Kabinchen anzubringen. Wir hörten die Laute der sich ergiessenden Mitmädchen, die fortwährend einer Art semiwiederkäuerischem Zyklus folgten, der ihnen eine strikte Nahrungsaufnahme gebot sowie eine konsequente Nahrungsausgabe in die Toilettenschüssel hinein. Diese Mitmädchen waren schlau und gewitzt, sie hatten es teilweise perfektioniert, ihre Entleerungsvorgänge ebenso still zu gestalten wie ganz zurückhaltendes, fein dosiertes Pinkeln. Sie waren dabei auch meistens schön, wir stellten uns vor, manchmal kriegte ihr Gesicht eine Röte, manchmal streifte eine glattgebügelte Haarsträhne einen enzymangereicherten Kotzfaden und häufig waren sie einfach nur wahnsinnig schön und traurig und auf der anderen Seite der Kabine. SURPRISE 309/13

Eine tropfte aus dem Rachen direkt auf den grossen Zeh, sie bemerkte es nicht, bevor sie ihr angetrautes Kabinchen verliess und hatte drum ein Salatteil mit Magensaft auf ihrem Fuss und trug es an den Ostwinden, den politischen Umstürzen in Ost-Timor und anderen Dingen vorbei relativ unbeteiligt durch den Flur in ihr Schulkämmerchen rein. Dort strich sie es wohl irgendwann am Stuhlbein ab, als sie die Beine verschränkte. In dem Kopf von diesem Exemplar Mitmädchen wohnten viele glatte Vorbilder, an denen man direkt abrutschen konnte wie an magensaftgetränkten Fingernägeln, so ungefähr. Diese glatten Vorbilder waren von jemand anderem ersonnen worden, womöglich die glatten Vorbilder nicht einmal von sich selbst, sondern von einer Macht, die darüber entschied, wer wie und wann in welcher Vollkommenheit welche Makel aufzuweisen hatte und welche nicht. Die meisten Makel der glatten Vorbilder waren eigentlich ein zur Schau getragenes Abhandengekommensein jeglicher Makel. Das war mitunter ungewöhnlich beeindruckend, denn man stelle sich vor, es ist ähnlich dem Huhn und dem Ei, was war zuerst, kamen die Makel den glatten Vorbildern abhanden oder kamen die glatten Vorbilder den Makeln abhanden. Dies fragten wir uns vielleicht so mehr oder weniger dezent, während wir an den hornhautfarbenen Kacheln anlehnten, in noch weiche Kaugummigemälde Buchstaben ritzten und uns gegenseitig aufpolierten, um verfügbar, frei und zugänglich zu sein für die sieben Minuten, die wir nach der Schulpräsenzzeit draussen verbrachten, die sieben Minuten Gehweg vom Schultor über den abschüssigen Weg, an einer stark befahrenen Strasse entlang, oberhalb der Bahngeleise in einen Zug, der uns hinausführte aus der Stadt, an den Rand der Stadt, dort, wo wir dann waren, wenn die Schule uns ausspuckte, uns ausschaffte, für einige Stunden, damit wir, bevor die Sonne aufgestanden war versteht sich, wieder in diese UnterhaltungsundBildungsstätte kriechen durften, ihr

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und wieder, auf dass sie mehr wurden, auf dass sich die Container anunter die Panzerlappen kriechen wie in der Biologiestunde, wo wir mit füllten mit Karnickelkörpern wie Gülle oder die Sammelbecken in fahreiner Spritze unter eine Chininplatte einer Kakerlake Ammoniak einbaren Toilettenhäuschen, ungefähr so. führen sollten, ein, zwei Zuckungen, ein minimer Tanz, dann beschloss In dem Haus auch dein Kämmerchen, Fensterlöcher, Farben, derer die Kakerlake ihr Leben und man drückte sie ein wenig der Wachsauswir uns nicht erwehren konnten, Plastikgebilde, an denen wir vergnüglage der Untersuchungsschale entgegen, bis etwas an Körperinnerem lich werden konnten, Stunde um Stunde. austrat, aus der Kakerlake hinaus. In deinem Kämmerchen alles ruhig gestellt, keine KörperentleeDort, am Rand der Stadt, stand ein Haus, das uns beiden nicht gerungsmassnahmen, keine Körpermodifikationsmassnahmen, keine Anhörte, es gehörte den beiden Elternteilen von dir, damit du es nicht verweisungen, in deinem Kämmerchen Stille und zwei Lichtstrahlen pagisst, sage ich es nochmal, ihnen gehört es, sie haben das Land unter dem Haus gekauft, einige Löcher in den Boden geschlagen, dann ein Haus darübergestellt, es In dem Kopf von diesem Exemplar Mitmädchen wohnten viele schaut lieb aus, das Haus und schaut an den glatte Vorbilder, an denen man direkt abrutschen konnte wie Hang gegenüber, die Stadt, in der wir waren, an magensaftgetränkten Fingernägeln, so ungefähr. die ist nämlich eingeklemmt zwischen Hängen, vor allem zwei prominenten Hängen und rallel zueinander, einer auf deinem Fuss, der andere auf meinem. dort kann man sehen, das Haus deiner Eltern, das lieb schaut, schaut Manchmal durch die Ritze an der Türe der Geruch von gut durchgehinan an den anderen Hang, man weiss darum, das Haus wird nie an bratenem Karnickel flankiert von Thymian oder sonstigem Krautgeden anderen Hang kommen, da kann es noch so lange schauen, schauwächs, es wächst eben vieles und einiges auf dem Erdball, das ist uns en so lieb als es will. aufgefallen, wir haben nämlich gefunden in dem Keller von dem Haus, In dem Haus gibt es Zimmer, die Zimmer gehören verschiedenen das nicht deins ist, sondern das deiner Eltern, vergisst du das nicht, Menschen an, wichtig für dich, die Erzeugerin, eine stolze Frau spanidort haben wir gefunden eine Pflanze und wie sie wächst im Keller wie schen Ursprungs, wie die Leute rings um das Haus herum sich zuraunsie wächst und die Blätter an der Pflanze eine ikonische Form und der ten, die spanische Schwere und die spanische Leichtigkeit und ein Zweck der Pflanze uns bald bewusst. Also haben wir ihr die SpezialBecken gebärfreudiger als andere, begabt war sie geworden mit den lampe angelassen und uns hochgeklettert die Stufen hinauf ins EbenHäkelnadeln im Körperinnern. Der Erzeuger. Die Zusatzfrau, der Bruerdige und immer wieder von der Pflanze genommen und gehortet und der, gemacht aus demselben Material wie du, das fiel schwer zu glauuns bei ihr bedankt, danke, Pflanze und sie zerteilt und verkleinert, die ben, denn wahrlich stand er fest im Fleisch. Abgaben der Pflanze und die dann weiterverwertet, vermengt mit TaUnd hinter dem Haus, dort, wo das Haus nicht hinschaut, dort die bak und in einem Papier drin. (Das Ganze übrigens auf dem Dach des Karnickel in Containern, auf dass sie wuchsen, ineinander hinein hin

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BILD: VANESSA PÜNTENER

ansonsten geht einfach alles gleichförmig weiter, die Karnickel schiesHauses verraucht, das das Haus ist, das nicht dir gehört, sondern deisen sich ineinander und werden mehr, bis man Hunger hat, dann wernen Eltern.) den sie weniger, die Mitmädchen und du transformieren sich zu StanIn deinem Kämmerchen alles ruhig gestellt, ich erzähle dir den gen, von Stangen zu Strichen, von Strichen zu Spitalmädchen, die man Traum, den ich hatte, du und ich inmitten von Affen, Affen, die schlendann wieder sieht, wenn sie aufgehört haben ihrer mundlastigen Entkernd um uns herum tanzen, in deren Mitte wir uns bewegen mit einer leerung leidenschaftlich nachzugehen, die Pflanze wächst, der Erzeuger Selbstverständlichkeit, dann von den Affen geleitet über eine Wiese, die schiesst sich in die Erzeugerin und sie werden nicht mehr, du verbrennst von Butterblumen hellgelb erleuchtet ist, ans Ende der Wiese, hinter der Wiese eine Art Fluss, eine Art grösserer Bach, die Steine ragen hervor aus dem Wasser, das Du hast abgegeben, was dir gehörte, den Kopf, der sich aufWasser, das spült, das nach unten fliesst oder blähte über dem Körpermaterial, das Licht, die Enzyme. einfach nach weg, die Landschaft kann man hinlegen wie einen Stift, sagt der Affe, der eine dir einmal wöchentlich (bevorzugt mittwochs) eine halbmondförmige und stösst mich ins Wasser, das Wasser klebt stark und ist warm, das Wunde in die linke Hand, Tatbestand Haare glattkriegen mit einem erWasser macht aus meinem Körper eine Ampulle, die fast zerspringt vor hitzten Eisen, ich lecke einmal drüber und der Hausmeister gibt widerWärme, wir sind erhitzt aneinander, das Wasser und ich, dein Kopf newillig einen kleinen Verband raus, bevor wir zur Toilette gehen, träufelst ben mir, sehe ich kurz aus einem Winkel irgendeines Auges, das schon du Farbe in die Wunde, rot soll er sein, der Halbmond und für später seinen Platz verlassen hat, verschmelzend in der Hitze des Wassers, was oder für ein für immer sichtbar. sehe ich dir schon an, es spült dich unter, ich sehe dich nicht mehr, ich Dir gehört ja genau genommen mittlerweile nichts mehr. Du hast abspüre etwas an meinen Beinen entlang, das bist nicht du, deine Berühgegeben, was dir gehörte, den Kopf, der sich aufblähte über dem Körrung habe ich noch immer erkannt. permaterial, das Licht, die Enzyme. Ich glaube auch, der Mann im KreDu sagst, das kann doch gar nicht so gewesen sein in deinem Kopf, matorium hat dir noch den Ring abgezogen, den ich dir schenkte. Das sagst du, weisst du noch, dass du das sagst. glaube ich, weil ich in deine Urne schaute und nichts sah, was silbern Ich nicke und mein Fuss stubst an deinen. war und schaute und da war nichts und auch glaube ich das, weil er Die Berührung geht an deinem Fuss vorbei, es scheint ihm egal zu aussah, als würde er sich ein Beibrot verdienen mit dem Abzwacken sein. von Schmuck direkt von den Zuverbrennenden weg in sein Täschlein. Du sagst, ich glaube dir deinen Traum nicht. So glaube ich das. Deshalb gehört dir ja genau genommen mittlerweile Ich atme halt einfach wieder ein und aus wie immer. nichts mehr, der Körper nicht und das Silber nicht und die Karnickel Aber es ist schon gut, ich muss dir deinen Traum nicht glauben, nicht und kein Kaugummi mehr an keiner Kachel der Welt. Auftürmen denn, wenn du ihn erfunden hast, dann hast du ihn besten Willens und würde ich alles, dir zu geben, damit du behieltest. allen Geboten der Schönheit zufolge erfunden, und das rechne ich dir Ich würde dir vor allem einen Satz von dir geben wollen, ihn teilen, hoch an. Fast genauso hoch, wie wenn du jetzt zugeben würdest, dass einmal mit dir, da sagtest du, man kann Dinge ausdehnen, damit sie du deinen Traum erlogen hast. ganz ausserordentlich sind. Weisst du, ich fragte, ob du meinst, ausIch atme halt weiter. dehnen in der Zeit, so linear vielleicht, du sagtest nein, ausdehnen in Wir fallen in die ungesprochene Gleichförmigkeit, in der kein Wort der Intensität, immer schön nach oben also, sagtest du und vielleicht ist entstehen muss, es muss weder dir ein Wort herausfallen aus dem Kopf das das Beste, was man mit Erinnerung noch tun kann. noch mir. ■ Ich denke nur so laut, damit du es hörst, denn ich bin angerötet, da ich geschmeichelt bin, wer kann denn schon gut erfinden und gleichermassen angerötet, da die Schmach der Niederlage mir am Nacken hängt. Ich atme weiter, halt einfach in der Gleichförmigkeit von eh und je, je und eh und ich denke mir so laut, dass du hören musst, dass es nichts geben könne, was du nicht hörst, ich denke so laut, dass ich dich denken hören kann, wenn ich dort bin, wo ich hingehöre, ich denke, dass ich nirgendwo hingehöre, wo du nicht bist, ich denke, dass wir warten müssen und für immer gemeinsam. Ich denke, du bist die Rückwärtsgewandte, du bist die Kleinhaltende, wo ich das Wachstum bin, ich habe mich gedreht der Zukunft entgegen. Dein Fuss legt sich auf meinen wie eine Decke, es sind Füsse, die wir haben, es ist der gebratene Karnickel flankiert vom Thymian, der sich gerade in meinem Magen selbst verschwindet, es sind zwei LichtstrahKatja Brunner wurde Anfang der Neunzigerlen, die wir haben, es ist die Erinnerung an die Mitmädchen, die sich jahre in Zürich geboren, wo sie die Schulen mundvoran erleichtern mehrfach täglich, es ist die Erinnerung an schardurchlief und die Jugendtheater. Am Theater fen Ammoniakgeruch, der Kakerlaken ruhigstellt, bis auf die eine, AraWinkelwiese schrieb sie ihr erstes Stück «VON bella nannten wir sie, wir töten Arabella und Arabella wollte sich nicht DEN BEINEN ZU KURZ», welches 2013 in seitöten lassen, es sind die Wege zur Schule und in die Häuser rein, es sind ner Hannoveraner Inszenierung (Heike M. die Frittenbuden, die Sommer, die kurz sind, nur angeschnitten, es sind Götze) mit dem renommierten Mülheimer Dradie Karnickelfelle, die du dir umhängst und an denen entlang du zur matikerpreis ausgezeichnet wurde. Ihr zweites UnterhaltungsundBildungsstätte gehst, es sind die siebzehn vakuumStück trägt den Titel «Die Hölle ist auch nur eiverpackten Wünsche in unseren Denkzentren, die wir niemals, nie, nie ne Sauna» und lässt einige von denen gesprächig werden, die man sonst vor anderen Mitmädchen aussprechen oder überhaupt sonst wohin legerne totgeschwiegen sähe im Kreuzzug gegen die brutale Macht der gen, die stellen wir nur ab wie eine benutzte PET-Flasche im Müll, so Normierung. Sie steht auch auf der Bühne, zum Beispiel diesen Herbst stellen wir sie ab in ein Hinterkämmerchen des Denkzentrums und am Theaterhaus Gessnerallee in «Ich habe nicht am Anfang begonnen, manchmal staubst du meine ab und manchmal staube ich deine ab und sondern in der Mitte».


BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Schlangestehen Eigentlich ist Schlangestehen die einfachste Sache der Welt. Man stellt sich in der Reihenfolge des Eintreffens vor der Tür, dem Schalter, der Kasse, der Laden- oder Bartheke auf und wartet, bis man drankommt. Ein perfektes System, einfach und fair. Schlange stehen ist etwas Urdemokratisches, denn es macht keinen Unterschied zwischen den Menschen. Jede Umgehung des Anstehprinzips läuft auf die Durchsetzung des Rechts des Stärkeren oder Aufsässigeren heraus und führt meist dazu, dass es für alle mühsam wird und länger dauert. Was die Vordrängler natürlich nicht interessiert. Sie setzen sich durch, wo niemand die Stirn hat, sie auf die Plätze zu verweisen. Das geschieht viel zu selten, da die Leute, die brav in der Schlange stehen, eher die Introvertierten, die Scheuen und Korrekten sind, die lieber

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eine Runde warten, als sich mit Grobianen, denen jegliches Gespür für ihre Umwelt abgeht, auch noch zanken zu müssen. Wenn sich jemand traut, etwas zu sagen, geht jedoch ein Ruck der Solidarität durch die Schlange, worauf der Vordrängler entweder davonläuft oder sich einreiht. Es gibt Leute, die sich zwar nicht drängeln, dafür ihre tiefe Indignation über das Schlangestehen kundtun. Lautstark beklagen sie die Anwesenheit der vielen Leute, als sei das ein Phänomen, das sie umgangen hätten, wenn es irgendwie voraussehbar gewesen wäre. Zum Beispiel vor den Toiletten an einem Grossanlass oder am Mittag vor den Ess-Ständen oder des Nachts an der Bar des In-Lokals. «Die Leute», von denen es viele, ja zu viele hat, sind natürlich die anderen. Die Indignierten schauen drein, als wären sie sich im richtigen Leben eine Vorzugsbehandlung, also Gästeliste, Privatjet, VIP-Bereich, gewohnt. Das Schlangestehen beleidigt ihre Individualität, sie müssen betonen, dass sie keinesfalls Teil der Masse sind, sich nur rein zufällig stets am selben Ort wie diese aufhalten. Um diese Distanz zum gemeinen Pöbel auch räumlich sichtbar zu machen, stellen sie sich nicht wirklich in die Schlange sondern einen Schritt daneben und drücken an ihrem Smartphone rum. Wahrscheinlich twittern sie ihre missliche Lage. An einer Schalterschlange rufen sie zuerst etwas wie «Jessas Gott» und seufzen dann im

Dreissigsekundentakt, treten von einem Bein auf das andere und geben allgemein zu verstehen, dass es eine Frechheit ist, den Menschen hinter dem Schalter mit Banalitäten zu belästigen, während sie ein wirklich dringliches Anliegen hätten. Es sind die Leute, die zu Stosszeiten in den Coop beim Bahnhof gehen, um ein Getränk zu kaufen, das an jeder Ecke feilgeboten wird, um dann vor der Kasse den «Ich hab’s grausam pressant und Wichtiges zu tun»-Beschwörungstanz aufzuführen, mit dem die Vorderleute in Luft aufgelöst oder zumindest dazu bewegt werden sollen, sie vorzulassen. Dieses Anliegen direkt auszusprechen ist ihnen nicht möglich, denn dazu müssten sie die Mitanstehenden als solche anerkennen und sich auf eine Stufe mit diesen Ladenverstopfern stellen. Der Drängler wird nie begreifen, dass das Schlangestehen eine kleine Auszeit im immer geschäftiger werdenden Leben bietet, eine Form der postindustriellen Meditation: Endlich im Hier und Jetzt sein. Ein Sandkorn am Meer, das nichts muss. Ausser aufschliessen.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: MILENA SCHÄRER (MILENA.SCHAERER@GMX.CH) SURPRISE 309/13


Film Die Spitex als griechischer Chor In Frank Matters Dokfilm «Von heute auf morgen» lernen wir vier betagte Leute kennen, die nicht daran denken, ins Altersheim zu gehen. Ein kurzes Gespräch über unseren Umgang mit den Alten. BILD: ZVG

INTERVIEW VON DIANA FREI

Herr Matter, am Anfang des Films vermittelt uns die 95-jährige Anny Fröhlich den Eindruck, die Spitex-Leute seien ihre Bediensteten. Später zeigt sich das Gegenteil: Die Spitex-Frau will ihr über Nacht das Hörgerät wegsperren, damit man es am Morgen wieder findet. Ist Pflege Bevormundung? Frank Matter: Pflege kann Bevormundung heissen. Das ist eine der zentralen Fragen im Film: Wie weit kann man für sich selbst entscheiden, was gut für einen ist? Und wie weit müssen oder dürfen das andere tun? Dazu kommt, dass die Spitex eine Organisation ist, die funktionieren muss. Die nicht alles jeden Tag neu diskutieren kann. Da prallen zwei Welten und völlig verschiedene Interessenlagen aufeinander. Was auffällt, ist die Beschönigungsrhetorik der Verwandten: Das Altersheim wird Hotel genannt, im Zimmer steht ein «Ferienbett». Ich habe früher als Journalist gearbeitet und viele Politikerinterviews gemacht. Da lernt man genau hinzuhören, wie die Dinge rhetorisch verpackt werden. Im Film ist aber eine Dialektik drin. Die Beschönigung kann den Leuten auch helfen. Selbst wenn die alten Menschen es merken, schafft man so vielleicht eine positivere Situation, als wenn jemand ganz ehrlich sagen würde: Du schaffst es nicht mehr, wir stecken dich nun ins Altersheim. Auch der Spardruck ist ständig präsent. Man hätte einen sehr empörten Film über das Gesundheitswesen an sich machen können. Wieso wollten Sie das nicht? In einem Kinofilm möchte ich Geschichten erzählen, Stimmungen zeigen, Milieus schildern. Ein Fernsehfilm kann journalistischer sein. Ich wollte Geschichten von Menschen erzählen und darüber, wie sie so etwas Abstraktes wie das Gesundheitssystem berührt. Ausserdem ist das Thema so komplex, dass niemand weiss, was die richtigen Antworten sind. Es weiss auch niemand, was auf uns mit der sogenannten Überalterung genau zukommt. Mit dem Pflegenotstand zum Beispiel. Ich wollte in erster Linie genau beobachten und Fragen stellen: Wo gehen wir hin? Wie gehen wir damit um? Man kriegt auch mit, dass die Krankenkasse einen komplexen Pflegefall plötzlich als einfach einstuft und in der Folge die Betreuungsstunden kürzt. Gab es viele solche Situationen? Ein Beispiel ist Frau Oser, die man im Film kurz sieht. Man sieht deutlich, wie unverhältnismässig es ist, diese Frau, die praktisch rund um die Uhr Pflege braucht, auf einen einfachen Fall zu reduzieren. Aber wir bewegen uns in einem System, und das neigt zu gewissen Normierungen. Das ist empörend, und man sagt: Es geht um Menschenleben, und die Krankenkasse denkt nur in Franken und Rappen. Aber anderseits jammern die Leute, wenn sie jeden Monat 500 Franken Krankenkassenprämie bezahlen müssen. SURPRISE 309/13

Voll im Schuss. Oder die Frage: Wer entscheidet, was gut für einen ist?

Mit den Szenen bei der Spitex machen wir einen Schritt hinter die Kulissen. War es die Absicht, damit das System als Ganzes zu zeigen? Ich habe mir die Spitex ein bisschen wie den Chor im griechischen Theater vorgestellt. Er gibt den Kommentar ab und verleiht dem Ganzen damit eine zusätzliche Dimension. Man spürt bei der Spitex die Schwierigkeit, zugleich menschlich zu bleiben und trotzdem effizient und präzis zu arbeiten wie in einer Maschinenfabrik. Der Konflikt zwischen Menschlichkeit und Professionalismus hat mich sehr interessiert. Der Film ist an den Solothurner Filmtagen gelaufen. Es gab offenbar viele Lacher? Ja, aber die Zuschauer lachten nie über die Leute, sondern über ihren Witz. Bei der Hörgeräte-Szene gab es Szenenapplaus. Frau Fröhlich setzt sich durch, als man ihr die Hörgeräte wegräumen will. Die Zuschauer lachten, weil sie berührt waren von der manchmal kreativen Sturheit der alten Menschen. Frau Fröhlich und Herr Jeker haben wirklich gute Sprüche drauf. Am Ende steht Frau Willen aber der Schreck ins Gesicht geschrieben, als ihr die Verwandten sagen, sie müsse ins Altersheim. Es wirkt wie ein Verrat. Ist es das? Verrat ist nicht das richtige Wort. Es ist eine Mischung zwischen Notwendigkeit, Hilflosigkeit und der Annahme, man wisse, was besser ist. Es gibt kein richtiges Rezept, das für alle gilt. Verrat finde ich einen moralisch sehr befrachteten Begriff für eine Situation, in der die Leute versuchen, ihr Bestes zu geben. Das sind echte Gewissenskonflikte. ■ Frank Matter: «Von heute auf morgen», ab 3. Oktober im Kino.

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Kultur

So gross, dass man ihn nicht gleich erkennt: Der Schneemann.

Diese schwimmenden Gebilde sind ein Staat.

Buch Kein Wintermärchen

DVD Experimente in Autonomie

Das iranische Bilderbuch «Der grosse Schneemann» erzählt eine bedrückend schöne Parabel vom Leben in Zeiten der Diktatur.

Wie ist Ihr Verhältnis zum Staat? Akzeptieren Sie seine Regeln? Sind Sie froh, wenn er Sie möglichst in Ruhe lässt? Der Film «Empire Me» handelt von Menschen, die ihre Antwort gefunden und gleich einen eigenen Staat gegründet haben.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

Ein Buch über einen Schneemann? Da denkt man unweigerlich an strahlende Kindergesichter, an Schneeballschlachten und an einen gutmütigen weissen Kerl, den Helden vieler Winter, der mit der Schneeschmelze das Zeitliche segnet. Doch «Der grosse Schneemann» des iranischen Autors Seyyed Ali Shodjaie erzählt eine andere Geschichte. Denn auch wenn diese wie ein Märchen daherkommt – weil sie anders die Zensur wohl nicht überstanden hätte –, hat sie kaum Heiteres und schon gar nichts Winterweihnachtliches an sich. Der Autor selber spricht im Nachwort davon, dass er seine Gedanken in den Wörtern und Sätzen versteckt hat. Zumindest für Erwachsene ist das Buch vor diesem Hintergrund zu lesen. Die Kinder eines fernen Dorfes beschliessen, den grössten Schneemann zu bauen. Als er fertig ist, ist nur das Beste gut genug für ihn: Augen und Nase aus Schmuck, ein neuer Schal, der Hut des Dorfvorstehers. Doch am nächsten Morgen werden die Dorfbewohner vom lauten Gebrüll des Schneemanns aus dem Schlaf gerissen. Von nun an müssen sie ihm jeden Wunsch erfüllen, die Krähen vertreiben, ihm kühle Luft zufächeln und ihn mit Eiswürfeln füttern. Er ist der Herrscher des Dorfes. Und als es Frühling wird, denkt er gar nicht daran, zu schmelzen. Niemand wagt ihm zu widersprechen. Schweigen und Kälte ersticken jeden Widerstand. Bis doch noch ein Frühling kommt, der dem Schrecken ein Ende setzt. Alles in diesem Buch hat seine versteckte Bedeutung. Selbst ein Wort wie «Frühling» ist durch die politischen Ereignisse zu einem Schlüssel geworden. Und auch die zarten Farbillustrationen von Elahe Taherian, die die Nähe zu Kinderzeichnungen suchen, betreiben ein Versteckspiel. So ist der Schneemann anfangs kaum zu sehen, wie eine nicht zu fassende Bedrohung, und als er endlich sichtbar wird, ist er ein gesichtsloser Riese. Es lohnt sich, dieses Bilderbuch gemeinsam mit Kindern zu entdecken. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es etwas lehrt, ohne zu belehren. Und dass es mit seinem Text in Deutsch und Persisch von hinten zu lesen ist, macht den Hintersinn geradezu greifbar.

VON THOMAS OEHLER

Seyyed Ali Shodjaie (Text), Elahe Taherian (Illustration): Der grosse Schneemann.

Mit freundlicher Unterstützung von Les Videos, Zürich: www.les-videos.ch

Über 500 mehr oder weniger anerkannte, unabhängige Kleinst-Staaten gibt es auf der Welt – mit jeweils wenigen Tausend Bewohnern. Geboren wurden sie oft aus dem Wunsch nach Freiheit vor jeglichem staatlichen Zugriff heraus. Der österreichische Regisseur Paul Poet widmete sechs solcher Gegenwelten einen Film. Da finden sich zum Beispiel: ein Fürstentum von wenigen hundert Quadratmetern mit selbsternanntem Prinz-Regenten, eine New-Age-Gemeinschaft, deren «Staatsgebiet» sich eher im Feinstofflichen befindet, Links-Autonome im Kampf gegen Polizei und Drogenhändler. Oft lacht man über das Absurde dieser Staatsgebilde – und bewundert sie doch für ihre Subversivität. Poets Präsentation dieser Experimente in Autonomie ist engagiert, aber eher essayistisch als dokumentarisch. Oftmals lässt er uns über die Motive der jeweiligen Mitglieder etwas im Unklaren (Abhilfe schaffen teilweise die Extras im DVD-Menü – Szenen notabene, die Poet herausgeschnitten hat). Manchmal nervt die Gestelztheit von Poets assoziativphilosophischen Off-Texten. Doch anhand der von Poet ausgewählten Beispiele lassen sich durchaus Grundfragen zur Bildung einer handfesten Staatstheorie ausmachen: Besteht ein Staat in der territorialen Eigenständigkeit und internationalen Anerkennung (wie im Beispiel Sealand)? In der Zelebrierung staatsprägender Rituale und Wertlegung auf repräsentative Symbole (wie im Fürstentum Hutt River)? In der Bildung einer gemeinschaftlichen Religion, so verquer sie sein möge (Damhanur)? In der – hier sexuellen – Interaktion zwischen Menschen (ZeGG)? In der permanenten Gefährdung von aussen durch eine fremde (Polizei-)Armee (Christiania)? Oder in der Ausbildung einer eigenen kulturellen Ausdrucksweise (Swimming Cities of Serenissima)? Die Antwort, die uns der Regisseur gibt, sei verraten: Die Grundzellen jeder Form von Zusammensein sind – ganz einfach – die einzelnen Menschen. Also Sie und ich. Paul Poet: «Empire Me – Der Staat bin ich», Ö/LUX/D 2011, 100 Min., Paul Poet, Caledonia Curry, John Rinaldi u.a.

Deutsch/Persisch. Baobab Books 2013. 24.80 CHF.

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Daniel Gubelmann (Mitte) erzählt mit seiner Band Geschichten ohne Worte.

Jazz Buddhistischer Ansatz Daniel Gubelmann wollte nach dem ersten Album mit seiner Formation Five on Fire einen richtigen Job erlernen. Glücklich machte ihn das nicht. Nun kehrt er mit «Poems Without Words» zurück zum Jazz – und erweitert den mit Streichern in Richtung Klassik. VON MICHAEL GASSER

Der Jazz lässt Daniel Gubelmann nicht los. Zwischenzeitlich suchte der Absolvent der Zürcher Hochschule der Künste und der Swiss Jazz School in Bern Distanz zum Genre – um «einen richtigen Job» zu erlernen, wie er sagt. «Doch glücklich hat mich das nicht gemacht.» Weshalb er reumütig zum Saxofon zurückgekehrt ist. Zu einem Instrument, das der menschlichen Stimme näher sei als jedes andere, so Gubelmann. «Für mich ist es wie ein Sprachrohr.» 2007 hatte er mit seiner Formation Five On Fire beim Montreux Jazzlabel das Album «Struggle Or Play» veröffentlicht. Doch in der Phase der Neuorientierung musste auch die Band zurückstehen. Im vorletzten Winter entschied sich der Zürcher dazu, Five On Fire wieder zu forcieren und zu erweitern – mit einem Streichquartett. «Ich wollte dem Ganzen eine neue Stossrichtung geben, hin zum Crossover», sagt er. Jazz würde von vielen als Randerscheinung empfunden, weshalb ihn Gubelmann jetzt mit Klassik anreichert. Zu einem expressiven Mix, der vor allem eins will: das Publikum berühren. Geprägt wurde der 34-Jährige von seinem Lehrer, der Saxofon-Koryphäe Andy Scherrer: «Sein Spiel ist völlig intuitiv.» Es kommt also nicht von ungefähr, dass es Gubelmann ein Anliegen ist, Komponiertes mit Improvisiertem zu verbinden. Seine Songs schreibe er mit möglichst viel Instinkt. «Ich versuche dabei, so wenig wie möglich zu überlegen.» Er sei zwar der Kopf des Ensembles, wolle sich jedoch nicht über die anderen stellen. «Ich pflege einen fast buddhistischen Ansatz.» Der zeigt sich auch in der Musik. Nicht, weil diese einen asiatischen Touch hätte, sondern weil man sich von jeglicher Radikalität fernhält. Five On Fire – Strings Attached spielen mit unzähligen Klangfarben, kreieren Gefühle der Ausgeglichenheit und erzählen Geschichten, die auch ohne Worte funktionieren. Und wie.

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Proitera GmbH, Basel

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advocacy ag, communication and consulting, Basel

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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

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Margareta Peters Gastronomie, Zürich

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Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

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Schweizer Tropeninstitut, Basel

08

VeloNummern.ch

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Applied Acoustics GmbH, Gelterkinden

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Buchhandlung zum Zytglogge, Bern

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hervorragend.ch, Kaufdorf

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

15

Coop Genossenschaft, Basel

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Cilag AG, Schaffhausen

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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Novartis International AG, Basel

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Solvias AG, Basel

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Ernst Schweizer AG, Metallbau, Hedingen

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confidas Treuhand AG, Zürich

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ratatat – freies Kreativteam, Zürich

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G.A.T.E.S., Hôteliers & Restaurateurs SA, Basel

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Claude Schluep & Patrick Degen, Rechtsanwälte, Bern

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homegate AG, Adliswil

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Five On Fire – Strings Attached: «Poems Without Words» (Unit Records). Live: Mi, 25. September, 20 Uhr, Ono, Bern; Do, 26. September, Chollerhalle, Zug; Fr, 27. September, 20 Uhr, Kulturbar Werkstatt, Chur; So, 29. September, 17 Uhr, Grabenhalle, St. Gallen; Mo, 30. September, 20 Uhr, Vorstadttheater im Eisenwerk, Frauenfeld; Mi, 2. Oktober, 20 Uhr, La Madeleine, Luzern. Weitere Konzertdaten unter: www.fiveonfire.ch 309/13 SURPRISE 309/13

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LENA MARIA THÜRING, STRINGS, 2011 (VIDEOSTILL)

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Hände erzählen: ein Künstler und seine Narben.

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Ausgehtipps

Basel Zeitlos brisant

Und singen kann sie auch: Patricia Vonne.

Auf Tour Patricia im Hinterland

Die Basler Künstlerin Lena Maria Thüring trifft den Nerv der Zeit, indem sie das Zeitlose aufgreift. Die Themen ihrer vielschichtigen Filmarbeiten gehören zum Grundgerüst des Menschseins: Identität, Bewusstsein, Erinnerung, Familie. An individuellen Geschichten reflektiert die 32-Jährige über gesellschaftliche Strukturen. Nicht Antworten, sondern Fragen und die Auseinandersetzung mit ihnen stehen dabei im Zentrum. In ihrer neuen Ausstellung zeigt die Trägerin des Manor-Kunstpreises Basel 2013 eine neue, raumgreifende Installation, die als ihre bisher grösste Videoproduktion gilt. (mek) Lena Maria Thüring, Manor Kunstpreis Basel 2013. Ausstellung 28. September bis 5. Januar 2014,

Vielleicht liegt’s ja an der Herkunft. Wer in Texas aufgewachsen ist, fühlt sich im Schweizer Hinterland womöglich an die Heimat erinnert. Das würde erklären, warum Patricia Vonne mehr Gigs in der Schweiz absolviert als andere US-Sängerinnen auf einer kompletten Europa-Tournee. Nötig hätte Vonne die Tingelei durch die Provinz nämlich nicht. Die Songwriterin spielt seit Jahren erfolgreich recht aufregende Songs zwischen Tex-Mex und RootsRock. Die Stimme heult, die Gitarre kracht, und zwischendurch klappern die Kastagnetten. Zudem kennt mancher ihr prägnantes Gesicht aus Filmen. In «Sin City» zum Beispiel spielt sie unter der Regie ihres Bruders Robert Rodriguez eine verzehrende Sexbombe. Kaum vorstellbar, dass dieser Umstand einen anständigen Feuerthaler vom Konzertbesuch abhält. (ash)

Museum für Gegenwartskunst, Basel. www.kunstmuseumbasel.ch

Bon app: In Delémont gibt’s Regionalkost.

Delémont Regionalitäten Beim Essen soll man Lokalchauvinist sein. Am Concours suisse des produits du terroir gibt es Lebensmittel zu verköstigen und zu kaufen, die keine Vielfliegermeilen gesammelt haben. 130 Produzenten präsentieren an einem üppigen Markt im jurassischen Delémont vom Absinth bis zum Totenbeinli, was die Schweiz an Spezialitäten hervorbringt. Die besten Produkte jeder Kategorie werden prämiert. Gastregion ist die französische Provinz Franche-Comté. Hingehen und hinlangen. (reb) 5. Schweizer Markt der Regionalprodukte, Sa, 28. September, 11 bis 18 Uhr sowie So, 29. September, 9 bis 17 Uhr, Delémont-Courtemelon. www.concours-terroir.ch

Anzeigen:

So, 29. September, 19.30 Uhr, Schüür, Luzern; Mo, 30. September, 20.20 Uhr, El Lokal, Zürich; Do, 3. Oktober, 20 Uhr, Moonwalker, Aarburg; Sa, 5. Oktober, 21 Uhr, Gaskessel, Bern; Mo, 7. Oktober, 20 Uhr, Rustico Pub, Frutigen; 9. Oktober, 20 Uhr, Dolder 2, Feuerthalen; Do, 10. Oktober, 20 Uhr, S’Gwölb, Watt-Regensdorf; Fr, 11. Oktober, 21 Uhr, Eintracht, Kirchberg.

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BILD: CLAUDE KUHN

«The Lodger»: Der erste echte Hitchcock.

Bern Bewegtbilder mit Live-Musik Augenzwinkernd: Plakat von Claude Kuhn.

Christian Brändle ist Direktor des Museums für Gestaltung in Zürich und hat in Bern eine Ausstellung kuratiert, die das Oeuvre des Grafikers Claude Kuhn zeigt. Brändle findet Kuhns Zugang zu Themen «augenzwinkernd» und «humorvoll», und das finden wir auch. Monsieur Kuhn hat uns nämlich persönlich kontaktiert, hat uns Madame genannt und wortreich, charmant und mit einem Schuss Französisch von seinen Plakaten erzählt, von den Bildern in der «Galerie der Strasse». Immerhin hat er die letzten 40 Jahre den Auftritt des Naturhistorischen Museums der Burgergemeinde Bern geprägt und daneben Arbeiten für den Tierpark Dählhölzli und für Box- und Fechtveranstaltungen gemacht. (dif)

Das Kino war einst ein mystischer Ort: Aus dem Dunkel des Zuschauerraums starrte man gebannt auf die Leinwand, während das Orchester im Graben die Wirkung des Films mit Musik verstärkte. Orchester? Live-Musik ist mit dem Stummfilm aus den Kinos verschwunden. Doch seit einigen Jahren erlebt diese spezielle Kombination von bewegten Bildern und Ton ein Revival. Erleben lässt sie sich in den kommenden Wochen in der Berner Reitschule. Das Ensemble Musica Nel Buio spielt zu «Steamboat Bill Jr.», Buster Keatons Mississippi-Klassiker aus dem Jahr 1928. «The Lodger» von Alfred Hitchcock inszeniert das Thema von Jack the Ripper als Kammerspiel und galt dem Regisseur selber als erster «echter Hitchcock». In Bern spielt dazu das Sinfonia Ensemble die Vertonung, die Joby Talbot 1999 komponierte. Und Ende Oktober folgt dann «Metropolis» – in einer Langfassung, die nach dem Auftauchen jahrzehntelang verschollener Bildrollen in Buenos Aires erstmals 2010 gezeigt wurde. Begleitet wird Fritz Langs Meisterwerk von der Basel Sinfonietta unter der Leitung von Frank Strobel. (ash)

Claude Kuhn: «Cortège des affiches – Plakatgeschichten», Naturhistorisches

Sa, 21. September, 20.30 Uhr: Steamboat Bill Jr. Sa, 28. September, 20.30 Uhr:

Museum Bern, noch bis 5. Januar 2014.

The Lodger: A Story of the London Fog Mo, 28. Oktober, 19.30 Uhr: Metropolis

www.nmbe.ch

www.grossehalle.ch

Bern Plakativ

Anzeige:

— www.theater-basel.ch, Tel. +41/(0)61-295 11 33 — SURPRISE 309/13

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Verkäuferporträt «Der Tod meiner Frau hat mich verändert» Ferenc Stojkov, 42, floh nach dem Jugoslawienkrieg aus Serbien nach Österreich. Dort baute er sich mit seiner Familie eine neue Existenz auf. Doch dann trieb ihn ein Schicksalsschlag in die Schweiz.

«Basel ist eine grossartige Stadt. Ich liebe den Rhein: Jeden Tag, nachdem ich meine Hefte verkauft habe, besorge ich mir etwas zu essen und setze mich ans Ufer. Dabei war es Zufall, dass ich hier gelandet bin. Nach der Sache mit meiner Frau musste ich einfach aus Österreich weg. Es ging nicht mehr. Mit Österreich verbinde ich die schrecklichste Erfahrung, die man machen kann. Wenn ich dort geblieben wäre, hätte ich den Schmerz nie überwinden können, die Depression hätte mich aufgefressen. Ich wollte in die Schweiz. Vor über zehn Jahren war ich schon einmal hier und habe Surprise verkauft, allerdings in Bern. Seit März bin ich nun in Basel und wohne in einem kleinen Studio an der Hammerstrasse. Klar, ich wünsche mir eine andere Stelle, eine, die genügend Geld einbringt, damit ich meine beiden Kinder holen kann. Ich habe immer gearbeitet, seit ich nach dem Krieg in Serbien nach Österreich gegangen bin. Drei Tage lang hatte die Nato meine Heimatstadt in der Vojvodina bombardiert, das war 1995. Meine ganze Familie ist geflüchtet, nur meine Eltern blieben, weil sie beide krank sind. Meine Tochter und mein Sohn leben jetzt bei ihnen. Es war ein schwieriger Entscheid. Sie wollten in Österreich bleiben, wo sie zur Schule gegangen sind und ihre Freunde hatten. Nun sitzen sie im Haus meiner kranken Eltern herum, weil das Geld für eine Ausbildung fehlt. Ganz ehrlich, es geht mir nicht gut im Moment. Ich vermisse meine Kinder, auch wenn ich oft mit ihnen telefoniere. Das Geld, das ich mit dem Verkauf von Surprise verdiene, schicke ich runter. Meine 17-jährige Tochter will Tierärztin werden, sie liebt die Tiere und sagt immer: ‹Tiere brauchen jemanden, der zu ihnen schaut, sie können sich nicht selber schützen.› Ihr Traum ist es, dort ein Tierheim zu eröffnen. Ich bin Serbe, auch wenn man mir immer zu verstehen gab, dass ich nicht dazugehöre. Ich war immer rasiert, hatte den besten Anzug in der Stadt, ich hab mir Mühe gegeben, gepflegt zu wirken. Es spielte keine Rolle. Sie schimpften mich einen dreckigen Zigeuner, sie zerkratzten mein Auto, und ich fand keine Arbeit. Ich bin ein Sinti aus Serbien, das ist meine Identität. Trotzdem behalte ich das gerne für mich, weil ich nicht weiss, ob das gut ankommt. Ich hoffe, meine Kunden kommen noch, wenn sie wissen, dass ich ein Zigeuner bin. Dabei ist es bei uns wie überall: Es gibt gute und es gibt schlechte. Obwohl es mir derzeit nicht gut geht, bin ich im Grunde doch ein Optimist. Sobald ich einen Job hier habe, am liebsten als Pfleger in einem Spital, hole ich meine Kinder her, dann können sie hier eine Ausbildung machen. Der Junge will Carrosseriespengler werden. Kürzlich habe ich eine Frau getroffen, sie ist ebenfalls eine serbische Sinti. Sie hat mich vor dem Coop City gesehen und auf meinem Verkäuferausweis meinen Namen gelesen. ‹Du bist auch Serbe?›, hat sie gefragt. Dann sind wir einen Kaffee trinken gegangen und dann noch mal einen. Wenn ich mit ihr zusammen bin, vergesse ich alles, was mich belastet. Ich gehe es langsam an, für eine Beziehung ist es noch zu früh. Wir sprechen über alles, sie kennt meine ganze Geschichte, immer wieder erzähle ich ihr die Sache mit meiner Frau.

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BILD: REB

AUFGEZEICHNET VON RENATO BECK

Wir hatten in Österreich, ja ich glaub, ich kann das sagen, eine wunderbare Zeit. Ich arbeitete im Spital. Bis meine Frau mit 39 Jahren an Brustkrebs starb. Es ist sehr schnell gegangen, weil wir zu spät zum Arzt gegangen sind. Ich mache mir deswegen Vorwürfe. Als ich den Knoten in ihrer Brust entdeckte, wiegelte sie ab. Es gehe ihr gut, das sei bestimmt nichts Ernstes. Ich verkaufte alles, was ich hatte, um die Therapie zu bezahlen, auch eine Wohnung in Serbien, die ich mit dem Ersparten erworben hatte, denn die Versicherung deckte nicht alles ab. Die Ärzte taten ihr Bestes, aber der Krebs war schon zu weit fortgeschritten. Damals habe ich dauernd gebetet, es hat mich beruhigt. Ich habe gebetet, dass mit der Zeit der Schmerz vergeht. Der Tod meiner Frau hat mich verändert. Ich denke immer an ihre Krankheit. Ich würde gerne den Leuten helfen, den Krebskranken. Ich weiss, wie sehr man leidet und wie schnell es gehen kann.» ■ SURPRISE 309/13


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

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309/13 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 309/13

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden (Nummernverantwortlicher), Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Amir Ali, Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Renato Beck, Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Katja Brunner, Michael Gasser, Hans-Peter Künzler, Thomas Oehler, Dominik Plüss Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17 000, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Ist gut. Kaufen! Die neuen Surprise-Taschen sind da! Gemeinsam mit dem Secondhand-Shop «Zweifach» aus Basel haben wir neue und schicke Surprise-Tasche entworfen! Die Taschen werden umweltfreundlich aus nicht mehr gebrauchten Lastwagenplachen genäht und mit Autogurten versehen. Sie sind geräumig und verfügen innen über ein grosses Zwischenfach. Erhältlich sind sie in den Farben Rot, Blau, Grün, Orange und Schwarz. Zweifach ist ein Betrieb der Eingliederungsstätte Baselland und bietet jungen und erwachsenen Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit, im beruflichen Alltag Fuss zu fassen. Tun Sie sich, Zweifach und auch Surprise etwas Gutes und bestellen Sie noch heute ihre Tasche in ihrer Lieblingsfarbe! Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 45.– (exkl. Versandkosten) schwarz orange grün blau rot Vorname, Name

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Schön und gut. Ab sofort sind die trendigen Surprise-Caps und Surprise-Mützen mit eleganter Kopfwerbung wieder erhältlich. Beide Produkte in Einheitsgrösse. Jetzt Zugreifen!

Surprise-Cap CHF 16.– beige

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Surprise-Mütze CHF 30.– rot

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50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

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