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Böse Banane Znüniterror im Kindergarten Irische Kobolde und sprechende Kühe: auf Pilztrip im Jura

«Wir waren fast gelähmt vor Angst»: Isabel Allende über den Putsch in Chile vor 40 Jahren

Nr. 310 | 4. bis 17. Oktober 2013 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Titelbild: iStockphoto

Editorial Bevormundung beim Znüni

Hinter diesen Essvorschriften stehen gute Absichten. Es ist sinnvoll, dass Kinder gesunde Sachen essen, statt vorfritierte Kalorienbomben mit überzuckertem Blöterliwasser hinunterzuspülen. Ich erinnere mich, dass es in meinem Schulhaus einmal im Jahr Apfelwochen gab. Wir kauften bei der Lehrerin einen perforierten Bogen mit Gutscheinen. In der Pause gingen wir damit in den Keller, wo der Abwart hinter einer grossen Kiste wartete. Für jeden Apfel riss er einen Gutschein vom Bogen, und dafür bekamen wir einen gesunden Znüni.

BILD: DOMINIK PLÜSS

Was dürfen Kinder essen? Und wer entscheidet das? Für die Titelgeschichte dieser Ausgabe sammelte Redaktorin Diana Frei Geschichten über Essvorschriften in Kindergärten. Ab Seite 10 erfahren Sie, welche Lebensmittel wieso tabu sind.

RETO ASCHWANDEN REDAKTOR

Ich habe diese Äpfel damals gerne gegessen und finde solche Aktionen auch als Erwachsener sinnvoll. Als Kindergärtner und Primarschüler habe ich es allerdings nie erlebt, dass ein Kind gemassregelt worden wäre, weil es in der Pause ein Salamibrötli oder ein Schoggistengeli verdrückte. Genau das passiert heute: Kollegin Frei schildert in ihrem Artikel, wie manche Kindergärtnerinnen Knirpse (und ihre Eltern) blossstellen, weil sie den falschen Znüni dabeihaben. Die krassen Interventionen aus unserer Titelgeschichte sind wohl Einzelfälle. Doch verbirgt sich dahinter eine Tendenz: Der Staat mischt sich zunehmend in Bereiche ein, die vor ein paar Jahren noch als Privatsphäre galten. Was Kinder essen, liegt zuallererst in der Verantwortung der Eltern. Es ist richtig, dass der Staat Orientierungshilfen anbietet. Er soll sich aber auf Empfehlungen beschränken, denn jede Vorschrift kostet ein Stück Freiheit und macht den Bürger ein bisschen unselbständiger. Je mehr Vorschriften es gibt, desto weniger lernen wir, selber Verantwortung zu übernehmen. Mit der Konsequenz, dass wir irgendwann tatsächlich einen Vormund brauchen. Oder sogar einen Vorkoster, der von jedem Teller einen Bissen nimmt, um herauszufinden, ob unser Essen bekömmlich ist. Eine absurde Vorstellung, letztlich aber die Konsequenz aus einer verbreiteten Haltung, wonach der Bürger von der Obrigkeit mit allerlei Regeln und Vorsorgemassnahmen zu einem gesunden, sozialverträglichen und nachhaltigen Leben erzogen werden soll. Doch so erhält man keine mündigen Menschen. So bleiben wir Kinder, die umsorgt und beaufsichtigt werden müssen. Im Zweifelsfall nehme ich lieber ein paar übergewichtige Kindergärtner mit Karies in Kauf als eine kerngesunde Gesellschaft von Unmündigen, denen Vater Staat alles vorkaut. Ich wünsche eine appetitliche Lektüre Reto Aschwanden

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. SURPRISE 310/13

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10 Kindergarten Bananen verboten Immer mehr Kinder leiden unter Karies und Übergewicht. Dagegen muss man etwas tun, dachten sich Schul- und Zahnärzte vor zehn bis 15 Jahren und riefen in der Deutschschweiz Aktionen für einen gesunden Znüni ins Leben. Die Prävention ist wichtig, schiesst manchmal aber übers Ziel hinaus: Manche Kinder haben regelrecht Angst, dass die Mutter etwas Falsches ins Znünitäschli packen könnte, und die Eltern ihrerseits sind gestresst. Manche sprechen bereits von Znüniterror.

16 40 Jahre Putsch in Chile «Verleugnung ist eine Art, sich zu schützen» 17 Jahre lang regierte Augusto Pinochet Chile mit Militärgewalt. Isabel Allende schrieb über diese Zeit ihren berühmten Roman «Das Geisterhaus». Zum Jahrestag des Militärputsches 1971 blickt sie im Interview zurück auf eine Zeit voller Angst und Unterdrückung. Und erklärt, wie eine Diktatur die Menschen zu Mitläufern und Lügnern macht.

BILD: LORI BARA

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Inhalt Editorial Lieber dick als unfrei Die Sozialzahl Teure Gesundheit Aufgelesen Von der Strasse zum Oscar Zugerichtet Casual Dating mit Folgen Leserbriefe Unfair gegens Fairphone Starverkäuferin Genet Spiess-Hishe Porträt Raumgestalter zwischen Welten Drogen Pilzköpfe auf Jura-Tour Fremd für Deutschsprachige Warum nur Georgien Theater Kein Amüsement Kultur Bonbonbunte Vian-Verfilmung Ausgehtipps Totenkopf am Arm Verkäuferporträt «Mir geht es gut» Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

BILD: ISTOCKPHOTO

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BILD: GREGOR BRÄNDLI

19 Crowdfunding Die Untergrabung der Kunstbranche

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Ein neues Modell zur Finanzierung von Kunst boomt: Per Crowdfunding ermöglichen Fans Alben, Auftritte und Filme ihrer Lieblingskünstler. Nirgends greifen die Unterstützer so tief in den Sack wie in der Schweiz. Nun will die Basler Band The bianca Story einen neuen Sammelrekord aufstellen – und dabei auch gleich die traditionelle Musikindustrie untergraben.

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14’000 14’ 12’000 12’ 10’000 10’ 8’000 8’0 00 6’000 6’0 00 4’000 4’0 00 2 2’0 ’000 00

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Nettoprämie

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IVP = Individuelle Prämie nverbilligu l ng

Quelle: Kägi W Wolf olfra o ram, m, F Frey Miriam, Säuberli Cori Frey nne, Feer Manuel, Koch Prämienverbilligung. B,S, Patrick: Monitoring 2010 S. V Volk olksswir wirts Wirksamkeit der tsch chaf aftlic tlich he e Beratung AG, Basel (201 2).

Die Sozialzahl Das Preisschild für Gesundheit Wann haben Sie das letzte Mal Ihre Krank enkasse gewechselt? Wären Sie bereit, in einen anderen Kanton umzuziehen, um Gesundheitskosten zu sparen? Diese Fragen müssen Sie sich stellen, wenn Sie sich die Grafik zu den Krankenkassenprämien im interkantonalen Vergleich anschauen. Regelmässig lässt das Bundesamt für Gesundheit die durchschnittlichen Ausgaben für die oblig atorische Krankenversicherung in den verschiedenen Kanto nen berechnen und die durchschnittliche Entlastung durch die Prämienverbilligung untersuchen. Die Unterschiede zwisc hen den Kantonen sind eklatant, wie das Beispiel einer Mitte lschichtsfamilie mit zwei kleinen Kindern und einem Jahre seinkommen von 70 000 Franken (brutto) illustriert. Die höchste Prämie zahlte diese Familie im Jahr 2010 in Basel-Stad t, die tiefste Prämie im Kanton Nidwalden. Die Differenz zwisc hen diesen beiden Kantonen beträgt sage und schreibe 5913 Franken – notabene für die gleiche obligatorische Grun dversicherung! In allen Kantonen erhält diese Mittelschichtsfam ilie eine Prämienverbilligung. Diese schwankt aufgrund unterschiedlicher Berechnungsgrundlagen zwischen 5208 Franken in Basel-Stadt und 1210 Franken im Kanton Thurg au. Daraus lässt sich eine durchschnittliche Belastung für die obligatorische Krankenversicherung nach Prämienve rbilligung berechnen. Diese Nettoprämie reicht von 9885 Franken im Kanton Waadt bis 3754 Franken in Zug. Allerd ings führt diese Prämienverbilligung nicht zu einer Eineb nung der interkantonalen Unterschiede. Auch nach der Präm ienverbilligung zahlt die Mittelschichtsfamilie in Basel noch eine Nettoprämie von 8310 Franken. Basel liegt damit im Ranking der Kantone auf dem 7. Platz.

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seiner Bundesrat in jahre hielt der er ig nz ss die eu da N , r st ung fe Anfangs de ankenversicher Kr r de on ozent si Pr vi 8 Re ehr als Botschaft zur shaltes nicht m au H s ne icht ei pr ts ng e. Dies en Prämienbelastu s betragen dürf en m om mit e nk ili Ei m n i einer Fa des steuerbare nkommens be Ei n re che ba tli üg rä rf ve e bundes 6 Prozent des erreichen dies e on nt Ka die e d ig un wen n, Zug Kindern. Nur ntone Obwalde Ka e di n elre itt hö M ge g der Vorgabe. Dazu ist die Belastun r he hö t sei Te W zell. l, Thurgau, beiden Appen en Bern, Base on nt Ka e di n de gt e in en lie schichtsfamili l diesen Kanton al In . ra Ju ad D enf un ozent! sin, Waadt, G en 12 und 16 Pr lastung zwisch Be atorische he ic lig ttl ob ni e durchsch e mehr für di ili m fa ts ch hi ittelsc und nichtalmit gibt die M ahrungsmittel N r fü s al s rung au Grundversiche ränke. nversicheet G e koholisch ischen Kranke or at lig ob r de Ziele alle MenDie sozialen ar haben fast Zw . ht ic re er t , doch r beding undheitswesen rung werden nu sehr guten Ges m ne maxiei e rt zu ie ng ul al post schen Zuga teuer. Die einm hr kense an ch Kr ei e gl en für di dieses ist zu alte mit Ausgab sh au Die H . r ht de ic g re ntonen er male Belastun n wenigsten Ka de lach in es ird rg w b die vo versicherung e sind gross. O ed hi sc be er er nt U id le n , muss interkantonale el ändern wird vi n ra da e ss ka gene Einheits nken n. de er w lt cken: Bitte de fe ei zw Ihre Koffer pa gs in rd le al en n eitskost gros Bevor Sie nu i den Gesundh be r nu t t is ch s ni he es bt. Ähnlic Sie daran, dass n Kantonen gi de en fich is er D zw e achten. se Unterschied euern zu beob ten und den St ie M gar nicht so n m de i ru be auch ohnort ist da W e al tim op htet nanziell betrac eln. itt m er leicht zu ) PF EL FE L (C .K N OE CA RL O KN ÖP M BI LD : WOM

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Armes Deutschland I München. «Wir haben keinen Sozialstaat mehr», sagt die 81-jährige Sophie Schuchardt, die Hunger und Armut bereits zu Kriegszeiten kennengelernt hat. Mit 50 wurde sie aufgrund eines Tinnitus arbeitsunfähig, nun muss sie von 827 Euro Rente im Monat leben – zu wenig, um im teuren München über die Runden zu kommen, und doch zu viel um einen Sozialhilfezuschuss zu beantragen.

Armes Deutschland II Hannover. Auch die Jungen haben es in Deutschland nicht besser, im Gegenteil: Rechtswissenschaftlerin Sofia Davilla stellte fest, dass Unter-25-Jährige dreimal so häufig und viel härter sanktioniert werden als ältere Hartz-IV-Empfänger. Zum Beispiel eine 23-jährige Frau, die zurück in den Haushalt ihrer manisch-depressiven Mutter und des gewalttätigen, alkoholsüchtigen Stiefvaters gedrängt wurde. Überdurchschnittlich viele Junge werden auch dazu gezwungen, sehr schlecht bezahlte Jobs anzunehmen – auf Kosten ihrer Zukunftsperspektiven.

Träumendes Amerika Seattle. Dafür lebt der amerikanische Traum offenbar noch: Jedenfalls für Inocente, die Tochter illegaler mexikanischer Einwanderer. Sie wuchs auf der Strasse und in prekären Behausungen auf, träumte von einem besseren Leben und begann zu malen. 2009 und 2010 begleitete sie ein Filmteam dabei – die Dokumentation «Inocente» gewann dieses Jahr einen Oscar. Nun reist die 19-Jährige durch die USA und arbeitet mit anderen jungen Künstlern zusammen. Den Film, der ihr dies ermöglichte, könne sie aber nicht mehr schauen: «Es ist zu schmerzhaft.»

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Zugerichtet Im Liebeswahn Er ist ein Mann in den besten Jahren, mit Glatze, Schnauz und kernigem St. Galler Akzent. Die Versicherungsbranche bietet ihm eine auskömmliche Existenz, er besitzt eine Frau, drei halberwachsene Kinder und ein abbezahltes Haus. Sie ist 37 Jahre alt, Modeverkäuferin und stammt aus Russland. Kennengelernt haben sie sich auf einer Casual-Dating-Plattform. Seine Verliebtheit hatte ihr geschmeichelt, aber nach sieben Monaten beendete sie die «Beziehung ohne Verpflichtung». Er konnte es nicht glauben. Nicht, dass es endgültig sein sollte. So sehr er auch bettelte und drohte – per SMS, Telefon und persönlichem Besuch –, sie bestand auf getrennten Lebenswegen. Sie liess sich auch nicht von zerstochenen Autoreifen zurück ins Bett locken. Franz F.* beharrte auf der Verabredung, die er der Ex-Geliebten abgerungen hatte: Wenn sie frei sein wolle, müsse sie noch ein letztes Mal mit ihm schlafen. «Wir haben einen Deal, besser du hältst dich daran», tippte er ins Mobiltelefon. «Ich komme irgendwann. Es wird vielleicht brutal.» Erst als er drohte, im Shoppingcenter Nacktbilder von ihr zu verteilen, zeigte sie ihn an. Darüber und über die 104 unerwünschten Kontaktversuche zu seiner Verflossenen verhandelt nun das Zürcher Bezirksgericht. Den ganzen letzten Sommer über rief er bei ihr an, zu Hause, in der Boutique, bis zu 30 Mal an einem Tag, Mails, SMS, dass die Speicher explodierten. Tagelang lungerte er vor dem Schaufenster herum. Sie schrieb einen Brief: Lieber Franz, ich teile Dir hiermit mit, dass unsere Beziehung beendet ist.

«Was ist an Frau O.s Brief missverständlich?», fragt der Richter. «Oh», sagt Franz, «nach dem Brief haben wir doch versucht, uns wieder anzunähern.» Er schrieb ihr zurück: «In Gedanken bin ich immer bei Dir.» Dies ist eine Geschichte ohne Blut und ohne physische Gewalt. Es geht um versuchte Nötigung, Drohung, Missbrauch einer Fernmeldeanlage und Verletzung des Geheim- oder Privatbereiches durch Kameras und Aufnahmegeräte. Breitbeinig und breitschultrig sitzt der grosse Mann mit dem grossen Bauch auf seinem Stuhl. «Ich meinte es nicht böse», sagt er, «wenn ich an jemandem hänge, komme ich nicht los.» Eine Obsession, der Mangel an Distanz aus der Fixierung auf sich selbst. «Herr Richter, waren Sie schon einmal verliebt?», fragt Franz herablassend, als sei er der einzige Mensch auf der Welt, der je liebte. «Ja, sicher», antwortet der Richter gereizt und unterbricht schliesslich den selbstverliebten Redefluss des Angeklagten mit der Urteilsverkündung. Die Geldstrafe von 17 000 Franken setzt der Richter auf Bewährung aus, die Busse von 2000 Franken muss Franz aber bezahlen, wie auch eine Genugtuung von 1000 Franken an Frau O. Da heult der starke Mann auf: «Können Sie nicht um die Hälfte runtergehen? Das Studium für die Tochter, ein neues Dach für das Haus …» Der Richter lässt nicht mit sich handeln und mahnt Franz, das Kontaktverbot einzuhalten. Franz nickt einsichtsvoll: «Vielleicht kann man sich ja in einem Jahr mal wiedersehen.» «Lassen Sie’s lieber», sagt der Richter und rauft sich im Geiste die Haare. * persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 310/13


Leserbriefe Protest am Tahrir-Platz war vor Occupy Nr. 307: Saat gut? Smartphones – Fairer geht’s nicht

Nr. 308: Wunderbares Nichts Widerstand – Wann, wenn nicht jetzt?

«Hier werden Gedanken in die Tat umgesetzt» Besten Dank für den Artikel des Surprise über das Fairphone. Ich finde es grundsätzlich gut, wenn man sich kritisch mit den Dingen wie zum Beispiel dem Fairphone auseinandersetzt. Das muss und soll geschehen. Was mir bei diesem Artikel etwas aufstösst, sind Sätze wie der letzte im Artikel: «Traurige Realität ist es, dass heute schon minimale Verbesserungen der Produktionsbedingungen reichen, um ein neues Smartphone zum Klassenbesten und zum internationalen Medien-Ereignis zu machen.» Das kann man nun positiv auffassen und sagen, ja, da wird etwas versucht, an einem bescheidenen kleinen Ort macht man sich nicht nur Gedanken, sondern es wird auch etwas in die Tat umgesetzt, das sollte man unterstützen. So wie es geschrieben ist, muss ich es aber als Kritik auffassen, dass sich da eine Gruppe Leute grossmachen und auf eine «billige» Art und Weise gut herauskommen will, indem sie halt ein, zwei Materialien fürs Fairphone nimmt, die kein Blut daran haben. Würde man das konsequent so weiterdenken, würde erstens nichts geschehen und zweitens würde man sich bloss in der Diskussion bewegen, anstatt tätig zu werden. Max Havelaar und andere lassen grüssen: Auch sie haben ganz klein angefangen. Konsequenterweise müsste eigentlich am Schluss des Artikels ein echt gemeinter, grosser Aufruf stehen: «Wer ein Handy oder Smartphone, einen PC, ein Laptop, Notebook, einen Beamer, Fernseher oder überhaupt irgendein Gerät, das elektronische Teile hat, benutzt, macht sich der Unterdrückung, der Versklavung und schlussendlich des Mordes schuldig. Aus diesem Grunde rufen wir dazu auf, solche Geräte nicht mehr zu benutzen und keine neuen Geräte mehr zu kaufen!» Es scheint mir, dass auch eine Zeitschrift wie Surprise ihre Aufhänger und Schlagzeilen braucht und die Macher gewissermassen genau dem unterliegen, was sie kritisieren. Ich möchte aber Menschen und Organisationen unterstützen, die interessante Gedanken haben, Produkte herstellen und für Cleantech-Bereiche tätig sind.

«Historischen Ablauf auf den Kopf gestellt» Christof Moser schreibt in seinem ansonsten durchaus interessanten Beitrag: «Occupy weckte überhaupt erst den Hunger nach Demokratie in Tunesien, Libyen und Ägypten.» Denn die Araber haben ja politisch noch nie etwas Vernünftiges zustande gebracht, es sei denn, eine Avantgarde in der westlichen Welt hätte es ihnen vorgemacht. Alles klar, oder? Dummerweise verhielt es sich im Fall der Revolutionen in den genannten Ländern aber genau umgekehrt: Die Regimes in Tunesien und Ägypten wurden in den ersten Monaten des Jahres 2011 gestürzt, ohne dass jemand von aussen die Menschen dort erst hätte hungrig machen müssen. Und es war unter anderem die Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo, welche die spanischen Aktivisten und Aktivistinnen auf die Idee brachte, es den Ägyptern gleichzutun und den öffentlichen Raum zu besetzen. Und dies führte dann zu «Occupy Wall Street», Paradeplatz und so weiter im Herbst desselben Jahres. Es ist interessant, dass auch für ein Medium wie Surprise die Zeit derart schnell vergeht, dass schon nach weniger als zwei Jahren elementare Zusammenhänge vergessen gehen und der historische Zeitablauf auf den Kopf gestellt wird … Ich wünsche mir Autoren und Autorinnen, die in wacherem Zustand und mit einem Horizont, der mehr erfasst als die gerade aktuell gehypten Shitstorms, den Lauf der Zeit zu kommentieren vermögen. Heinz Gabathuler, Zürich

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

Dieter Bigler, per E-Mail

Starverkäuferin Genet Spiess-Hishe Agnes Baer aus Stäfa nominiert Genet Spiess-Hishe als Starverkäuferin: «Als Surprise-Kundin ist mir diese Frau immer wieder aufgefallen, weil sie sich vor den Feiertagen immer festlich kleidet. Mit solch liebenswürdigem und farbenfrohem Gewand gibt Frau Spiess den an ihr vorbeieilenden Menschen für einen Augenblick die Möglichkeit, sich an den Grund ihrer Hektik zu erinnern. Warum abonniere ich Ihre Zeitschrift nicht? Ich finde es für die Verkäuferinnen und Verkäufer wichtig, dass sie sich ernst genommen fühlen, durch den Kauf Ihrer Zeitschrift und den Austausch von ein paar netten Worten.»

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Porträt In Zwischenräumen Navid Tschopp setzte Iraner und Schweizer auf den selben Teppich, auch wenn sie Tausende von Kilometer voneinander entfernt waren. Der Künstler sucht nach Orten zwischen bereits definierten Räumen. VON RETO ASCHWANDEN (TEXT) UND ANDREA GANZ (BILD)

«Ich mache gerne Kunst für ein Publikum, das nicht unbedingt in ein Museum geht», sagt der gelernte Hochbauzeichner mit abgebrochenem Architekturstudium. Viele seiner Werke sind leicht zugänglich und nachvollziehbar. Oft geht es um die Interaktion zwischen Menschen und ihrem Umfeld. Darum arbeitet Tschopp gerne im öffentlichen Raum. Allerdings nicht nur. Für die Installation «Third Space» schnitt er einen Perserteppich entzwei. Die eine Hälfte schickte er seiner Familie in den Iran, die andere legte er auf den Boden eines Zürcher Kunstraums der Zürcher Offspace-Szene. Während der Aktion verband er sich per Skype mit seiner Familie und projizierte diese auf dem Teppich sitzend auf eine Leinwand. Diese ordnete er so an, dass das Teppichstück am Boden in jenem auf der Leinwand seine Fortsetzung fand. So verbanden sich der Zürcher Kunstraum und das Bild aus dem Cyberspace zu einem neuen, dem dritten Raum. Für Tschopp mehr als eine Spielerei: «Heimat ist für

Auf dem Ateliertisch liegt ein Skizzenbuch. «Facebook» steht auf dem Umschlag und die Seiten sind voll mit Gesichtern. Navid Tschopp zeichnet von Menschen, denen er begegnet, gern schnell ein Porträt. «Ein Langzeitprojekt» sei das für ihn, sagt er, und auch eine Fingerübung in gegenständlichem Zeichnen. Mit Gesichtern begann auch Tschopps künstlerische Tätigkeit, genauer gesagt mit Karikaturen. Als 14-Jähriger stellte er sich sonntags auf die Strasse und brachte die Passanten aufs Papier. Karikaturen zeichnet Tschopp heute keine mehr, im öffentlichen Raum bewegt er sich mit seiner Kunst aber immer noch. Eine seiner ersten Arbeiten war ein Schneeauto in Originalgrösse, das er eines Winters auf einen Parkplatz baute. Verspielt und ein bisschen subversiv war auch die Verschönerung des Kehrichtheizkraftwerks an der Josefstrasse in Zürich. Während seines Studiums «Ich habe kein Grundempfinden von Heimat, lieber schaffe an der Hochschule der Künste führte ich mir selber einen Ort in der Kunst.» Tschopps Schulweg an der Stahlwand dieses Gebäudes vorbei. Immer wieder warf er weisse Haushaltmagnete darauf, bis Hunderte von ihnen auf dem dunmich ein unklarer Begriff, dieses Grundempfinden habe ich nicht, lieber klen Stahl ein Muster bildeten wie Sterne am Nachthimmel. Die Pointe: schaffe ich mir selber einen Ort in der Kunst, eben diesen dritten Raum.» Nach seinem Studienabschluss meldete sich der Künstler bei den BehörGeboren wurde der heute 34-Jährige im Iran. In die Schweiz kam er den und bot sein Werk unter dem Titel «Topologische Agenda – Der Weg erst mit neun, weil sich seine Schweizer Mutter vom iranischen Vater zum Master» als Schenkung an. trennte. «Ich habe mich hier schnell eingelebt», erinnert er sich. Er sei «Zuerst waren sie perplex», erinnert sich Tschopp. Der Direktor der schon im Iran «der Ausländer» gewesen: «Als Kind hatte ich blonde HaaKehrichtverbrennung schaltete erst einmal seine juristische Abteilung re und war damit der Einzige unter 800 Buben an der Schule. Und in der ein, um abzuklären, ob die Annahme der Schenkung Verpflichtungen Schweiz war ich dann halt der Iraner.» Mit 17 entschied er sich, den nach sich zöge. Schliesslich nahm er sie an. «Jetzt gehen dort Lehrer mit Nachnamen seiner Mutter anzunehmen, «das hat die Lehrstellensuche Schulklassen vorbei, und die Kids schmeissen Magnete hoch. Das finde vereinfacht». Laut Schweizer Pass heisst er Tschopp, im iranischen Ausich lustig, denn früher in der Schule habe ich quasi als Sport Magnete weis steht der Name seines Vaters Sadrosadat. an die Wandtafel geworfen.» Doch für den Künstler ging es nicht nur um Seit einigen Jahren besucht er regelmässig seinen Vater, der in eine witzige Aktion. «Ich versuche mich immer wieder von der Technik Maschhad, der zweitgrössten iranischen Stadt, lebt. «Er ist selber Kunstdes bewussten Strichs zu lösen. Werfen ist eine Möglichkeit, etwas Zumaler und Kunstprofessor, einer von der alten Schule. Neue Medien und fälliges und Überraschendes zu kreieren», erklärt Tschopp. Zudem lägen Kunst im öffentlichen Raum sagten ihm nichts. Aber nach und nach verseine künstlerischen Wurzeln in der Street Art: «Dort geht es darum, steht er, was ich mache und findet es interessant.» Umgekehrt beschäfsein Tag oder sein Piece möglichst weit in der Höhe anzubringen. Datigt sich auch der Sohn seit einiger Zeit mit der arabischen Kunstgerum habe ich mir überlegt, wie ich höher komme, als meine Arme reischichte. «Durch das Bilderverbot im Islam kam die arabische Kunst chen.» Und schliesslich lotete er mit dieser Aktion auch aus, was erlaubt zum Ornament – Elemente, die sich wiederholen und nicht von einem ist in einer Stadt, in der eine Arbeitsgruppe «Kunst im öffentlichen Rahmen begrenzt sind. Das ist etwas ganz anders als ein Tafelbild oder Raum» bestimmt, was sein darf und was wegmuss. «Ich wollte etwas der Blick aus dem Fenster.» Tschopp betont: «Ich bin von beiden Kultuohne Bewilligung machen, aber trotzdem einen Weg finden, dass es akren geprägt, der persischen wie auch der europäischen. Mich intereszeptiert wird. Mit meinen Interventionen im öffentlichen Raum will ich siert die Verbindung zwischen diesen Kunsttraditionen, wie ich sie indie Toleranzgrenzen erweitern und gegen die Trivialität des reglemeneinander übergehen lassen kann.» tierten Raums vorgehen», sagt Tschopp. Da sind sie wieder, die Zwischenräume. Ob draussen oder drinnen – Mit solchen Aktionen hat sich Tschopp einen Namen gemacht. Ein Navid Tschopp gestaltet Orte, die einen Austausch zwischen Menschen Schriftzug an einem baufälligen Haus in Zürich West brachte ihn bis in ermöglichen. Auf dass jeder seinen Platz finde. Und vielleicht auch die Boulevardpresse: Mitten im Boomquartier steht das sogenannte Nairgendwann in sein «Facebook». ■ gelhaus. Eigentlich sollte es schon lange einer neuen Zufahrt weichen, doch die Besitzer wehren sich durch alle Instanzen gegen die EnteigAktuelle Arbeiten von Navid Tschopp sind im Rahmen der Werkschau 2013 zu senung. Als Reaktion auf den Schriftzug «Renaissance» am nebenan neu hen: 10. bis 16. Oktober, täglich 11 bis 19 Uhr, F+F Schule für Kunst und Mediendeerbauten Mobimo-Tower schrieb Tschopp auf die Fassade des Nagelsign, Flurstrasse 89, Zürich. hauses «Resistance». www.navid.ch SURPRISE 310/13

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BILD: ISTOCKPHOTO

Kindergarten Die Angst, öffentlich ein Gipfeli zu essen Die Schulgesundheitsdienste haben den Znüni ins Visier genommen: Mit etlichen Kampagnen versuchen sie gegen Karies und Übergewicht vorzugehen. Das ist sicher richtig. Manche Mütter reden aber unterdessen von Znüniterror.

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VON DIANA FREI

vin ein Gipfeli in der Bäckerei. Danach wollte ich mit ihm in der Nähe seines Kindergartens vorbeigehen, und er geriet deswegen in Panik. Er hatte tatsächlich Angst, öffentlich ein Gipfeli zu essen, weil er fürchtete, seine Kindergartenlehrerin könnte ihn sehen. Da fand ich, das kann ja nicht wahr sein, dass wir in der Freizeit kein Gipfeli mehr kaufen können, ohne dass das Kind deswegen Krämpfe bekommt.»

Vera Grüter* ist froh, dass ihr Sohn nicht mehr in den Kindergarten geht. Jetzt muss sie sich nicht mehr jeden Morgen über den richtigen Znüni den Kopf zerbrechen. Früher gab es Montage, an denen sie den Brotkorb öffnete und nur die Reste des Sonntagszopfs vorfand. «Mein Sohn hat sich aber geweigert, ein Stück Zopf mitzunehmen. Weil er Anruf bei Buttersilserli Angst hatte, das als Znüni dabeizuhaben.» Auch sonst sagte Marvin jeweils bei etlichen Lebensmitteln: «Mami, Jedes Mal kontrollierte die Kindergartenlehrerin die Znüniböxli eindas darfst du nicht einpacken.» Die Kindergartenlehrerin machte jeweils zeln und keifte die Kinder an, wenn das Falsche drin war. Vor versamdie Runde, um zu sehen, wer wieder etwas Falsches mitgenommen hatmelter Kindergartenklasse schimpfte sie dann über das Toastbrot und te, und stellte die Kinder vor der Gruppe bloss. «Ich war jeweils schon andere verbotene Nahrungsmittel. Es gab auch Fälle, in denen die Kinangespannt, wenn ich das Znünitäschli gepackt habe. Alles wurde überder ihren Znüni nicht anrühren durften und wieder mit nach Hause nehprüft und sanktioniert», sagt Jill. men mussten, weil er allzu ungesund war. Einmal zum Beispiel einen Die Frau sei in vielem extrem eingestellt und verbissen gewesen, sie Lebkuchen, es war zwei Tage vor Weihnachten. habe eine Mission gehabt. Es gibt Parallelen zu Veras Geschichte: «Wir «Das löste einen Stress und eine ganz seltsame Dynamik aus, einen haben hier einen hohen Ausländeranteil. Und es sind die Migranten, die Druck sowohl auf die Eltern als auch die Kinder», erzählt Vera am Telesie erziehen wollte», meint Jill. «Ich habe immer wieder Szenen beobfon. «Die Kindergartenlehrerin war ein Kontrollfreak. Das Schlimmste achtet, wie sie nach Kindergartenschluss zu einzelnen Eltern hingeganaber war, dass sie sich nicht an die Eltern gewandt hat, sondern ganz gen ist und sie zusammengeschissen hat. Sie sollen einen Deutschkurs ungefiltert an die Kinder.» besuchen, sie sollen ihre Kinder wärmer anziehen, die Kinder hätten die Veras Bub war der einzige Schweizer im Kindergarten am Rand der falschen Schuhe an. In einer Lautstärke, dass es alle mitbekommen haStadtbasler Grenze. Viele Kinder waren Kroaten, Serben, Türken, viele verstanden kein Deutsch. Vera meint: «Das sind Familien, in denen für alle zusammen ein«Unterschichts- und Migrantenfamilien greifen zu Budgetfach ein grosses Weissbrot gekauft wird. Es Produkten. In diesem Umfeld ist die Strenge beim Znüni sind Unterschichts- und Migrantenfamilien, eine reine Schikane.» die zu Budget-Produkten greifen. In diesem Umfeld ist eine solche Strenge beim Znüni eiben und so, dass alle peinlich berührt waren. Es war blossstellend.» ne reine Schikane.» Bei den Familien herrschte denn auch grosses UnBeim Znüni hat die Kindergartenlehrerin eigenständig ein Fleischverbot verständnis. «Mich stört, dass die Kindergartenlehrerin auf diesem Weg eingeführt. Es wurde allen Familien aufgezwungen, nur vegetarische offenbar die Eltern belehren wollte. Mit Umweg über die Kinder», sagt Znünis mitzubringen. Auch diese Frau ist heute aber nicht mehr in dem die junge Mutter rückblickend. Unterdessen hat die Kindergartenlehrebetreffenden Kindergarten tätig. Zwar betonen die Mütter, die zum Therin ihre Stelle gewechselt. ma Znüniterror eine Anekdote zu bieten haben, es handle sich um ein Auch Jill* bekam von ihrem Sohn Marvin* Rückmeldungen, es sei personenabhängiges Problem und es sei einfach ihre spezifische Kinüber den Znüni geschimpft worden. Er ging bis letztes Jahr in einen Kindergartenlehrerin, die über das Ziel hinausgeschossen sei. dergarten im multikulturellen Basler Gundeldingerquartier. Jill betont, Trotzdem ist auffällig, wie viele Eltern eine solche Anekdote liefern sie fände es «absolut gut und wichtig», dass im Kindergarten Wert auf können. Sie berichten von absoluten Bananenverboten und davon, dass gesundes Essen gelegt werde, aber die extreme Umsetzung und die Zwieback nur in der ungezuckerten Variante akzeptiert werde. Oder dass übertriebene Bevormundung fand sie störend. «Vor allem ein Erlebnis man von der Kindergartenlehrperson einen Anruf erhalte, wenn man ein hat mich sehr seltsam berührt», erzählt sie: «Einmal kaufte ich mit MarSURPRISE 310/13

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Buttersilserli einpacke. Eine Mutter aus Bern erzählt, wie sie am Geburtstag ihrer Tochter um sechs Uhr aufgestanden ist, um Früchte zu schälen, in Stücke zu schneiden und auf 19 Spiessli zu stecken. Am Vortag zubereiten geht ja nicht. Und Geburtstagskuchen war verboten. Gurkenscheiben zum Geburtstag Die gesunde Ernährung hat in den Deutschschweizer Schulen und Kindergärten in den letzten zehn Jahren dank zahlreicher Gesundheitskampagnen Fuss gefasst. Basel-Stadt begann schon in den Neunzigerjahren, sich des Themas anzunehmen und war damit Schweizer Vorreiter. Die Aktion «Gesundes Znüni» wurde im Kindergarten und später in der Primarschule eingeführt; sie war das Resultat einer engen Zusammenarbeit zwischen Kindergärten, Schulzahnklinik und Kinderund Jugendgesundheitsdienst. Zürich wiederum hat 2009 als erste Schweizer Stadt verbindliche Ernährungsrichtlinien für den Pausenkiosk an den Schulen eingeführt. Danach war die Banane aus dem Sortiment gestrichen. Denn sie bleibt an den Zähnen kleben. Auch im Kindergarten überlassen die Schulgesundheitsdienste die Ernährung der Kinder lieber nicht dem Zufall – oder genauer: den Eltern. Dafür teilen die Präventivmediziner die Lebensmittel auf einem Znüniflyer in drei Kategorien mit Ampelfarben ein. Im grünen Bereich sind die meisten Früchte, Gemüse, Nüsse, Vollkornprodukte und Milchprodukte ohne Zucker. Bei der Banane wechselt die Ampel auf Gelb, genauso bei Dörrfrüchten und Halbweissbrot: Hier beginnen die Bedenken. Diese Lebensmittel sind im Kindergarten immer noch okay, aber nur ab und zu. Was heisst: Genau hier beginnt der manchmal unergründliche Ermessensspielraum der Kindergartenlehrperson. Und spätestens bei Getreideriegeln, Milchschnitten und Schokolade sehen die Gesundheitsdienste rot. Zu Recht, natürlich. Sie sehen aber auch am Geburtstag rot. Deshalb gibt es einen Flyer mit Ideen, wie man den Geburtstag unversüsst geniessen könnte: Vorgeschlagen werden Mandarinen mit aufgeklebten Wackelaugen, Pizzabrötchen oder kleine Vollkornsandwiches. Einige Kindergartenlehrpersonen empfehlen neben den Fruchtspiessli auch Gemüsespiessli mit Oliven, Peperoni und Gurkenscheiben. Das ist schön bunt und muss reichen, um den festlichen Anlass zu markieren.

zum Kindergarten. Und er muss auch unbedingt seinen Platz haben.» Steffen will dezidiert festgehalten haben, dass es nicht um das penible Einhalten irgendwelcher Regeln geht: «Es schadet der Prävention, wenn man streng und dogmatisch herüberkommt. Deshalb bin ich auch hellhörig, wenn ich erfahre, dass Eltern das Gefühl bekommen, es herrsche ein Zwang oder es spielten spezielle Weltbilder in eine Diskussion hinein.» Wo Eltern und Lehrpersonen aufeinandertreffen, gebe es immer wieder mögliche Reibungsflächen, sagt Steffen, egal ob es nun um die Ernährung oder beispielsweise um den Sexualkundeunterricht gehe.

«Ich war jeweils schon angespannt, wenn ich das Znünitäschli gepackt habe. Alles wurde überprüft und sanktioniert.»

«Worüber reden wir jetzt gerade?» Da ist Thomas Steffen anderer Meinung. Der Basler Kantonsarzt und Leiter der Abteilung Prävention im Gesundheitsdepartement des Kantons Basel-Stadt meint: «Der Geburtstagsschokoladenkuchen gehört

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Weitaus die meisten Lehrpersonen seien sich aber bewusst, dass das Thema Znüni grosszügig interpretiert werden müsse. «In dem Moment, in dem auch die Banane noch als Problem gelten soll, muss ich sowohl als Experte wie auch als Vater sagen: Jetzt haben wir in Wahrheit kein Problem mehr», meint Steffen. Angesprochen auf die These der erwähnten Mütter, die Znünimassregelungen zielten speziell auf Ausländer ab, holt der Kantonsarzt aus: «Ich habe bei schulischen Themen oft das Gefühl, wir streiten uns in der Erwachsenenwelt unterschwellig über andere Inhalte. Hier muss man sich fragen: Worüber reden wir jetzt gerade? Wieso wird die Banane plötzlich so wichtig? Und da ist es fast besser, wir streiten offen über das, worum es wirklich geht, und verbeissen uns nicht im Toast- oder Vollkornbrot. Gesundheitlich gesehen ist der Unterschied minimal.» Vielleicht haben die Mütter aus den multikulturellen Quartieren recht mit ihrer Einschätzung: Es geht nicht nur um den Znüni, sondern um die Migranten. Karies der schlimmeren Sorte Immerhin hält auch die Bundesstrategie «Migration und Gesundheit» fest, dass Kinder von Asylsuchenden häufig unter Karies leiden. Und Kindergartenlehrpersonen bestätigen, dass Migrantenkinder bei Kindergarteneintritt oft nicht nur an Karies der schlimmeren Sorte litten, sondern nicht selten auch bereits operative Zahnentfernungen unter Vollnarkose hinter sich hätten. Des Weiteren kommt der diesjährige Bericht von Gesundheitsförderung Schweiz zu den Gewichtsdaten von Kindern

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«Frau Notz, sind Migrantenkinder ein Problem, wenn es um den Znüni und Jugendlichen zu folgenden Schlüssen: «Ausländische Kinder (25%) geht?» sind signifikant häufiger übergewichtig als Schweizer Kinder (15%).» «Es stimmt, dass Tamilen ganz oft Toastbrot mitbringen. Wenn ein Ausserdem kommt Übergewicht bei Eltern mit einem tieferen BildungsToastbrot mit einer Frucht zusammenkommt, finde ich das völlig in Ordabschluss doppelt bis viermal so oft vor wie bei Kindern von Eltern mit nung, weil Gewohnheiten auch kulturell bedingt sind. Ich verstehe Hochschulabschluss. auch, wenn eine Familie aus Somalia, wo kriegsähnliche Zustände herrDas Problem, das mit der gesunden Ernährung angegangen werden schen, hierzulande erst einmal die Nahrungsmittel durchprobiert. Das soll, ist zu einem wesentlichen Teil ein Ausländerproblem. Und damit spielt sich mit der Zeit von selber ein.» werden die Migrantenkinder zu den Hauptadressaten von gesundheitsfanatischen Kindergartenlehrpersonen. Ihre Eltern, die kaum Deutsch «Was ist, wenn ein Kind eindeutig Ungesundes im Znünitäschli hat?» können, sind schwer zu erreichen und noch schwerer einzubinden. Der «Es gab zum Beispiel ein Kind aus Bangladesh, das immer Chicken Znüni ist in solchen Fällen die einzige handfeste Verbindung zwischen Nuggets mitbrachte. Die waren den Eltern tatsächlich nicht auszureden. Kindergarten und Zuhause. Ausserdem offenbart er einen Blick ins Elternhaus. Und das Znünitäschli ist traditionellerweise der Kommunikationskanal zwischen «In dem Moment, in dem auch die Banane noch als Kindergarten und Elternhaus: Wenn den Eltern irgendeine Nachricht überbracht werden soll, Problem gelten soll, muss ich sagen: Jetzt haben wir steckt der Zettel hier drin. Wenn man aber ankein Problem mehr.» nehmen muss, dass die Eltern die Zettel nicht verstehen, wird halt das ungesunde Toastbrot Aber das Kind hatte jeweils auch Cherry-Tomaten oder Gurken dabei, da und die böse Banane selbst zur Message. Zur unterschwelligen Mitteihabe ich drauf geachtet, dass es eher diese Sachen ass. Und Kuchen oder lung an die Eltern, sie sollten sich besser integrieren. An unsere Regeln eine Milchschnitte kommen halt auch einmal vor. Dann soll man das eshalten. Unsere Znüni-Regeln. sen und danach die Zähne putzen, und ich sage: ‹Eigentlich sollte man Die Znüniempfehlungen sind buchstäblich ein gefundenes Fressen das nicht mitbringen zum Znüni.› » für diejenigen Kindergartenlehrpersonen, die einen Hang zum Missionieren haben. Denn hier ist klar aufgelistet, was gut und schlecht ist. «Und wenn es immer wieder vorkommt?» Man hat eine schriftliche Handhabe, Eltern und Kindern ins Gewissen «Ich hatte ein Mädchen, das immer Farmerstängel dabeihatte. Ich zu reden. Im Flyer sind Anregungen, die über «geschnittene Früchte in fragte die anderen Kinder, ob sie etwas zum Probieren übrig hätten. So Klarsichtfolie» bis hin zum «Kräuterquark zum Dippen» reichen. Ein bekam das Mädchen immer wieder Apfelschnitze und wollte tatsächlich Satz wie «Übertreiben Sie es nicht, Essen muss auch genussvoll sein» ist immer noch mehr. Da sagte ich der Mutter, sie esse so gerne Äpfel. Und nirgends zu lesen. jetzt bringt sie selber jeweils auch Äpfel und Trauben mit.» Chicken Nuggets um 10 Uhr morgens Regina Notz hat längst herausgefunden, wie man Kinder dazu bringt, «Es ist vielleicht typisch für mich, aber ich habe den Flyer mit den gesünder zu essen. Und zwar ohne dass sie Panik vor einem Gipfeli entGeburtstagsznünis gleich weggeworfen», sagt Regina Notz. Seit 30 Jahwickeln. Ohne dass Gesundheit zum Stress wird. Im Gegenteil: «Der ren ist sie Kindergartenlehrerin im Zürcher Kreis 4. Das erste Schweizer Znüni ist Teil der Pause. Er hat etwas von einem Entspannungsmoment, Kind in ihrer Klasse hatte sie vielleicht vor vier oder fünf Jahren. «Für und da soll auch der Genuss mitspielen», sagt sie. mich sind auch Toastbrot und Bananen in Ordnung, ich finde vor allem ■ eine gewisse Abwechslung wichtig», sagt sie, indem sie zum Gespräch am Kindertisch bittet – die Stühle sind vielleicht 35 Zentimeter hoch. * Namen geändert SURPRISE 310/13

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BILD: ISTOCKPHOTO

Psilopilze So viele Grün Jeden Herbst machen sich Scharen von Pilzsammlern in den Jura auf, um dem spitzkegeligen Kahlkopf nachzustellen. Auch unser Autor ging auf die Suche nach dem psychedelischen Gewächs – es wurde ein skurriler Trip mit Einsichten in die Welt des Komischen.

VON RENATO BECK

Haben Sie schon mal Ihren Ohren zugehört? Nicht dem scheusslichen Piepen des Tinnitus’, das wie der Warnton eines Lastwagens klingt, der den Rückwärtsgang eingelegt hat und ansetzt, rückwärts ins Gehirn reinzudonnern, und das Tag und Nacht, 24 Stunden lang. Nein: Die Ohren, oder vielmehr die Härchen darin, wollten mir etwas mitteilen. Es klang, als ob ein zugiges Lüftchen durch den Gehörgang ging

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und jedes einzelne Haar zum Tanzen brachte. Ich hatte keine Ahnung, was mir meine Ohren sagen wollten, und darin manifestiert sich das ganze Scheitern unseres Ausflugs in die jurassischen Freiberge. Die Expeditionsleitung war Jonas übertragen worden, so nennen wir ihn jetzt mal. Jonas wurde in jungen Jahren vom Walfisch verschluckt, was mit einem mannigfaltigen und ungesunden Dauerrausch einherging. Nachdem der Wal ihn wieder ausgespuckt hatte, machte er eine beachtliche Karriere in der Medienbranche. Jonas führte uns nach SURPRISE 310/13


Saignelégier, gut anderthalb Stunden von Basel entfernt. Er kennt dort eine Kuhwiese, die er in den letzten Jahren immer wieder aufgesucht hat, um ihm nachzustellen. Jonas war die Versicherung gegen einen Fehlschlag, er hatte den Blick für ihn, da sie einander bestens bekannt waren. Jonas und er, der spitzkegeliger Kahlkopf genannt wird. Er wusste ihn zu unterscheiden von seinen Nachahmern, einem Haufen charakterloser Aufschneider, die sich einen Spass draus machen, die Liebhaber der Kahlköpfe kirre zu machen.

In früheren Jahren, heisst es, liess ein jurassischer Bauer schon mal die Hunde los, um die Psilopilz-Sammler zu verjagen. Aber das war, als an jedem Herbstwochenende Hunderte Städter die Wiesen abgrasten. In den letzten Jahren sind es weniger geworden. Der Zauberpilzkonsum ist ja auch nicht ohne Risiko. Ein Drittel aller Konsumenten, sagen Fachleute, haben schon Erfahrungen mit einem Horrortrip gemacht, wenn sich der Geist im Tosen verliert, man aus dem tobenden Gewitter aussteigen möchte, aber unmöglich kann, weil die Blitze unaufhörlich in die Neurorezeptoren einschlagen. Wie Martin Suters Urs Blank, der nach dem Konsum eines Bläulings nicht mehr aus dem Wald und zu sich selber zurückfand.

Saignelégier wird zum Pueblo Der spitzkegelige Kahlkopf ist vielleicht die spannendste und kontroverseste Attraktion des Juras, seitdem die Anarchisten in Saint Imier, die Bikinis, Drogen und Wissenschaft alle Herrschaftsstrukturen zerschlagen wollten, sich selbst zerschlagen Schweizer Forscher nutzen die Halluzinogene, wie sie in Pilzen oder haben und die Bombenleger vom Front de libération du Jura in Pension LSD vorkommen, um die chemischen Abläufe im Gehirn zu verstehen, gegangen sind. Seine Attraktivität ist keine äusserliche, der wenige Zendie bei Schizophreniekranken auftreten. Die Sinnestäuschungen ähneln timeter grosse Kahlkopf ist von unscheinbarer Farbe und kümmerlichem jenen, die ein Mensch wahrnimmt, der eine Psychose erleidet. In den Wuchs. Die Zuneigung, die ihm zuteil wird, rührt vom Halluzinogen Psilocybin her, das er in geringer Konzentration enthält. 20 bis 30 Kahlköpfe sorgen dafür, Eine Kuh schaut mich an, irritiert und neugierig. Sie stellt dass einem Saignelégier als mexikanisches mich vor eine Entscheidung: Entweder du wirst jetzt einer Pueblo erscheint, so hat das Jonas erzählt. Die Kühe, die auf den Weiden grasen, hätten sich von uns, oder du gehst zurück zu deiner Spezies. vor seinen verzauberten Augen zu Fabelwesen verwandelt, einer jurassischen Sphinx gleich Sechzigerjahren hatte die Wissenschaft einen anderen Ansatz, das Phämit Kuhhintern und Tigerkopf. nomen zu ergründen. Harvard-Psychologe Timothy Leary mietete sich Am frühen Nachmittag verlassen wir das Belair 10, eine alte Villa eine Villa in Mexiko. Mit anderen Akademikern und deren Bikini traunterhalb des Bahnhofs, die von ein paar Basler Enthusiasten betrieben genden Frauen sass er am Pool und liess sich mexikanische Zauberpilwird und sich unter Pilzsammlern einer gewissen, gut erklärbaren Beze zu kaltem Bier reichen. Leary gilt als Ikone der Psilo-Gemeinde. Er liebtheit erfreut. Die Wiese liegt ausserhalb von Saignelégier, in der Näbeschrieb seinen ersten Trip so, dass er seine eigene Entwicklung zuhe eines Campingplatzes, der in den letzten Jahren investiert hat und rückverfolgen konnte bis zu jener einen Zelle, die am Anfang stand. neuerdings auch Tipizelte für seine pilzsuchenden und anderen Gäste Derartige Einblicke blieben uns aufgrund der geringen Ausbeute verbereithält. Baumgruppen gliedern die Weide, eine Herde Kühe grast im wehrt. Wir erhielten nicht mehr als eine Ahnung von den Wunderlichhinteren Teil, wo das Terrain ansteigt. Jeder hat eine andere Strategie, keiten des Kosmos. Zurück in Saignelégier, im traumverlorenen Café du um die Kahlköpfe aufzuspüren. Ich tappe vorsichtig durchs Gras, einem Soleil, beobachteten wir die lustigen Gestalten, die dort verkehrten. Ein Minensucher nicht unähnlich, den Kopf nach links und rechts penWurzelbart mit der Erscheinung eines irischen Kobolds verliess gerade delnd. Jonas’ Frau geht bestimmter vor, sie sucht die Büschel und insdas Soleil, später sollte sich tatsächlich ein Regenbogen über die Freibesondere die Ränder der Baumgruppen ab wie ein Inspektor, der alle berge spannen. Hinein kam ein erstklassiger Elvis-Imitator mit seiner Verstecke der Delinquenten kennt. Schnecke am Hosenzipfel. Wir verbargen unsere vom Lachen entstellten Gesichter in den Armen. Und ich lauschte den Härchen in meinen Die Wirkung setzt ein Ohren. Was wollten sie mir bloss sagen? Es dauert eine gute Stunde, bis der erste Kahlkopf aufgespürt ist – ein ■ erhebendes Gefühl. Seine artverwandten, aber harmlosen Simulanten haben wir teilweise auch verputzt, man kann sich ja nie sicher sein, ob’s nicht ein echter war. Dann folgen zwei weitere. Rein damit, befiehlt Jonas. Wir teilen die Beute auf. Jeder nimmt einen, das schärft laut Jonas den Blick und hilft, die braunen Kerle im endlosen Grün zu entdecken. Nach vier Stunden Beutezug hat jeder sechs bis acht Pilze gegessen (sie sind erstaunlich wohlschmeckend). Vom Starren in die Wiese ist mir schwummrig. Es ist ein meditatives Tun. Die Wirkung setzt schleichend ein. Ein Gefühl im Körper, als stehe er im Ionenwind und lade sich zunehmend elektrisch auf. Das Grün der Pflanzen beginnt, leicht zu leuchten. Auf Psilocybe semilanceata ist eine Tanne nicht einfach grün, auch nicht tannengrün, jede einzelne Nadel weist Abstufungen auf, die das Auge im Normalzustand wegfiltert. Die deutsche Sprache hat da zu wenig Differenzierungen hervorgebracht. Es gibt so viele Grün. Von aussen muss es eine seltsame Erscheinung sein, vier Entrückte, die stundenlang vornübergebeugt durchs Gras wandeln. Eine Kuh hat sich von der Herde entfernt und nähert sich. Sie beginnt neben mir zu fressen, schaut hoch und mich an, auf eine kuhtypische Weise, irritiert und neugierig zugleich. Sie stellt mich vor eine Entscheidung: Entweder du wirst jetzt einer von uns, oder du gehst zurück zu deiner Spezies. Zeit, die Suche abzubrechen. SURPRISE 310/13

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40 Jahre Putsch in Chile «Wir trugen unsere Freiheit zu Grabe» Vor 40 Jahren putschte das chilenische Militär gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Anschliessend regierte bis 1990 eine Militärjunta unter der Führung von Augusto Pinochet. Isabel Allende war Anfang der Siebzigerjahre eine junge Journalistin und musste ins Exil gehen. Im Interview blickt sie zurück auf die Tage des Umsturzes und die folgende Zeit der Unterdrückung. Ihre Erinnerungen zeigen exemplarisch, was das Leben in einer Diktatur mit Menschen macht. VON OLE HOFF-LUND (TEXT) UND LORI BABA (BILDER)

Gab es 1973 Anzeichen für einen bevorstehenden Militärputsch? Man sprach schon länger über diese Möglichkeit, aber es blieb zunächst ein Gerücht, das niemand richtig ernst nahm. Präsident Salvador Allende selber war allerdings überzeugt, dass eine echte Bedrohung bestand und dass der amerikanische CIA dahinter steckte. Aber weil Chile eine lange und solide demokratische Tradition hatte, schienen diese Ängste übertrieben. Mit Sicherheit dachte niemand, dass Augusto Pinochet zum Verräter werden würde. Der Politiker und Nobelpreisträger Pablo Neruda verstarb kurz nach dem Putsch. Er war ein Symbol der Opposition, und sein Begräbnis wurde zum ersten Protest gegen den Militärputsch. Welche Erinnerungen haben Sie an diesen Tag? Pablo Nerudas Tod am 23. September wurde von der Diktatur ignoriert. In der Bevölkerung aber verbreitete sich die Information über das bevorstehende Begräbnis, und die Menschen versammelten sich, um ihm das letzte Geleit zu geben. Wir wussten, dass es gefährlich war. Die Militärregierung wollte verhindern, dass es während der Bestattungsfeier zu politischen Demonstrationen kommt.

ben und nicht auffallen. Es gab kaum offizielle Informationen, nur Gerüchte. Wir hörten von Folterzentren, Konzentrationslagern, Attentaten, Überfällen in armen Quartieren, wie Tausende verhaftet wurden und noch viele mehr aus dem Land geflohen waren. Aber es gab keine Möglichkeit, diese Informationen zu verifizieren. Wir befürchteten, dass unsere Telefone abgehört würden und dass Bekannte zu Informanten der Junta geworden waren. Deshalb waren wir vorsichtig, wenn wir mit Menschen sprachen, sogar innerhalb der Familie. Wie prägte die Diktatur den Alltag? Für Touristen, die Chile während dieser Zeit besuchten, war der Terror nicht sichtbar. Ein Tourist fand sich in einer sauberen Stadt, in der es fast keine Kriminalität gab, er traf auf höfliche und bescheidene Menschen, und er musste zum Schluss kommen, dass Chile ein sehr gut organisiertes Land war. Sogar die Kinder marschierten in ihren Uniformen schweigend zur Schule! Ich konnte dort nicht existieren. Ich wollte nicht in Angst leben, und ich wollte nicht, dass meine Kinder in einer Diktatur aufwachsen müssen. Wurden Sie persönlich schikaniert? Ich war Journalistin und fiel durch meinen Namen ziemlich auf. Ich war eine Feministin, eine Linksaktivistin und eine Verwandte von Salvador Allende: drei Gründe für die Militärdiktatur, mich im Auge zu behalten. Mir wurden alle Arbeitsstellen gekündigt, bedroht fühlte ich mich jedoch bis Anfang 1975 nicht. Trotzdem war ich sehr unglücklich in Chile, darum sprachen mein Mann und ich darüber, das Land zu ver-

Was geschah dann? Zu Beginn des Trauermarsches waren wir nur wenige, und wir fürchteten uns vor den Soldaten. Doch während des Marsches wurde die Menge immer grösser, und wir fühlten uns stärker. Die Stimmung veränderte sich. Jemand begann zu singen, ein anderer rief Nerudas Namen, dann jenen von «Die meisten Menschen wollten keine Probleme, sie wollAllende. Die Emotionen kochten hoch, aber ten nur ungestört weiterleben und nicht auffallen.» auch die Angst. Die Soldaten waren unruhig, nervös, sie wussten nicht, wie sie sich verhallassen. Das war aber sehr schwierig, da wir kein Geld, keine Beziehunten sollten. Ich sah ihre Finger am Abzug, höchste Anspannung in ihren gen und keinen Ort hatten, an den wir hätten fliehen können. Also warGesichtern. Es war ein strahlender Frühlingstag, und als wir uns dem teten wir ab und hofften, dass die Soldaten in ihre Kasernen zurückFriedhof näherten, strömten die Menschen aus den benachbarten Straskehren und Chile wieder eine Demokratie werden würde. sen herbei, sie weinten, sangen und umarmten einander. An diesem Tag begruben wir nicht nur den Dichter, wir begruben auch unsere DemoGab es ein bestimmtes Schlüsselerlebnis, das Sie dann doch ins kratie, und wir trugen unsere Freiheit zu Grabe. Exil trieb? Innert wenigen Tagen geschahen mehrere Dinge, die mich in Panik Wie war die Stimmung in Santiago nach dem Putsch? versetzten. Ich fand heraus, dass ein neuer Freund in Wirklichkeit ein 1973 und 1974 war die Stimmung unter den Leuten, die ich kannte – Agent der gefürchteten Geheimpolizei war. Eine Verwandte, die für die Studenten, Journalisten, Intellektuelle, Künstler, Arbeiter – sehr geRegierung arbeitete, teilte uns mit, dass ich auf einer schwarzen Liste drückt. Wir fürchteten uns, waren fast gelähmt vor Angst. Die meisten stünde und jeden Moment abgeholt werden könnte. Ein Mann, den ich in Menschen wollten keine sieund wollten nurvon ungestört weiterleMusikersprösslinge unter sich:Probleme, Elvis Costello Questlove The Roots. SURPRISE 310/13

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unserem Haus versteckt hatte, wurde verhaftet, und ich wusste, dass es mein Ende wäre, wenn er reden würde. Ich musste weg. Ich ging nach Venezuela und einen Monat später, als klar wurde, dass eine Rückkehr zu riskant wäre, reiste auch mein Mann mit unseren beiden Töchtern aus. Wir kamen in Caracas wieder zusammen, wo wir 13 Jahre lang lebten. Mehr als 3000 Menschen wurden während der Diktatur getötet und viele weitere verschwanden. Wusste die breite Bevölkerung, was vor sich ging? Ich bin sicher, dass die meisten Menschen davon wussten. Vielen aber gelang es – oder sie bevorzugten es –, die Gewalt und die Korruption der Diktatur zu ignorieren. Ich war 2003 anlässlich des 30. Jahrestags des Militärputsches in Chile. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Informationen über die Massaker, die Folter, die versteckten Massengräber schon weit herum publik gemacht worden. Es fanden zahlreiche Gedenkfeiern zu Ehren der Opfer statt. Und trotzdem gab es immer noch Menschen, die die Fakten leugneten. Warum weigern sich Menschen, den Tatsachen ins Auge zu sehen? Es ist schwierig, in ständiger Angst zu leben. Man passt sich an, weil es nicht anders geht. Verleugnung ist eine Art, sich zu schützen. Es herrscht ein Gefühl der Ohnmacht und der Einsamkeit. Terror funktioniert, indem Menschen isoliert werden. Im Idealfall sitzt jede Familie zu Hause und schaut die offizielle Version der Nachrichten im Fernsehen, es gibt keine Interaktion, keine öffentliche Debatte, keinen Ideenaustausch – nichts, was eine Rebellion in Gang bringen könnte. Und so konnte sich Pinochet 17 Jahre lang an der Macht halten? Angst ist ein sehr wirkungsvolles Werkzeug, und Pinochet hat es gekonnt genutzt. Er kontrollierte das Militär, die Justiz, und es gab kein Parlament, es gab keine Pressefreiheit, keine Haftprüfung, keine Meinungsfreiheit. Er führte ein Wirtschaftssystem ein, das erfolgversprechend schien, obwohl bloss die Kapitalisten davon profitierten, während die Arbeiter «Terror funktioniert, indem Menschen isoliert werden. Im unterdrückt wurden. Die Kluft zwischen Arm Idealfall sitzt jede Familie zu Hause und schaut die offizielund Reich ist in Chile noch heute beschämend.

le Version der Nachrichten im Fernsehen.»

Das Gerichtsverfahren gegen Pinochet wurde nie abgeschlossen. Weshalb? Pinochet war durch die Amnestie, die er für sich selber geschaffen hatte, durch seinen Status als Senator auf Lebenszeit, durch seine Beziehungen und insbesondere durch das Militär geschützt. Ich glaube, sie wollten ihn nicht wirklich vor Gericht stellen, sie verzögerten alles, um ihm die Möglichkeit zu geben, in Frieden zu sterben, in seinem eigenen Bett. Wie eng war Ihre Beziehung zu Präsident Allende? Salvador Allende war der Cousin meines Vaters. In Chile bedeutet das, ich war seine Nichte. Mein Vater verliess meine Mutter, als ich noch sehr klein war, darum habe ich keine Erinnerungen an ihn, aber Salvador Allende stand meiner Mutter stets sehr nahe. Wir veranstalteten manchmal Picknicks oder Ausflüge an den Strand, wir besuchten ihn an Geburtstagen oder in den Ferien. Wie beurteilen Sie rückblickend sein politisches Wirken und seine Ideen? Salvador Allende träumte davon, Chile zu einem Land zu machen, in dem Gerechtigkeit und Gleichberechtigung herrschen. Er wollte tiefgreifende Reformen, eine friedliche und demokratische Revolution. Er war seiner Zeit voraus. In den Siebzigerjahren war die Welt durch den Kalten Krieg gespalten und die Vereinigten Staaten waren entschlossen, kein lateinamerikanisches Land dem Beispiel Kubas folgen zu lassen. Der CIA sabotierte Allendes Regierung von Anfang an. Die politischen

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Parteien der chilenischen Rechten waren gewillt, das Land zu zerstören, wenn das der Preis war, den sie zahlen mussten, um Allendes sozialistischen Traum zu vernichten. Werden die Wunden in Chile jemals heilen? Ja, alle Wunden heilen mit der Zeit. 40 Jahre sind seit dem Militärputsch vergangen, und bald wird Pinochet nur noch ein Name sein, mit dem man den Kindern in Gutenachtgeschichten Angst einjagt. ■ Aus dem Englischen von Karin Bosshard www.street-papers.org / Amnesty International

Eine wichtige Frauenstimme Isabel Allende (*1942) ist eine der bekanntesten Autorinnen der Welt. Ihr Romandebüt «Das Geisterhaus» markierte 1982 nicht nur den Beginn ihrer Schriftstellerkarriere, sondern machte sie auch zu einer wichtigen Frauenstimme in der männerdominierten Literaturszene Lateinamerikas. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin engagiert sich Allende stark für Menschenrechte. Nach dem Tod ihrer Tochter Paula im Jahr 1992 gründete sie im Gedenken an sie eine wohltätige Stiftung, die sich weltweit für den Schutz und die Stärkung der Rechte von Frauen und Kindern einsetzt. Von Allendes 20 Büchern sind mehr als 57 Millionen Exemplare verkauft worden. Ihr neuestes Werk ist der Roman «Mayas Tagebuch». SURPRISE 310/13


BILD: GREGOR BRÄNDLI

The bianca Story wollen einen Tunnel durchs Musikbusiness graben.

Crowdfunding Kleine Mäzene, grosse Mätzchen Fans finanzieren Kunst: Seit etwas mehr als einem Jahr gibt es in der Schweiz Crowdfunding-Plattformen, und die Schweizer zeigen sich als generöse Kulturförderer. Auch die Kreativszene ist inspiriert von der neuen Finanzierungsmöglichkeit und sprengt Grenzen.

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VON OLIVIER JOLIAT

len Kunstkubus ausgebautes Einzelstück. Für 10 000 Franken kam es unter den Hammer. Danach konnte man die fünf Songs gratis aus dem Internet herunterladen. Die Aktion brachte ihnen die Aufmerksamkeit von Publikum und Medien sowie schlussendlich den Deal mit dem grossen deutschen Indie-Label Motor Records. Nun gelingt es der Band erneut, den Zeitgeist nicht nur in ihre Musik, sondern in das Gesamtkonzept einzubinden. Denn obwohl Crowdfunding-Plattformen bei uns noch keine zwei Jahre existieren, sind sie ein Indikator, dass die «Geiz ist geil!»-Mentalität einer neuen Zahlungsmoral weicht. 66 Prozent der eingereichten Projekte, in Zahlen 402, wurden auf wemakeit.ch erfolgreich abgeschlossen. Die Bandbreite reicht von der Finanzierung einer Skatebowl über Theaterstücke bis zur Film-Doku «Die Rückkehr des lautesten Cabarets» über die Zürcher Kultband Baby

Nicht weniger als die Befreiung der Musik hat sich die kunstaffine Basler Band The bianca Story auf die Fahnen geschrieben. Nicht weniger als 90 000 Euro, also knapp 110 000 Schweizer Franken, wollen sie dafür auf der Schweizer Crowdfunding-Plattform wemakeit.ch sammeln. Gelingt dies, werden die Songs des Ende November erscheinenden Albums gemäss Band für alle gratis erhältlich sein. Eine Bezahl-Crowd finanziert also Musik für die gesamte Crowd – eine Form von sozialer Kulturwirtschaft? «Wir wiederholen eigentlich nur, was Jean-Jacques Rousseau vor gut 250 Jahren forderte: Die Musik muss sich frei bewegen können!», beruft sich The-bianca-Story-Chefkopf und -Stimme Elia Rediger auf den Genfer Querdenker, der weniger seiner Musikideen und Orchesterpamphlete denn seines Zündgedankens für die Französische Revolution wegen in «Wir nutzen das Crowdfunding auch, um die Musikfans zu die Geschichtsbücher einging. Auch der Befreiüberzeugen, dass Musik wie jede Kunst auch was kostet, ungsgedanke der Basler Band hat Revolutionäeinen Wert hat.» res, entsprechend umstürzlerisch klingt der Mobilisierungsjargon: «Wir hauen einen TunJail. Auch ein neues Magazin konnte dank Crowdfunding in den Druck nel in das verhärtete Gestein der Musikindustrie! Sei ein Kumpel! Mit gehen: Seit Anfang Jahr bietet das junge Redaktionsteam von Quottom deiner Hilfe graben wir uns in ein Land, wo Musik frei ist!» The bianca jungen Autoren und Künstlern eine Plattform. Am erfolgreichsten war Story stürzen mit ihrer Aktion zwar keinen König, aber immerhin die die Finanzierung einer Reportage für Das Magazin über den klimabegängigen Labelstrukturen und auch die bisherige Nutzung von Crowddingten Exodus im Himalayatal Mustang: Statt den anvisierten 5000 funding. spülte es 19 200 Franken in die Reisekasse. Bei den Musikprojekten, die bisher via wemakeit.ch Unterstützung Immer mehr Schweizer entdecken und schätzen die Möglichkeit, suchten, ging es darum, die fehlenden Tausender für eine Tournee, AlKultur direkt zu fördern. Und wenn was gefällt, darf es für die kleinen bum- oder Videoproduktion aufzutreiben. Anschubfinanzierung bieten Mäzene gerne auch es bitzeli mehr sein. 120 Franken gibt der «Backer» auch andere Schweizer Crowdfunding-Anbieter wie 100days.ch, projektgenannte Unterstützer hier durchschnittlich aus. Das ist Weltspitze. starter.ch oder c-crowd. Während letztere vor allem Firmen-Start-ups förDeutsche zahlen knapp die Hälfte, nur gerade fünf Dollar der Durchdert, sind die beiden anderen offen für Projekte aller Art. Branchenleader schnittsamerikaner. wemakeit.ch hat mittlerweile über 22 000 Unterstützer und fokussiert The bianca Story haben für ihren zweiten Versuch, ihre Musik zuauf Kunst-, Musik-, Film-, Design- und andere kreative Projekte. «Musik mindest von der klassischen Wertschöpfungskette durch Albumverkäuwar aber von Anfang an der am schnellsten wachsende Bereich», so fe zu befreien, den derzeit wohl passendsten und potentesten Partner wemakeit-Mitgründerin Rea Eggli. gefunden. Grösste Crowdfunding-Aktion, Bergbausymbolik, mit Kumpels einen Tunnel zur Befreiung der Musik graben: Das sorgt für AufseGeld gegen Instrumentalunterricht hen. Eine Diskussion um Aktion und Album ist jedenfalls entbrannt, Die Musikszene kreierte Anfang des neuen Jahrtausends in den USA ohne dass auch nur jemand gefragt hätte, wie denn die Songs klingen. auch die Idee, die Crowd, also die Masse, für die Finanzierung eines ProRediger: «Klassisches Marketing ist uns zu öde. Anstatt einfach ein Projektes einzuspannen. Wegen illegalen Downloads und anderen Verdukt anzupreisen, liefern wir lieber eine spannende Idee und starten so säumnissen fehlten vielen Labels wie Bands die Einnahmen, um Alben einen Diskurs.» zu produzieren. Die Kreativen schritten zur Selbsthilfe und nutzten das Die Diskussion läuft. Nach gut getimtem Start in einer grossen SonnInternet zur Mobilisierung ihres Umfelds. Die Bands fordern dabei keitagszeitung reagierte das Netz. Als Erstes meldete sich der beinahe in ne Spenden, sondern offerieren den Geldgebern je nach Betrag eine Vergessenheit geratene Schweizer Indie-Blog 78s.ch. Die bislang sehr Gegenleistung. Das Spektrum reicht von gängigen Bandartikeln wie Albianca-affine Redaktion geht ungewohnt kritisch ins Gericht mit dem bum, T-Shirt oder Verdankung im Booklet bis zu Instrumentalunterricht Projekt. Die Autorin stört etwa die Tatsache, dass die Produktion bereits bei einem der Musiker oder Wohnzimmerkonzerten der ganzen Truppe. gemacht ist und der Release Ende November steht. Nutzt hier eine mitt«Je besser die Belohnungsideen der Band, desto mehr Unterstützer finlerweile auch international etablierte Band mit Label im Rücken die den sie», weiss Eggli. 180 Bands erreichten seit der Aufschaltung der Finanzierungsquelle kleiner Bands für ein PR-Mätzchen im grossen Stil? Plattform im Februar 2012 ihr Ziel oder übertrafen es gar. Über eine MilRediger: «Wir weisen genau aus, wofür das Geld ist. Crowdfundinglion Franken flossen so in Bandkassen, macht 5556 Franken im Schnitt. Plattformen sind ja nicht einfach eine weitere Ricardo-Website, wo alles Etwa das Zwanzigfache wollen nun also The bianca Story und listen stur nach demselben Schema zu laufen hat. Hier wird Kreativität geförauf ihrer Seite detailliert auf, wofür der grosse Batzen ist. Studiomiete, dert, da passt eine neuartige Kampagne wie unsere perfekt.» Pressung, Promo, Urheberrechtsgebühren und Steuern, plus 3000 Euro Der Meinung ist auch Eggli: «Jede grössere Kampagne muss ihr PRals Lohn für jedes der zwischen Basel und Berlin pendelnden fünf Potenzial ausschöpfen, um Unterstützer zu mobilisieren und erfolgreich Bandmitglieder. Rediger: «Die Musik gratis abzugeben funktioniert erst, zu sein. Für die Zukunft der Plattform ist es spannend zu sehen, wie eiwenn wir uns Essen kaufen und die Miete bezahlen können. Wir nutne international renommierte Band wie The bianca Story ihre Möglichzen das Crowdfunding auch, um die Musikfans zu überzeugen, dass keiten nutzt, um auf den hohen Zielbetrag zu kommen.» Musik wie jede Kunst auch was kostet, einen Wert hat. Musik darf nicht nur Werbegeschenk sein für die T-Shirts! Musik muss frei sein!», so ReBald steigen auch Stiftungen ein diger. Zukunftsweisend ist das Projekt für wemakeit.ch nicht nur inhaltlich. Den Wert ihres Albums thematisierten die Basler, die neben der MuAb 2015 soll die bislang von Stiftungen und Kantonsgeldern unterstützsik teils auch als Künstler wirken, bereits 2009. Ihr «Unique Copy Alte Plattform selbsttragend sein. Zur Finanzierung dienen derzeit jene bum» versteigerten sie in einer Galerie als exklusives, zum multimedia-

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Himmlischer Geldsegen: Fans spendeten Amanda Palmer 1,2 Millionen Dollar für ihr neues Album.

chen die Macher von einem Erfolg, da noch nie so viel Geld per sechs Prozent jeder erfolgreichen Kampagne, die in die Kassen der Crowdfunding gesammelt wurde und fast 20 000 Menschen an die Idee Plattform fliessen. Damit werden die Löhne der Software-Entwickler glaubten. und Projektbetreuer sowie die Kommunikationskosten gedeckt. Bei einem bislang umgesetzten Volumen von 2,8 Millionen Franken in eineinhalb Jahren sind Kulturveranstalter und Institutionen nutzen die Plattform, das 168 000 Franken. Zu wenig für die 500 um zu spionieren, welche Kultur-Produktionen in einem halmeist in Teilzeit bewältigten Stellenprozente ben Jahr anstehen und wie sie beim Publikum ankommen. von wemakeit.ch. Zwar mauserte sich die Plattform in der kurzen Zeit nicht nur zum «Technik- und Design-Projekte in diesen Dimensionen sind bei uns Branchenprimus in der Schweiz, sondern auch zur zweitgrössten im noch nicht anzutreffen», führt Eggli zurück in die Schweizer Realität. deutschsprachigen Raum. Dennoch muss sie, um auf eigenen Füssen Die Entwicklungsmöglichkeiten von Crowdfunding liegen aber nicht zu stehen, weiter expandieren und grössere Budgets finanzieren. nur in der geografischen Expansion. Eggli sieht die Plattform auch als Der Gedanke liegt nahe, im zehnmal grösseren Deutschland Fuss zu Möglichkeit, verschiedene Akteure und Ideen zusammenzubringen. Gefassen. «Die Aktion mit The bianca Story ist für uns ein gutes Projekt, wiefte Kulturveranstalter und Institutionen etwa nutzen die Plattform um in Deutschland bekannt zu werden», bestätigt Eggli. Auf ihrer Seibereits, um zu spionieren, welche Kultur-Produktionen in einem halben te gibt es neben regionalen Schweizer Kanälen denn auch bereits einen Jahr anstehen und wie sie beim Publikum ankommen, um sie je nach für das Nachbarland. Anfang September wurde darüber das bislang Interesse gar mitzufinanzieren. Auch für Stiftungen sollte dieses Scougrösste Musikprojekt, das Album «Die Vergessenen» von Musiker, Auting interessant sein. Eggli: «Ideen für eine Zusammenarbeit mit Stiftor und Kultfigur Rocko Schamoni erfolgreich finanziert. Der Hamburtungen bestehen. Ein Channel mit dem Verein ‹dada 100 zürich 013› und ger holte mehr als die anvisierten 38 000 Euro. Verglichen mit den USA, einer gekoppelten Dadabank wird demnächst aufgeschaltet.» wo Crowdfunding schon seit zehn Jahren läuft, ist das noch immer ein Nach eineinhalb Jahren kann man resümieren: Crowdfunding ist in kleiner Betrag. 1,2 Millionen US-Dollar sammelte die amerikanische der Schweiz bestens angekommen. Immer mehr Kreative wie UnterSängerin Amanda Palmer letztes Jahr über Kickstarter.com, um ihr akstützer nutzen diese Möglichkeit. Doch um für seine Idee zu begeistern tuelles Album «Theatre Is Evil» aufnehmen und auf Tour gehen zu könund um sich von der zunehmenden Masse an Bewerbern abzuheben, nen. Das Ubuntu-Smartphone mit offenem Betriebssystem strebte über muss man neue Wege finden. Es muss ja nicht gleich ein teurer Tunnel die Indiegogo-Plattform gar 32 Millionen an. Etwas über zwölf Milliosein. nen kamen bis zur Ablauffrist Ende August zusammen. Trotzdem spre■ SURPRISE 310/13

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BILD: ZVG

Fremd für Deutschsprachige Ferienlügen Zum ersten Mal in meinem Leben mache ich Strandferien. Als wäre es die natürlichste Sache der Welt, steuere ich in Ulqin, Montenegro, eine der gelben Strandliegen an, weiche einem «Kalte Getränke!» rufenden Verkäufer aus und werfe profimässig mein Handtuch über die Liege. Umringt von gut gelaunten Touris aus dem Kosovo brüte ich mit meinem Buch in der Sonne, springe in die schäumenden Wellen und jauchze. Dabei war das so nie geplant. Vor rund eineinhalb Wochen, zum Ende des Schweizer Sommers hin, habe ich mich aufgemacht nach Georgien. Eine junge, rucksackreisende Weltbürgerin, die per Bus, Bahn und Fähre reist, wodurch sie nebenher von der reichen Kultur pflücken kann, die am Strassenrand Italiens, bunter Balkanstaaten und der türkischen Halbwüste gedeiht. Doch was als Übernachtungs-

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station gedacht war, dehnt sich aus auf drei Tage. Um mich herum lauter Kinder in Gummilatschen, halbgare Karikaturisten und sich beim Biss in lokale Spezialitäten fotografierende Pärchen. Was also hält mich hier? Diese Frage stellt mir hier freilich keiner. Dafür aber eine andere. Als ich auf der Rückfahrt ins Hotel mit dem Taxifahrer ins Gespräch komme und ihm von Georgien erzähle, schüttelt er den Kopf: «Verzeih mir die Frage, Schwester, du weisst sicher selbst am besten, was du tust – aber was suchst du dort?» Ich sage so allerlei über reisendes Lernen und inneres Wachstum, doch ohne Erfolg. Er kann mir bis in die regionale muslimische Metropole Istanbul folgen, weiter nicht. Meine urbanen, International English sprechenden Freunde dagegen würden den Sinn einer solchen Reise niemals anfechten. Sie haben ja, kaum waren die letzten kindlichen Heimwehgefühle abgestreift, ihre Sommer jahrein jahraus mit Interrailen oder dem Gitarrenspiel auf südamerikanischen Campingplätzen zugebracht. Doch mein Taxifahrer scheint von sowas wenig zu halten. In den folgenden Tagen stosse ich mehrmals noch auf dieses Unverständnis bei den «Locals». Ich beginne Georgien zu verschweigen und auch – zu lügen. Solche Ferienlügen sind nichts Neues für mich. In der Primarschule war fast alles, was ich in Aufsätzen zum Thema Ferien schrieb, erstunken und erlogen. «Diesen Sommer wa-

ren wir mit meinen Eltern und meinen zwei kleinen Geschwistern am Meer in Italien. Wir haben am Strand Sandburgen gebaut und Eis gegessen. Es war sehr schön», war da etwa zu lesen. Natürlich haben wir mit meiner Familie niemals Strandferien gemacht, weder in Italien noch sonstwo. Wir waren ja jedes Jahr in Mazedonien, wo die Grosseltern auf uns warteten und immer irgendein Verwandter unter unserer festiven Mitwirkung verheiratet oder beschnitten werden musste. Familienverpflichtungen, die kaum Zeit liessen, etwas Brauchbares für die Nacherzählung im Schweizer Aufsatzheft zu erleben. So half mir die Lüge dabei, kulturelle Schlaglöcher wie dieses provisorisch zu füllen. Während nun meine Eltern bis heute nie richtig Ferien gemacht haben, bin ich über die Jahre zu einem Kind der kapitalistischen Selbstverwirklichungsromantik herangereift und drauf und dran, erstmals Europa zu verlassen. Einfach so, aus Lust am Reisen. Bevor es jedoch losgeht, geniesse ich noch etwas die Sonne und freue mich daran, dass meine Schulheftlüge wahr geworden ist. Was ich in Georgien zu suchen habe, wird sich dann schon zeigen. SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 310/13


Theater Besser als Hamlet Theater kann Amüsement sein, aber auch Methode. Wie zum Beispiel Forumtheater. Es will Auseinandersetzungen ermöglichen, Denkanstösse verleihen und das Publikum dazu bringen, sich einzumischen.

Im Forumtheater steht nicht die Unterhaltung im Vordergrund, sondern ein Konflikt. Entwickelt wurde die Methode für landlose Bauern, und zwar vom brasilianischen Theatertheoretiker und Regisseur Augusto Boal (1931–2009), der in den Siebzigerjahren ins Exil musste. Er entschied sich für Deutschland, und von dort aus breitete sich seine Forumtheater-Idee im Nu über Europa aus. «Wir haben Boals Methode operationalisiert», sagt Karin Hoffsten vom Forumtheater Zürich. Sie sei ursprünglich Quereinsteigerin und beim 1996 gegründeten Verein für vieles zuständig: für’s Spielen, für’s Organisieren, für Projektarbeit. Oder auch mal für die Regie. «Wir sind zu fünft, und alle machen alles.» Gleich 13 Produktionen bietet das Team zurzeit an. Von «Friends», das sich mit Cybermobbing auseinandersetzt, bis zu «Schöne Aussichten» – einem Stück zum Thema Klimawandel. Für Forumtheater – ob in Zürich oder anderswo – gibt’s selten Karten, meist wird es gebucht. Von Schulen, Organisationen oder Firmen. «Unsere Themen müssen deshalb verkaufbar sein», sagt Hoffsten. «Aber wir wollen auch hinter diesen stehen können.» Das Forumtheater Zürich durfte unter anderem schon Banken oder Pharmazieunternehmen als Kunden begrüssen. «Sinn und Zweck ist jedoch nie die Profitmaximierung. Unser erklärtes Ziel ist es, den einzelnen Mitarbeiter zu stützen», so Hoffsten. Konkret wünscht sich das Forumtheater, dass die Teilnehmenden (es können gut und gerne an die hundert sein) bereit sind, sich den Fragestellungen ihres Lebens oder von Arbeitsprozessen zu stellen. Aber: «Die Themen werden nicht etwa nur diskutiert, vielmehr greift das Publikum aktiv ins Bühnengeschehen ein, kann die Szenen verändern und so die Konsequenzen des eigenen Handelns unmittelbar erleben», wie das Forumtheater Zürich sein Wirken skizziert. «Häufig geht es um Kommunikationsprobleme, immer um Konflikte», sagt Hoffsten. In einem ersten, fixen Teil gibt das Forumtheater Zürich eine rund 20-minütige Episode zum Besten, die sich einer bestehenden Problematik annimmt. Nach der Pause wird dieselbe Szene ein zweites Mal zur Aufführung gebracht. Doch erst jetzt soll und darf das Publikum einschreiten, sich beim Moderator melden, Stopp sagen oder Inputs liefern. «Jede Vorstellung ist anders», betont Hoffsten. Das sieht Martin M. Hahnemann ebenso. Der Schauspieler, der schon bei TV-Serien wie «Ein Fall für zwei» mitwirkte, spielt heute mehrheitlich Forumtheater. «Für mich die höchste Kunst von Schauspiel», sagt der 47-Jährige. Für das eigene Ego sei beim Forumtheater allerdings kein Platz, da gehe es einzig und allein ums Publikum. «Es ist einfacher, auf einer Bühne den Hamlet zu verkörpern, als beim Forumtheater einen leitenden Angestellten.» Grund: Es gibt keinen «richtigen» Hamlet, leitende Angestellte hingegen schon. Und mitunter nehmen auch solche SURPRISE 310/13

BILD: ATTILA GASPAR

VON MICHAEL GASSER

Überforderung, Umstrukturierung: Bei Problemen kommen die Schauspieler.

die Dienste des Forumtheaters in Anspruch und erkennen bereits den kleinsten inhaltlichen Fehler: «In Nürnberg musste ich mal vor Vertretern einer Autoelektronikfirma spielen. Alles Spezialisten. Bei diesem Forumtheater hatte ich die Hosen so voll wie noch nie zuvor.» Hahnemann ist vor allem für die Basler TheaterFalle tätig, die sich seit 26 Jahren auf medien- und theaterpädagogische Projekte spezialisiert. Minuten vor dem Interview hat der gebürtige Deutsche eine teaminterne Auswertung absolviert, zum Stück «Mein Beitrag – unser Erfolg». Eine Auftragsarbeit eines Basler Spitals, als Fortbildung angelegt und somit für alle Angestellten Pflicht. Im Fokus: Die Überforderung von Mitarbeitenden in einem Betrieb, der mitten in einer Umstrukturierung steckt. Forumtheater wolle Begegnungen und Auseinandersetzungen ermöglichen, Erlebnisse verschaffen und Denkanstösse verleihen, so Hahnemann. Komme eine Institution oder eine Firma auf die TheaterFalle zu, dann liege meist etwas im Argen. «Eine Fortbildung macht man nicht aus Jux, sondern um eine Situation zu verbessern.» Doch was passiert, wenn Teile der Anwesenden das Bestehen eines Problems verneinen oder das Ganze verniedlichen? Führt das nicht dazu, dass jene Zuschauer, die nur auf Anordnung von oben auftauchen, sich dem Geschehen verweigern und sich zurücklehnen statt eingreifen? «So erstaunlich das auch klingt, aber es kommt immer etwas vom Publikum. Immer», antwortet Karin Hoffsten. ■ www.forumtheater.ch www.theaterfalle.ch

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Die Dunkelheit, aus der die Körper

BILD: ZVG

TIZIANA DE SILVESTRO, BIEL BILD: COURTESY GALERIE MÄDER BASEL

©

Kultur

kommen.

Per Wolken-UFO in den Ehestand.

Buch Fragile Gestalten

Kino Grauer Alltag folgt bunten Träumen

Das «MÄD BOOK 2» kreist in Fotos und Texten um menschliche Körper und die Gefährdung des Daseins.

Der Roman «Der Schaum der Tage» des legendären französischen Poeten und Chansonniers Boris Vian ist in Frankreich ein Kultbuch. Jetzt hat es Oscar-Preisträger Michel Gondry verfilmt.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON THOMAS OEHLER

1947 präsentierte der Amerikaner Edwin Land eine revolutionäre Erfindung: die Sofortbildkamera. Jede Polaroid-Kamera war ein MiniaturFotolabor. Schon bald wurde der Firmenname zum Synonym für Sofortbildfotografie, für Schnappschüsse aus handlichen Pocket-Kameras. Kaum bekannt dagegen sind die 100 Kilo schweren Studiokameras, mit denen sich Polas im Format 50 x 60 Zentimeter schiessen lassen. Nur wenige unverkäufliche Exemplare gibt es davon, die nur nutzen kann, wer von Polaroid eingeladen wird. Eine der Kunstschaffenden, die mit diesen ungewöhnlichen Kameras arbeiten konnte, ist die Fotografin Tiziana De Silvestro. Einige ihrer grossformatigen Unikate, die 1991 entstanden, sind nun im «MÄD BOOK 2» des Basler Galeristen und Verlegers Franz Mäder abgebildet, der nach Katalogen, Grafik- und bibliophilen Editionen nun auch die Mäd Books herausgibt, von denen zwei pro Jahr erscheinen sollen – im handlichen Pocket-Format. Wieder haben fünf Autoren und Autorinnen – bereits bekannte und eine Jungautorin – Prosatexte und Gedichte beigesteuert, die das Bildthema widerspiegeln: menschliche Körper und Körperausschnitte, die aus dem belichteten Dunkel der Fotografien nur kurz aufzutauchen scheinen, als würden sie gleich wieder darin versinken. Fragile Gestalten, die Gedichten und Geschichten zur Seite gestellt sind, die von der Zerbrechlichkeit und Gefährdung des Daseins erzählen: Jochen Kelters wütend-melancholische Gedichte über Vergänglichkeit, Krieg und Vernichtung, Francesco Micielis Text über versteckte Sans-Papiers-Kinder, Gianna Molinaris Annäherung an einen Tierpräparator und seine «Archive des Lebens» oder ihre blutige Studie eines Mannes, der seine Finger im Zehn-kleine-Negerlein-Rhythmus verliert, Verena Stössingers Geschichten aus der nordischen Sagenwelt oder Vincenzo Todiscos traumnahe Reiseschilderung über die endlose Fahrt eines Zuges voller Emigranten. Jeder Text stellt den schönen, aber auch flüchtigen und schemenhaften Bildern eine Realität gegenüber, die der Dunkelheit, aus der die Körper kommen, näher ist, als das Licht, das diese daraus hervorholt. Vielleicht nicht für lange.

Eigentlich ist die Verfilmung fast unmöglich. Denn wie Regisseur Gondry («Eternel Sunshine of the Spotless Mind») selber sagt: «Das grösste Problem war für mich, dass Vian der Allgemeinheit gehört. Jeder, der das Buch kennt, hat seine eigene Version im Kopf.» Trotzdem war er frech genug für eine Adaption – und ausreichend fantasievoll: Seinem visuellen Einfallsreichtum haben wir manches hoch gelobte Musikvideo zu verdanken (für Björk, Chemical Brothers, Radiohead und andere). Genau der Richtige also, um Vians bilderreichen Surrealismus filmisch umzusetzen. Absurd und bonbonbunt geht es zu in diesem Film. So bekommen Tanzende comicartige Gummibeine, eine Plastikwolke führt Liebende in den siebten Himmel, das Essen zirkelt im Teller herum und Stühle sinken zusammen, wenn man sich setzen will. Zu Beginn erinnert die fast schon kitschige Heiterkeit an «Le fabuleux destin d’Amélie Pulain» – natürlich auch, weil die Geschichte in einem romantisierten Paris spielt und Audrey Tautou in der weiblichen Hauptrolle zu sehen ist. Nur ist bei Gondry die heile Welt brüchig: Die Kinderträume des Filmbeginns verwandeln sich in Albträume, je weiter die Story voranschreitet. Diese ist erbarmungslos simpel: Colin will sich verlieben, weil seine Freunde Chick und Nicolas ebenfalls verliebt sind. Er findet Chloe, heiratet sie, worauf diese prompt erkrankt und er sein ganzes Geld aufbringen und sogar zum ersten Mal arbeiten muss, um sie zu pflegen. Was letztlich trotzdem nichts nützt. Die Ästhetik des Films verändert sich dementsprechend: Die Räume werden enger und dunkler, die Farben verschwinden in desperatem Schwarzweiss, das tägliche Abenteuer weicht dem tristen Alltag, das fröhliche Dekor verblasst, und zurück bleibt nichts als der nackte Mensch. Im Film wie im Buch bleibt einem das anfängliche Lachen im Hals stecken. Aber ein Happy End muss ja nicht Bedingung sein, um – wie hier – trotzdem eine höchst gelungene Buchverfilmung und ein cineastisches Feuerwerk erleben und zufrieden dem dunklen Kinosaal entsteigen zu können.

MÄD BOOK 2. Edition Franz Mäder 2013. 20 CHF – erhältlich in der Galerie und in

Audrey Tautou, Omar Sy u.a. Der Film läuft ab 10. Oktober in den Deutschschweizer

ausgewählten Buchhandlungen. www.galeriemaeder.ch

Kinos.

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Michel Gondry: «L’écume des jours», Frankreich 2013, 94 Min., mit Romain Duris,

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BILD: ZVG

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Gewusst wie: Rehpfeffer hausgemacht.

Piatto forte Aus Fleisch und Blut Im Herbst ist Zeit zum Ernten. Und Zeit zum Essen. Schluss mit der sommerlichen, leichten Küche, jetzt wird wieder richtig gekocht – Rehpfeffer zum Beispiel.

01

VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Proitera GmbH, Basel

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advocacy ag, communication and consulting, Basel

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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

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Margareta Peters Gastronomie, Zürich

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Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

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Schweizer Tropeninstitut, Basel

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VeloNummern.ch

Ein Rehpfeffer vereinigt sämtliche Tugenden, die echtes Kochen und Essen ausmachen: viel Zeit und Geduld, Sachverstand, erstklassige Produkte und die Bereitschaft, sich bewusst zu machen, dass Tiere getötet werden, damit wir sie essen können. Wir kochen den Pfeffer nämlich aus Fleisch und Blut. Die ersten Vorbereitungen müssen zwei Wochen vor der Mahlzeit getroffen werden. Besorgen Sie sich beim Metzger – oder noch besser beim Jäger – Ihres Vertrauens eine Rehschulter und schneiden Sie das Fleisch in ragoutgrosse Stücke. Je nachdem, ob Ihr Herz eher für französische oder italiensche Weine schlägt, öffnen Sie nun einen guten Burgunder oder Barolo. Und hier kommt die erste Tugend ins Spiel: Verwenden Sie nur guten Wein. Aus billigen Grundzutaten kann nie eine grosse Mahlzeit entstehen. Also: 5 dl Wein, 1 Zwiebel mit 1 Lorbeerblatt und 2 Nelken besteckt, 0.5 dl Aceto balsamico, je 1 Zweig Wacholder und Arven, 5 Wacholderbeeren, 2 bis 3 Korianderkapseln, 2 bis 3 Salbeiblätter, 1 Zweig Thymian aufkochen. Die Beize erkalten lassen und über das Fleisch giessen, das in einer säurefesten Schüssel liegt. Mit einem Teller zudecken und an einen kühlen, aber nicht kühlschrankkalten Ort stellen. Jetzt kommt die zweite Tugend zum Zug: Mit viel Geduld muss der Pfeffer die folgenden zehn Tage mariniert und dabei täglich einmal gewendet werden. Achten Sie darauf, dass das Fleisch immer gut bedeckt ist. Jetzt zum Sachverstand: Am Tag der Zubereitung müssen die Fleischstücke scharf angebraten werden. Das klingt einfach, ist es aber nicht. Das Fleisch kommt zuerst zum Abtropfen für mehrere Stunden in ein Sieb. Erst wenn es nicht mehr aus dem Sieb tropft, ist es trocken genug. Mit in die Pfanne kommen eine Karotte und ein Stück Sellerie, abgelöscht wird alles mit der abgesiebten Beize. Salzen, pfeffern und für mindestens eine Stunde schmoren. Nun zum Blut: Das ist die ursprünglichste und natürlichste Substanz, um eine Sauce anzudicken. Sie werden aber heute kaum mehr frisches Rehblut kaufen können. Alternativ verwenden wir darum Blutwurst. Nachdem das Fleisch zart ist, die Sauce nochmals kräftig um die Hälfte einkochen lassen und dann mit dem Stabmixer die Blutwurst darunter ziehen. Dieses Essen erzählt Ihnen mit seinem Geschmack viele Geschichten: vom Wald, seinen Früchten und Aromen. Und von der Jagd, von Blut und dem Tod.

09

Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Applied Acoustics GmbH, Gelterkinden

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Buchhandlung zum Zytglogge, Bern

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hervorragend.ch, Kaufdorf

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Coop Genossenschaft, Basel

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Cilag AG, Schaffhausen

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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Novartis International AG, Basel

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Solvias AG, Basel

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Ernst Schweizer AG, Metallbau, Hedingen

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confidas Treuhand AG, Zürich

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ratatat – freies Kreativteam, Zürich

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G.A.T.E.S., Hôteliers & Restaurateurs SA, Basel

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Claude Schluep & Patrick Degen, Rechts-

Bezugsquellen und Rezepte: http://piattoforte.ch/surprise

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VON TOM WIEDERKEHR

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anwälte, Bern 25

homegate AG, Adliswil

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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BILD: ZVG BILD: REINER RIEDLER

Ausgehtipps

Kabel, Schläuche, Schalter: ein Stück Mensch.

Zürich Intensiv Es gibt Momente im Leben, da ist man sich nicht ganz sicher, ob sie tatsächlich noch zum Leben gehören oder doch schon eher zum Tod. Wenn das Leben nur noch an einem dünnen Faden hängt, übernimmt oft eine Maschine die Arbeit von Organen, sie springt ein für Körperfunktionen, sie wird zum Teil des Körpers: Knöpfe, Lämpchen, Schalter, Kabel, Datenblätter und Schläuche ersetzen Atmung, Herzschlag und Temperaturregulierung. Maschinen verbinden sich auch auf einem anderen Gebiet immer stärker mit dem Menschen: Sie filtern persönliche Informationen aus Datenströmen, analysieren das Individuum, machen aus Menschen verwertbare Zahlen. Maschinellen Kontrollinstrumenten kommt in Zeiten der Unsicherheit spezielle Bedeutung zu. Der Wiener Fotograf Reiner Riedler hat Spezialapparate aus dem Klinikalltag isoliert und macht damit ihre Funktion und Ästhetik auf eigene Art sichtbar: die Blutwäscheapparatur, der Dialyseapparat, der Inkubator, die im Klinikalltag über Leben und Tod entscheiden, werden zur Kunst. (dif)

Bruderliebe I: Luk und Adi rocken gemeinsam.

Am 17. Oktober singt Surprise gegen die Armut an.

Auf Tour Wenn Weyers wüten

Basel Stimme der Armen

Geschwister in Bands sind ein heikles Thema, fragen Sie mal die Kinks, Oasis oder Tegan and Sara. Vielleicht haben Luk (Alter vor Schönheit) und Adrian Weyermann deshalb bis dato nur in der Endphase von Crank kurz zusammen musiziert. Nun aber haben sie eine gemeinsame Band gegründet, die nur sie beide bilden. Ein Schlagzeug-Gitarre-Gesang-Duo also, und damit eine Besetzung, in der in den letzten Jahren die Two Gallants oder The Black Keys zu einiger Popularität gefunden haben. Ganz so rumpelnd und rabatzend wie diese US-Kollegen gehen The Weyers nicht ans Werk. Zwar drischt Luk, wie nicht anders zu erwarten war, zünftig auf Felle und Becken, und auch Adi wütet wacker an der Gitarre. Als Songwriter und Sänger aber mutiert Weyermann nun nicht plötzlich zum Wüterich, und darum gibt’s auf dem dieser Tage erscheinenden, von Roli Mosimann produzierten Album «Within» neben herzhaftem Rock auch raffinierte Refrains und wunderbare Gesangsmelodien. Eine erfreuliche Sache also – fürs Publikum. Wie sich die gemeinsame Band auf die Beziehung zwischen den Brüdern auswirkt, geht uns zwar nichts an, ein bisschen drauf achten werden wir bei den anstehenden Konzerten aber trotzdem. (ash)

Der 17. Oktober ist UNO-Welttag zur Überwindung der Armut. Nun, in einem Tag wird die Armut nicht überwunden werden können, aber das Datum kann helfen, wieder einmal ein bisschen genauer hinzuschauen und hinzuhören: Catherine Merz von der Kontaktstelle für Arbeitslose und notabene Mitbegründerin des Strassenmagazins Surprise in seiner frühen Form, tritt ans Rednerpult. Genauso wie Walter Brack, Leiter Abteilung Soziales und Stadtentwicklung der Christoph Merian Stiftung. Das Mikrofon ist aber auch offen für die Stimmen der Armutsbetroffenen. Und natürlich singt der Surprise Strassenchor. (dif) UNO-Welttag zur Überwindung der Armut, Do, 17. Oktober, Kundgebung auf dem Claraplatz 17 bis 18 Uhr (mit Grossrat Urs Müller), Veranstaltung in der Elisabethenkirche 19 bis 20 Uhr, (mit Catherine Merz und Walter Brack).

Anzeige:

Fr, 11. Oktober, 20:30 Uhr Kinski, Zürich; Sa, 12. Oktober, 19 Uhr, Chutt im Chrutt, Plaffeien; Fr, 18. Oktober, 21 Uhr, Café Mokka, Thun; Fr, 25. Oktober, 20 Uhr, Werkstatt, Chur.

Reiner Riedler: «Intensivstation», bis 25. Oktober, Mo bis Fr 8 bis 21 Uhr, Sa 8 bis 16 Uhr, EB Zürich Kantonale Berufsschule für Weiterbildung, Riesbachstrasse 11, Zürich. www.eb-zuerich.ch

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BILD: WIM DELVOYE / ARNDT & PARTNER, BERLIN

Bruderliebe II: Die Brüder Löwenherz im Angesicht des Todes.

Bern Tod in der Brücke

Gestochene Sau: In Sachen Tattoos gibt’s keine Grenzen mehr.

Winterthur Man trägt Tattoo Früher war es ein Statement: Totenköpfe, nackte Frauen und geheimnisvolle Zeichen, unter Schmerzen in die Haut gestochen, standen für ein Leben als Outlaw, Rebell oder zumindest Halbstarker. Heute sind Tätowierungen Mainstream: Blümchen, Vogelschwärme und verschnörkelte Buchstaben zeugen von einer Faszination für Rihanna & Co. oder sind im besten Fall ein Bekenntnis, dass man seine Kinder gern hat. Natürlich haben aber auch die Rocker und Knackis das Tätowieren nicht erfunden – es ist ganz im Gegenteil etwas sehr Altmodisches. Und auch ein Massenphänomen war es schon immer: Das Stechen von Verzierungen auf die Haut gehört zu den ältesten Handwerkspraktiken der Menschheit, es wurde und wird in allen Kulturen auf dieser Erde praktiziert. Wie und warum, lässt sich in einer Ausstellung des Gewerbemuseums Winterthur erfahren, die mit Bildern und Veranstaltungen das Tätowieren als Phänomen an der Schnittstelle von Kultur, Kunst und Design präsentiert. (fer)

Waren Sie schon einmal in der Monbijoubrücke? Nein, nicht auf, IN der Brücke. Falls nicht: «Vor Ort» führt sie hinein. Die junge – und doch aus gestandenen Schauspielern zusammengesetzte – Theatergruppe hat es sich zum Prinzip gemacht, unbekannte und unzugängliche Schauplätze auf Berner Stadtgebiet zu bespielen. Und wofür steht eine Brücke? Für einen Übergang auf die andere Seite, natürlich. In Bern im Speziellen jedoch noch für einen ganz besonderen: Schilder der Dargebotenen Hand und Netze, die das Runterspringen verhindern sollen, erinnern täglich daran, dass Berns hohe Brücken auch immer wieder für den Übertritt ins Jenseits herhalten müssen. Im neuesten Stück von «Vor Ort» geht es aber nicht um den Selbstmord, sondern um den Tod an sich. Dass wir ihn immer mehr aus unserem Leben ausschliessen, beschreiben sie als Paradoxon: Schliesslich sei der Tod die einzig gesicherte Zukunft. Dem Thema nähert sich die «Site-Specific-Theatre»-Gruppe anhand von Astrid Lindgrens Roman «Brüder Löwenherz» und dem darin beschriebenen Kampf Geschwisterliebe contra Angst vor dem Tod. Neue Ansichten der Stadt und Einsichten ins Jenseits – das sind doch mal zwei gute Gründe für einen Theaterbesuch. (fer) «Bruder Tod», Theaterstück der Gruppe Vor Ort, Mi, 16., Sa, 19., So, 20., Mi, 23., Do, 24., Fr, 25., Sa, 27. und Do, 31. Oktober, Fr bis So, 1., 2. und 3. November, jeweils 20 Uhr, in den Pfeilern und im Innern der Monbijoubrücke, Start Dalmaziquai 69, Bern.

Ausstellung «Tattoo», noch bis 14. Juni 2014, Gewerbemuseum Winterthur. Für Sonderführungen, Filmreihen und Konzerte siehe http://gewerbemuseum.ch

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Sängerinnenporträt «Ich kann machen, was ich will» Nadine Gartmann (52) macht das Singen im Surprise Strassenchor happy. Sie lebt mit Schwester, Mutter und Haustieren in einem eigenen Haus und möchte gerne wieder einmal nach Griechenland in die Ferien fahren.

«Der Surprise-Chor ist für mich wie eine zweite Familie. Wir sind zehn, zwölf Leute, die sich einmal die Woche in einer Musikschule beim Basler Aeschenplatz treffen. Sie sind alle nett und lieb, deshalb hat es mir von Anfang an gut gefallen. Singen macht mir Spass, und ich finde es schön, Lieder aus den unterschiedlichsten Kulturen einzuüben und vorzusingen. Singen tut mir gut, man ist happy dabei. Mir geht’s gut. Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich war immer zufrieden damit. Einmal, vor langer Zeit, hatte ich eine Depression, als es Probleme gab mit meiner damaligen Chefin. Ich arbeitete in einer Kantine und meine Vorgesetzte mochte mich nicht. Das ist lange her, und seither verläuft mein Leben angenehm. Ich arbeite für einen Mittagstisch in der Küche, rüste und putze, und manchmal spiele ich auch mit den Kindern. Es ist stressig, das find ich gut. Ich mag es, wenn etwas läuft und man nicht rumstehen muss. Ob ich Träume habe? Ich wüsste nicht, welche. Ich schaue von Tag zu Tag und nehme alles, wie es kommt. Ich bin Optimistin. Das ist ja auch nichts Schlimmes, oder? Aufgewachsen bin ich in Münchenstein, einem Vorort von Basel. Jetzt wohne ich mit meiner Mutter und Schwester in einem grossen Haus am Rand von Aesch. Meine Schwester war früher verheiratet, nach ihrer Scheidung hatten wir die Idee, gemeinsam zu leben, sie, ich, unsere Mutter, dazu Hunde, Katzen und Meerschweinchen, von jedem zwei, also haben wir zusammengelegt und ein Haus gekauft. Mir gefällt das sehr. Ich kann machen, was ich will, niemand schickt mich ins Bett, egal ob es Mitternacht ist oder zwei Uhr morgens. Ich habe immer etwas zu tun, im Garten kümmere ich mich um das Unkraut oder streiche einen Zaun. Ich will nicht in einem Block wohnen, schon gar nicht allein. Ich weiss ja nicht, wie lange das noch so geht, ob meine Schwester auswandert eines Tages, oder ob meiner Mutter was zustösst, sie ist ja schon alt. Aber ich mach mir keine Sorgen deswegen, wir werden sehen, was passiert. Es ist nicht immer einfach, wir haben schon unsere Auseinandersetzungen. Ich streite nicht gerne, aber in unserer Familie sagen alle gerade heraus, was sie denken. Manchmal explodiert es, doch dann ist es wieder gut. Es braucht viel, bis ich laut werde, wütend werde ich eigentlich nur, wenn mich jemand mit dem, was er sagt, verletzt. Tiere mochte ich schon immer. Und kleine Kinder. Früher wollte ich eigene Kinder haben, jetzt bin ich 52 Jahre alt und es ist sehr okay, keine zu haben. Ich hab oft ein bisschen Geld damit verdient, auf die Kinder von anderen aufzupassen. Abends war ich dann ganz froh, dass ich für mich sein konnte. Tiere sind unkomplizierter, ich liebe sie alle, na ja: alle ausser Schlangen. Wir hatten von klein an immer Tiere um uns. Vor den Ferien mussten wir unsere Hündin Sinti einschläfern lassen. Es stand sehr schlimm um sie, sie konnte kaum atmen. Wir haben den Tierarzt bestellt, der hat sie bei uns im Haus eingeschläfert. Ich habe sie in den Armen gehalten, bis sie eingeschlafen ist. Als sie tot war, hat er sie in einen schwarzen Plastiksack gesteckt, dann fuhr ein schwarzes

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BILD: REB

AUFGEZEICHNET VON RENATO BECK

Auto vor und er hat den Sack mit der toten Sinti ins Auto getan. Das habe ich so brutal gefunden. Er hat sie zwar mitgenommen, aber sie ist immer noch in meinem Herzen. Mein Vater ist vor 20 Jahren gestorben, er war in der Politik bei den Sozialdemokraten. Als er noch lebte, sind wir viel herumgereist. Die Politik interessiert mich nicht, aber ich reise gerne. Das ist heute nicht mehr so einfach wegen den Hunden. Es fällt mir schwer, sie zuhause zu lassen. Meine Mutter ist auch nicht mehr die jüngste und die Hunde sind sehr lebhaft. Ich will wieder nach Griechenland ins Haus von Doris, unserer besten Freundin, die auch im Surprise-Chor mitsingt. Vielleicht fahren wir nächsten Frühling hin. Mit dem Auto, meine Schwester fährt. Dann können die Hunde auch mitkommen und die Doris. Letztes Mal war es wunderschön. Wir haben im Meer gebadet, haben Filme geschaut und viel geredet. Oft kam Besuch vorbei. Und einmal haben wir unter freiem Himmel übernachtet. So ist mein Leben. Ziemlich gut, oder?» ■ SURPRISE 310/13


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, U-Abonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Andreas Ammann Bern

Jela Veraguth Zürich

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Kurt Brügger Basel

Fatima Keranovic Basel

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Marika Jonuzi Basel

Peter Gamma Basel

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Jovanka Rogger Zürich

Ralf Rohr Zürich

Anja Uehlinger Aargau

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

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310/13 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 310/13

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

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Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Geschenkabonnement für: Vorname, Name Impressum

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Reto Aschwanden (Nummernverantwortlicher), Florian Blumer, Diana Frei, Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Amir Ali, Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Lori Baba, Renato Beck, Andrea Ganz, Michael Gasser, Ole Hoff-Lund, Olivier Joliat, Thomas Oehler Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17 000, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Surprise Da läuft was Surprise Charity-Run 2013 Ein voller Erfolg! Lange hatten wir ihn herbeigesehnt, am 22. September war es so weit: Bei strahlendem Sonnenschein und ausgelassener Stimmung gingen 30 engagierte Läuferinnen und Läufer für Surprise an den Start des IWB Basel Marathons 2013, um gemeinsam ein sportliches Zeichen für soziale Gerechtigkeit zu setzen. Neben Verkaufenden, Sympathisantinnen und Mitarbeitern waren mit dem Teufelhof Basel und der Kurierzentrale Basel auch zwei sozial sehr engagierte Firmen in unserem Läufer-Team vertreten. Das ganze Team sammelte im Vorfeld mit unermüdlichem Einsatz zahlreiche Spenden für Surprise und seine Verkaufenden. Dafür möchten wir uns nochmals herzlich bei allen unseren Läuferinnen und Läufern bedanken! Unser Dank geht ebenfalls an unsere grosszügigen Sponsoren sowie die Gesundheitskasse EGK, welche auf Eigeninitiative Spendengelder für Surprise sammelte und diese am Schluss des Anlasses in Form eines Checks überreichte. Für musikalische Leckerbissen abseits der Rennstrecke war der Surprise Strassenchor besorgt: Mit fidelen Liedern aus aller Welt verstand er es, das Publikum stets von Neuem zu begeistern, und reihte unter der Regie von Chorleiterin Ariane Rufino dos Santos Ohrwurm an Ohrwurm. Gönnen auch Sie sich einen einmaligen Ohrenschmaus: Das nächste Konzert des Strassenchors findet am 17. Oktober 2013 in der Elisabethenkirche in Basel statt. Wir blicken auf einen grossartigen Charity-Run zurück und möchten uns bei allen für die breite Unterstützung und Solidarität bedanken, die Surprise, seinen Verkaufenden und seinem sozialen Engagement entgegen gebracht wird! Christian von Allmen Leiter Fundraising und Marketing bei Surprise

Unsere Sponsoren:

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Surprise – der soziale Stadtrundgang Erleben Sie Basel aus einer neuen Perspektive! Drei Surprise-Stadtführer erzählen aus ihrem Alltag als Ausgesteuerte, Obdachlose und Armutsbetroffene. Sie führen die Besucher auf drei verschiedenen Touren in ihr öffentliches Wohnzimmer oder zum privaten Notschlafplatz. Buchen Sie eine Tour für Ihre Firma, Schulklasse oder Ihren Verein! Weitere Informationen zu den Touren und Terminen finden Sie auf www.vereinsurprise.ch/stadtrundgang oder unter Tel: 061 564 90 90. Kosten: Erwachsene CHF 15.– / Kinder, Schüler, Auszubildende CHF 9.–


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