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Das Goldene Kalb Der Tanz ums Auto endet im Kater Trommeln und pfeifen gegen das Heimweh: Morgestraich in Übersee

Der Cowboy und die «Schwulenkrankheit» – Aids-Therapie damals und heute

Nr. 320 | 28. Februar bis 13. März 2014 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Nehmen Sie an einem «Sozialen Stadtrundgang» teil! Erleben Sie Basel aus einer neuen Perspektive! Tour 1: Konfliktzone Bahnhof – vom Piss-Pass zur Wärmestube. Dienstag, 11. März um 9 Uhr. Tour 2: Kleinbasel – vom Notschlafplatz zur Kleiderkammer. Mittwoch, 9. April um 9 Uhr. Tour 3: Kleinbasel – von der Sozialhilfe zur Selbsthilfe. Dienstag, 18. März um 9.30 Uhr. Anmeldungen unter rundgang@vereinsurprise.ch oder 061 564 90 40. Weitere Infos unter www.vereinsurprise.ch/stadtrundgang

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Titelbild: REUTERS/Yuriko Nakao

Editorial Schweizerische und andere Ausländer BILD: ZVG

«Ich will mich dem zunehmend fremdenfeindlichen Klima in der Schweiz nicht mehr aussetzen.» Die Aussage des deutschen ETH-Professors Christoph Höcker bringt die Gefühlslage vieler Ausländer – nicht erst seit dem 9. Februar – in der Schweiz auf den Punkt. Für Höcker war die Annahme der Masseneinwanderungsinititative der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte: Seit 1999 doziert er als Grenzgänger in Zürich, nun reichte er die Kündigung ein. Das ständige «Deutschen-Bashing» in den Kommentarspalten der Online-Zeitungen, die Demolierung seines Autos mit deutschem Nummerschild, nun die Masseneinwanderungsinitiative: Höcker hat genug. FLORIAN BLUMER

Vielen Arbeitsmigranten, die seit Jahrzehnten hier wohnen, geht es ähnlich. Nur REDAKTOR können Sie nicht so einfach kündigen. Minarettinitiative, Ausschaffungsinitiative, Masseneinwanderungsinitiative: mit unschöner Regelmässigkeit wird in den letzten Jahren Menschen, die unsere Büros putzen, unsere Alten pflegen oder unsere Häuser bauen, von Plakatwänden mitgeteilt und danach an der Urne bestätigt: Wir wollen euch hier nicht. Wer in diesen Tagen mit Migranten spricht, bekommt zu hören, dass die Botschaft ankommt – lesen Sie dazu auch die Kolumne «Fremd für Deutschsprachige» in diesem Heft. Wie schon im Abstimmungskampf geht auch im öffentlichen Verarbeitungsprozess des Jas zur Masseneinwanderungsinitiative die Stimme derjenigen unter, die am direktesten davon betroffen sind. Für Surprise waren der Blick auf Ausländer- und Asylpolitik aus Sicht der Migranten sowie deren Lebenswelt schon immer zentrale Themen. Nicht zuletzt, weil diese besonders gefährdet sind, in eine prekäre Situation zu geraten, weshalb auch viele Surprise-Verkäufer ausländischer Herkunft sind. Wir werden dranbleiben. In diesem Heft finden Sie neben Shpresa Jasharis Kolumne das Porträt eines Surprise-Verkäufers aus Eritrea, Carlo Knöpfels statistische Analyse zum Schlagwort «Dichtestress» und einen Kommentar zur Abstimmung in Verbindung mit unserem Titelthema, dem Auto – das zumindest den Städtern laut Umfragen massiv mehr Sorgen bereitet als die Ausländer. Dazu berichten wir über Ausländer in Toronto und New York: Auswanderer aus Basel, die in ihrer neuen Wahlheimat mit Piccolo, Trommel, Pauken und Trompeten ihre Traditionen aus der alten Heimat feiern – und freundlich von der Polizei eskortiert werden, damit sie dabei vom Verkehr nicht gestört werden. Wir wünschen eine anregende Lektüre, Florian Blumer

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 320/14

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10 Auto Schöner Schein BILD: REUTERS/TORN HANAI

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Inhalt Editorial Ausländerdebatte ohne Ausländer Die Sozialzahl Alles dicht? Aufgelesen Der Superpenner Zugerichtet Tonys grosse Chance Mit scharf! Schuld ist das Auto Starverkäufer Marko Sander Porträt Gourmessa für die Gasse HIV/Aids Cowboy mit der «Schwulenkrankheit» Fremd für Deutschsprachige Die Schweiz hat gewonnen? Anna Aaron Science-Fiction und Cyber Space Kultur Abenteuer Quantenphysik Ausgehtipps Schwule Soldaten Verkäuferporträt Lebensgefährliche Flucht Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP Da läuft was Surprise beim Starfotografen

Zum Start des 84. Auto-Salons in Genf werfen wir einen schonungslosen Blick hinter die glitzernde Fassade: Ein Rückblick zeigt, wie sich das Auto innert weniger Jahrzehnte vom Hoffnungsträger zur Stadt- und Landplage entwickelte. Architekturkritiker Benedikt Loderer beschreibt, wie das Auto die dörfliche Schweiz zerstörte und Surprise-Kolumnistin und Auto-SalonHostesse Yvonne Kunz plaudert aus dem Nähkästchen.

15 Medizin Der einsame Kranke BILD: NICOLE QUINT

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Herr Falcone kämpft die halbe Nacht mit seinen Thrombosestrümpen und am Schluss mit den Tränen. Herr Seidel wird nebenbei noch schnell der Schleim abgesaugt und Herr Herzog ringt mit der ÜberlebensPrognose 50:50. Alle drei kämpfen sie gegen die Einsamkeit. Zum Tag der Kranken am 3. März: ein Spitalbesuch im Vierbettzimmer 57.

17 Fasnacht Morgestraich in Kanada

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BILD: ZVG

Was macht ein Basler in Toronto? Morgestraich, nadiirlig! Das Ambiente ist zwar nicht ganz so stimmungsvoll wie am Rhysprung und sie brauchen eine Polizeieskorte, um nicht überfahren zu werden – doch genauso wie die «Basler Zepf Ziri» und die «Nej Yorgg Bebbi» pfeifen, trommeln und schränzen die «Canadysli» damit erfolgreich gegen die «Schweizer Krankheit» Heimweh an.

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Wissen Sie, was Dichtestress ist? Sie können ihn in der Sauna kurz vor einem Aufguss erleben oder beim Elektronikhändler, wenn ein neues iPho ne auf den Markt kommt, und natürlich in Live-Konzerten angesagter Acts. Und seit neuestem wird das Bahnerlebn is der Pendlerinnen und Pendler ebenfalls als Dichtest ress bezeichnet. Natürlich sollen die Ausländerinnen und Ausländer daran schuld sein, dass wir hin und wieder im Stehen zur Arbeit fahren. Die Befunde der eben veröffen tlichten Strukturerhebung des Bundesamtes für Statistik geben allerdings keinerlei Hinweise, welche diese Behaup tung stützen würden. Die Erwerbstätigen in der Sch weiz sind Pendlerinnen und Pendler. Neun von zehn beru fstätigen Personen arbeiten ausser Haus. Das gilt für Füh rungskräfte ebenso wie für Verkäuferinnen oder Hilfsarbeite r. Vergleicht man das Pendelverhalten nach Staatszugeh örigkeit, finden sich sogar Argumente, die gegen den von den Ausländern verursachten Dichtestress sprechen. 61 Pro zent aller Schweizerinnen und Schweizer haben eine Pen delzeit von weniger als einer halben Stunde zwischen Wohnund Arbeitsort. 29 Prozent müssen eine halbe Stunde und mehr in Kauf nehmen. Bei Erwerbstätigen, die aus dem EU- und EFTA-Raum stammen, belaufen sich die entsprec henden Zahlen ebenfalls auf 61 und 29 Prozent. Arbeits kräfte, die aus aussereuropäischen Ländern migriert sind , weisen zu 56 Prozent eine Pendelzeit von maximal einer halben Stunde aus, 35 Prozent von ihnen sind eine halb e Stunde und länger unterwegs. Diese Zahlen sind wenig alarmierend. Natürlich ist die Zahl der Pendlerinnen und Pendler mit dem Anstieg der Erwerbsbevölkerung ebenfalls gestiegen. Und richtig ist auch, dass der Anstieg der Erw erbsbevölkerung wesentlich

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ht. Das Pendelverhalten auf die Arbeitsmigration zurückge aber kaum. nach Nationalität unterscheidet sich gerne sitzen würde, Wer im Tram oder Zug steht und zu überzeugen. Ein den vermögen solche Statistiken kaum öffentlichen Verkehr ist Ausbau der Infrastruktur für den en allerdings andere unumgänglich. Zweckmässiger wär es darum, der ZersiedeMassnahmen. Insbesondere geht r Teil der Pendelzeit ist lung Einhalt zu gebieten. Ein gute die Menschen in der nämlich dadurch verursacht, dass » wohnen und in der Schweiz sehr gerne «auf dem Land über eine Verdichtung Stadt arbeiten. Hier setzt die Debatte nkt, dass allein in Londes Wohnens ein. Wenn man bede Moskau sogar über elf don mehr als acht Millionen und in man das noch brachnnt Millionen Menschen leben, erke diese bereits in Gang Bis liegende Potenzial in der Schweiz. nen allerdings WirWoh gekommene Umorientierung beim testress wohl anhalten, kung entfalten kann, wird der Dich Massnahmen getroffen wenn nicht kurzfristig wirkende verschiedenen Pendelwerden. Diese gibt es. Es gilt, die Schülerinnen und Schüströme zeitlich zu entflechten. Die Zeit auf den Weg maler müssen sich nicht zur gleichen iter in den industrielchen wie die Arbeiterinnen und Arbe t zur selben Zeit öffnen len Werken, die Läden müssen nich Flexibilisierung bei den wie die staatlichen Ämter. Mehr Das braucht allerdings Pendelzeiten ist also die Losung. mit Blick auf das geweitreichende Anpassungen, etwa sen in der Familie oder meinsame Frühstück oder Abendes pen und Horten. Zu auf die Betreuungszeiten in den Krip testress aushalten? Dich s etwa kompliziert? Also dann doch Gespräch nutzen. ein für Man könnte die Enge ja auch mal aus den Ohren sel Stöp sen Nur müsste man dann die weis nehmen. @VE REIN SUR PRIS E.CH CAR LO KNÖ PFEL (C.K NOE PFEL M BILD : SIMO N DRE YFU S, WOM

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Superpenner Dortmund. «Der Superpenner: Seine Muskeln sind fester als sein Wohnsitz» – das ist der Titel eines Comic-Hefts, das die Käufer des Berliner Strassenmagazins «strassenfeger» im Januar als Beilage erhielten. Darin wird die Geschichte eines Berliner Bettlers erzählt, dem der Bierkonsum plötzlich Zauberkräfte verleiht. Das Medienecho war enorm. Und auch wenn das Wort «Penner» Anlass zu Kritik gab: Noch nie kamen so viele Strassenverkäufer in den Deutschen Mainstream-Medien zu Wort.

Indien per Rollstuhl Schleswig-Holstein. Der deutsche Reisefotograf Andreas Pröve ist seit mehr als dreissig Jahren querschnittsgelähmt. Bereits wenige Wochen nach seinem Motorradunfall trat er seine erste Reise an: Indien. Allein. Im Rollstuhl. Seither ist Pröve mehrmals jährlich irgendwo auf der Welt unterwegs. Kürzlich etwa erschien sein Buch «5700 Kilometer von Vietnam bis ins Hochland von Tibet». Wie das geht? Pröve: «Man darf sich von seinen Träumen nicht abbringen lassen. Wenn du etwas willst, dann schaffst du es auch.»

Ironie der Maske Graz. Die Guy-Fawkes-Maske ist das Gesicht der Anonymous- und Occupy-Bewegung. Das ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass das Design der beliebten Maske urheberrechtlich geschützt ist. Dass somit gerade ein gigantischer Medienkonzern wie Time Warner von den Aktivistinnen und Aktivisten profitiert, die auch gegen das Urheberrecht und ACTA (Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen) kämpfen, ist eine (weitere) kapitalistische Paradoxie. Oder: Wo und unter welchen Arbeitsbedingungen wird die rund drei Franken teure Maske wohl produziert?

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Zugerichtet Stehlen gegen die Leere Tonys kleines Gesicht mit den harten Zügen ist verschlossen wie ein Kellerverlies, das ein finsteres Geheimnis birgt. Ob der 23-Jährige Freude empfinden kann, Liebe oder andere positive Gefühle, ist nicht zu erkennen. Die Richterin weiss Bescheid über Tonys Zeit, die bei den meisten Menschen Kindheit heisst. Kindheit und ein Zuhause, das fällt ja in der Regel zusammen. Tony kann damit nicht aufwarten, nur mit zerrütteten Familienverhältnissen, aus denen man den damals Fünfjährigen befreite. Es folgten Heimaufenthalt und Pflegefamilien. Mit fünfzehn trinkt er regelmässig. Er steigert sich bis zu einer Flasche Schnaps am Tag. «Warum?», fragt die Richterin. «Ich kam mir überflüssig vor, wie das fünfte Rad am Wagen.» Mit 18 ist er auf sich allein gestellt. «Irgendwie hab ich den Tag verbracht», sagt er. Leere Zeit, leeres Leben. Er lernte einen jungen Mann kennen, zusammen nahmen sie Drogen, tranken, schliefen bis in den Nachmittag hinein, schauten fern, später gingen sie auf Diebestour. Zu den Diebstählen kann er nur sagen, dass es stimmt. Vier Packungen Rasierklingen, eine Flasche Wodka, eine Tüte Salznüssli hat er in einem Nachtkiosk gestohlen. «Ich wusste nicht, was ich machen sollte, es war mein Geburtstag, da gehts mir nie besonders gut.» Er hatte bereits eine Flasche Wodka geleert und wollte dann im Laden noch eine holen. Als man ihn ein siebtes Mal bei einem Diebstahl erwischte, hatte er ein Balisong, ein sogenanntes Schmetterlingsmesser, bei sich, dessen Erwerb und Besitz in der Schweiz verboten ist. Weshalb er wegen Diebstahls unter Mitführung einer gefährlichen Waffe und wegen Widerhandlung

gegen das Waffengesetz angeklagt ist. Benutzt hat er das Messer nicht beim Diebstahl, auch bestreitet er, es für einen allfälligen Einsatz mitgenommen zu haben. «Ich war obdachlos», sagt Tony, «ich trug immer mein ganzes Hab und Gut auf mir.» Eine Bewährungsstrafe läuft noch, und eigentlich gibt es da kein Pardon. Die junge Verteidigerin setzt zu ihrem Plädoyer an. «Als ich ihn kennenlernte», berichtet sie, «war er absolut am Nullpunkt. Es war klar: entweder Gefängnis oder er muss etwas für sich tun. Betreutes Wohnen reicht nicht, er braucht die ambulante Therapie. Er hat sich lange geweigert, aber dann ist die Einsicht gekommen. Den Job in einem Pflegeheim hat er durchgehalten. Das Tätigsein macht ihm Freude. Er sucht Struktur und ein freundliches Gegenüber, ihm fehlt das Gefühl, etwas wert zu sein. Woher soll es auch kommen?» Diese junge Frau ist Tonys Glück. Klar, distanziert, freundlich und ohne falschen Eifer überzeugt sie die weibliche Gerichtsbarkeit davon, dass es sich lohnen könnte, diesen jungen Mann nicht senkrecht in die Tiefe zu schiessen. Die Richterin gibt Tony ein letztes Mal Bewährung und ordnet eine ambulante therapeutische Massnahme zur Behandlung seiner Alkoholsucht an. «Kein Mensch ist eine Insel», sagt sie. Tonys Problem sei nicht der Schnaps, sondern die Menschenleere in seinem Leben. Wenn man es recht bedenkt, ist Tonys Leben inzwischen gar nicht mehr menschenleer – Betreuer, Sozialarbeiterin, Bewährungshelfer. Er muss vielleicht nur noch begreifen, dass das seine Chance ist. * persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 320/14


Mit scharf Den Massenverkehr stoppen Das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative deckte auf, dass viele Menschen in den Agglomerationen unzufrieden sind. Das hat wahrscheinlich mehr mit dem Auto zu tun als mit der Migration.

Wie immer nach überraschend angenommenen SVP-Initiativen um Ausländerfragen geht eine Floskel um: Man muss die Sorgen und Ängste der Bevölkerung ernster nehmen. In diesem Falle, so hat man in einer ersten Analyse herausgefunden, handelt es sich vor allem um die Sorgen und Ängste der Agglomerationsbevölkerung. Denn diese hat mit ihrem Meinungsumschwung den Ausschlag für das Ja an der Urne gegeben. Tatsächlich haben die Regionen in Stadtnähe einen rasanten Wandel hinter sich: Reihenweise haben sich im Verlauf der letzten Jahre und Jahrzehnte Dörfer in Agglo-Gemeinden verwandelt: Ein rasantes Bevölkerungswachstum mit entsprechender Bautätigkeit hatte zur Folge, dass man die Nachbarn nicht mehr kennt, das Vereinsleben verkümmert, der Zusammenhalt in der Dorfgemeinschaft auseinanderfällt. Die ökonomische Rationalisierung hat ihr Übriges dazu getan: Das Dorflädeli ist eingegangen, die Post ist zu, der Stammtisch verwaist. Dazu kommt, dass der typische Agglo-Bewohner Pendler ist. Und Studien im Bereich der empirischen Glücksforschung haben aufgezeigt: Pendeln macht unglücklich. Der Verdacht liegt nahe, dass am ganzen Elend nicht in erster Linie die Ausländer Schuld sind, obwohl auch sie zum Teil in die Agglo ziehen, obwohl auch sie dann mit dem Zug oder dem Auto in die Stadt fahren. Es muss ein besserer Schuldiger her. Wie wär’s mit dem Auto? Der Architekturkritiker und schweizweit bekannte «Stadtwanderer» Benedikt Loderer jedenfalls kam zum Schluss, dass dieses für den Niedergang des Dorfes verantwortlich sei. Das Auto habe das Dorf für die Städter erst erreichbar gemacht, der Massenverkehr habe die Dörfer überfahren und deren Identität zerstört (siehe S. 14).

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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«Massenverkehr stoppen» statt «Masseneinwanderung stoppen» also? Das würde den geplagten Agglo-Bewohnern wahrscheinlich schon eher helfen. Doch auch das Auto kann nicht alleine an der ganzen Misere schuld sein. Schon eher ist es die gesamte Wirtschaftsentwicklung, die die dörfliche Schweiz in eine zersiedelte Agglo-Schweiz umgepflügt hat. Bundesrätin Simonetta Sommaruga gab direkt nach Bekanntwerden des Abstimmungsresultats zu Protokoll, dass sie bei ihrer Tour durchs Land Überraschendes festgestellt hatte: Viele hätten ein Unbehagen mit dem ungebremsten Wirtschaftswachstum geäussert. Man müsse sich nun mit der Frage befassen, wie das Wachstum in Zukunft verträglicher gestaltet werden kann. Diese Einsicht kommt etwas spät. Der Abstimmungskampf war weitgehend den Wachstumsturbos von Economiesuisse überlassen worden, mit den bekannten Folgen. Es wird Zeit, dass die Sorgen der Bevölkerung tatsächlich ernster genommen werden – indem man nach den tatsächlichen Ursachen ihres Unbehagens forscht und diese klar benennt. Und dies möglichst vor der nächsten Ausländerinitiative der SVP. ■

BILD: ZVG

VON FLORIAN BLUMER

Starverkäufer Marko Sander Bea Latal aus Zürich schreibt: «Seit langer Zeit schon kaufe ich Surprise beim Verkäufer Marko Sander vor der Migros am Kreuzplatz. Marko Sander, der dort geduldig steht, ist überaus freundlich, und ich möchte ihn sehr gerne als Starverkäufer nominieren.»

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Porträt Mutter Courage in der Gourmessa Die Geschichte von Hélène Vuille erzählt von Empörung und Hartnäckigkeit. Seit 15 Jahren kämpft sie dafür, dass die Migros nach Ladenschluss Canapés und Birchermüesli an Obdachlose abgibt. VON AMIR ALI (TEXT) UND ROLAND SOLDI (BILD)

rantiert, dass die Lebensmittel noch am selben Abend verteilt werden und übernimmt die Haftung, falls es etwa zu einer Lebensmittelvergiftung kommt – doch in all den Jahren von Vuilles Engagement hat «noch nie jemand Bauchweh bekommen». Vuilles Fernziel ist ein Bundesgesetz, das alle Detailhändler schweizweit dazu verpflichtet, die rasch verderblichen Tagesfrischprodukte nach Ladenschluss gratis an zertifizierte Organisationen oder Familien abzugeben. Vuille spricht von den Politikern, die sie angeschrieben hat, und ihre Augen verengen sich zu Schlitzen: «Viele, auch sehr bekannte, haben mir ihre Unterstützung zugesagt. Passiert ist dann oft nichts.» Seit kurzem aber scheint die Sache auch in Bern ins Rollen zu kommen: Zwei Nationalrätinnen haben Vorstösse eingereicht. Bis Ende Jahr will der Bund Massnahmen bekannt geben. Derweil fährt Hélène Vuille weiter ihre Tour. Neben vielen Helfern bringt sie zweimal die Woche selbst Esswaren von der Gourmessa in ein Obdachlosenheim im Zürcher Kreis 5. Wenn sie ihren Kleinwagen gegen halb neun Uhr in der schmalen Durchfahrt parkt, wird sie schon erwartet. Auch hier begrüsst sie jeden mit Namen. «Was machen die Zähne? Bist du erkältet? Gibt die Jacke warm?» Dann stellt sie sich gleich selbst hinter die Chromstahltheke im Speisesaal, wo die Männer nach und nach vorbeischauen. Das Essen oder der Schwatz mit Vuille: Es ist nicht ganz klar, was wichtiger ist.

Am Anfang war das Brot. Das Brot, das Hélène Vuille an jenem Abend kaufen wollte. Kurz vor Ladenschluss stand sie an der MigrosTheke in Zürich-Wiedikon. Und traute ihren Augen nicht: Die Angestellten leerten gerade die Vitrine, Tablett um Tablett wanderten die Köstlichkeiten in ein grosses grünes Fass. Sandwiches, Canapés, Chäschüechli, Salatportionen, Birchermüesli, Wähen, Nussgipfel, Fruchtschalen, Schwarzwälder- und Schwedentorten. Minuten zuvor waren die Lebensmittel noch verkauft worden, jetzt waren sie Abfall. Vuille wurde wütend. Sie vergass das Brot und entschied sich zu handeln. Heute, 15 Jahre später, ist die zierliche Frau mit ihrem Kampf gegen die Verschwendung von Lebensmitteln im Bundeshaus angelangt. Vuille sitzt im Migros-Restaurant vor einem Glas Tee. Graues Oberteil, schwarze Hose, kein Schmuck. Fast scheint es, als wolle sie sich hinter ihrem schlichten Äusseren verstecken. Doch aus ihren Augen sprüht Energie, Empörung bisweilen, wenn sie von ihrem Weg an den Rand der Gesellschaft erzählt und von den Menschen, die ihr darauf begegnet sind. «Hier unten», sagt Vuille und zeigt einen Stock tiefer zur Gourmessa im Parterre, «fing alles an.» Der Filialleiter wollte Feierabend machen, und was die Dame sich da vorstellte, kam nicht infrage. Die Sachen gehören ins Fass, so lauten die Anordnungen. Die Kunden sind heikel, die Vorschriften streng. Aber Vuille liess nicht lo«Wenn ich etwas sehe, das nicht in Ordnung ist, dann muss ich das ändern. cker. Eineinhalb Stunden später schlug der Ich finde, es ist eine menschliche Pflicht, es zumindest zu versuchen.» Mann ein: Er erlaubte ihr, am Tag darauf den Überschuss abzuholen und an Bedürftige zu verteilen. «Wenn ich etwas sehe, das nicht in Ordnung ist, dann muss Einige der Männer sind in Vuilles Buch verewigt. «Im Himmel geich das ändern. Ich finde, es ist eine menschliche Pflicht, es zumindest strandet» ist eine Sammlung von kurzen Erzählungen – der Lebensgezu versuchen», sagt Vuille. schichten jener Männer und Frauen, die Vuille im Laufe der Jahre kenDamit fing die Geschichte erst an. Natürlich hatte der Filialleiter seinengelernt hat. Das Buch habe letztlich auch das Einlenken der Migros ne Kompetenzen überschritten. Für Hélène Vuille begann eine Wandebefördert, ist Vuille überzeugt. Ihr Anliegen habe in den Chefetagen rung, Etage um Etage, Hierarchiestufe um Hierarchiestufe erklomm sie nach der Veröffentlichung einen anderen Stellenwert bekommen. Die den orangen Berg. Mit den Jahren ist der Kampf um die Canapés und 60-Jährige erzählt gerne von ihrem Projekt. Sobald es aber persönlich Wähen zu einem Teil ihres Lebens geworden und die Orte, an die er sie wird, wird Hélène Vuille still. «Über mich müssen Sie doch nicht schreigeführt hat, zu einem zweiten Zuhause. Die Angestellten im Migros-Reben!» sagt sie und senkt den Blick. «Das mache ich ja nicht für mich», staurant und an der Gourmessa-Theke begrüsst sie mit Namen, fragt fügt sie leise an. nach der Gesundheit und ob die Tochter die Lehrstelle bekommen hat. Den Geschichten der Gestrandeten gemeinsam ist der Bruch im Le«Wenn man jemanden nicht ernst nimmt, ist das respektlos», sagt sie. ben, der Schicksalsschlag, der aus einem Akademiker aus guter Familie Auch ihr Kampf, wie Vuille es nennt, war ein Ringen um Respekt. einen Obdachlosen machen kann. «Das kann jedem von uns passieren», «Die einzelnen Menschen, mit denen ich mich traf, standen immer hinsagt Vuille. Und sie weiss, wovon sie spricht. Mit 17 Jahren wurde Vuilter der Idee», sagt sie. Doch die Migros als Organisation sah Probleme: le von einem Betrunkenen angefahren. Danach war sie dem Tod näher die Kosten, die Logistik, die Zeit. Sogar Plastiksäcke und Kartonals dem Leben. Sie, die auf dem besten Weg war, Pianistin zu werden, schachteln für den Transport der Lebensmittel seien ein Sitzungsthema musste die einfachsten Dinge wieder lernen: den Löffel zu halten, einen gewesen. Vuille liess sich nicht entmutigen. Langsam baute sie ihr EnFuss vor den anderen zu setzen. Rühren daher ihre Sympathie für die gagement aus, weitere Migros-Filialen kamen hinzu, immer mehr soziGestrandeten und ihr Durchhaltewille? «Das habe ich mir noch nie überale Einrichtungen konnten beliefert werden. Im vergangenen Herbst legt», sagt Vuille. «Ich mache einfach.» ■ dann der Durchbruch: Die Migros-Genossenschaft Zürich unterzeichnete mit Vuille und der Caritas einen Vertrag. Darin verpflichtet sich der Surprise verlost zehn signierte Exemplare von «Im Himmel gestrandet». Name und grösste Detailhändler der Schweiz, im Kanton Zürich bis Ladenschluss Adresse bis 13. März an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, nicht verkaufte Tagesfrischprodukte gratis abzugeben. Die Caritas ga4003 Basel oder an redaktion@vereinsurprise.ch, Betreff «Himmel».

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Auto Das Ende der Euphorie Der Wind hat gedreht. Noch vor fünfzig Jahren Inbegriff der Freiheit, wird das Auto in den Städten heute bestenfalls noch als notwendiges Übel toleriert. Pünktlich zum Start des 84. Auto-Salons in Genf: ein Abgesang auf unseren treusten Freund, der uns über den Kopf gewachsen ist.

VON FLORIAN BLUMER

In Kürze ist wieder Auto-Salon. Der Bundespräsident wird freudig strahlend in Autos steigen, die Tagesschau wird ihn dabei filmen und froh verkünden, dass Genf immer noch eine der bedeutendsten Autoschauen der Welt sei. Die Tageszeitungen werden die neusten Modelle vorstellen und vielleicht einmal mehr berichten, dass es in Genf zwar keine Sonderausstellung namens «der grüne Salon» mehr gibt, das aber ein positives Zeichen ist, weil die «grünen» Modelle nun ganz normal in das Angebot der Autobauer aufgenommen wurden (obwohl sie immer noch niemand kauft). Die Pressefotografen werden nackte Beine vor polierten Boliden knipsen, die Zuschauer werden zielstrebig an den ÖkoAutos vorbei auf Tuning-Wunder und PS-Monster zusteuern (eine Innensicht unserer Kolumnistin und Auto-Salon-Hostesse finden Sie auf S. 13). Ein einziger Tanz ums goldene Kalb: Alle sind glücklich und freuen sich des Automobils. Alle? Der glitzernde Schein trügt. Die Stadtzürcher nannten den motorisierten Verkehr in einer Erhebung als ihre mit Abstand grösste Sorge. Das Auto als Sorgenkind Nummer 1, wie konnte es dazu kommen? Zeit für eine Rückblende auf die unbeschwerte, goldene Zeit der Fünfzigerund Sechzigerjahre. Mit dem Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Wohlstand in der Schweiz zum Massenphänomen. Ein zentrales Symbol dafür: das Automobil, ein so modernes wie elegantes Wunderwerk der Technik. «Arbeiter können es sich leisten, ihrer Familie am Sonntag im eigenen Fahrzeug die Schönheiten unseres Landes zu zeigen», jubelte die Automobil-Revue 1958. Städter konnten es sich dank des Autos nun allerdings auch leisten, aufs Dorf zu ziehen – der Anfang der Zersiedelung. Und der Anfang vom Ende des Dorfs, wie man es kannte, wie Architekturkritiker Benedikt Loderer in einem viel beachteten Text feststellte (siehe S. 14).

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1945 kurvten ganze 18 279 Autos in der Schweiz herum. Zehn Jahre später waren es bereits 700 000 – eine Zunahme um Faktor 40. Es wurde eng auf den Strassen. Zum ersten Mal wurde dem Problem der Verkehrsüberlastung mit dem Bau neuer Strassen begegnet. «Das ganze Volk schreit nach Autobahnen!», rief der Berner Baudirektor und Regierungspräsident 1962 an der Eröffnung des ersten Teilstücks der Hauptschlagader des schweizerischen Verkehrs, der N1 (heute A1) im Grauholz bei Bern, aufgeregt aus. Die Euphorie war grenzenlos. Bundesrat Hans-Peter Tschudi überschlug sich beinahe vor Stolz und Freude und lobte die neue Errungenschaft mit feierlicher Stimme: «Die Autobahn fügt sich ausgezeichnet in die herrliche Berner Landschaft ein. Das Werk von uns Menschen beeinträchtigt das Bild der Heimat nicht!» Das dichteste Autobahnnetz der Welt Euphorie herrschte in den Sechzigerjahren auch in den Dörfern: Durch den Anschluss an das moderne Verkehrsnetz erhoffte man sich einen Wirtschaftsaufschwung. Dorfbewohner gingen auf die Barrikaden, wenn ihnen beschieden wurde, dass die Autobahn ein paar Kilometer weiter und nicht direkt an ihren Dorfrand gebaut werde. Und die Hoffnungen wurden nicht enttäuscht: Orte wie Oensingen, direkt an der A1 gelegen, erlebten einen unbeschreiblichen Boom. Noch heute erhält der Präsident der Solothurner Gemeinde jede Woche mehrere Anfragen von Firmen, die dort ansässig werden wollen. Die ganze Logistik von McDonald’s Schweiz wird von Oensingen aus abgewickelt. Die Bevölkerung hat sich seit den Fünfzigerjahren verdoppelt, noch heute wächst sie rasant. Alle Erwartungen übertraf allerdings auch der Verkehr – er nahm explosionsartig zu. Staatsvater Tschudi mahnte bei der Eröffnung der N1, dass dereinst bis zu 5000 Fahrzeuge pro Tag auf der neuen Strasse verkehren könnten. Heute donnern zu Spitzenzeiten 250 000 Autos und Lastwagen (auch deren Zunahme hatte man vollkommen unterschätzt) SURPRISE 320/14


BILD: KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV WIDMER

«Die Autobahn fügt sich hervorragend in die herrliche Berner Landschaft ein» – Eröffnung des ersten Teilstücks der N1 am Grauholz bei Bern 1962.

bei Oensingen über die Autobahn. Zusätzliche 5000 Fahrzeuge fahren heute allein auf der Hauptstrasse (die eigentlich durch das Bauwerk hätte entlastet werden sollen) zusätzlich durchs Dorf. Einmal losgetreten, sprengte das Projekt Autobahn alle Grenzen. Geplant waren erst 571 Kilometer Schnellstrassen, heute sind es 1811 Kilometer: Die Schweiz besitzt das dichteste Autobahnnetz der Welt. Gebaut zur Entlastung, zogen die Autobahnen immer noch mehr Verkehr an. Auch heute ist es wieder überlastet, die Autolobby fordert einen Ausbau – ein Teufelskreis.

Stadt- und Landschaftsbild fast nach Belieben in seinem Sinne umgestalten durfte. Zwar steht heute auch bei urbanen, progressiven Leuten oft doch das erste Auto vor dem Haus, wenn Mitte dreissig der Nachwuchs kommt. Dazu wird dann aber kleinlaut und entschuldigend erklärt, dass es mit Kindern halt doch fast nicht anders gehe, und ausserdem ist die statussymbolisch wertlose Familienkutsche selbstverständlich das verbrauchsärmste Fahrzeug seiner Klasse. Und dann haben wir uns auch noch ein Cargo-Bike gekauft, denn wir brauchen das Auto wirklich nur, wenn es nicht anders geht. Andere setzen sich gleich dem Stigma des Mobility-Fahrers aus, noch forschrittlichere ziehen in eine autofreie 2000-Watt-Siedlung. Das schicke Transport-Velo ist übrigens ein Trend, der, man staune, aus den USA zu uns geschwappt ist. Wer in

Yuba Mundo statt Porsche Cayenne Schon in den Siebzigerjahren mischte sich Ernüchterung in die Aufbruchstimmung. Die Autobahnen entpuppten sich als von Morgen früh bis abends spät ohne Unterlass lärmende Ungeheuer. Und bald schon entwickelten sie auch New Yorks Investmentbanker und Hedgefonds-Manager fahren eine mörderische Seite. Bauer Bruno Hoffheute nicht mehr mit dem BMW X5 oder dem Porsche Cayenne mann aus Oensingen bekam die Entwicklung ins In-Restaurant, sondern mit dem Cargo-Bike. der A1 buchstäblich aus nächster Nähe mit. Als Kind erlebte er die Euphorie, heute hat er New York oder Chicago, aber auch in Indianapolis oder Atlanta zur ein pragmatisches Verhältnis zur Schnellstrasse – zum Gegner wurde er Avantgarde gehören will, der fährt sein regionales Gemüse vom Markt nie. In einer SRF3-Radiosendung zum Thema sagt er aber, die Autobahn heute mit dem Cargo-Bike heim. Das Wall Street Journal berichtete, dass sei schon «eine grausame Sache»: hier ein brennendes Auto, dort entNew Yorks Investmentbanker und Hedgefonds-Manager heute nicht gegenrollendes Geschirr aus einem Wohnwagen, den es auf den Kopf mehr mit dem BMW X5 oder dem Porsche Cayenne ins In-Restaurant gestellt hat – Alltag auf der Autobahn, die direkt an seinen Feldern entfahren, sondern mit dem Yuba Mundo, einem Cargo-Bike. langführt. In nackten Zahlen: Im Jahr 1971 starben 1800 Menschen auf Das Auto ist out. Einst Inbegriff der Freiheit und des American Schweizer Strassen. Bis ins Jahr 2012 konnte diese Zahl, unter anderem Dream, dann zweites Zuhause für die ganze Familie, die zusammengedank der Einführung von Tempolimiten auf den Autobahnen, auf 339 pfercht und von schepperndem Sound aus dem Kassettengerät begleitet pro Jahr gesenkt werden. Doch auch dies ist immer noch fast ein Verfröhlich zum Skitag in Engelberg und in die Strandferien nach Rimini kehrstoter pro Tag, dazu kommen täglich ein Dutzend Schwerverletzte. blochte, ist es heute bestenfalls noch notwendiges Übel. Waren noch vor Nun regt sich in den Städten also Widerstand gegen den Invasoren, gut 40 Jahren Projekte mehrheitsfähig, die vorsahen, halbe Altstädte abder noch bis vor wenigen Jahren fast uneingeschränkt regieren, unser SURPRISE 320/14

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BILD: KEYSTONE/DONALD STAMPFLI

Was macht denn die Frau da? Das Auto futuristisch, das Frauenbild von vorgestern – Ausstellungsobjekte am Auto-Salon Genf 2002.

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glücklich-Macher im Agglomerationsalltag», stellte der Tages-Anzeiger zureissen zugunsten einer fünfspurigen Autobahn mitten durch die fest, «bildet das Pendeln.» Und trotz massiver Zunahme des BahnverStadt, so haben die Städter heute die Nase voll. Dass die schönsten Plätkehrs: Gependelt wird noch immer in erster Linie mit dem Auto, und ze wie der Münsterplatz in Basel oder der Bundesplatz in Bern einst als auch hier ist die Tendenz zunehmend. Parkplätze dienten, ist längst nicht mehr vorstellbar. Im Gegenteil: Das Auto ist in den Innenstädten immer weniger erwünscht. Basel stimmte 2010 einer RedukLaut der Bevölkerungsbefragung 2013 ist der Autovertion des motorisierten Verkehrs um zehn Prokehr die mit Abstand grösste Sorge der Stadtzürcher. zent zu. In Zürich fahren heute Mütter mit Babys im Veloanhänger statt 40-Tönner durch die Tausende Tote, zehntausende Verletzte, hunderttausende UnglückliWeststrasse, und die Regierung konnte die Schliessung einer Fahrspur che im Auto und an der Strasse – eigentlich erstaunlich, dass das Auto am Agglomerations-Verkehrsknotenpunkt Bellevue durchsetzen, zu– ausserhalb der Städte – noch immer fast kritiklos akzeptiert ist und gunsten eines grösseren und schöneren Sechseläutenplatzes. sich munter weiter vermehrt: 2012 wurden so viele Neuwagen zugelas57 Prozent der Zürcherinnen und Zürcher gaben bei der Bevölkesen wie nie zuvor, und die Anzahl Autos auf den Strassen erreichte mit rungsbefragung des Stadtrats 2013 an, dass der Autoverkehr «ein gros5,7 Millionen einen historischen Höchststand. Unser Verhältnis zum ses Problem» sei – damit war dieser die mit Abstand grösste Sorge der Auto erinnert an einen Süchtigen, der trotz aller ihm längst bekannten Stadtbevölkerung. Weit abgeschlagen folgt an zweiter Stelle der Sorgennegativen Auswirkungen nicht davon lassen kann. Und das magere rangliste das Wohnungsangebot (bei 30 Prozent der Bevölkerung), geInteresse an Elektro- und Hybridautos am Auto-Salon zeigt, dass noch rade noch 13 Prozent stören sich an Drogen oder Kriminalität, 12 Proimmer das Öl der Stoff ist, auf den die Autofahrer weltweit setzen. Bezent nennen «Ausländerfragen» als Problem. Auch die Agglo-Bewohner ruhigend immerhin, dass der uns irgendwann im Verlauf dieses Jahrmacht das Auto unglücklich. Eine Vielzahl von Studien im Bereich der hunderts ausgehen wird. empirischen Glücksforschung zeigt auf: Je länger man pro Tag unter■ wegs ist, desto stärker schrumpft die Lebensfreude. «Den stärksten Un-

Auto «Ein Chassis wie mein Audi» Am Auto-Salon in Genf stehen – zumindest an den Pressetagen – mehr Hostessen herum als Autos. Eine davon ist unsere Kolumnistin. Sie liefert tiefe Einblicke in ein futuristisch eingekleidetes Universum, das doch wirkt wie aus einer längst vergangenen Zeit. VON YVONNE KUNZ

Mit Autos habe ich rein gar nichts am Hut, und das wäre auch so, wenn ich mir eines leisten könnte. Menschenmassen sind auch nicht mein Ding, und Messen habe ich gemieden, seit mich meine Eltern mal an immer länger werdenden Armen als quengelndes Kleinkind durch die Olma zogen. Es liegt mir, anders gesagt, eigentlich wenig ferner, als mich zwei lange Wochen an einen Stand an der mit jährlich über 700 000 Besuchern und 250 Ausstellern zweitgrössten Messe des Landes zu stellen und Autofreaks zu bedienen, als «zweites Highlight des Salons» (Autoportal car4you.ch), als eine der «attraktiven Messe-Hostessen» (Blick). Von uns Zweibeinern gibts im Palexpo übrigens mehr als Vierräder: Auf 900 Autos kommen 1100 Hostessen. Meine Interessen sind in erster Linie pekuniärer Natur. Um mir die Sache abseits davon ein wenig schmackhaft zu machen, stelle ich mir die ganze Übung gerne als Expedition zu den äussersten Rändern des Universums vor. Der Palexpo in Genf ist das Raumschiff, das CERN, ganz in der Nähe, Ground Control. Wenn ich die Halle drei Tage vor der offiziellen Eröffnung betrete, wuseln also keine harten deutschen Messebauer-Jungs im Last-Minute-Stress durch die Stände, sondern SpaceIngenieure. Durch das gleichmässige Summen der Lüftung schaltet das Unterbewusstsein schnell auf Ewigkeit, auch angesichts der Tausenden von Getränkeflaschen und Wienerli, die ich in Dutzende Kühlschränke räume. Damit ist jetzt auch gesagt, dass ich keine jener Hostessen bin, die knapp bekleidet über polierte Boliden rutschen. Nein, ich zapfe Bier bei einem Garagenausstatter. Erstere sind, kleines Geheimnis, sowieso SURPRISE 320/14

nur an den zwei Pressetagen da, wenn Tausendschaften von Autoredaktoren aus aller Welt durch die Hallen rennen. Neben der Fachpresse reist auch der Boulevard an, denn die ersten Tage des Salons erfreuen sich stets hoher Promidichte. DJ Bobo und Christina Surer sind natürlich immer da, wie auch ein ganzes Heer halbbekannter Gesichter, an deren Namen man sich nur erinnert, wenn man sehr viel fernsieht. Dazu gibt es aber immer auch einige ganz grosse Namen: Shakira «singt» bei Seat, Justin Timberlake präsentiert den neuen Audi, Usher feiert 50 Jahre AMG Mercedes. Als Hostesse kann man durchaus kopfüber rein in eine zweiwöchige Party. Doch mit einem Kater in den Knochen lässt sich eine Anmache wie «Du hast ein Chassis wie mein Audi» einfach nicht mehr tolerieren. Überhaupt nimmt das Niveau der Besucher nach der offiziellen Eröffnung durch den/die jeweilige/n Bundespräsidenten/in stetig ab. Bald rennen Horden von betrunkenen jungen Männern mit ihren Freundinnen in zu engen Kleidern und zu hohen Schuhen durch die Stände, Paare streiten sich, Kinder haben Tobsuchtsanfälle, und alle sind in einem fiebrigen Gratis-Wahn und raffen Werbegeschenke zusammen. Zu diesem Zeitpunkt wird das Business gemacht, dafür ist der Salon ja vor allem gedacht. Zulieferer und Ausstatter – also nicht die Automarken selbst – erzielen nicht selten über die Hälfte ihres Jahresumsatzes in Genf. So schlimm steht es zwar noch nicht um mich … aber wenn die letzten Stunden des Salons einfach nicht vorbeigehen wollen, ereilen mich manchmal böse Gedanken: Der Autosalon ist nicht das Mutterschiff – sondern das ganze Universum. Und ich für immer darin gefangen. ■

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Verkehr Das Dorf ist tot BILD: ANGEL SANCHEZ

Und das Auto ist schuld daran. Denn: Wer erreichbar ist, wird kolonisiert, ob in der Südsee oder in Suberg.

VON BENEDIKT LODERER

Das Dorf ist heute mausetot. Es ist nach längerer Leidenszeit überfahren worden, ist dem Automobil erlegen. Das Auto war der Träger, der die heimtückische Krankheit auf dem Land verbreitet hat: die Hüslipest. An ihr ist das Dorf verendet. Wer das Dorfsterben ergründen will, muss bei der Hüslipest beginnen. Vor dem Automobil, in der Schweiz bis 1950, waren die Verhältnisse noch einigermassen übersichtlich. Die Guisan-Schweiz war ein unabhängiger, ewig neutraler, urdemokratischer, bewaffneter Kleinstaat. Der ererbte Gegensatz von Stadt und Land war noch in Betrieb. Dann geschah etwas Unerwartetes, Ungeheures, Umwälzendes: Der Wohlstand brach aus! Er schenkte den Schweizerinnen die Waschmaschine, den Staubsauger und den Kühlschrank, dem Schweizer die Ölheizung und das Automobil, der Familie die Ferien in Rimini und später in der Karibik. Die karge, sparsame, selbstgenügsame Guisan-Schweiz lebte zwar noch zäh weiter, aber sie hatte nun eine Konkurrentin neben sich, die Konsumschweiz. Die GuisanSchweiz schrumpfte, sie vertrocknete, verknöcherte, zerbröckelte, während die Konsumschweiz wuchs, blühte und erstarkte. Das Programm der Konsumschweiz lautete:

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Mittelstand für alle! Der Wirtschaftskuchen wuchs, also bekamen alle ein grösseres Stück davon ab. Die radikale Zusammenfassung der Schweizergeschichte von 1950 bis 2013 lautet: Wir verteidigen nicht mehr unsere Unabhängigkeit, sondern unseren Wohlstand. Mit dem Auto wurde das Dorf erreichbar. Herangefahren kamen Leute, die die Dörfler Städter nannten. Sie verbreiteten die Hüsli-Ideologie, das Dorf wurde von der Hüslipest infiziert. Einen entscheidenden Unterschied gab es seither im Dorf, den zwischen den Alten und den Neuen, zwischen den Produzenten und den Konsumenten, zwischen den Leuten, die vom Land, und denen, die auf dem Land leben. Das wird deutlich, wenn man beobachtet, wie beide ihre Häuser auf ihre Grundstücke setzten. Der Bauer braucht Land, keine Landschaft. Schön ist, was Frucht bringt. Flach soll es sein, bequem zu bearbeiten, gute Erde und sonnig. Der Bauer hält sich an betriebswirtschaftliche Regeln. Er versucht, ob Streusiedlung oder Strassendorf, möglichst wenig vom fruchtbaren Land zu verbauen, denn der Boden ist sein wichtigstes Produktionsmittel. Nie vergeudet der Bauer sein Land. Die Hüslimenschen hingegen suchen «die Natur», was Landschaft heisst. Aussicht wollen sie, wenn möglich auf die Alpen. Sie erst

hatte der Stamm nichts entgegenzusetzen. Die Verwandtschaft wurde durch Nachbarn abgelöst, der Schwarm ersetzte den Clan. Der Stamm ist erloschen, «reinrassig» ist ein verbotenes Wort, doch wohnen wenigstens anständige Leute hier. Jeder, der Geld genug hat, ist als Beitrag zum Steuersubstrat willkommen. Trotzdem, autark ist das Dorf längst nicht mehr. Drei von vier Beizen sind verschwunden, die Post und der Dorfladen sind zu. Wer kein Auto hat, verhungert. Immerhin, die beiden Garagen blühen, und die zwei Baugeschäfte, der Gipser und der Liegenschaftstreuhänder sind im Saft. Die fünf übriggebliebenen Bauern sind eine kleine, aber gewichtige Minderheit, doch ihre Steuern zahlen nicht einmal die Lehrerlöhne. Die Spezialisten in der Dorfagglo sind heute Steuerexperten, Therapeutinnen, Betreiber von Massagesalons. Noch steht die reformierte Kirche, doch die ist leer. Einen Pfarrer gibts längst nicht mehr. Der nüchterne Blick erkennt: Das Dorf ging am Auto zugrunde. Die Autonomie ist eine Frage der Erreichbarkeit, denn die mystifizierte Dorfgemeinschaft war nichts als ein Mangel an Mobilität. Die Bauern sassen fest. Wer erreichbar ist, wird kolonisiert, ob in der Südsee oder in Suberg. Genau das ist dem Land auf dem Land geschehen. Die Städter haben das Land

Mit dem Auto wurde das Dorf erreichbar. Herangefahren kamen Leute, die die Dörfler Städter nannten. Das Dorf wurde von der Hüslipest infiziert. brachten die Landschaft aufs Land. Die Hüslimenschen stellen ihre Häuser mitten aufs Grundstück, sie sind Untertanen des panoramischen Blicks. Aussicht ist ihr höchstes Ziel. Doch ihr Land ist ein Konsumgut, kein Produktionsfaktor. Sie produzieren nichts. Ihr Land ist nur noch der Abstandshalter zum Nachbarn. Lauch und Kartoffeln kaufen die Hüslimenschen im Shoppingcenter. Das Land wird vergeudet, denn das Hüsli ist beides: Raubbau und Verschwendung. Das Hüsli ist das wirkungsvollste Instrument der allgemeinen Landzerstörung. Die Konsumenten haben die Produzenten überwuchert. Die Brutgemeinschaft des Dorfes war den Städtern nicht gewachsen. Dem Geld

erobert und mit ihren Autos und Hüsli konsumiert. Die Unterschiede der Lebensformen wurden gründlich eingeebnet, Kleider, Sprache, Werte, alles ist städtisch, genauer, agglomeritisch. Alle starren jeden Abend in die gleiche Röhre. Die Agglomeration reicht so weit, wie das Auto fährt. ■ Auszug aus: Loderer, Benedikt: Die Landesverteidigung, eine Beschreibung des Schweizerzustands. Edition Hochparterre, Zürich 2012. Benedikt Loderer ist Publizist und Architekt. Er war Gründer und erster Chefredaktor der Zeitschrift Hochparterre. Seit Jahren ist er ein scharfer Kritiker der Zersiedelung und hat den Begriff «Hüsli-Schweiz» geprägt. SURPRISE 320/14


Medizin Das Elend liebt Gesellschaft Krank sein macht einsam. Wie Herr Falcone, Herr Seidel, Herr Herzog und Herr Meier den Alltag im Spitalbett 端berleben: Erkenntnisgewinne im Vierbettzimmer 57.

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VON NICOLE QUINT (TEXT UND BILDER)

Früher, da haben die Herren im Zimmer 57 die Litanei des Wenn gebetet. Wenn der Kredit fürs Haus abbezahlt ist. Wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind. Wenn die Beförderung endlich durch ist. Dann … Immer hatten sie aufgeschoben, als könnte man die Jahre zur Bank bringen, sie für den richtigen Moment aufsparen. Was, wenn ihnen der Rest des Lebens gerade wegfliesst, einfach so, im Takt einer tickenden Wanduhr?

Das richtige Aufrollen von Thrombosestrümpfen will geübt sein. Herr Falcone trainiert seit zwei Wochen. Ausschütteln, glattstreichen und dann gleichmässig zu einer Schnecke eindrehen. Das Ergebnis seiner heutigen Arbeit: zwei weisse, drei hautfarbene und wieder zwei weisse Strumpfrollen, fein ordentlich nebeneinander auf der Ablage seines Rollators drapiert. In seiner Sammlung fehlt allein das Paar, das er vor den Mitbringsel ohne Nährwert unfreundlichen Blicken der Nachtschwester in der Schublade seines Herr Herzog dreht sich zur Seite, um die Uhr nicht mehr sehen zu Nachttischchens versteckt und nun selbst dort vergessen hat. Diese müssen, und schaut in die wächsernen Wellen eines Trennvorhangs, der Strümpfe reichten ihm bis zur Leiste, und es bereitete ihm wirklich Müdirekte Bettnachbarn vor gegenseitiger Neugier schützen soll. Zwei Vorhe, aus diesen zwickenden Presswickeln wieder herauszukommen. Die hänge, vier abgetrennte Flächen – vier Privatsphären-Attrappen, mit Inhalbe Nacht hat er auf der Toilette mit ihnen gekämpft, hat geweint, als fusionsständern, Nachttischen, silbernen Teekannen und Medikamenihn beim zweiten Strumpf die Kraft verliess und er nicht mehr wusste, tenboxen, alles industriegenormt, abwaschbar, in Grau und Weiss. wie er noch ziehen, reissen, rubbeln sollte. Irgendwann hat ihn der PfleNichts, woran das Auge hängen bleibt, sich stören oder freuen könnte. ger mit den tätowierten Hundeköpfen auf beiden Oberarmen von den Ein Zimmer tapeziert mit Unbehagen und Beklemmung. Für vier, vielkalten Fliesen gehoben – Dobermann links, Schäferhund rechts, und leicht für fünf Wochen muss das Bett mit den hochklappbaren Gittern Herr Falcone knurrte. Schlafplatz, Ess- und Wohnstätte, Empfangsraum für Besucher und Jetzt sitzt er auf der äussersten Kante seines Bettes und rollt wieder nach der OP auch Bad und Toilette sein. Was, wenn die mehlwurmfarStrümpfe auf, langsam, ganz langsam. Wer weiss, wann es wieder etwas bene Zimmerdecke das letzte Bild im Leben sein wird? zu tun gibt. Im Bett gegenüber sind von Herrn Seidel auf den ersten Blick Herrn Seidels Tochter schafft es immer nur am Wochenende ins Spinur die Füsse zu erkennen. Haut wie zerknittertes Pergamentpapier, auf tal und bringt ihm dann ihre alten Frauen- und Gesundheitszeitschriften dem rotblaue Adern wie Flüsse auf einer Landkarte eingezeichnet sind. voller Ratgeberseiten mit: Wie schütze ich mein Herz? Wie schütze ich Herr Seidel hat die Amazonas-Region auf seinen Füssen, mit Hauptstrom mich vor Krebs? Wie schütze ich mich vor Diabetes, wie vor Depressiosowie allen Quellflüssen und Nebenarmen. Sie münden nicht in einem Delta, sondern in gelbgrauen Zehennägeln, die spitz wie Seeadlerklauen den immer gleichen Wer kommt auf die Idee, eine Wanduhr mit einem Format, geSchwester-Patient-Dialog provozieren. «Konnschaffen für Bahnhofshallen, in ein Patientenzimmer zu hängen? ten Sie gut schlafen, Herr Seidel?» Herr Seidel nickt. «Stuhlgang gestern?» Herr Seidel nickt. nen? Nachdem die Tochter gegangen ist, trägt Herr Seidel die Zeitschrif«Schwierigkeiten beim Schlucken?» Herr Seidel schüttelt den Kopf so heften in den Aufenthaltsraum am Ende des Flures. Dort stapeln sich die tig, dass weisse Krümel getrockneten Shampoos sich aus dem strähnigen Tipps für ein gesundes Leben unter der Wand mit den InformationsbroHaar lösen und zu Boden segeln. «Keine Schluckbeschwerden, dann sauschüren des Spitals: Leben nach der Herzoperation. Leben nach der gen wir erst später ab. Nachher schneiden wir Ihnen aber endlich mal die Chemotherapie. Leben mit Diabetes. Fussnägel.» Herr Seidel erstarrt wie in Harz gegossen und zieht dann Manchmal kommen ehrenamtliche Mitarbeiter des Besuchsdienstes ganz sachte die Füsse zurück in die Höhle seiner Bettdecke. ins Zimmer 57 und giessen Musik, Worte und Farben in die Leere. Herr Falcone empfängt nur italienischsprachigen Besuch. Herr SeiDie Urinflasche als Lebensbeweis del und Herr Herzog aber sind höflich, werfen einen Blick auf mitgeHerr Falcone und Herr Seidel wissen viel voneinander. Seit zwei Wobrachte Bücher, schauen auf Fotos, lassen Blumensträusse in Vasen chen liegen sie sich schon gegenüber. Miteinander gesprochen haben sie stellen – einen Nährwert haben all diese Dinge für sie jedoch nicht. noch nicht, aber sie hören gut zu, wenn der Chefarzt bei der Visite den Wenn sie nicht ins Leben dürfen, soll das Leben auch nicht zu ihnen Bettnachbarn Untersuchungsmethoden, Diagnosen und Prognosen erhereinkommen. Kapituliert haben sie nicht, nur auf die Stopptaste geklärt: «Larynxkarzinom, Metastasen, Rechtsherzinsuffizienz …», oder drückt. Jetzt gerade nicht, demnächst wieder. Im Spital geht einem das wenn die dauerhaft auf Schwerhörigenmodus eingestellte SchwesternLeben wunderbar aus dem Weg, und die Patienten von Zimmer 57 stimme verkündet: «Sauerstoff 82, Puls 135. Das ist nicht gut, Herr Herschauen zu, wie sich der Abstand zwischen ihnen und der Welt von zog.» Herr Herzog ist der Neuzugang im Zimmer 57. Bakterien an der Woche zu Woche vergrössert, so weit, bis selbst Nahestehende ihnen künstlichen Herzklappe. 50:50-Chance hat der Arzt beim Aufklärungsziemlich fern stehen. «Ich kann die Frage ‹Was machst du bloss für Sagespräch gesagt, und Herr Herzog hat geglaubt, das Erschrecken lächen?› nicht mehr hören.» Herr Herzog redet einfach in den Raum. chelnd wegzwinkern zu können. Doch seine Gesichtsmuskeln überHerr Seidel und Herr Falcone fühlen sich nicht angesprochen. Sie hätsetzten jedes Gefühl simultan – Angst, Entsetzen, Panik. Er musste die ten dem auch nichts hinzuzufügen. Stumpfsinn und Starre, silberne Hände vor das Gesicht schieben, um dahinter seinen Ausdruck wieder Teekannen, Thrombosestrumpfrollen, Infusionsständer. Innere Leere, geraderücken zu können. «50:50 ist doch besser als nichts», hat er dann äusserer Stillstand, nur die Wanduhr tickt. Dieses Nichts lässt sich durchhaltewillig erklärt. Wenn es ganz still geworden ist im Zimmer und leichter ertragen als ein Leben, in das Demütigungen, Unverständnis, er seinen tränenblinden Blick an die Decke heftet, sieht man, wie er mit Heuchelei und Enttäuschung platzen. Die Tochter mit ihren Frauendieser Prognose zu rechnen versucht. Fast zwei Monate noch bis zum zeitschriften, der Sohn, der lieber im Büro bliebe, die Ehrenamtler mit 80. Geburtstag. 50:50-Chance. Im Kopf reisst er die Kalenderblätter ab. dem ehrlichen Beileid im Blick, die Ehefrau, die getröstet werden Ist das zu schaffen? Die Uhr tickt. Wer kommt auf die Idee, eine Wandmöchte, anstatt zu trösten. Die sich öffnende Zimmertür ruft keine Eruhr mit einem Format, geschaffen für Bahnhofshallen, in ein Patientenwartungsfreude hervor. «Das hält lang. Das überlebt mich», sagt Herr zimmer zu hängen? Für Herrn Falcone, Herrn Seidel und Herrn Herzog Herzog, als ihm sein Schwiegersohn eine Grosspackung Gebissreiniger misst sich Spitalzeit nicht in Stunden und Minuten, sondern in Arztvimitbringt. Keiner lacht, dazu kalkulieren beide Haltbarkeits- und Lesiten, Mahlzeiten, Toilettengängen und in Schichtwechseln der Pfleger. bensfristen zu präzise. Was gestern war, kommt heute wieder, wird morgen genauso sein: Solange die Schwester die Urinflasche wechselt, sind wir.

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Herr Herzog schaut auf das durchs Fenster gerahmte Leben. StrasDa leidet eine Zauberberg-Gemeinschaft in Zimmer 57 und untersenbilder von Menschen, die zum Bus laufen, die Einkaufstaschen im scheidet genau zwischen WIR und DIE, zwischen brüchigen, taumelnKofferraum verstauen, die ihre Kinder Huckepack tragen. «Als würdet den, atemlosen und fiebrigen Zweiflern, die blauweisse Hemdchen und ihr ewig leben», flüstert Herr Herzog wie eine Souffleuse. Zehn StockEinweg-Netzunterhosen tragen und den rosigen, tauglichen, kräftigen werke tiefer, in der Notfallambulanz, erfährt Herr Meier gerade, dass er und zähen Zukunftsgläubigen mit ihrem unbegrenzten Aktionsradius. wegen Wasser an der Lunge stationär aufgenommen werden muss. «LeiEine verpatzte Fahrprüfung ist nur halb so schlimm, wenn der Freund es auch nicht geschafft hat. Wenn man im Bett liegt, tröstet es, wenn es anderen auch so geht. «Das hält lang. Das überlebt mich», sagt Herr Herzog, als ihm sein Herr Falcone, Herr Seidel und Herr Herzog Schwiegersohn eine Grosspackung Gebissreiniger mitbringt. leben im Transit, nicht wissend, in welche Richtung das Leben wechseln wird. Wird sich der haben wir auf dieser Etage nur noch Platz in einem Vierbettzimdie Krankheit einnisten, wird man ins Leben zurückkehren oder Abmer», erklärt ihm der Pfleger, bevor er ihn zu Herrn Falcone, Herrn Seischied nehmen? Wird es für Herrn Seidel nochmal Frühling, wird Herr del und Herrn Herzog ins Zimmer fährt. «Das Elend liebt Gesellschaft», Herzog Geburtstag feiern, muss Herr Falcone sich noch lange mit dem ist alles, was Herr Meier darauf zu antworten weiss. Blick eines aggressiven Dackels und sizilianischen Flüchen gegen ■ Thrombosestrümpfe wehren? Heute hat er sich aus der Gefahrenzone bringen und den Griffen der Pfleger entziehen wollen. Dazu hat er das Nicole Quint ist Reisejournalistin und Autorin mehrerer Bücher. Sie hat vier Monate elektrische Bett so hochgefahren, dass er nun mit den Beinen baumeln lang Kranke in einem Schweizer Spital begleitet – in diesem Text hat sie ihre Erfahund falls nötig kickboxen kann. Nun sitzt Herr Falcone am Bettrand und rungen aufgezeichnet (Namen sind geändert). schaut in die Tiefe, als wolle er eine Angelrute auswerfen. Das Bedienelement, mit dem er sich wieder herabfahren könnte, ist aus der Halterung gerutscht und unauffindbar. Herr Seidel drückt den Notrufknopf, Tag der Kranken am 3. März damit ein Pfleger die oberschenkelhalsbruchverdächtige BettfluchtnumSeit 75 Jahren findet jeweils am ersten Sonntag im März der «Tag der mer von Herrn Falcone unterbricht. Nachdem der Italiener wieder auf Kranken» statt. Es ist ein landesweiter Aktionstag mit Besuchen in SpiNormalhöhe liegt, werden Herrn Seidel Schleim und Sekret abgesaugt. tälern, Medien-Kampagnen, Konzerten und Vorträgen. Ins Leben ge«Wo ich doch schon mal da bin.» Zeitökonomie ist wichtig in der Pflerufen wurde er vom gleichnamigen gemeinnützigen Verein, der 1939 ge. Im Gurgeln und Zischen geht Herrn Falcones Weinen unter. Die Welt von der Tuberkulose-Ärztin Marthe Nicati gegründet wurde, um mehr versteht ihn nicht mehr. Auf dem Gemeinschaftswaschbecken bleibt eiBeachtung für die Bedürfnisse kranker Menschen zu schaffen. Dieses ne gebogene Silberkanüle zurück, die eben noch in Herrn Seidels kehlJahr steht der Tag unter dem Motto: Psychische Belastungen: Zeigen kopflosem Hals steckte. wir Mut zum Dialog! www.tagderkranken.ch SURPRISE 320/14

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BILD: ZVG

Mit Ernst und Eifer bei der Sache: die Guggenmusik «Canadysli» zelebriert den Morgestraich 2013 im West End von Toronto.

Fasnacht «Morgestraich, vorwärts, march!» Nicht ohne «die drey scheenschte Dääg»: Um in New York den Morgenstreich zu zelebrieren, schmieren Exilbasler die Cops auch schon mal mit Schweizer Käse. VON MICHÈLE FALLER

Heimweh ist eine schweizerische Erfindung. Ausgerechnet die für ihre Furchtlosigkeit weitum berühmten Schweizer Söldner haben den Ausdruck für diesen Gemütszustand geprägt. Einmal von der Sehnsucht nach daheim gepackt, waren die hartgesottenen Soldaten für den Kriegsdienst nicht mehr zu gebrauchen. Das Risiko, dass sich ein mutiger

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Kämpfer in einen weinerlichen Tropf verwandelte, mussten die fremden Herren aushalten, wenn sie einen solchen Burschen oder ein ganzes Regiment anheuerten. Da die sogenannte «Schweizer Krankheit» vornehmlich dann auftrat, wenn etwas ans Vaterland erinnerte, soll es Schweizern in fremden Diensten bei Todesstrafe verboten gewesen sein, Schweizer Volkslieder zu singen oder auch nur zu pfeifen. Der Mülhauser Arzt Johannes Hofer beschrieb das «Heimwehe» 1688 in seiner Doktorarbeit SURPRISE 320/14


Muckenhirn und strahlt: «Mit dieser weltberühmten Basler Balletttruperstmals als Krankheit und schuf dafür den Fachbegriff «Nostalgia», von pe von Heinz Spoerli aufzutreten, war wahnsinnig toll.» Als Muckenhirn griechisch «nóstos», Rückkehr in die Heimat, und «álgos», Schmerz. nach rund 20 Jahren in New York nach Basel zurückkehrte, fühlte er Eingereicht hatte Hofer seine Dissertation in Basel, und das ist ein sich ziemlich fremd. Doch nicht lange: «Dank des Bebbi-Clubs war es hübscher Zufall. Denn sind nicht die Baslerinnen und Basler die Lokaldann, als seien wir nie weg gewesen.» patrioten in Reinkultur? Mit ihrem «Z’Basel an mym Rhy», dem treu verAuch wer noch ein bisschen weiter nördlich reist, muss dank der «Caehrten FCB (auch als er noch grottenschlecht war), ihren Picassos – und nadysli Toronto Guggemusig Band» nicht auf die Basler Fasnacht vermit ihrer Fasnacht. Was passiert nun, wenn so ein waschechter Basler zichten. Die 1976 gegründete «Gugge» pflegt den «Swiss Style Carnival Bebbi ins Ausland loszieht? Natürlich gibt es auch Heimwehbündner in Toronto», wie dem aktuellen Fasnachtsflyer zu entnehmen ist. Einer und Heimwehberner, die sich dann mehr oder weniger still zurücksehder waschechten Heimwehbasler bei den Canadysli ist Sascha Frassini; nen. Die Heimwehbasler aber, die unternehmen etwas. seit 17 Jahren fest in Kanada und praktisch ebenso lange in der Gugge, Zum Beispiel im Mai 1949 in Zürich. Da wurde nämlich die Faswo er die Basler Trommel spielt. Der IT-Spezialist gibt gerne und in schönachtsclique «Basler Zepf Ziri» gegründet: Baslerinnen und Basler, die nem Baseldeutsch Auskunft über die Canadysli und muss nur ab und zu ihren Lebensmittelpunkt in «Ziri» haben. Für einen Basler Fasnächtler auch Ausland, oder? Andreas Knuchel lacht: «Halt, halt, da muss man aufpassen!» Der ObSogar in der New York Times wurde der Basler Kulturimport einmann der «Basler Zepf», seit über 25 Jahren mal angekündigt. Und der Cliquenkeller in New York wurde für Fasnächtler, hat sich in den vergangenen sieBasler zur Touristenattraktion. ben Jahren offenbar bestens in der Limmatstadt integriert, denn er beginnt sogleich zu nach einem Wort suchen. «Unser Morgenstreich findet immer am Samsschwärmen: «In unserem Stammhaus im Zürcher Niederdorf, dem tag vor dem ‹richtigen› statt, aber erst um sieben Uhr.» In einem eher inZunfthaus Weisser Wind, pflegen wir eine enge Freundschaft zu unsedustriellen Gebiet im West End, ohne Laternen, da es ja bereits hell ist, ren lieben Hausgenossen. Jedes Jahr dürfen wir am Morgenstreich je aber dafür mit Polizeieskorte. «Damit wir nicht überfahren werden», eine Delegation der Zunft zum Weggen, des Turnvereins Alte Sektion meint Frassini lakonisch, es sei ja doch eine Hauptstrasse. «Wir machen Zürich und der Studentenverbindung Neuzofingia bei uns in Basel bees vor allem für uns, die Familien und andere Schweizer», erklärt der grüssen und ihnen unsere Fasnacht näherbringen.» Im Gegenzug laden Trommler die Abgelegenheit des Orts. Elitär sei das überhaupt nicht gedie Zünfter die «Zepf» jeweils ans «Sächsilüüte» ein. meint – schliesslich seien die Basler bei den Canadysli in der Minderheit und die Anlässe öffentlich. Doch zu dieser frühen Morgenstunde und Morgenstreich in der New York Times bei meist eisiger Kälte sind noch nicht so viele Kanadier auf der Strasse. In Zürich stosse man grundsätzlich auf Freude, wenn auch einige zuAusser die Fans natürlich. «Danach gehen wir in ein Restaurant – ein sammenzucken, «wenn am Bummel der Wettstaimarsch über den Paradeutsches.» Er lacht entschuldigend, es gebe nicht so viele Schweizer deplatz donnert». Dass man bei den «Zepf» auch andere Dialekte als BaBeizen bei ihnen. Und doch gibt es Mehlsuppe und Käsewähe und daseldeutsch hört, tue dem Stolz, eine Basler Bastion zu sein, überhaupt zu hausgemachte Fasnachtsküchlein von einem Canadysli-Mitglied. keinen Abbruch, sagt Knuchel. «Ganz im Gegenteil: Wir haben Freunde gefunden, die sich für das gleiche begeistern wie wir: ‹die drey Mehr Heim als Weh scheenschte Dääg›. Man kann ja auch nach etwas Heimweh haben, das «Der zweite Event ist der ‹Carnival Dance›, wie wir das nennen», beman erst später kennengelernt hat, oder?» richtet Frassini weiter. Der Kostümball steigt am Samstag darauf mit Ein gutes Stück weiter weg von Basel träumte 1979 jemand anderes Nachtessen, Tombola, Musik von den Canadysli, einer Band oder dieses von seiner Heimatstadt. Peter Oberhaensli vom Schweizer Konsulat in Jahr neu einem DJ. Auch Schnitzelbänke werden vorgetragen, oft halb New York rief daher kurzerhand den «Bebbi-Club New York» ins Leben, Englisch, halb Baseldeutsch, und zu den typischen Guggenmusikstüaus dem bald die Fasnachtsclique «Nej Yorgg Bebbi» entstand. «Sie cken geben die Trommler und Pfeifer ein paar Basler Fasnachtsmärsche möchten über die Clique schreiben?», fragt Webmaster Werner Muckenzum Besten. «Ich bin ziemlich involviert hier», stellt der Heimwehbashirn freundlich. «Da sind Sie etwa zehn Jahre zu spät.» Diesen ernüchler fest, der auch Präsident des «Swiss Club Toronto» ist – dieses Jahr ternden Bescheid bestätigt Vize-Obmann Peter Bürgin: «Wir sind ein spielen an dessen 1.-August-Feier wieder einmal die Canadysli. Seine ‹Nostalgieclübbli›, das sich ein Mal monatlich trifft», meint er verlegen. letzte Fasnacht in Basel liegt 18 Jahre zurück, und in die Schweiz reisen «Die allermeisten Nej Yorgg Bebbi sind ans Rheinknie zurückgeFrassini und seine Frau lieber im Frühling oder Herbst – nicht zuletzt kehrt», erklärt Bürgin inmitten des lauten Geplauders an einem der beweil «ihre» Fasnacht ja zur gleichen Zeit stattfindet. «Aber manchmal sagten monatlichen Treffen. «Wir wollten eine lockere Gruppe – keinen vermisse ich die Basler Fasnacht, und irgendwann möchte ich schon sturen Verein», erklärt Gründer Peter Oberhaensli. «Deshalb hatten wir wieder gehen», sinniert er. «Ich glaube, es ist bei allen Schweizern hier statt eines Präsidenten einen ‹Oberbebbi›», ergänzt Muckenhirn. Seine so, dass sie patriotischer als daheim sind – bei mir auch!» Doch seien Frau Irene Kublun nickt nachdrücklich. «Wir hatten auch nie Statuten!» die Canadysli ein gutes Gegenmittel gegen Heimweh. «Ich würde sie Die Augen leuchten und alle reden durcheinander. Vom ersten Morgensehr vermissen, wenn es sie nicht gäbe.» streich 1980 wird etwa berichtet, als nicht um 4 Uhr in Basel, sondern Was die exportierte Fasnacht angeht, so wiederholt sich die Geum 22 Uhr beim Lincoln Center um die Metropolitan Opera «gegässelt» schichte für einmal also nicht: Einst wurden Schweizer Söldner von wurde. Im Cliquenkeller gab es Käsewähe und Mehlsuppe, und die einem heimischen Liedchen bezwungen. Heutige Heimwehbasler zele«Schugger» auf dem Polizeiposten wurden im Vorfeld mit Schweizer Käbrieren die Nostalgie, das Sehnsuchtsgefühl bewusst und in Verbunse bestochen. Über den synchronisierten Mini-Morgenstreich freuten denheit mit Gleichgesinnten. Mehr Heim als Weh also. sich Basler, die per Zufall in der Nähe waren, gleichermassen wie Ein■ heimische. Sogar in der New York Times wurde der Basler Kulturimport einmal angekündigt. Und der Cliquenkeller in New York wurde für Basler zur Touristenattraktion. Ein Höhepunkt der Cliquengeschichte war auch der Auftritt im New Yorker Gastspiel von «La fille mal gardée» des Basler Balletts. «Wie vergiftet haben wir zwei Monate lang die drei Verslein geübt», erinnert sich SURPRISE 320/14

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BILD: ZVG

Ron Woodroof war ein homophober Kerl. Bis er selber die «Schwulenkrankheit» bekam.

HIV Das Erbe des Cowboys Im oscarnominierten Film «Dallas Buyers Club» spielt Matthew McConaughey den Cowboy Ron Woodroof, der 1985 seine HIV/Aids-Diagnose erhielt. Woodroof existierte tatsächlich. Er importierte Medikamente zur Behandlung von HIV, die in den USA noch nicht zugelassen waren. VON SEAN PHILPOTT (THE CONVERSATION UK/INSP)

In der Anfangsphase wurde Aids als Krankheit homosexueller Männer, Prostituierter und Drogenabhängiger gesehen. Beauftragte des Gesundheitswesens und Politiker verhielten sich relativ unbeteiligt, solange die Krankheit vor allem ausgegrenzte Mitglieder der Gesellschaft betraf. Die erste wirksame Behandlung von Aids durch Azidothymidin (AZT) war 1985 noch in der Entwicklungsphase und wurde von der FDA, der Arzneimittelzulassungsbehörde in den USA, erst 1987 zugelassen. Ron Woodroof fing aber an, sich mit nicht zulässigen und illegal beschafften antiviralen Medikamenten selbst zu behandeln. Mit Leidensgenossen reiste er nach Mexiko, Japan, Israel und in die Niederlande, um antivirale Medikamente zu erwerben, die in den USA entweder nicht zugelassen oder nicht erhältlich waren. Sie versorgten HIV-Patienten damit, und zwar vor allem die, die zu stigmatisierten Gruppen

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gehörten: homosexuelle Männer und Drogenkonsumenten. Woodroofs Organisation nannte sich «Dallas Buyers Club». Ron Woodroof brachte die FDA vor Gericht, um sie dazu zu bringen, den Import des experimentellen «HIV Inhibitors Peptide T» aus Dänemark zu legalisieren, blieb jedoch erfolglos. Er wurde dadurch Teil einer grösseren Bewegung, in der Aktivisten die Agenda für biomedizinische Forschung und Therapien mitbestimmten. In New York City und San Francisco bildeten sich mehrere Aktivistengruppen, unter anderem AIDS Coalition to Unleash Power (ACT UP). Der Dokumentarfilm «How to Survive a Plague» (Regie: David France) schildert, wie ACT UP 1988 eine nationale Demonstration vor der FDA organisierte. Ähnliche Demonstrationen führten zu erheblichen Veränderungen in der Art und Weise, wie klinische Studien entworfen und ausgeführt wurden. ■ Aus dem Englischen von Ardeen Frida. www.street-papers.org SURPRISE 320/14


HIV Fairere Preise dank Aktivisten INTERVIEW VON DIANA FREI

Wenn man es zynisch ausdrückt, hat sich mit der Epidemie ein weltweiter Markt geöffnet. Wir haben immer noch 35 Millionen Menschen mit HIV auf der gesamten Welt. Der Anreiz war daher sehr gross, in die Innovation zu investieren. Aber auch die Pharmaindustrie hat gemerkt, dass sich Diskriminierungen auf den Zugang zu Medikamenten auswirken. Wenn jemand Diskriminierungen zu befürchten hat, überlegt er es sich zweimal, ob er einen HIV-Test macht. Er macht den Schritt vielleicht nicht so schnell, taucht im Gesundheitssystem nicht auf und nimmt kei-

Herr Witzthum*, hätte sich die Geschichte des Dallas Buyers Club auch in der Schweiz abspielen können? Harry Witzthum: Nicht in dem Ausmass, weil wir ein anderes Gesundheitssystem haben. In der Schweiz war die Versicherungsrate schon vor dem obligatorischen Krankenkassenabschluss relativ gut. Die Schweiz war auch bei Neuzulassungen von Medikamenten schon immer an vorderster Front dabei. Sie ist ein interessanter Markt für die Pharmaindustrie, weil sie «In der Medizin hat eine Normalisierung stattim Hochpreissegment wirtschaftet. Das führte dazu, dass wir relativ schnell Medikamente zur gefunden, in der Diskriminierung nicht.» Verfügung hatten. Was man als VorzeigebeiHarry Witzthum, Aids-Hilfe Schweiz spiel nennen kann, ist die HIV-Kohorte, die 1987 sehr früh aufgegleist wurde. Das ist eine Studie, die regelmässig HIV-Positive begleitet ne Medikamente. Das schlägt sich für die Pharmaindustrie im Umsatz und erfasst und zu einem hohen medizinischen Qualitätsstandard genieder. Also investiert sie auch in Projekte, die die Diskriminierung anführt hat. Mit den obligatorischen Krankenkassenabschlüssen ist auf gehen. Aber niemals im Ausmass wie in die medizinische Forschung. dem Papier der Zugang zur HIV-Therapie gewährleistet. Ich sage aber: auf dem Papier. Wir wissen, dass etwa Sans Papiers in der Schweiz keiKann ein HIV-Positiver heute mit Therapie ein normales Leben nen guten Zugang zum Gesundheitssystem haben. führen? Rein medizinisch ist eine relativ schnell zum Tod führende Infektion Waren in der Schweiz andere Medikamente zugelassen als in den heute zu einer relativ gut behandelbaren, aber doch schweren chroniUSA? schen Krankheit geworden. Früher musste man 15 bis 20 Tabletten pro 1985 gab es auch hier nur das eine Medikament, AZT. Man hat aber Tag nehmen, heute reicht je nach Fall eine Tablette pro Tag, immer zum schnell festgestellt, dass es nicht viel bewirkt. Man ging über zu Duogleichen Zeitpunkt. Es ist ein Leben lang Disziplin gefordert, und es köntherapien, es gab ddC (Zalcitabin) neben AZT, aber auch das war nicht nen trotzdem immer Infektionen auftreten, die mit HIV zusammenhänerfolgreich. Mitte der Neunzigerjahre kamen die ersten richtig wirksagen. Oft sieht man auch Depressionen, weil sich Leute aus Angst vor Dismen Therapien auf den Markt, 1995/96 fand der Durchbruch statt. Ab kriminierungen nicht outen und mit einem Geheimnis umgehen müssen. da sieht man einen dramatischen Wechsel, der die ganze Behandlung der Infektion zum Besseren veränderte, die Lebenserwartung, die LeBestehen die Diskriminierungen heute wirklich immer noch? bensperspektive. Etwas ist im HIV-Bereich wichtig zu verstehen: In der Medizin hat eine Normalisierung stattgefunden, mit der Diskriminierung haben wir Der Film zeigt, dass die Pharmaindustrie das Geschäft mit den gleichen Fortschritt aber nicht gemacht. Man kann zwar mit einem HIV/Aids-Medikamenten nicht aus der Hand geben wollte. War es Arbeitgeber Probleme oft lösen, aber auf Gesetzes- und Umsetzungsein dermassen rentables Geschäft? ebene sind immer noch Benachteiligungen da. Die EinzelkrankentagAuf der einen Seite sind Pharmaunternehmen Wirtschaftsbetriebe – geldversicherung ist ein Beispiel: eine absolut wichtige Versicherung, ihre Raison d’être ist, Gewinn zu generieren. Auf der anderen Seite von der Menschen mit HIV immer noch kategorisch ausgeschlossen steht, was auch berechtigt ist, die Preisfrage: die ist Verhandlungssache. sind. Heute haben wir es am häufigsten mit arbeitsrechtlichen DiskriHier waren die Aktivisten sehr schnell auch militant und sorgten dafür, minierungen zu tun: Arbeitgeber, die nach einem HIV-Test oder nach dass es zu faireren Preisen kam und dass die Therapien einer grösstdem Gesundheitszustand fragen, Datenschutzverletzungen, Mobbing, möglichen Anzahl von Leuten zur Verfügung standen. Das waren heftimissbräuchliche Kündigungen. Bis vor Kurzem waren Menschen mit ge Debatten, und sie sind es heute noch. Auch in der Schweiz: Wir haHIV auch kategorisch von einer Lebensversicherung ausgeschlossen. ben das Bundesamt für Gesundheit, das auch an den Preisverhandlungen Mit den heutigen Therapien gibt es dafür aber keinen objektiven Grund beteiligt ist, aber auch die Betroffenengruppen, die ein Wort mitreden. mehr. Hier scheint sich nun tatsächlich langsam etwas zu verändern. ■ Hat die Entwicklung von wirksamen Medikamenten geholfen, die Krankheit zu entstigmatisieren? Oder hat sich das Stigma auf die * Harry Witzthum ist Mediensprecher und Mitglied der Geschäftsleitung der AidsForschung ausgewirkt? Hilfe Schweiz. SURPRISE 320/14

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BILD: ZVG

Fremd für Deutschsprachige Rocco Kennen Sie diese Tage, an denen sich die Ereignisse zu einem Symbol für existenzielle Zusammenhänge verdichten? Emotional anstrengende Tage, die ein Trümmerfeld hinterlassen, das lange danach noch bleibt? So ein Tag war für mich der 9. Februar 2014. An jenem Sonntag war ich zu Besuch bei meinen Eltern und bemerkte, dass mein Vater etwas dunkel um die Augen rum war, zerknittert irgendwie. Später erzählte er, dass sein langjähriger Kollege Rocco gestorben war. Von Rocco hat er früher öfters gesprochen. Aus Lecce war er eingewandert, mit seiner schönen Tochter Valentina und seiner liebenswerten Frau. Er hatte, wie mein Vater, über 30 Jahre lang bei der Baufirma Fritz Meier gedient und gelernt, «momoll» zu sagen zwischen den Sätzen. Was

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wohl in meinem Vater vorging, als er an Roccos Grab stand? Wir machten’s uns mit einem Kaffee vor dem Fernseher gemütlich; Olympische Spiele in Sotschi, Langlauf der Männer. Uns fiel auf, dass nicht viele Schweizer dabei waren. Aber, so zeigte sich, viele braucht es auch nicht. Ein Dario Cologna reicht. Er gewann Gold und wir freuten uns, zugegebenermassen. Sogar ich, die ich nichts von Nationalteams und Sportgigantismus halte. Mein Vater sagte zwar nicht, «wir haben gewonnen». Aber er sagte auch nicht, «die haben gewonnen». Er sagte: Die Schweiz hat gewonnen! Der Nachmittag plätscherte dahin, und später schalteten wir wieder ein, zu den Abstimmungen. Und auch dieses Mal, obwohl ich es mittlerweile gewohnt sein sollte, traf es mich mit voller Wucht. So war es bei der Minarettinitiative gewesen, auch bei der Ausschaffungsinitiative, und so war es nun, bei der Masseneinwanderungsinitiative. Mein erster Reflex war der Blick rüber zu meinem Vater. Gleich würde er es wieder sagen, sein «die»: So ist das, die wollen uns nicht! Schuften darfst du hier bis zum Abkratzen, aber Respekt bekommst du keinen. Wir hätten zurück sollen! Für mich aber gibt’s ja schon lange kein Zurück mehr; so verteidige ich ständig die Schweizer und würde auch jetzt einwenden: Aber nein, das kannst Du nicht sagen. Nicht alle denken so! Doch vorerst konnte ich aufatmen, mein Vater

war eingeschlafen. Noch hatte er es nicht mitbekommen. Ob sich irgendeiner dieser initiativen Erwachsenen überlegt, was all das für die vielgeforderte Integration bedeutet? Und was das aus der Schweiz für einen Staat macht? Als ich noch ein Teenager war, hatte ich handfeste Fakten in der Hand, um das Gefühl des Verachtetseins zu zerschlagen, das hie und da bei meinen Eltern und Verwandten aufkam. Meine neunmalkluge Parole lautete: Klar, einzelne Rassisten gibt es immer und überall, aber das System, das behandelt uns alle gleich! Ich liebte die Idee vom Schweizer Gesetz und dachte, sie könnte ein Vorbild sein für das ebenfalls multiethnische Mazedonien, das aber seine Minderheiten diskriminierte. Ich fing Feuer, besonders für den Gedanken der Menschenrechte, so dass ich an der Uni Staatsund Völkerrecht belegte. Um dann als Studentin zu erleben, wie diese kleinen Leute damit begannen, meine ideale Schweiz zu einem gloriosen Scherbenhaufen zu zerschlagen. Max Frisch mit seinem Spruch über Arbeiter, die sich aber dann als Menschen entpuppen, ist halt auch schon tot. Genau wie Rocco, vor dem alle so eine Heidenangst haben, heutzutage. SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 320/14


Anna Aaron Zur Ehre der Emotionen Mit ihrem Debütalbum spielte sich Anna Aaron in die erste Liga der Schweizer Popmusik. Auf ihrer neuen Platte «Neuro» kleidet die Baslerin ihre Songs neu in elektronische Klänge. Auch im digitalen Umfeld spürt sie mystischen Themen nach.

Anna Aarons Karriere verlief bisher rasant. Nach der kurzen Songsammlung «I’ll Dry Your Tears Little Murderer» (2009) und Konzerten, unter anderem mit dem Trompeter Erik Truffaz und den Young Gods, wurde ihr erster Longplayer «Dogs In Spirit» zu einem der meistgefeierten CH-Alben von 2011. Es folgte eine lange Tournee, auf der sie auch im europäischen Ausland das Publikum begeisterte. Der Erfolg war für die Sängerin und Pianistin auch eine Bürde: «Ein Album rausbringen, meine Lieder im Radio zu hören, das hat mich unter Druck gesetzt. Interviews geben zu müssen, fand ich ganz schlimm.» Leicht falle ihr das bis heute nicht, sagt sie, doch wirkt sie im Gespräch offen und selbstbewusst. Selbstsicherheit brauchte sie auch bei den Aufnahmen zum neuen Album «Neuro». Eingespielt wurde es in England mit Aarons Wunschproduzenten David Kosten (Bat For Lashes) und Jason Cooper, dem Drummer von The Cure. Die grossen Namen machten der Schweizerin Eindruck, einschüchtern liess sie sich aber nicht: «Man kann ja nicht in einer Schockstarre verharren. Als Liederschreiberin muss ich den Leuten sagen, was ich will. Und ich wusste genau, was ich wollte.» Das ungewohnt elektronische Klangbild war denn auch nicht die Idee des Produzenten, sondern wurde schon auf den Demos definiert. Wo in früheren Songs wie «Fire Over The Forbidden Mountain» eine archaische Mystik herrschte, beschäftigte sich Aaron diesmal mit Science-Fiction und dem Cyberspace. Die Themen bleiben aber ähnlich: «Künstliche Intelligenz hat ja auch etwas Mystisches. Früher war alles, das nicht physisch war, spirituell. Heute unterscheidet man zwischen physisch und digital. Das Digitale ist unsichtbar, wirkt aber trotzdem auf unser Leben ein.» Leichte Kost ist Anna Aarons Musik nicht. Es gibt eingängige Melodien und Momente von berückender Schönheit. Aber immer wieder öffnen sich Abgründe: «Now you sit on top of the world looking at the void at your feet», singt die Baslerin im Stück «Heathen». Eine stilistische Einordnung von Anna Aarons Musik ist nicht einfach. Ganz zu Beginn klang in den Klavierballaden Folk an, «Dogs In Spirit» war stellenweise ein Rockalbum, die neue Platte ist geprägt von elektronischen Sounds. Das ermöglicht Zugänge von verschiedenen Seiten, doch hinter den verschiedenen Stilen steckt am Ende wohl eine Singer/Songwriterin – ein Label, das die Musikerin allerdings von sich weist. Letztlich ist die Suche nach einer Stilschublade müssig. Anna Aaron passt in keine – das macht ihre Kunst so spannend. Früher zählte die amerikanische Düsterfolk-Band Woven Hand zu Aarons Vorbildern. In letzter Zeit wurde sie aber abgelöst von Musik aus den Achtzigern: Kate Bush, David Bowie und insbesondere auch Talk SURPRISE 320/14

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VON RETO ASCHWANDEN

Anna Aaron will Musik physisch erfahrbar machen.

Talk, eine britische Band, die mit exzentrischem Piano-Pop Hits landete. «Ich empfinde Talk Talk als sehr spirituell», sagt Anna Aaron. «Und es gibt auch heute wieder eine Sehnsucht nach einer physischen Erfahrbarkeit der Musik. Das ist etwas, das ich anstrebe.» Dies gelingt der Baslerin mit ihrem neuen Album, und auf der Single «Stellarling» klingt in den dramatischen Tastenschlägen tatsächlich der seltsame Pop von Talk Talk an. Wie schon im Video zu «Sea Monsters» vom Vorgängeralbum ist auch im Clip zur aktuellen Single «Linda» nackte Haut zu sehen. Das sei Zufall, sagt Anna Aaron, die Regisseure seien mit diesen Ideen gekommen. «Bei ‹Sea Monsters› ging es um Naturkinder, diesmal ist die drahtige Tänzerin mit der metallischen Bemalung eher ein Cyborg, was zum Thema des Albums passt.» Nun ist Nacktheit in Musikclips nichts Ungewöhnliches, bei Anna Aaron fällt aber auf, dass sie überhaupt nicht sexuell aufgeladen ist. «Ich habe mich auch textlich noch nie mit Sex beschäftigt», sagt sie dazu und lacht: «Vielleicht mache ich das dann mit 40.» Wichtiger sind Anna Aaron momentan die Gefühle. «Lieder zu schreiben ist für mich ein Instrument, um die menschlichen Emotionen zu ehren. Man baut eine Art Altar für die Gefühle, zu dem die Menschen gehen und ihren Emotionen eine Form geben können.» Und genau das ist «Neuro» geworden: ein Monument der Gefühle. ■ Anna Aaron: Neuro (Two Gentlemen/Irascible) Fr, 7. März, 21 Uhr, Kaserne, Basel; Do, 13. März, 21 Uhr, Bogen F, Zürich, Fr, 14. März, 21 Uhr, Dampfzentrale, Bern. www.annaaaron.com

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Kultur

Expedition in die irre Welt der Physik.

So sieht Leidenschaft aus: Gerhard Steidl mit Joel Sternfeld.

Buch Der Kuss der Quantenfee

DVD Der Bücherwurm

«Nikos Reise durch Raum und Zeit» macht die Quantenphysik zu einem Abenteuer von spielerischer Leichtigkeit.

Der Dok «How to Make a Book with Steidl» zeigt, wieso eine Erfüllung ist, mit dem Verleger Steidl ein Buch zu machen.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON DIANA FREI

«Wenn du möchtest, dass sich etwas ändert, dann hör auf, immer das Gleiche zu tun.» Dieser Satz steht eines Morgens wie von Zauberhand geschrieben als Leuchtschrift an der Decke über Nikos Bett. Und da es Niko eh nicht eilig hat, in die Schule zu kommen, wo er der Loser vom Dienst ist, folgt er einem inneren Impuls und nimmt einen Umweg. Der führt ihn vor ein verfallenes Haus – und direkt in eine Welt voller Rätsel und Abenteuer: die Quantenwelt. Das geht gleich hinter der Tür des nur scheinbar verlassenen Hauses mit dem Big Bang, dem Urknall, los – und einem Spielfeld, auf dem Materie und Antimaterie gegeneinander antreten. Von da an gelten andere Gesetze, weil es nicht nur schwarz oder weiss gibt, sondern beides gleichzeitig. Gut, dass Niko zwei Begleiter zu Hilfe eilen: der Elf Eldwen, ein wandelndes Lexikon, und die bildhübsche Quantenfee Quiona, deren Kuss Niko den Kopf verdreht, obwohl sich ihre Lippenatome de facto kaum berühren. Überhaupt ist das ein Dauerthema: die Sache mit den Atomen. Und dazu noch all die Leptonen und Photonen, Elektronen und Neutronen, die Lichtgeschwindigkeit und die relative Zeitmessung – rätselhafte Erscheinungen aus der Welt der Physik, die hier Alltag sind und Nikos Reise durch die Quantenwelt zu einem grossen Abenteuer machen. Da gibt es einen Quanten-Geheimdienst, Niko und seine neuen Freunde werden von Schwarzen Spektren verfolgt, fliehen per Teleportation, eilen auf Gravitonen wie auf Sieben-Meilen-Stiefeln, oder tanzen zwischendurch auch mal in der Unschärfe-Disko, in der das Higgs-Teilchen der umschwärmte Superstar ist. Wer nun aber glaubt, hier zu einer schweisstreibenden Physikstunde verdonnert zu werden, tippt schwer daneben. Denn all das kommt mit einer spielerischen Leichtigkeit daher, die selbst die schwersten Begriffe zu Puzzleteilchen in einem anregenden Zeitvertreib macht, der wie nebenbei noch lehrreich ist. Vor allem, weil wir wie der Held Niko die Magie entdecken, die sich hinter der Welt der physikalischen Formeln und Gesetze verbirgt.

Steidl ist ein Kunstbuchverlag, er hat Robert Frank im Programm, Ed Ruscha, Richard Serra, Jeff Wall und der illustren Namen viele mehr. Nun wagt sich also ein Dokfilm an die Buchherstellung und macht aus der trockenen Materie von Farbrastern und Papierqualitäten ein reizendes Kleinod. Denn es geht vor allem um die Begegnungen zwischen Künstlern und dem Verleger Gerhard Steidl. Es sind Besuche bei den Künstlern daheim: Robert Frank erklärt seine alten Arbeiten, redet über seine Schweizer Kindheit und die Bedeutung, die Amerika für ihn bekam (immerhin wurde er mit dem Fotoband «The Americans» berühmt). Wir besuchen Jeff Wall in Vancouver und sehen zu, wie Günter Grass unter Gerhard Steidls Aufsicht in mehreren Versuchen «Die Blechtrommel» aufs Buchcover schreibt. Es ist eine Reise durch die Welt mit eigenem Blickwinkel, aus der Perspektive der Macher. Steidl ist mit vollgestopftem Rollkoffer unterwegs: ein Reisender durch Sichtweisen, Künstlerleben, Ideenwelten. Gleichzeitig verfolgen wir die Entstehung von Joel Sternfelds Fotobuch «iDubai». Wir sehen, wie der hässlichste Einband gesucht wird, weil er dem Thema – der Konsumwut – entspricht, und wie der Strichcode dermassen vergrössert aufgedruckt wird, bis er nicht mehr notwendiges Übel ist, sondern zur Aussage wird. Neben allen grossen Namen bleibt Gerhard Steidl inmitten seiner handschriftlichen Notizen und unzähligen grauen Plastikablagen immer die Hauptfigur. Im weissen Arbeitskittel, mit dem Kugelschreiber in der Brusttasche: Wie ein Arzt sieht er aus, und in seiner Präzision gleicht er einem solchen auch in seiner Arbeitsweise. Es ist ein Film über Qualität als Erfüllung. Weil Inhalt nicht Content ist, der auch irgendwie zum Produkt gehört – sondern das Bestreben, Dinge gut zu machen. Ein Film nicht einfach übers Büchermachen, sondern über eine Haltung. Wie man ein Buch macht mit Steidl, das könnte fast auch heissen: wie man sein Leben richtig lebt. Denn das ist sicher nicht in einem billig gedruckten Ratgeber nachzulesen.

Sonia Fernández-Vidal: Nikos Reise durch Raum und Zeit. Ein Roman über die

88 Min., Englisch mit deutschen Untertiteln, mit Martin Parr, Robert Frank, Jeff Wall

Rätsel der Quantenphysik. Carl Hanser Verlag 2013. 22.90 CHF

Mit freundlicher Unterstützung von Les Videos, Zürich:

Gereon Wetzel, Jörg Adolph: «How to Make a Book with Steidl», Deutschland 2010,

www.lesvideos.ch

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BILD: ISTOCKPHOTO

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Sardellen und Knoblauch riecht man hier nicht. Gehören aber dazu.

Piatto forte Italienischer Spargel Wer es nicht erwarten kann, bis die ersten Spargeln zu haben sind, dem kann geholfen werden: mit dem italienischen Spargel, hierzulande unter dem Namen Brokkoli bekannt. VON TOM WIEDERKEHR

Die genaue Herkunft und Ausbreitung von Gemüse zu eruieren, ist immer ein Wagnis. Man muss sich dabei auf historische Quellen und Texte stützen. In den allermeisten Fällen wird für Gemüse, das heute bei uns beliebt ist, der asiatische Raum als Ursprung bezeichnet. Es ist allerdings gut möglich, dass der Brokkoli eine Ausnahme bildet. Erste zuverlässige Quellen über den Anbau und Konsum von Brokkoli finden wir bei den alten Römern. Drusus, der Sohn des römischen Kaisers Tiberius, soll ihn so geliebt haben, dass er sich nur noch von Brokkoli ernährte. Wahrscheinlich haben die Etrusker, welche als begabte Gärtner bekannt waren, den Brokkoli aus einer ursprünglicheren Kohlart gezüchtet. «Die Stiele lassen sich wie Spargel zubereiten und die Köpfe wie Blumenkohl» war die Rezeptanweisung, als dieses Kreuzblütengewächs den Weg zu uns fand. Entsprechend nannte man das Gemüse bei uns zu Beginn auch «Spargelkohl». Richtig durchgesetzt hat es sich trotz des Namens nie. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte man seine Qualitäten neu – vor allem als Vitaminlieferant. Brokkoli macht besonders Freude, wenn er nicht nur als aus dem Wasser gezogene Beilage kommt. Langes Kochen im Wasser tut ihm ohnehin nicht gut: Er verliert dabei alle Vitamine und Spurenelemente. Am besten kocht man zuerst ein paar Minuten die Stengel im Salzwasser und gibt dann noch für maximal fünf Minuten die Röschen hinzu. Gut abgetropft kommt alles in eine Bratpfanne mit etwas Olivenöl, in welchem der Brokkoli geschwenkt wird. So richtig italienisch wird der Brokkoli, wenn in der Bratpfanne vorher noch sechs bis acht Sardellenfilets und ein bis zwei fein gehackte Knoblauchzehen angezogen werden. Und ein veritables Piatto forte bekommt, wer jetzt alles mit al dente gekochten Orecchiette vermischt und Pecorino frisch darüber reibt. Besser können es auch die alten Römer nicht gehabt haben.

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Schluep Degen Rechtsanwälte, Bern

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Anyweb AG, Zürich

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A. Reusser Bau GmbH, Recherswil

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Verlag Intakt Records, Zürich

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Hotel Basel, Basel

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Homegate AG, Zürich

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Balcart AG, Therwil

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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applied acoustics GmbH, Gelterkinden

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Privat-Pflege, Hedi Hauswirth, Oetwil am See

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Hofstetter Holding AG, Bern

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Bachema AG, Schlieren

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fast4meter Bern, Storytelling & Moderation

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Fischer & Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Thommen ASIC-Design, Zürich

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mcschindler.com, PR-Beratung, Redaktion, Corporate Publishing, Zürich

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Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Proitera GmbH, Basel

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advocacy ag, communication and consulting, Basel

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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

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Margareta Peters Gastronomie, Zürich

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Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Bezugsquellen und Rezepte: http://piattoforte.ch/surprise

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BILD: ZVG BILD: FROUFROU

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LOUISE ROY

Ausgehtipps

Vorsicht bei Voodoo: Plötzlich sind da viele Ichs.

Zürich Das zertanzte Ich Die aktuelle Ausgabe des Tanzfestivals «zürich moves!» mag es komplex: Es geht um multiple Persönlichkeiten und Identitäten, die sich von einer auf die andere Person übertragen, um Gender-Fragen und andere persönlichkeitszersetzende Ideen. Dazu zählen Voodoo-Rituale bei Marie-Caroline Hominal und scheinbar marmorne griechische Statuen, die HulahoopReifen wie Saturnringe um die Hüften kreisen lassen. Oder die ausgestellte Körperzelle: Was würde passieren, wenn sie von allen anderen Objekten und Lebewesen beobachtet werden könnte? Was heisst es, sich zu entblössen? Wir wissen, Zellen können nicht reden. Aber tanzen. Antworten gibt es also von Andrea Martini auf der Bühne. (dif)

Ein Topf für alle: Grossfamilie in Burkina Faso.

Mein Freund, der Stock.

Bern Ein Blick über den Tellerrand

Zürich Jenseits von Pixar

Am Zoll erhält jeder Besucher einen Pass – etwa den eines äthiopischen Schulmädchens, eines amerikanischen Börsenmaklers oder bengalischen Fischers. Die Ausstellung «Wir essen die Welt» fordert nämlich zur Welt- und Entdeckungsreise auf: Wo schwimmen Fischstäbchen? Wozu sind Heuschreckenproteine gut? Und wie beeinflussen meine Kaufentscheide meine Gesundheit, die Umwelt und das Leben anderer Menschen? Nach dieser Bildungsreise mit Informationen über Genuss, Geschäft und Globalisierung ist – spätestens nach der Wiedereinreise in die Schweiz – jedem klar: Es lohnt sich, genau hinzuschauen, was in unseren Kühlschränken steckt. (mek) «Wir essen die Welt» – eine Ausstellung der Entwicklungsorganisation Helvetas, noch bis zum 24. Mai zu sehen im Käfigturm Bern. www.wir-essen-die-welt.ch

Eigentlich gibt es für Kinder im Kino nicht nur «Toy Story», «Monsters University» und «Tarzan» in 3D. Eigentlich gäbe es neben Disney und Pixar auch japanische Trickfilme, skandinavische Familienfilme und holländische Jugenddramen, die aber kaum ein Kino zeigt. Seit ein paar Monaten reichert nun das Filmpodium den Einheitsbrei jeweils am Samstagnachmittag mit Filmperlen für Kinder an, und erst noch zu kinderfreundlichen Preisen. Aktuell mit «Mein Freund Knerten». In der Titelrolle: ein sprechender Stock. Der kleine Lillebror zieht mit seiner Familie aufs Land. Hier ist das Leben allerdings schwieriger als erwartet. Erfolglos versucht sich der Vater als Vertreter für Damenunterwäsche, die Mutter arbeitet im Tante-Emma-Laden. Für Lillebror gibt es weit und breit niemanden zum Spielen. Bis eines Tages ein Zweig vor seine Füsse fällt und zum Leben erwacht: Knerten, das sprechende Zweigmännchen. (dif)

zürich moves!, Sa, 1. bis Sa, 8. März, Tanzhaus Zürich,

Filmpodium für Kinder: «Mein Freund Knerten»,

Migros Museum für Gegenwartskunst, Kino Riffraff und

Sa, 1., 8., 15. und 29. März, jeweils 15 Uhr, Filmpodium,

Kunstraum Walcheturm. www.tanzhaus-zuerich.ch

Nüschelerstrasse 11, Zürich. www.filmpodium.ch

Anzeigen:

CHF 59.–

Damenschuhe aus Istanbul. Tolle Formen und Farben, sehr gut verarbeitetes Rindsleder. Moderate Preise dank Direktimport. Online-Shop mit Gratisversand. www.stanbul-schuhe.ch

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BILD: CLAIRE MORIN

Industrieromantik: Stöbern im Offcut lohnt sich.

Homosexualität als Krankheit: Schwulsein in der Türkei.

Basel Für Bastler

Zürich Verdorbene Türken

Abschnitte und Reststücke von Holz, Papier, Metall, Textilien oder Kunststoffen: Was anderswo in die Mulde kommt, stellt der Verein Offcut im ehemaligen Turbinenhaus der Aktienmühle aus. Ob Künstlerin, Hobbybastler oder Werklehrerin: Hier kann jeder herumstöbern, sich inspirieren lassen, zu günstigen Preisen Hochwertiges einkaufen – und damit zur möglichst ganzheitlichen Wiederverwertung von Rohwaren beitragen. (mek)

Zwei Zitate reichen, um das Spannungsfeld dieses Dokumentarfilmes zu beschreiben: «Jeder Türke wird als Soldat geboren», lautet ein Sprichwort. «Homosexualität ist eine Krankheit und muss behandelt werden», sagte vor einigen Jahren die damalige türkische Familienministerin. Für die türkische Armee ist Homosexualität eine «psychosexuelle Störung». Stellungspflichtige, die sich zu ihrem Schwulsein bekennen, können sich ausmustern lassen. Dafür werden die jungen Männer im Militärspital medizinischen und psychologischen Tests unterzogen, die ihre sexuelle Neigung beweisen sollen. Im Zweifelsfall müssen sie sich zum Beispiel beim passiven Analverkehr ablichten lassen. Dass sie diesen verletzenden Weg gehen, um dann vor der Gesellschaft als halbe Männer und als «çürük», als verdorben, zu gelten – das zeigt, wie gross ihre Angst vor dem sein muss, was ihnen in den Kasernen blühen könnte. Im Dokumentarfilm «Çürük – The Pink Report» erzählen vier junge Türken von ihren Erfahrungen im Militär und mit der Ausmusterung. Alle versuchen sie, ein Leben in Normalität zu führen. Die einen offen in der Türkei, andere im Ausland. Gemeinsam sind ihnen die traumatischen Erlebnisse – und dass sie sich nicht zu Opfern machen lassen. (ami)

Verein Offcut – Materialmarkt für kreative Wiederverwertung. Öffnungszeiten: Mi, 11.30 bis 15 Uhr und Sa, 14 bis 17 Uhr. www.offcut.ch

Anzeige:

«Çürük – The Pink Report», Dokumentarfilm von Ulrike Böhnisch, Türkei 2010, 52 Min. Do, 6. März, 19 Uhr: einmalige Vorführung in der Reihe Donnerstagskino im Völkerkundemuseum der Universität Zürich. www.musethno.uzh.ch

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Verkäuferporträt «Wir hatten grosses Glück – viele andere wurden erschossen» Ashebr Tesfay (31) verdiente sein erstes Geld mit dem Verkauf von Kleidern auf einem Markt in Eritrea. Nach seiner Flucht verkauft er heute Surprise vor der Post beim Bahnhof in Lyss und hofft, bald eine Stelle im Hauswarts- und Liegenschaftsdienst zu finden.

«Ich bin in einem kleinen Ort südlich der eritreischen Hauptstadt Asmara mit zwei Schwestern und vier Brüdern aufgewachsen. Meine Eltern sind Bauern und leben vor allem vom Teff-Anbau. Teff nennt man auf Deutsch auch ‹Zwerghirse›, es gehört in meiner Heimat zu den Grundnahrungsmitteln. Daraus wird zum Beispiel das bei uns typische Fladenbrot ‹Injera› hergestellt. Um zusätzliches Geld für die Familie zu verdienen, verkauften einer meiner Brüder und ich nach der Schule Kleider und Schuhe auf dem Markt. Eines Tages kamen Leute der Armee in unsere Schule, um mir und andern Schülern und auch Schülerinnen zu befehlen, dass wir demnächst in den Militärdienst eintreten müssen. Da war für mich klar: Ich muss weg von hier. Von dem Moment an, in dem man bei uns im Dienst ist, kann man nichts mehr selbst bestimmen, und das je nachdem für sehr viele Jahre. Der Staat befiehlt, wer was und wie lange zu tun hat. Zwei meiner Brüder haben sich übrigens gleich entschieden wie ich und haben das Land verlassen. Einer von ihnen lebt heute in Äthiopien, der andere in Israel. Die Armeeangehörigen kehrten wenig später an meine Schule zurück und suchten nach mir, doch da war ich bereits weg. Ich bin zusammen mit einem Kollegen über die Grenze ins südlich gelegene Äthiopien geflohen. Wir hatten grosses Glück, dass uns die Grenzsoldaten nicht erwischten, denn die fackeln nicht lange. Ich weiss von vielen, die erschossen wurden. Auf meiner weiteren Flucht – in den Sudan, von dort tagelang mit einem Pick-up durch die Sahara nach Libyen und schliesslich die Überfahrt auf einem Schlauchboot nach Italien –, da wurde es immer wieder gefährlich, manchmal sogar lebensgefährlich, aber anscheinend wollte es das Schicksal, dass ich im März 2008 im Berner Jura, in der Asylunterkunft von Reconvilier, landete. In den ersten beiden Jahren hier in der Schweiz lernte ich Französisch. Mit dem Auszug aus der Asylunterkunft und dem Umzug nach Biel, später in einen deutschsprachigen Vorort von Biel, wurde ich neu eingeteilt und lernte fortan Deutsch. Auch wenn ich dankbar bin für jeden Kurs, den ich bis jetzt besuchen konnte, muss ich sagen: Dieser Sprachwechsel war nicht optimal – zwei neue Sprachen kurz nacheinander zu erlernen, hat bei mir ein ziemliches Durcheinander ausgelöst. Da ich auch noch Englisch spreche, rutschen mir immer wieder französische und englische Wörter ins Deutsche. Auf der anderen Seite helfen mir meine Französischkenntnisse vielleicht bei der Arbeitssuche. Ich suche eine Stelle als Mitarbeiter bei einem Hauswarts- und Liegenschaftsdienst, und da hat man oft mit Mietern unterschiedlichster Herkunft zu tun. Wenn es im Bereich Liegenschaftsdienst nicht klappt, suche ich in andere Richtungen. Ich bin ein Allrounder. Ich habe schon bei einer Firma gearbeitet, die Mauern, genauer gesagt Trockenmauern, erstellt.

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BILD: IMO

AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

Über die Asylorganisation ‹Asyl Biel und Region› habe ich verschiedene Einsätze geleistet, unter anderem konnte ich Malerarbeiten ausführen. Während des Praktikums bei einer Reinigungs- und Unterhaltsfirma habe ich gemerkt, dass der Führerausweis die Chancen auf eine Stelle erhöhen würde, aber darauf muss ich wohl noch eine Weile sparen. Wegen den verschiedenen Praktika, die ich in den letzten Jahren absolviert habe, und dem Fachkurs Hauswartung beim Schweizer Arbeiterhilfswerk (SAH) letztes Jahr stehe ich nicht immer regelmässig an meinem Verkaufsplatz vor der Post in Lyss. Manchmal, wenn es sehr kalt oder regnerisch ist, bleibe ich auch nicht so lange stehen. Aber wenn ich dort bin, freue ich mich über den Kontakt zu den Kunden. Diejenigen Leute, die regelmässig bei mir vorbeikommen, fragen, wie es mir geht und erkundigen sich, ob ich schon Arbeit gefunden habe. Viele haben auch versprochen, dass sie sich für mich ebenfalls nach einer Stelle umhören. Sie motivieren mich, positiv zu denken.» ■ SURPRISE 320/14


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Anja Uehlinger Baden

Ralf Rohr Zürich

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Fatima Keranovic Basel

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

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1 Monat: 500 Franken

320/14 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 320/14

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali, Florian Blumer (Nummernverantwortlicher), Diana Frei, Mena Kost redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Michèle Faller, Benedikt Loderer, Isabel Mosimann, Nicole Quint, Roland Soldi Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17150, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Christian von Allmen

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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BILDER: TOBIAS SUTTER

Surprise Da läuft was Surprise-Gesichter Ins beste Licht gerückt Im Zentrum von Surprise stehen die rund 400 StrassenverkäuferInnen, aber auch alle Sängerinnen des Strassenchors sowie die Teams der Strassenfussball-Liga. Genau diese sollen im neuen Jahresbericht sichtbar werden: die Gesichter von Surprise. Gesichter mit ihren Geschichten. Die Gesichter von Aisha, Fabian, Maxamed und Sokha, die regelmässig Surprise verkaufen; von Tareq, Carole, Loui und Ralf, die sich im Strassensport engagieren; von Markus und Rolf, den beiden Stadtführern der «Sozialen Stadtrundgänge» in Basel; und von Nadine und Doris, den beiden Sängerinnen aus dem Strassenchor. Sie alle waren bereit, sich von Tobias Sutter in seinem professionellen Fotostudio im Walzwerk Münchenstein ablichten zu lassen. Nach einem Kaffee und Pudern bei der Visagistin Sandra verflog die anfängliche Nervosität. Zusammen mit der Fotografin Sandra suchten sie ihre Fotos am Computer aus – das Resultat ist beeindruckend. Alle Fotos erscheinen ab Ende März im neuen Surprise-Jahresbericht 2013.

Carole vom Strassenfussball-Team AVRB Multicolor Basel in der Maske.

Auswahl der Fotos am Computer.

Ralph debattiert mit Rolf und Doris, Nadine wird geschminkt.

v.l.n.r.: Aisha, Sybille, Sandra, Fotograf Tobias Sutter, Sandra und Ralf.

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«Wie erfahren und meistern Armutsbetroffene den Alltag in unserer Stadt? Die Sozialen Stadtrundgänge zeigen Zürich aus einer unmittelbaren und für die meisten von uns nicht alltäglichen Perspektive.» Corine Mauch, Stadtpräsidentin Zürich

Null Sterne. Keine Punkte. Nix Glamour. Der erste «Soziale Stadtrundgang» in Zürich. Surprise-Verkaufende wollen aus der Sicht von Armutsbetroffenen, Obdachlosen und Ausgesteuerten durch die Stadt führen. Sie möchten aus ihrem Alltag erzählen und Orte zeigen, an denen man sonst vorüber geht – oder lieber wegschaut. Gemeinsam haben sie eine Mission: Sie wollen Vorurteile abbauen. Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter: www.vereinsurprise.ch/stadtrundgang Mit Ihrer Spende ermöglichen Sie einen etwas anderen Blick auf Zürich. Unterstützen Sie den Aufbau des Projekts «Sozialer Stadtrundgang» in Zürich: www.surprise.sosense.org

Verein Surprise, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, T +41 61 564 90 90, www.vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch


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