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Medizin ohne Seele Psychiatrieprofessor Daniel Hell im Interview Ist es ADHS? Martin geht nur zur Arbeit, wenn er Lust dazu hat

«Hi! Wir sind die Pflegeväter»: Wie ein schwules Paar Drillinge bekam

Nr. 328 | 27. Juni bis 10. Juli 2014 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Vorname, Name

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

Eine Tasse Solidarität! Zwei bezahlen, einen spendieren. Machen Sie mit! Café Surprise gibts hier: In Basel Café-Bar Aktienmühle, Gärtnerstrasse 46 Café Restaurant Haltestelle, Gempenstrasse 5 Post Bar, St. Johanns-Vorstadt 80 Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstrasse 96

In Bern Restaurant Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 Café Kairo, Dammweg 43 Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstrasse 39

In Zürich Café Zähringer, Zähringerplatz 11

Weitere Informationen: www.vereinsurprise.ch/cafesurprise Ein Projekt des Verein Surprise. 2

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Titelbild: Philipp Baer

Mit dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt in der Medizin habe sich unser Krankheitsverständnis geändert, sagt der emeritierte Psychiatrieprofessor und Depressionsexperte Daniel Hell. «Wir müssen dem seelischen Erleben Raum geben», fordert er. Doch geht es dabei um noch viel mehr. Nämlich darum, dass heute nicht mehr glaubwürdig ist, was nicht messbar ist. Darum, dass das Leiden eines Menschen nur dann etwas gilt, wenn es im CT-Scan, MRI oder EEG sichtbar ist. Das ist gerade bei seelischen Krankheiten ein Problem. Depressive Episoden sind nun mal kein Fieber, das man messen kann. 39,4 °C Depression gibt es nicht. Aber es gibt seelische Krankheiten, die einen aus der Bahn werfen und arbeitsunfähig machen. Und wenn eine Gesellschaft davon ausgeht, dass auch eine Depression in bildgebenden Verfahren sichtbar gemacht werden kann, verliert das subjektive DIANA FREI Befinden jegliche Glaubwürdigkeit. Dabei geht es letztlich auch um Geld, um Exis- REDAKTORIN tenzgrundlagen, um IV-Renten. Wieso es gefährlich ist, dass sich die Psychiatrie immer weniger als Seelenheilkunde versteht und immer stärker zur angewandten Gehirnlehre wird, lesen Sie ab Seite 10 im Interview mit Daniel Hell. Ab Seite 17 finden Sie eine weitere Geschichte, bei der es darum geht, dass nicht sein darf, was nicht diagnostiziert ist. Dass einer einfach so regelmässig vergisst, zuhause die Lebensmittel zu versorgen, seine Wäsche herumliegen lässt und nur einkauft, wenn er Lust dazu hat, wird nicht akzeptiert. Und seine Freundin wird belächelt und kritisiert dafür, dass sie sich einen solchen Mann antut. Vielleicht wäre die Sache einfacher, wenn eine handfeste Diagnose da wäre. Vielleicht würde ihm und ihr mehr Verständnis entgegengebracht, wenn es wirklich ADHS wäre, wie sie glaubt und vermutlich auch hofft. Immer wieder berichten Leute nach einer lang ersehnten Diagnose: Seit ihr Krankheitsbild einen Namen habe, lasse sich leichter damit umgehen. Wahrscheinlich nicht zuletzt darum, weil das Umfeld eine wissenschaftliche Diagnose braucht. Was gemessen werden kann, ist anerkannt, und alles andere wird nicht ernst genommen. Menschen reagieren nun einmal emotional und reflexartig, wenn sie etwas nicht einordnen zu können, und sind froh um gesicherte Daten. Das ist verständlich. Aber es kann nicht sein, dass man diesen Reflex institutionalisiert und das subjektive Befinden, der persönliche Leidensdruck und eben – die Seele nichts mehr zählt. Ich wünsche Ihnen eine möglichst subjektive Lektüre. Herzlich Diana Frei

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 328/14

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BILD: ZVG

Editorial 39,4 °C Depression


06 06 07 07 08 14 22 23 24 26 28 29 30

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10 Psychiatrie Vermessene Seele BILD: PHILIPP BAER

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Inhalt Editorial Seelenlos Die Sozialzahl Ohne Geld nicht kinderreich Aufgelesen Nachgestellte Flüchtlingsfahrt Zugerichtet Drogenhandel für die Heirat Leserbriefe Kritisierte demokratische Schweiz Starverkäufer Melake Reda Porträt Im türkischen Folterkeller Literatur Schwule Väter Fremd für Deutschsprachige Die Pistazien der taubstummen Ochsners Kevin Smith Kein Ladenhüter Kultur Rom von unten Ausgehtipps Burleskes Familienepos Verkäuferporträt Der Sportler vom Kleinbauernhof Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP Da läuft was Swiss Media Forum

Heute hat immer mehr nur Gültigkeit, was man messen und zählen kann. Auch in der Psychiatrie. Die «Seelenkunde», die sie ursprünglich war, wird immer mehr zur angewandten Gehirnlehre. Das führt bis hin zur Annahme, man könne mit biologischen Methoden eine Depression diagnostizieren oder ausschliessen. Das sei falsch, sagt der emeritierte Psychiatrieprofessor und Buchautor Daniel Hell im Interview.

17 ADHS Wenn Zappelphilipp erwachsen wird ILLUSTRATION: PATRIC SANDRI

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Immer wieder ist Monika mit ihren Nerven am Ende. Ihr Freund Martin kommt und geht, wie er will, gemeinsame Pläne sind grundsätzlich zum Scheitern verurteilt, Widerspruch ist zwecklos. Martins Verhalten weist die typischen Symptome von ADHS auf – eine Störung, die sich, wie man seit Kurzem weiss, in vielen Fällen im Erwachsenenalter nicht auswächst und ganze Familien zerrütten kann. Oft bleibt die Ursache unerkannt.

BILD: ISTOCKPHOTO

20 Wohnen Lügen für den Mietvertrag

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Ein Dach über dem Kopf zu haben, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Aber im Konkurrenzkampf um bezahlbaren Wohnraum ist klar, wer zuerst verliert: Es sind Menschen in finanziellen Krisen. Oft müssen sie ihre Not verstecken, um überhaupt eine Chance zu haben. Betroffene erzählen von ihren Ängsten und Hoffnungen, vom Scheitern und von Erfolgen.

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Die Sozialzahl Späte Mütter «Bildung und Karriere wirken wie die Pille.» So kann man es in einem Beitrag lesen, der sich mit der Frage beschäftigt, warum Frauen immer später Kind er bekommen. Fakt ist, dass in der Schweiz seit den sieb ziger Jahren des letzten Jahrhunderts das Durchschnittsalter der Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes von Jahr zu Jahr ansteigt. Lag dieses einst bei 25,3 Jahren, so ist es inzwischen bei 30,4 Jahren angelangt. Schweizerinnen bekommen ihre ersten Kinder sogar noch später, Auslände rinnen etwas früher. Bei beiden zeigt die Tendenz aber weit er nach oben. Inzwischen ist ein Drittel der Mütter über 35 Jahre alt, wenn sie ihr erstes Kind bekommen. Die Folg en für die demografische Entwicklung liegen auf der Han d: Je später die Mütter ihre ersten Kinder bekommen, dest o kleiner wird die Familie sein. Es überrascht darum auch nicht, dass parallel zu dieser Entwicklung die Zahl der kind erreichen Familien in der Schweiz massiv abgenommen hat. Dies gilt auch dann, wenn inzwischen unter «kinderreich » schon eine Familie mit drei Kindern verstanden wird. Die häufigste Erklärung für diese Beob achtung verweist auf das eingangs erwähnte Zitat. Die Biografien junger Frauen haben sich deutlich veränder t. Junge Frauen haben heute andere Lebensentwürfe als ihre Mütter und erst recht als ihre Grossmütter. Sie sind länger in der Ausbildung und steigen dann in die Berufswelt ein, um finanziell unabhängig zu sein. Sie warten länger zu, bis sie den geeigneten Partner gefunden haben, bevor sie an eine Familiengründung denken. Es muss vieles stim men, bis der Kinderwunsch in Erfüllung gehen soll.

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Eltern statt Orang-Utans London. Seit zehn Jahren kümmert sich die 18-jährige Becky um ihre Eltern. Die Mutter hat seit einem Busunfall zahlreiche körperliche Beschwerden, der Vater leidet unter psychischen Problemen. Becky regelt zum Beispiel die Haushaltsfinanzen. Ihre Tage beginnen um fünf Uhr morgens und dauern bis in die Nacht. Ferien kann sich die Familie nicht leisten. Beckys Traumjob: verwaiste Orang-Utans zu pflegen. Sie ist sich sicher: «Ich werde warten müssen, bis sich die Situation ändert.»

Lega Nord im Süden Stuttgart. Sieben Aktivisten der rechtspopulistischen italienischen Partei Lega Nord wollten im April mit einer Überfahrt von Sizilien nach Tunesien beweisen, dass es für Migranten viel zu einfach sei, nach Europa zu gelangen. Was dann ziemlich in die Hose ging: Den Motorbrand vor Malta schafften sie noch zu löschen, dann aber versenkten sie ihren Kahn mit der Leuchtrakete, welche die Küstenwache hätte anlocken sollen. Immerhin: Die Parteifahne hielten sie tapfer über Wasser, bis eine zweite Rakete dann Rettung brachte.

Dr Goalie bin ig Hamburg. Als junger Mann war Hristo Toshev ein Shooting Star im bulgarischen Fussball. Über 200 Profispiele absolvierte er als Torhüter. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verdiente er in einer einzigen Saison in der koreanischen K-League viel Geld. Es folgten: falsche Freunde und die Finanzkrise. Heute sammelt Hristo vor dem Stadion des Hamburger Vereins St. Pauli Pfandflaschen und verkauft die Strassenzeitung. Vom Fünf-Sterne-Hotel unter die Brücke: «C’est la vie», sagt Hristo lapidar.

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Zugerichtet Berauschende Hochzeit Von den Publikumsrängen aus wacht sie über ihn, ruft ihm zu, er müsse aufstehen, wenn die Anklageschrift verlesen wird, und korrigiert ihn, wenn er die falsche Hausnummer angibt. Der Richter fragt, wer die Dame sei. Es ist die Ehefrau des Angeklagten Besim B.*. Dieser lange, hagere Mann Besim B., 30jährig, ist der qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz angeklagt. Er hat alles zugegeben, alles gesagt, was er wusste, die Strafe ist bereits abgesessen, er war vom März 2011, als die Sache aufflog, bis November letzten Jahres im vorzeitigen Strafvollzug. Kurz nach der Entlassung aus dem Gefängnis feierte er die Geburt seines Sohnes, der nun vier Monate alt ist. Feiern ist vielleicht das unpassende Wort, die grösste Angst der Familie B. ist, dass Besim ausgeschafft wird. Besims traurige Kriminalkarriere nahm ihren Lauf vor vier Jahren, als er, damals 26-jährig, aus dem Kosovo in die Schweiz kam zu seiner Braut, einer Schweizerin mit kosovarischen Wurzeln. Was für ein Leben Herr B. bis zum Zeitpunkt seines ersten Scheiterns geführt hat, erfahren wir nicht. An einem Fest lernte er Ibrahim kennen, einen Freund der Braut-Familie. Sie redeten über die bevorstehende Hochzeit Besims, die mehreren Hundert Gäste, die Kosten, und Herr B. werweisste, ob er einen Kredit aufnehmen sollte, da schlug ihm Ibrahim vor, das Geld vorzuschiessen, er könne es ja abarbeiten. Ein Jahr lang half Herr B. der «Bande» beim Drogenhandel, wobei er weitgehend die Anweisungen und Befehle von Ibrahim ausführte. Die Vorgehensweise der

«Bande» wird im Prozess nur in groben Zügen skizziert: Jemand kaufte das Kokain im Kosovo, Verkäufer unbekannt. Herr B. transportierte es in die Schweiz, lagerte es und lieferte es an Abnehmer in Stadt und Kanton Zürich, in Genf und im Elsass. Insgesamt 4,2 kg reines Cocainhydrochlorid, dazu 65 kg sogenanntes Streckmittel. Er habe jedoch nicht profitiert von dem Verkauf, erklärt er. Für einen Transport habe er höchstens mal 200 Franken erhalten, manchmal noch nicht mal das. Wieso er denn am Drogenhandel teilgenommen habe, wenn er gar keine Gegenleistung erhielt, will der Richter vom Angeklagten wissen. «Eben, sehen Sie», sagt Herr B. «Ich habe doch nicht die geringste Ahnung vom Drogengeschäft.» Hörigkeit, plus «ein einfaches Gemüt», plus Bedenkenlosigkeit, so benennt der Verteidiger das Verhängnis. Sein Mandant habe unentgeltlich gearbeitet, weil er sich verpflichtet fühlte. Drei Jahre Freiheitsstrafe seien deshalb mehr als genug, so bleibe auch die Chance intakt, dass er nicht ausgewiesen werde und bei seiner Familie in der Schweiz bleiben könne. Auf diesen Handel will sich der Richter nicht einlassen. Herr B. wird zu vier Jahren verurteilt. Zurück ins Gefängnis muss er nicht, da er 32 Monate bereits abgesessen hat und ihm ein Drittel erlassen wird wegen guter Führung und günstiger Sozialprognosen. Die Ehefrau empfängt ihren Mann mit offenen Armen, entschlossen, die alte Knast-Weisheit zu widerlegen, wonach manche Ehe im Gefängnis besser funktioniere als draussen. * persönliche Angaben geändert

ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 328/14


Leserbriefe «Veganer Sport ist Trendthema» Nr. 320: Das Goldene Kalb Fremd für Deutschsprachige – Rocco «Es ging darum, dass die Schweiz selbst bestimmen kann» Man könnte Ihre Überlegungen dahingehend interpretieren, dass Masseneinwanderungsinitiative «nein = aufgeschlossen, modern, intelligent / ja = rassistisch, dumm» bedeutet. Diese Interpretation scheint mir etwas einseitig und langweilig. Es ging weder darum, die ausländische Bevölkerung aus der Schweiz zu vertreiben, noch darum, die Einwanderung in die Schweiz zu unterbinden. Es ging lediglich darum, dass die Schweiz als souveränes Land wieder selbst bestimmen kann, WIE VIELE Ausländer NEU in die Schweiz EINWANDERN. Übrigens hatte die Schweiz auch vor der Annahme der Initiative keine Personenfreizügigkeit mit ca. 175 von ca. 200 Ländern der Erde (diese untereinander haben sie auch nicht), und trotzdem arbeiten in der Schweiz viele Menschen, die nicht aus der EU stammen. Dies wird auch nach der Annahme der Initiative so bleiben. Falls Sie sich neben Staats- und Völkerrecht auch mit Geschichte beschäftigen möchten, werden Sie feststellen, dass die Schweiz spätestens seit 1291 einen Sonderfall in Europa darstellt. Könige, Fürsten, in jüngerer Zeit das Deutsche Reich und nun die EU wurden und werden nicht müde, die demokratischen Entscheidungen der Schweiz zu kritisieren, sobald sie mit ihren politischen Interessen nicht übereinstimmen. Die Konsequenz der Entscheidungen der letzten 700 Jahre beurteile ich aber als äusserst positiv. Ich wünsche Ihnen, vor allem aber auch Ihren Eltern, dass Sie die Entscheidungen der Schweizer Stimmbevölkerung differenziert und unvoreingenommen betrachten können, ohne eine Abstimmung auf der Basis politischer Manipulation sogleich als fremdenfeindlich zu interpretieren. Thomas Lauener, per e-mail Nr. 325: Stark ohne Steak Körperkult – Pumpende Weltverbesserer

lin das erste Fitnesscenter für Veganer geöffnet, wie das Surprise-Magazin berichtet.» Gratulation zu eurer aktuellen Trendnase. Überhaupt: Wir lesen eure Beiträge sehr gerne. Sie sind informativ und berühren Themenbereiche, wo sonst weggeschaut wird. Elisa-Maria Jodl, Affoltern a. A. Nr. 326: Als Juwel ins Jenseits Porträt – Grenzen überwinden Verwirrliche Zahlen Im guten Porträt von Christian Mehr ist ein gravierender Fehler. Das Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» wurde von 1926 bis 1973 von der Stiftung Pro Juventute lanciert und vom Bundesrat unterstützt. Nach der Veröffentlichung einer Reportage über die Wegnahme der Jenischenund Sintikinder im Beobachter 1973 wurde der skandalöse Kinderraub beendet. Die Zahlen 1941 bis 1981 im Beitrag von Michael Herzig sind falsch. Helena Kanyar Becker, Basel Unser Autor antwortet: Sie haben recht, das Hilfswerk «Kinder der Landstrasse» entstand 1926 und wurde 1973 aufgelöst. Meine Jahreszahl bezog sich auf die administrative Versorgung: «Von 1942 bis 1981 wurden in der Schweiz tausende jugendliche Frauen und Männer von Vormundschaftsbehörden, Amtsvormündern, Beiständen und psychiatrischen Kliniken ohne straffällig geworden zu sein, also ohne jegliche juristische Prozedur, mit fadenscheiniger Argumentation für meist unbestimmte Zeit in Strafvollzugsanstalten zur Zwangsarbeit inhaftiert.» (http://www.administrativversorgte.ch/index.html) Die Jahreszahl ist in der Tat verwirrlich: Christian Mehrs Mutter war im Frauengefängnis Hindelbank effektiv administrativ versorgt, gleichzeitig waren sie und ihr Sohn aber auch Opfer von «Kinder der Landstrasse.» Michael Herzig

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 (0)61 564 90 99, redaktion@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

«Aktuelle Trendnase» Ich bin im 20 Minuten unter dem Thema «Vegane Ernährung boomt unter Spitzensportlern» auf folgenden Satz gestossen: «Im April hat in Ber-

Starverkäufer Melake Reda Agnes Lenherr aus Küsnacht ZH schreibt: «Surprise kaufe ich meistens bei Melake Reda vor der Migros in Erlenbach ZH. Ihn möchte ich zu meinen Starverkäufer ernennen. Ich schaue immer, ob er da steht und bin glücklich, wenn ich sein fröhliches Lachen sehe. Auch spricht er bereits etwas besser deutsch. Ich wünsche ihm alles Gute!»

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Porträt Rebellin wider Willen Als junge Frau geriet Tülay Korkmaz in die Folterkeller der türkischen Militärs. Später floh sie vor dem Staat und ihrer Familie in die Schweiz. Hier gab man der einstigen Lehrerin zu verstehen, dass sie gerade gut genug sei, um als Putzfrau zu arbeiten. VON NICOLE MARON (TEXT) UND JOHNY NEMER (BILD)

zu erlangen. Dadurch machte sie alles noch schlimmer – weil der Mann der religiösen Minderheit der Aleviten angehört und obendrein Kurde ist. Für die Eltern, türkische Sunniten, war das die katastrophalste Wahl, die Tülay treffen konnte. «Ich war vollkommen aufgerieben zwischen meiner Familie und der Partei, die beide auf ihre Art über mein Leben bestimmen wollten. Ich hatte das Gefühl, die schlimmste Zeit meines Lebens durchzumachen», erinnert sich Korkmaz. Doch weit gefehlt. Was ihr in ihrer 100-tägigen Haft nach dem Putsch angetan wurde, sollte ihr ganzes Leben prägen. Mit verbundenen Augen und hinter dem Rücken zusammengebundenen Armen wurde sie an der Decke aufgehängt, bis die Schultergelenke auskugelten und sie ohnmächtig wurde. Nackt wurde sie mit einem Strahl eiskalten Wassers abgespritzt, der so stark war, dass er ihre Organe beschädigte. Die Stromschläge, die sie ihr versetzten, hatten zur Folge, dass drei ihrer Zähne verkohlten. «Die täglichen Schläge auf die Fusssohlen und auf den Kopf waren noch das Leichteste. Nach 90 Tagen war mein ganzer Körper grün und blau.» Dass sie es heute schafft, darüber zu sprechen, ohne von den Erinnerungen zerrissen zu werden, ist nicht selbstverständlich. Nach ihrer Flucht in die Schweiz hat Korkmaz begonnen, bei Anhörungen für kurdische und türkische Flüchtlinge zu dolmetschen. «Oft konnten sie nicht über ihre traumatischen Erlebnisse sprechen», erzählt sie, «doch ich habe gelernt, ihre Körpersprache zu le-

Bis vor wenigen Jahren konnte sie überhaupt nicht darüber sprechen. In der Traumatherapie dann, als alles begann aus ihr herauszubrechen, war der Schmerz so übermächtig, dass sie sich beim Erzählen auf den Boden warf oder sich in den Arm biss, um ihn zu ertragen. Tülay Korkmaz war eine von 650 000, die 1980 ins Gefängnis kamen, nachdem sich die Generäle der türkischen Armee an die Macht geputscht hatten. Sie war damals gerade einmal 22 Jahre alt. Ihr Vergehen: Korkmaz, die als Primarlehrerin in einer osttürkischen Stadt arbeitete, war in einem Verein engagiert, der sich gewerkschaftlich organisieren wollte. Schon vier Jahre zuvor war sie festgenommen worden, weil sie an einem Protest gegen eine Schulreform teilgenommen hatte. Man verdächtigte sie, Mitglied einer kommunistischen Organisation zu sein. Doch sie kannte nicht einmal deren Namen. Mit Elektroschocks, Schlägen auf die Fusssohlen und der ständigen Drohung, sie zu vergewaltigen, versuchte man sie in der Untersuchungshaft zum Reden zu bringen. Doch sie schwieg – weil sie nichts wusste. Ihre Familie, die einige Autostunden entfernt in einem Dorf lebte, durfte von all dem nichts erfahren. Seit jeher verdächtigten sie Tülay, politisch aktiv zu sein – eine Ungeheuerlichkeit in einer Familie, in der man stolz war, viele Polizisten hervorgebracht zu haben. Der Vater hatte als Grossgrundbesitzer zu den Bessergestellten gehört und auf seinen Feldern Arbeiter zu «Ich war aufgerieben zwischen meiner Familie und der Partei, tiefen Löhnen beschäftigt. Das ging Tochter die beide auf ihre Art über mein Leben bestimmen wollten.» Tülay schon als Primarschülerin gegen den Strich, und sie begann, mit den Arbeitern über ihre Arbeitsbedingungen und den fehlenden Versicherungsschutz zu sen.» Es waren Symptome, die sie von sich selber kannte: Die Hände bediskutieren. Aussergewöhnlich für ein junges Mädchen, doch man kann gannen zu zittern, die Augen wurden gross und rot und die Kehle so es sich lebhaft vorstellen, wenn man die Frau anschaut, die aus ihr getrocken, dass man nur mit Mühe sprechen konnte. Tülay Korkmaz worden ist. Bestimmt, geradezu resolut ist sie, mit einer festen Stimme wusste Bescheid über die Dinge, die unausgesprochen blieben – was und klaren, starken Gesten. Der wilde Haarschopf tanzt, wenn sie sich Folter bedeutet, kann nur jemand verstehen, der es selber erlebt hat. ereifert. Und ereifern muss sie sich, wenn sie zurückdenkt. Egal was es Eine Therapie machen und einen Beruf ausüben – das wünschte sich für Konsequenzen hatte, sie leistete Widerstand – Widerstand gegen ein Tülay Korkmaz, als sie 1988 nach einer wochenlangen, erschöpfenden System, in dem man eingesperrt wurde, wenn man eine eigene Meinung und demütigenden Flucht mit ihrem Mann und ihrem vierjährigen Sohn hatte. «Ich bin schnell zur Überzeugung gekommen, dass dieser Staat in der Schweiz angekommen war. nicht mein Staat sein kann», sagt sie. «Die Polizei war nicht dazu da, die Aus einer Kommode holt sie einen dicken Ordner und knallt ihn auf Bevölkerung zu beschützen, sondern um sie zu unterdrücken und ihr den Tisch. «Da, meine Bewerbungsunterlagen!», sagt sie lakonisch. Der Gewalt anzutun.» Ordner ist voll von Kursbestätigungen und Zertifikaten – es gibt kaum Nach ihrer ersten Haft kaufte Korkmaz alle Publikationen, die von etwas, was Tülay Korkmaz nicht probiert hätte. Doch trotz ihrer jahrelinken Organisationen herausgegeben wurden, breitete sie zuhause aus langen Bemühungen und Hunderten von Bewerbungsschreiben hat sie und begann zu lesen. Sie wollte herausfinden, welche Ideologie ihr am in den vergangenen 25 Jahren nur phasenweise die Chance bekommen, ehesten entsprach. Nachdem sie für ihr politisches Engagement gefoltert einer bezahlten Arbeit nachzugehen, mit der sie ihren Lebensunterhalt worden war, wollte sie genau wissen, was dies bedeutete. Sie begann, sichern konnte. Heute leistet sie in erster Linie Freiwilligenarbeit und sich mit Kommunisten zu treffen und verbotene Zeitungen zu lesen. Als unterstützt Flüchtlinge dabei, sich in der Schweiz ein neues Leben aufihre Eltern davon hörten, liessen sie sie von der Polizei abführen und ins zubauen. «Ich möchte nicht, dass sie das Gleiche erleben wie ich. Ich Dorf zurückholen. Sie sperrten sie ein und verboten ihr, zurückzukehhatte das Gefühl, von den Behörden überhaupt nicht ernst genommen ren. Doch Korkmaz liess sich nicht aufhalten. Sie floh mitten in der zu werden und keine echte Unterstützung zu erhalten. Man gab mir Nacht, reiste zurück in die Stadt und heiratete in einer Nacht-und-Nedeutlich zu verstehen, dass es für unsereinen gut genug sei, ein paar bel-Aktion einen Parteigenossen, um Unabhängigkeit von ihrer Familie Brocken Deutsch zu verstehen und als Putzfrau zu arbeiten.» ■

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Psychiatrie «Hightouch statt Hightech» Der Schweizer Psychiater, Psychologe und Buchautor Daniel Hell ist einer der profiliertesten Experten im Bereich Depressionen in der Schweiz. Er beklagt, dass durch den Siegeszug der Neurowissenschaften das seelische Erleben vernachlässigt wird – und damit Fehldiagnosen gemacht werden.

VON ADRIAN SOLLER (INTERVIEW) UND PHILIPP BAER (BILDER)

Herr Hell, was ist Krankheit? Daniel Hell: Ich kann Ihnen einfacher sagen, was Krankheit nicht ist: Sie ist keine rein natürliche Angelegenheit. Denn die Natur diagnostiziert nicht. Sie bestimmt nicht, was gesund ist und was nicht. Wir Menschen bestimmen das. Und unsere Vorstellungen von krank und gesund ändern sich fortlaufend.

reduzieren. Damit hat sich die Psychiatrie in den vergangenen Jahrzehnten vor allem auf die Aussensicht – auf das, was beobachtet werden kann – versteift. Sie ist heute gehirnorientiert. Das Wort «Psyche» bedeutet Seele. Doch mit «Seelenheilkunde» hat die heutige Psychiatrie immer weniger zu tun. Eher ist sie eine angewandte Gehirnlehre geworden. Wie kam es dazu? Auf der einen Seite war es der technisch-wissenschaftliche Fortschritt in der Medizin. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Computer- und Magnetresonanztomographie entwickelt. Diese neuen bildgebenden Techniken hatten einen grossen Einfluss auf das Denken in der Psychi-

Was heisst das für Ihr Arbeitsgebiet? Die Veränderungen kann man in meinem Fachgebiet, der Psychiatrie und der Psychotherapie, besonders gut beobachten. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts galt derjenige als krank, der sich ordnungswidrig verhielt. Nach Die neuen bildgebenden Techniken hatten einen grossen Einfluss den Belastungen der Weltkriege galt vermehrt auf das Denken in der Psychiatrie. Plötzlich schien man dem Gehirn als psychisch krank, wer sich nicht anpassen beim Arbeiten zusehen zu können. konnte. Und heute – in der Wohlstandsgesellschaft – wird Krankheit weitgehend mit Leiden atrie. Plötzlich schien man dem Gehirn beim Arbeiten zusehen zu köngleichgesetzt. Psychische Krankheit entspricht nun einer Störung des nen. Und obwohl damit bisher kaum therapeutische Erfolge erzielt Wohlbefindens. So definiert die Weltgesundheitsorganisation WHO Gewerden konnten, änderte sich unser Krankheitsverständnis. Es wurde sundheit als leidensfreien Zustand. neurologischer. Wie bewerten Sie diese Definition von Krankheit? Und auf der anderen Seite? Grundsätzlich hat die Weltgesundheitsorganisation mit dieser Definition Parallel dazu ist in der Gesellschaft – mit dem Aufkommen des Compueinen wichtigen Schritt gemacht. Sie nimmt den Menschen ernster. Aber ters und des Internets – ein Visualisierungstrend festzustellen. Heute die Definition kann auch schädlich sein. Denn nicht jeder Leidenszuzählt vor allem, was man sehen, was man zählen kann. Auch die Psystand ist eine Krankheit. Wird jemand gedemütigt, stigmatisiert und sochiatrie muss Zählbares und Sichtbares vorweisen. Der Druck der sogezial ausgegrenzt, ist sein Leiden nicht unbedingt krankhaft. Es zeigt auf, nannten evidenzbasierten Medizin ist gross. Er hat teilweise zu absurdass etwas nicht in Ordnung ist. Es ist ein nötiger Aufschrei. den Praktiken geführt. Etwa wenn man mit untauglichen biologischen Methoden eine Depression ausschliessen will. So will die InvalidenWas bedeutet das? versicherung in gewissen Kantonen mit bildgebenden Verfahren und Wir dürfen nicht jedes Leiden pathologisieren. Sonst kommen wir in EEG-Analysen unter anderem zusätzliche Hinweise dafür gewinnen, Teufels Küche. Und wir laufen Gefahr, nur noch das Leiden zu bedass eine IV-beantragende Person kein Anrecht auf eine IV-Rente hat. kämpfen statt den Ursprung des Leidens. Dieses moderne KrankheitsDiese Techniken lassen solche Schlüsse aber nicht zu. Damit kann manverständnis mündet allzu oft in reiner Symptombekämpfung. Auch gibt chen Menschen Unrecht geschehen. es heute den Trend, psychische Störungen auf Störungen des Hirns zu SURPRISE 328/14

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Neben diesem technischen Wandel gab es Auch die Psychiatrie muss Zählbares und Sichtbares vorweisen. in den Neunzigern auch einen wirtschaftDieser Druck hat teilweise zu absurden Praktiken geführt. Etwa lichen. Hatte die Liberalisierungswelle dawenn man mit untauglichen biologischen Methoden eine Depression mals auch einen Einfluss? ausschliessen will. Ja, unbedingt. Wirtschaftlicher Erfolg ist etwas Materielles. So nahm mit der Ökonomisierung Phobie» geschaffen. Ob sich unter dem Strich aber nur die psychiatrides Gesundheitswesens auch die Bedeutung des zählbaren Erfolgs, des schen Diagnosen ausgeweitet und vermehrt haben, das ist die grosse Quantifizierbaren zu. Und messbar ist halt eben nur das Sichtbare. Das, Frage. was sich mit Geld zählen lässt. Der Markt hat schnell auf diesen Wandel reagiert. So arbeitete die Pharmaindustrie an der Popularisierung geWas glauben Sie? wisser Krankheitsbilder, propagierte Depression als behandelbare HirnPersönlich glaube ich, dass sich auch die Probleme der Menschen verstörung – und schob ihre Medikamente nach. ändert haben. Mentale Überforderungen wurden häufiger. Man denke nur an die grossen Veränderungen am Arbeitsplatz. Heute sind die meisAls depressiv gelten in der Schweiz immer mehr Menschen. Mittten Menschen weniger körperlich, dafür mehr mental sowie emotional lerweile erhält diese Diagnose hierzulande jede fünfte Person im gefordert respektive eben oft auch überfordert. Die Beschleunigung und Verlauf ihres Lebens. Werden wir in der Schweiz psychisch wirkder Effizienzdruck machen uns mehr und mehr zu schaffen. Viele Menlich immer kränker? Oder hat sich einfach nur unsere Ansicht schen stehen heute unter dem Eindruck, ins Hintertreffen zu geraten, darüber geändert, was krank ist? überrollt zu werden. Auch mit der Globalisierung und der InformaSchwer zu sagen. Beides kann stimmen. Sicher nachweisen kann man, tionsflut kommen viele nicht zurecht. Dabei brauchen wir eine gewisse dass in den vergangenen Jahrzehnten eine Ausweitung der KrankheitsRuhe, um zu uns selbst zu finden. In der Psychiatrie müssen wir aufdiagnosen stattgefunden hat. Vor 50 Jahren kannte man vor allem die passen, nicht auch noch in diese Beschleunigungsfalle zu tappen. Vor manisch-depressive Erkrankung und die depressive Neurose. Das hat allem in der Psychotherapie müssen wir uns Zeit nehmen. Wir müssen sich völlig geändert. Heute wird anders diagnostiziert. Viel mehr Mendem seelischen Erleben Raum geben. schen erfüllen nun die Depressionskriterien. Seit der letztjährigen Überarbeitung des «diagnostischen und statistischen Leitfadens zu psyPlädieren Sie deswegen für eine Renaissance des Seelenbegrifchischen Störungen» (DSM-V) kann sogar der Trauernde schneller als fes in der Psychiatrie? depressiv gelten. So viel ist klar: Die Krankheitskriterien sind in den Ja, das seelische Erleben sollte in der Psychiatrie und Psychotherapie gevergangenen Jahren immer weiter geworden. Auch wurden viele neue nauso wichtig sein wie das Gehirn. Denn das Gehirn beeinflusst das seeKrankheitsbilder wie das «prämenstruelle Syndrom» oder die «soziale

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lische Erleben, und was wir erleben, wirkt auf das Gehirn zurück. Es besteht also eine Wechselwirkung zwischen dem seelischen Erleben und dem Gehirn. Ich habe mit meinen Mitarbeitern selbst Neurowissenschaften betrieben. Deshalb erlaube ich mir zu sagen, dass die aktuellen Möglichkeiten der Neurowissenschaft in der Psychiatrie überschätzt werden. Die seelische Erlebensdimension hingegen, die wird unterschätzt. Sie hat in der Psychiatrie an Boden verloren. Vor allem bei akademischen Psychiatern spielt das Erleben eine immer geringere Rolle. Gegen diese Entwicklung wehre ich mich. Je mehr «Hightech» wir einsetzen, umso wichtiger wird «Hightouch». Und damit meine ich, seelisches Berührtsein, Achtsamkeit und Mitgefühl.

tige Diagnose «depressive Episode» keine psychologische oder biologische Einheit dar. Sie ist wahrscheinlich je nach Person unterschiedlich zu behandeln. Der Mensch ist einfach zu vielschichtig, um seelisch schubladisiert zu werden. Wie sähe denn Ihrer Meinung nach eine gute, effiziente Behandlung einer Depression aus? Wie gesagt reicht es nicht aus, Symptome zu zählen und Medikamente abzugeben. So eine Fünf-Minuten-Psychiatrie ist sogar gefährlich. Es gilt, die depressiven Beschwerden zu erfassen, die Alltagsprobleme des Menschen zu erkennen. Auch gilt es, die Einstellung eines Menschen zu seinem Leben und zu seinen Beschwerden zu verstehen. Dabei kommen grundsätzlich medikamentöse und psychotherapeutische Behandlungen infrage. Für mich steht aber fest: keine Psychopharmaka ohne persönliche Begleitung. Denn die Basis jeder guten Therapie – auch jene einer medikamentösen Therapie – ist die zwischenmenschliche Beziehung. Werden Antidepressiva im Rahmen einer vertrauensvollen Patienten-

Ist die Seele, biologisch gesehen, nicht dasselbe wie das Hirn? Oder was meinen Sie, wenn Sie von «Seele» sprechen? Nun, die Seele ist ein enorm vielschichtiger Begriff. Jeder weiss ungefähr, was er bedeutet – und niemand weiss es genau. Dass sich die klügsten Denker während Jahrhunderten mit dem Seelenbegriff beschäftigten, machte ihn nicht unbedingt schärfer. Diese Unschärfe hat vor allem damit Werden Antidepressiva im Rahmen einer vertrauensvollen Patienzu tun, dass die Seele – wie die Liebe oder die ten-Therapeuten-Beziehung abgegeben, wirken sie nachweislich Hoffnung – kein Ding ist. Sie lässt sich nicht besser. wie ein Gegenstand erfassen. Und weil die Neurowissenschaft eben auf das BeobachtbaTherapeuten-Beziehung abgegeben, wirken sie nachweislich besser. Oft re, auf das Sichtbare setzt, kann sie die Seele nicht fassen. Die Seele ist hilft auch eine Psychotherapie ohne Medikamente. Damit kann eine wichtig, sie hat mit dem Erleben zu tun. Persönlich verstehe ich unter leichtere bis mittelschwere Depression genauso wirksam behandelt werdem Begriff «Seele» die Fähigkeit des Menschen, sich mit den inneren den wie mit Medikamenten. Und das erst noch nachhaltiger. Sinnen zu empfinden. Und dank diesem Selbsterleben können wir zwischenmenschliche Beziehungen eingehen. Wie es scheint, müssen Sie sich für diese Ansicht in der Fachwelt oft rechtfertigen. Schon im allerersten Satz Ihres neusten Buches Verhindert ein unscharfer Seelenbegriff nicht eine objektive Diabetonen Sie «die Notwendigkeit des medizinischen Fortschritgnostik? tes». Gilt ein Psychiater, der heute den Begriff «Seele» verwendet, Eine objektive Diagnostik scheitert vielfach auch aus andern Gründen. als veraltet? Mit dem Festmachen von psychischen Störungen an Symptomen wollte Das ist leider ein wenig so. Verwenden Psychiater heute den Begriff man vom Symptombild auf Hirnveränderungen schliessen. Dies ist aber «Seele», müssen sie beweisen, dass sie keine Esoteriker sind. Dabei bisher kaum gelungen. Die meisten psychischen Störungen lassen sich geht es mir im erwähnten Buch um viel mehr. Ich versuche, die Spanmit biologischen Methoden nicht eindeutig festmachen. Das gilt auch nung zwischen innerem Erleben und äusserem Beobachten auszuhalfür die Depression. Das ist wohl so, weil sich das Erleben von Mensch ten. Ich möchte die Psychiatrie darauf verpflichten, das Seelische nicht zu Mensch unterscheidet. Es gibt eine grosse Vielfalt von depressiven isoliert im Gehirn aufgehen zu lassen. Die Psychiatrie muss es sich Erlebensweisen. Erlebensweisen, die die Psychiatrie heute aber alle mit bewahren: das Gleichgewicht zwischen Innen und Aussen, zwischen dem gleichen Begriff belegt. Das Erleben des Menschen sowie das Seele und Hirn. menschliche Gehirn sind zudem höchst komplex. Darum stellt die heu■

Daniel Hell: Krankheit als seelische Herausforderung. Schwabe Verlag 2013 SURPRISE 328/14

Daniel Hell, der demnächst seinen 70. Geburtstag feiert, leitet heute das Kompetenzzentrum «Depression und Angst» an der Klinik Hohenegg in Meilen. In den Achtzigerjahren wandelte er als Chefarzt die Schaffhauser Klinik Breitenau zum ersten Psychiatriezentrum der Schweiz mit durchgehender ambulant-stationärer Behandlung um. 1991 berief man ihn zum ärztlichen Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Im selben Jahr erfolgte die Ernennung zum ordentlichen Professor für Klinische Psychiatrie. Als Autor regt er seinen Berufsstand – und die Gesellschaft – immer wieder zur kritischen Reflexion an. So auch in seinem neusten Buch «Krankheit als seelische Herausforderung».

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Literatur Drillinge f체r Papa und Dad Eltern zu werden ist ein einschneidendes Erlebnis, das nicht nur den Alltag durcheinanderbringt, sondern auch Herz und Seele verr체ckt. Ein Buch erz채hlt die Geschichte eines schwulen amerikanischen Paars, das drei Pflegekinder aufnimmt. Ein Auszug aus dem Text, der jetzt auf Deutsch erschienen ist.

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VON KEVIN FISHER-PAULSON (TEXT) UND IRENE MEIER (ILLUSTRATION)

«Bereit für den Job?», fragte Brian, als wir in Richtung Bay Bridge krochen. «Nein», gestand ich. «Wir konnten uns nun mal keine neun Monate lang darauf vorbereiten. Aber wie sagt Tim doch immer?» «Spring einfach! Das Netz kommt von allein!» Tim war Wicca-Anhänger und glaubte an die Magie des Universums. Für ihn bedeutete der Spruch meist, Sex mit dem falschen Fremden zu haben. Sagte er den Spruch zu mir, dann weil ich davorstand, entweder ein Tattoo machen zu lassen, Fallschirm zu springen, oder weil ich auf eine Pyramide klettern wollte. Diese Fahrt besiegelte unseren Eintritt in die Welt der Elternschaft; ich hatte bis eben noch KOIT gehört, einen Sender mit Softrock, doch Brian schaltete um auf KDFC, klassische Musik. «Ich habe gelesen, das hilft, sie geistig zu stimulieren», erklärte er. Das war die erste von unzähligen kleinen Veränderungen in unserem Alltag, die in der Kombination für uns ein neues Leben ergeben würden. Gegen acht Uhr stellten wir den Wagen auf dem Parkplatz des Alta Bates Hospitals ab. Nachdem wir die Neugeborenenstation gefunden hatten, sagte ich begeistert zur diensthabenden Schwester: «Hi! Wir sind die Pflegeväter.»

ren keine Namen vergeben. Ein neuer Name geht immer mit einer magischen Verwandlung einher. «Und du bist Daddy», verkündete Brian. Joshua, in seinen Armen, zuckte bei der Vorstellung. Für einen Moment war ich perplex, dann warf ich ein: «Und dich taufe ich Papa.» Die Sache war gebongt. Als die Schwester zurückkam, fragte ich: «Wie geht es dem anderen Jungen?» «Er ist in der Kinderklinik. Nick-U.» Sie hantierte mit den Decken herum. «Nick-U?» «Neonatal Intensive Care Unit, die Intensivstation für Neugeborene. Er hatte eine nekrotisierende Enterokolitis. Nicht nur ein Kolostoma, sondern ein Ileostoma.» Mein Gesicht verzog sich zu einem Fragezeichen. «Ein Kolostoma betrifft den unteren Darmtrakt, also den Dickdarm. Bei der Ileostomie musste der Chirurg neun Zentimeter von seinem oberen Darmtrakt entfernen, dem Dünndarm. Was bedeutet, dass er nichts essen kann. Ausserdem haben sie ein Loch in seinem Herzen geflickt.» Am nächsten Morgen rief ich unseren Freund Jon an, um ihm zu berichten, was los war. «Stell dir vor!» «Was denn? Wieder arbeitslos?» «Besser. Brian und ich sind Eltern.» «Oh Gott, nicht noch ein Hund in Not. Gibt es da nicht eine Regelung: Drei sind die Obergrenze?» «Nein, Jon, hör mal. Wir sind Pflegeeltern. Von Drillingen.» Angesichts der Tragweite und Komplexität der Mitteilung reichte es, wenn wir sie einem Freund nach dem anderen weitergaben; so erfuhren nach und nach auch alle davon. Wir hatten Jon Anfang der Neunziger kennengelernt, kurz nachdem wir nach San Francisco gezogen waren. Es bahnte sich damals eine Beziehung zwischen ihm und dem durchgeknallten Chef einer neugegründeten Software-Firma an, für die ich arbeitete. Jon war gross, hatte blondes, gewelltes Haar, und er war eindeutig nicht der Richtige für meinen manisch-depressiven Vorge-

Vielleicht ein wenig zu begeistert. «Wie viele Pflegekinder hatten Sie denn bisher?», fragte die Schwester. «Keines.» «Wann standen Sie zum letzten Mal einem Kind sehr nahe?» «Hm, vor etwa vierzig Jahren. Da war ich noch ein Baby, wissen Sie.» «Dann sollten wir die Sache lieber langsam angehen», meinte sie mit einem Lächeln. Dann war es so weit: Die Schwester führte uns in ein kleines Krankenzimmer, in dem wir zwei unglaublich kleine Säuglinge sahen, nicht schwerer als fünf Pfund, die sich im winzigen Kokon einer rosa und pastellblauen Bettdecke Unsere Freunde aus der Tanz- und Polizeiwelt waren für guten Rat hin und her wanden. Ich machte mir Sorgen, nur beschränkt zu gebrauchen, dafür wurden wir die Lieblinge der nichts zu empfinden, da ich ja nicht der leibliNachbarn. che Vater war. Doch ich täuschte mich: Ich brauchte die zwei unserer drei Kinder nur einsetzten. Die Firma erlitt binnen eines Jahres Schiffbruch – zweifellos mal anzuschauen, und schon hatte ich mich in sie verliebt. Ein weiteres spielte dabei auch mein gekonntes Marketing eine Rolle. Die Beziehung Mal verliebte ich mich auch in Brian, weil der doch bereit war, das mit zwischen meinem Chef und Jon überstand keine drei Verabredungen, mir durchzuziehen. doch in der Zwischenzeit hatten wir Jon beigebracht, wie man Dop«Wollen Sie mal eins im Arm halten?», fragte die Schwester. pelkopf spielt. So blieb er uns auch nach der Trennung erhalten. Er kam «Klar … äh, wie nimmt man ihn?» zu unseren Oscar-Partys und zu unseren Ornament-Partys, und irgendMitleideig sagte sie: «Ich werde Ihnen einiges über das Füttern und Wiwann gehörte er zur Familie und zog in ein Haus drei Blocks entfernt. ckeln beibringen. Beginnen wir mit dem Abstützen des Kopfes.» Sie bearbeitete uns bis Mitternacht, wickeln und nochmal wickeln, Jon nahm sich von der Arbeit frei und kam an jenem Nachmittag, um Schluckauf und nochmal Schluckauf, bis wir den Bogen raushatten. Fotos von uns zu machen, wie wir mit Vivienne und Joshua das KranNicht in unseren kühnsten Träumen hatten wir mit Drillingen gerechkenhaus verliessen, um sie in unser Leben zu geleiten. Es herrschte net. Die Schwester verdunkelte die Lichter im Raum. «Ich bin in wenileichter Nebel, wie er im April nur selten vorkommt, und so stand ein gen Minuten zurück. Sie beide müssen sich an so etwas gewöhnen.» waschechter Regenbogen am Himmel. Als wir nach Hause kamen, begannen wir, neue Lebensabläufe zu entwerfen. Unsere Freunde aus der Und dann, als wir im trüben Licht der Monitore mit den Piepsignalen Tanz- und Polizeiwelt waren für guten Rat nur beschränkt zu gebraudie erste Fütterung durchführten, sagte Brian: «Wir müssen uns drei Nachen, dafür wurden wir die Lieblinge der Nachbarn. Da waren JJ und men ausdenken. Soll das Mädchen lieber Vivian heissen (meine Mutter) Helene, zwei polnische Schwestern, deren Töchter bereits erwachsen oder Marie (seine Mutter)?» waren. Helene war Krankenschwester, und auf ihrem Nachhauseweg Ich bin nicht blöd. «Vivienne Marie. Und für den einen Jungen wählst schauten die beiden täglich bei uns vorbei. Helene überprüfte die Kids du den Namen, für den anderen ich.» Brian, der den Jungen gerade im auf ihre Gesundheit hin und achtete auf jedes Lebenszeichen, JJ verArm hielt, sagte: «Mir hat Joshua immer gefallen, und er sieht auch aus sorgte Papa und mich mit Gerichten wie Sauerkraut mit Pilzen, was wie ein Joshua. Und der andere?» sich schrecklich anhört, aber himmlisch schmeckt. Ihre unmittelbare «Kyle Thaddeus.» In den folgenden Jahren würde ich mir eine lange und Nachbarin Dorla, eine Witwe, kam auch und setzte sich ins Wohnzimbreite Erklärung ausdenken, wie Kyle zu seinem Namen gekommen mer, wo sie Joshua wiegte und wiegte. Unten im Viertel wohnten Tita war, aber die Wahrheit lautete, ich hatte ein Comicbuch mit Catwoman Ann und Tita Nona, zwei philippinische Frauen, die uns beibrachten, gelesen, und jeder weiss, dass sie eigentlich Selina Kyle heisst. Der Pindie Kleinen zu wickeln. Lori, die Managerin von Brians Tanzensemble, guin hiess mit bürgerlichem Namen Oswald Cobblepot. Aber noch waSURPRISE 328/14

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Nach einer Woche ohne Schlaf war die Babypflege für Papa und mich beeine alleinstehende Frau Ende dreissig, stellte fest, dass Babys-aufstosreits zur Routine geworden: Baby füttern, Baby aufstossen lassen, Baby sen-Lassen ihr besser gefiel, als Tanztourneen auf die Beine zu stellen. umziehen, Baby zu Bett bringen, Babys Kleider waschen, Babys FläschEs war wie der Besuch der drei Weisen aus dem Morgenland, nur dass chen ausspülen und noch mehr Milchnahrung zubereiten, immer genau es in unserem Fall ein paar Weise mehr waren. Und so krank er auch dann, wenn Baby zu füttern war. Ach ja, und natürlich alles in doppelter war, selbst Tim kam vorbei und brachte den drei Babys Teddybären. Einer der ranghöheren Hilfssheriffs, mit denen ich zusammenarbeitete, Mike Gunn, sagte Vielleicht ist das der Grund, warum schwule Männer Kinder adoptiemir, seine Frau habe soeben ihren Job als Taren – weil sie dann nicht so sehr unter Druck stehen, als echte Kerle gesmutter aufgegeben; sie brachte uns Winrüberzukommen. deln, Bücher, ein Kinderbettchen und riesige, batteriebetriebene Schaukelstühle. Mikes Frau Ausführung. Eigentlich in dreifacher Ausführung, denn im Krankenhaus kannte sämtliche Tricks. Zum Beispiel wusste sie, warum man sich eijenseits der Bucht lag ja noch ein drittes Baby. Manchmal trug ich um nen Waschlappen auf die Schulter legen sollte, wenn man auf Babys drei Uhr nachmittags noch immer meinen Bademantel. Aus dem geistRülpsen wartet, oder warum DVDs von den Little Einsteins selbst Neureichen Schwulenpaar mit jeder Menge Zeit für Canapés und Cocktails geborene beruhigen. Jon kaufte ihnen sogar Gap-Outfits in Hellblau, waren über Nacht zwei an Schlafmangel leidende Männer mittleren AlHellrosa und Hellgrün. Dies qualifizierte ihn unverzüglich für die Rolters geworden. Es steckte eine Zärtlichkeit in uns beiden, die mich selbst le des Onkels. verblüffte. Nur schon wie Brian in seinem Schaukelstuhl sass und jenes Onkel Jon lernte all den praktischen Babykram, den zu pauken ich verBaby wiegte, das es gerade am nötigsten brauchte, manchmal stundennachlässigt hatte, zum Beispiel, wie man Kleidung in heissem Wasser lang am Stück, manchmal vor sich hinsummend. Oder wie wir uns kleiganz ohne Weichmacher wäscht, oder dass man Einkaufsbeutel aufbene Zettel schrieben, als wären wir noch jung und über beide Ohren verwahrt, um Windeln darin doppelt zu verpacken. liebt. Sogar wenn wir auf dem Holzfussboden lagen, wo ich Miss Grrrl Nach einer kleinen Prise Drama gestatteten uns die Schwestern der Inberuhigte, während Papa seelenruhig darauf wartete, bis die Spritze mit tensivstation für Neugeborene, Kyle zu besuchen. Wir mussten uns die den Medikamenten in sie eingesickert war. Abgesehen von unseren meHände abschrubben wie Chirurgen und Schutzmäntel anziehen, bevor dizinisch labilen Drillingen hatten wir ja auch eine Pekinesenhündin, die sie uns hineinliessen. Und da lag in einer kleinen Plastikbox das schickeine ihrer Nieren eingebüsst hatte und deren zweite Niere den Dienst versalsergebenste Baby, das ich je gesehen hatte. Kyle hing an einem Beatsagte, sodass wir ihr täglich Medikamente zu verabreichen hatten. Oder mungsgerät, aus seiner Nase ragte ein Schlauch, und seine Arme steckwenn wir die Schwestern vom Nick-U mit Peperoni-Pizza und aus dem ten voller Kanülen für Nahrung und Medizin; an einem Arm trug er ein Nichts herbeigezaubertem Kuchen überraschten. Vielleicht ist das der Blutdruckmessgerät, an seinem Zeh einen Herzmonitor, und auch aus Grund, warum schwule Männer Kinder adoptieren – weil sie dann nicht seinem Bauch führte ein Schlauch; die Bauchdecke war blutverkrustet. so sehr unter Druck stehen, als echte Kerle rüberzukommen. Nur mit zwei behandschuhten Fingern liess die Schwester uns seine ■ winzige Brust berühren. Flaschenpost für die Kinder Die Drillinge sind Brian und Kevin Fisher-Paulson nach einem Jahr behördlich und gerichtlich weggenommen worden. Die Begründungen waren christlich-moralischer Natur und hauptsächlich von persönlichen Interessen beteiligter Dritter geleitet. Die Kinder wurden daraufhin bei der leiblichen Mutter respektive in der Obhut von deren Mutter platziert. Nur Monate später waren sie dort aber bereits wieder weg, weil die Verhältnisse untragbar waren, wie Kevin Fisher-Paulson und sein Mann später unter der Hand erfahren haben. Der Autor schrieb sein Buch gewissermassen als Flaschenpost – im Original: «A Song for Lost Angels» – an die verlorenen Kinder. Er hat keine Ahnung, wo die Teenager heute sind. Aber er wollte sie wissen lassen, dass es in ihrem Leben eine Zeit gab, in der sie geliebt wurden. (Edition Spuren)

BILD: ZVG

BILD: ZVG

Kevin und Brian Fisher-Paulson haben später zwei Buben adoptiert.

Kevin Fisher-Paulson: Drillinge für Papa und Dad. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Oliver Fehn, Edition Spuren 2014

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ADHS Charme und Chaos Martin arbeitet nur, wenn er Lust dazu hat. Das Gleiche gilt für den Abwasch, für’s Aufräumen und für’s Einkaufen. Bis vor Kurzem hätte man Monikas Freund einfach Charakterschwäche und schlechte Erziehung attestiert. Vermutlich hat er jedoch wie etwa eine Viertelmillion Erwachsene in der Schweiz ADHS – ein unterschätztes Problem.

VON BIRGIT LUDWIG (TEXT) UND PATRIC SANDRI (ILLUSTRATIONEN)

Monika* sitzt im Wohnmobil und wartet. Immerhin hat sie sich diesmal Arbeit mitgebracht. Neben ihr auf dem Tisch: eine Thermoskanne Kaffee, ein Plastiksack mit seiner Kleidung, Rucksäcke, Jacken, Taschen. Um das Wohnmobil herum verteilt liegen Schrauben, Rückbänke, Kabel, Eimer, Putzmittel. Martin hängt kopfüber im Kofferraum eines alten Alfa Romeo, «eine Rarität!» Nur noch das Zündschloss muss repariert werden. Und ein bisschen geschraubt. Hinter ihm ein alter Mercedes, Kofferraum aufgeklappt. Er fährt noch, allerdings geht der Rückwärtsgang nicht. Wird demnächst repariert. Daneben: ein alter Opel. Fahrbereit, aber nicht SURPRISE 328/14

zugelassen. Monika fragt sich, warum er den Wagen nicht in der Garage seines Freundes repariert, wo sein ganzes Werkzeug liegt. Aber sie schweigt lieber. Sie fragt auch nicht, warum sie den Ostermontag auf dem Parkplatz verbringen. Schliesslich hätte er auch in der Pizzeria arbeiten können, das Geld könnte er gut gebrauchen, gerade nach seinem letzten Spontankauf, dem Wohnmobil. Sie weiss: Druck geht schlecht, die Situation eskaliert schnell. Und so ist es auch in Ordnung. Sie liest und geht mit dem Hund spazieren, und er schraubt. Grössere Unternehmungen sind kaum planbar. Monika vermutet: Ihr Freund leidet unter ADHS. Monika denkt zurück, wie es war, als sie Martin das erste Mal im Ausland bei seinem Sommerjob besuchte und von seiner Erkrankung noch

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ADHS zerrüttet Existenzen, Beziehungen, ja ganze Familien. Bis vor nichts ahnte. Sie stieg in Venedig aus dem Flugzeug, er hatte versprochen, Kurzem ging man davon aus, dass sich die Störung im Erwachsenenalsie dort abzuholen. Am Flughafen erreichte sie sein Anruf: «Nimm den ter auswächst – dies wurde jedoch als Irrtum erkannt. Heute schätzen Zug nach Triest, ich hole dich dort ab. Ich habe Probleme mit dem Auto.» Experten, dass rund die Hälfte der Betroffenen die Symptome auch nach So sass sie nachts zwei Stunden in einem einsamen Zug und wurde langKindheit und Adoleszenz noch zeigt. Eigentlich wäre ADHS gut behansam etwas unruhig. Zwanzig Minuten vor Mitternacht die Nachricht: «Habe etwas Verspätung, warte auf mich.» Monika war kurz davor, auszurasten. In Triest rief Monika fragt nicht, warum sie den Ostermontag auf dem Parkplatz Martin sie an: «Mein Auto haben sie an der verbringen. Sie weiss: Die Situation eskaliert schnell. Grenze zurückbehalten. Nimm ein Taxi zur Grenze». Monika entschied, erstmal im Hotel delbar, wenn sie erkannt würde (siehe Kasten). Betroffene durchleben gegenüber dem Bahnhof zu bleiben. Sie hatte die Nase voll. Er, selber völaber oft eine «Chronologie des Scheiterns», wie es die Fachärztin und lig erschöpft und der Hysterie nahe, war irgendwie erleichtert, dass sie ADHS-Spezialistin Astrid Neuy-Bartmann nannte, weil nicht erkannt die Entscheidung getroffen hatte. «Ich hole dich morgen ab», versprach wird, dass ADHS dahinter steht. er. Am nächsten Morgen sah die Welt dann wieder rosig aus – sie machte sich einen schönen Morgen in Triest, er holte sie danach tatsächlich ab. «Auffällig oppositionelles Verhalten» Sie fuhren ans Meer, und dann musste sie selber über die ganze Situation Monika tauscht sich regelmässig mit ihrer Freundin Barbara darüber lachen. Anstrengend war es aber irgendwie schon gewesen. aus, wie diese mit ihrem 14-jährigen Sohn Sven umgeht, bei dem ADHS Schwierig ist die Situation bei Martin und Monika auch zuhause. Ihdiagnostiziert wurde. Denn während ihre anderen Freunde das Verhalre ältere Tochter will nicht einsehen, warum sie aufräumen und sich an ten von Martin irritiert, kann es Barbara einordnen. Sie ist täglich mit Regeln halten soll, wenn der Freund der Mutter das nicht tut: Er steigt dem schwankenden Zustand ihres Sohnes konfrontiert. Zum Beispiel, aus der Badewanne und spült sie nicht aus. Er vergisst die Lebensmittel wenn er ins Hockey-Training gehen soll und stattdessen herumtrödelt. auf dem Tisch. Er kauft nur ein, wenn er gerade Lust dazu hat. Er lässt Druck aufzusetzen, weiss Barbara, nützt in dieser Situation überhaupt seine Wäsche herumliegen. Und wenn man mit ihm darüber redet, tut nichts: «Besser ich finde mich damit ab, dass er nicht hingehen wird.» er alles, um vom Thema abzulenken. Deshalb, unter anderem, wohnt er Manchmal geht Sven dann von selbst. «Auffällig oppositionelles Verhalnicht bei Monika. ten» ist eine Ausprägung, die ADHS bei Kindern und Erwachsenen anTrotz guter Ausbildung hat er kein regelmässiges Einkommen und nehmen kann. Dem ist mit Diskussionen nicht beizukommen, aber mit auch keinen festen Wohnsitz. Alle paar Wochen ist er so gereizt, dass Konsequenz. Barbaras Sohn ist fast nicht in der Lage, sich selber zu man ihm besser nicht in die Quere kommt. Wenn die Situation eskaliert, strukturieren und seine Kräfte einzuteilen. Deshalb geht er auch in eizum Beispiel wenn auch sie wegen ihres Jobs unter Druck ist, schmeisst ne anthroposophische Schule, in der auf Lernbehinderungen besondesie ihn raus, und es herrscht für ein paar Tage oder Wochen Funkstille.

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re Rücksicht genommen wird. Und während der Schulwoche bekommt er Ritalin. Barbara ist überzeugt: Anders geht es nicht. Svens Vater hingegen hält Ritalin für ein Mittel, um lebhafte Kinder ruhigzustellen. Kontroverse Diskussionen zwischen Ärzten, Selbsthilfegruppen und betroffenen Angehörigen dominieren in der Öffentlichkeit: um die Vergabe von Ritalin, dessen Langzeitfolgen noch nicht untersucht sind, und darüber, ob gewissen Verhaltensweisen nicht einfach mit mehr Konsequenz und Härte zu begegnen wäre. Bei manchen Kindern und Erwachsenen sind die Ausprägungen jedoch so stark, dass sie das Leben der Eltern und Angehörigen massiv beeinträchtigen. Chaos und Kämpfe sind dann an der Tagesordnung. Studien zeigen: Das Scheidungsrisiko vervierfacht sich, wenn ein Familienmitglied – ob Elternteil oder Kind – von ADHS betroffen ist.

erfolgreich in Berufen wie in der Computer- oder Medienbranche – solange sie sich ihr eigenes Refugium erobert haben, in das ihnen niemand hineinredet. Dann können sie Höchstleistungen erbringen. Wie Martin, wenn er einen Auftritt mit seiner Band hat und gut drauf ist. Wenn es ihm jedoch nicht gut geht, sagt er in letzter Minute Konzerte ab. Wie der Vater, so der Sohn Monika ist sich sicher, dass mit Martin etwas nicht stimmt und es sich nicht einfach um Launen und schlechtes Benehmen handelt. Trotzdem ist das alles für sie nur schwer auszuhalten. Tatsächlich erkranken auch Partner oft an Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen, weil es fast unmöglich ist, mit den Stimmungsschwankungen und dem Chaos umzugehen. Dass ADHS eine hohe Vererbbarkeit hat, bedeutet, dass oft Eltern und Kinder gleichzeitig davon betroffen sind – dann gerät die Situation schnell ausser Kontrolle. In solchen ADHS-Familien kann es in Stresssituationen auch zu körperlichen Auseinandersetzungen kommen. Auch der Vater von Sven hat vermutlich ADHS. Barbara ist jedoch ein sehr geordneter Mensch, die in ihrem Job als Sozialarbeiterin gelernt hat, Dinge auch für andere zu strukturieren. So bringt sie ihren Sohn dazu, sich auf kleine Schritte zu konzentrieren. Struktur gibt Sven auch

Tolle Stimme – keine Kohle Während sie noch immer im Wohnmobil sitzt, denkt Monika an gestern zurück. Schönes Wetter, Ostersonntag. Sie hatte eingekauft und wollte wenigstens einmal im Garten grillieren. Schon morgens machte sie Martin klar, dass sie möchte, dass er den Grill anwirft. Und Grillkohle organisiert. Um halb zwei Uhr mittags beginnen die Diskussionen. Der Grillrost ist dreckig, er bearbeitet ihn in Monikas Küche und verschmiert dabei das ganze Studien zeigen: Das Scheidungsrisiko vervierfacht sich, wenn ein Lavabo. Dann ist er verschwunden. Als er Familienmitglied – ob Elternteil oder Kind – von ADHS betroffen ist. wiederkommt, hat er zwar ein paar Brötchen besorgt, aber keine Kohle von der Tankstelle mitgebracht. Ihr geht der Hut hoch. Sie hat zwar vorsorglich bei den der Ämtliplan daheim, der wird ganz genau abgearbeitet. ADHS-ler Nachbarn Kohle ausgeliehen, trotzdem macht es sie wütend, ihre negaschaffen es sonst typischerweise mittels Charme und grosser Hartnätive Erwartung bestätigt zu finden und immer andere in Mitleidenschaft ckigkeit, ihren eigenen Rhythmus durchzusetzen. ziehen zu müssen. Erstaunlich genug, dass die Situation dieses Mal Barbara hat für sich beschlossen, dass sie regelmässig eine Auszeit trotzdem nicht eskaliert und er nicht beleidigt wegläuft. Am Ende schafbraucht. Sie hat sich deshalb ausserhalb ein Zimmer gemietet, wo sie fen sie es doch noch, zusammen zu essen. Monika ist aber erschöpft, viermal die Woche schläft, wenn der Vater auf Sven aufpasst. Auch und die Kinder verdrehen genervt die Augen. wenn die Nachbarn das seltsam finden. Sonst hat sie nicht die Nerven Die Freunde von Monika verstehen nicht, warum sie das noch mitfür ihren Sohn. macht. Manchmal versteht sie es selber nicht. Wenn da nicht auch die Monika hat sich vorgenommen, Martin bei der nächsten Gelegenheit schönen Momente mit ihm wären: Er ist lustig, intelligent, sensibel. Er zum Arzt zu schleppen. Doch jedesmal, wenn sie das Thema anspricht, hat eine tolle Stimme. Es macht ihm nichts aus, sich vor einen Saal volweicht er aus. Bis zum nächsten Desaster. Dann steht er wieder vor ihrer ler Menschen zu stellen und seine Lieder zu schmettern. Und er leidet Tür, legt sich wortlos in ihr Bett und zieht sich die Decke über den Kopf. selbst unter seinen Schwankungen. Und schraubt, wenn es ihm besser geht, wieder an seinen Autos. ■ Viele ADHS-ler, egal ob Kind oder Erwachsene, strahlen eine grosse Präsenz und viel Charisma aus, wenn sie in Hochform sind. Dann sind sie schlagfertig, charmant. Diese «High functioning»-ADHS-ler sind oft * Alle Namen geändert.

ADHS: Symptome und Behandlung Gemäss der Beratungsstelle ADHS 20+ sind vier Prozent der Erwachsenen von der Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betroffen, in der Schweiz also rund 250 000 Personen. Verursacht wird ADHS durch eine Neurotransmitterstörung des Dopaminrezeptors im Gehirn. Es wird vermutet, dass die Stoffwechselstörung zu 70 bis 80 Prozent genetisch bedingt ist. ADHS wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO an verschiedenen Kriterien festgemacht, erstellt wird die Diagnose anhand von Fragebögen, Wahrnehmung und einer klinisch-neurologischen Untersuchung von Fachärzten. Zu den Symptomen zählen Ablenkbarkeit, Vergesslichkeit, Sprunghaftigkeit und Zerstreutheit ebenso wie Genialität, Eifrigkeit und Kreativität auf einem ganz bestimmten Gebiet. Weiter tritt häufig motorische Hyperaktivität auf, aber auch Verträumtheit und Abwesenheit. Solche Kinder fallen weniger auf, ziehen sich zurück, resignieren. Impulsivität und Aggression sind weitere typische Symptome, wie auch Sensibilität, Hilfsbereitschaft und Fröhlichkeit. Schnelle Erschöpfbarkeit und Lustlosigkeit schliesslich führen oft zu Resignation und damit zu Selbstzweifeln und mangelndem Selbstbewusstsein. Begleiterscheinungen von SURPRISE 328/14

ADHS sind u.a. Zwänge, eine hohe Unfallrate, Süchte, Tourette-Syndrom («Tics») oder eine Störung des Sozialverhaltens. Im Erwachsenenalter treten häufig Begleiterkrankungen auf, welche die Symptome von ADHS überlagern und deshalb fehldiagnostiziert werden. Dazu gehören Depression, Borderline oder bipolare Störung (früher manische Depression genannt). Zur Behandlung von ADHS werden Medikamente verabreicht (vor allem Ritalin), welche die Dopaminaufnahme im Gehirn unterstützen, die Konzentrationsfähigkeit erhöhen und die Impulsivität senken. Ausserdem wird mit Verhaltenstherapie versucht, die Selbstkontrolle und Selbstorganisation zu stärken und selbstschädigendes Verhalten des ADHS-Betroffenen zu verhindern. Ebenso gibt es homöopathische Mittel gegen ADHS, und auch durch gezielte Ernährung, z.B. mit dem Verzicht auf Zucker, können Verbesserungen erreicht werden. Die Diagnose ADHS ist immer noch umstritten, da die Symptome nicht direkt messbar sind. Die Behandlung durch einen Arzt, der auf ADHS spezialisiert ist, ist zentral für den Behandlungserfolg. Sinnvoll ist auch der Kontakt zu Selbsthilfegruppen, solche unterstützen auch Angehörige. (blu) Kontakt: www.adhs.ch; www.adhs20plus.ch

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Wohnen Räume, Träume und das Sozialamt

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Ein Bruch im Leben – und die Selbstverständlichkeit der eigenen Wohnung wird zur Zitterpartie. Ein Anruf vom Sozialamt – und der bereits versprochene Mietvertrag wird zurückgezogen. Zwei Betroffene berichten von ihren Erfahrungen.

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Warum ich ein Doppelleben führe Weil meine Siedlung abgerissen werden sollte, musste ich umziehen. Also besichtigte ich alle möglichen und unmöglichen Wohnungen. Maximal 1100 Franken durfte die Wohnung kosten. Da mein Lohn nicht zur Existenzsicherung reicht, werde ich ergänzend vom Sozialamt unterstützt. Dies war der Grund für viele Absagen. Nach unzähligen erfolglosen Wohnungsbewerbungen hatte ich doch noch Glück. Endlich bekam ich die Zusage für eine Zweieinhalbzimmerwohnung. Juhu! Meine Freude war gross. Es war nicht irgendeine Wohnung, nein, sie gefiel mir wirklich. Die Nachteile: Der Mietzins lag 250 Franken über meinem Budget. Also würde ich weniger Haushaltsgeld zur Verfügung haben. Die Wohnung lag im dritten Stock, ohne Lift. Egal, ich wollte ja sowieso fitter werden. Das Bad hatte kein Fenster. Na ja, alles kann man nicht haben. Küche und Bad waren aus den Sechzigerjahren, mit schwarz-braun karierten Böden. Mit etwas Dekoration würde das schon werden. Die Vorteile: Ein grosser Balkon in grün belaubten Baumwipfeln. Eine grosszügige Essecke neben der Küche. Ein Gasherd. Ein helles Wohnzimmer. Als der Mietvertrag kam, war ich so glücklich, dass ich nicht aufhören konnte zu lachen. Wie sollte ich das Mietzinsdepot von 2700 Franken bezahlen? Würde mir das Sozialamt ein Darlehen geben, welches ich abzustottern hätte? Oder mich einen Schuldschein unterschreiben lassen? Die Sozialberaterin wollte mir eine Mietzinsdepot-Garantie ausstellen. Es sei nicht möglich, Geld einzubezahlen. Egal ob als in Raten abzustotterndes Darlehen oder als offiziell dem Amt gehörendes Depot. Also musste ich die Verwaltung anrufen. Als die Sachbearbeiterin hörte, dass ich ergänzend vom Sozialamt unterstützt werde, nahm sie die Wohnungszusage zurück. Ich war entsetzt. Meine Sozialberaterin nahm mir den Hörer aus der Hand. Mit Erstaunen hörte ich, wie sie anbot, das Geld doch einzubezahlen. Ah, nun war das also plötzlich möglich? Trotzdem wollte die Verwalterin nicht mehr. Jetzt war mir gar nicht mehr zum Lachen. Warum hatte meine Beraterin mir nicht gleich das Geld vorschiessen können, wenn sie schlussendlich doch dazu bereit war? Dann hätte ich jetzt eine Wohnung. Was war falsch an mir, dass ich keine Wohnung bekam? Bin ich etwa kein Mensch? Oder lediglich einer zweiter oder gar dritter Klasse? Welche Kriterien musste man noch erfüllen? Reichte es denn nicht, einen Betreibungsregister-Auszug zu schicken? Auskünfte und Referenzen beim bisherigen Vermieter einzuholen? Am Arbeitsplatz anzurufen und ausführliche Telefongespräche mit meiner Vorgesetzten zu führen? Drei problemlose Mietverhältnisse in den letzten 23 Jahren zu haben? Was nun? Es blieb mir nicht viel Zeit. In wenigen Wochen musste ich ausziehen. Also musste ich weiter suchen, hoffen und bangen. Als letzte Mieterin verliess ich meine alte Siedlung. Endlich hatte ich eine Zweizimmerwohnung gefunden. 150 Franken über meinem Budget. Für das Mietzinsdepot habe ich mich verschuldet. Mein Vermieter weiss nicht, dass ich ergänzend vom Sozialamt unterstützt werde. Meine Nachbarn auch nicht. Ich führe ein Doppelleben. ■

Ein Traum wird wahr «Ein Stöckli?», frage ich nach. Die Frau am Telefon hatte mein Suchinserat in der Migros gesehen. Es rattert in meinem Kopf: Stöckli, das sind doch die schnuckeligen Häuschen, meist am Rande eines freistehenden Bauernhofes gelegen. Realitätsbewusst stelle ich die Frage nach dem Preis. Wie? Derselbe Preis, den ich für die potthässliche kleine Zweizimmerwohnung hätte hinblättern müssen, welche ich letzte Woche angeschaut hatte, direkt an einer verkehrsreichen Durchgangsstrasse? Dann folgen lange Tage bis zum Besichtigungstermin. «Irgendeinen Haken wird es haben», geht es mir durch den Kopf, «es wird wohl winzig und düster sein.» Ich habe mir angewöhnt, die Enttäuschung vorwegzunehmen. Es ist dann leichter zu ertragen, wenn es wieder nichts wird mit einem Dach über dem Kopf. Ich suche seit drei Jahren. Aber ohne festen Arbeitgeber, fixen Lohn und Referenzen hat man verloren. Seit ich von meinem Konkubinatspartner vor fünf Jahren verlassen wurde, knallte ich, was Recht und Gerechtigkeit angeht, mit ungebremster Wucht auf den Boden der Realität. Ich war zehn Jahre lang überglückliche Vollzeitmutter und Hausfrau und erkannte zu spät, dass Vertrauen in abgesprochene Worte nichts gilt. So «verlor» ich nicht nur meine über alles geliebte Tochter, sondern auch mein Zuhause und meine Existenz. Meine häusliche Arbeit und Rund-um-die-Uhr-Präsenz zählen nämlich nichts. Notdürftig wohnte ich bei Kolleginnen, für meine Tochter jedoch war es am besten, in ihrer gewohnten Umgebung zu bleiben. Die unzähligen Bewerbungsschreiben für eine Arbeitsstelle, gekoppelt mit ebenso erfolglosen Wohnungsbesichtigungen, gekrönt vom tiefsten Schmerz aller Schmerzen, der Trennung von meiner Tochter, trieben mich zeitweise in eine gnadenlose Hoffnungslosigkeit und tiefe Sinnkrise. Der Samstag ist da und ich besichtige das Stöckli. Die Lage ist spektakulär. Der Bauernhof liegt umgeben von Wiesen, dazu mit Panoramasicht auf die Pfannenstiel-Kette und den Greifensee. Das Häuschen ist zweistöckig und urgemütlich ausgebaut, mit Täferdecken und Sicht-Holzbalken, die in warmes Sonnenlicht gehüllt sind – ich bin überwältigt. Dann geht alles wie im Traum, die gegenseitige Sympathie wirkt, schnell werden wir uns einig, die befürchteten Fragen, bei denen ich jeweils ins Stocken gerate, bleiben aus, der Bezugstermin steht. Tage später noch kann ich es kaum glauben, warte auf das böse Erwachen. Es bleibt aus. Freude, Erleichterung, Zukunftsperspektiven beginnen mein unsicheres, leidgewohntes Inneres auszufüllen. Werde ich sie halten können, meine Oase? Bis heute hat diese Frage Dauerpräsenz. Die Antwort: Ich kann! Denn ich habe früh gelernt, einzuteilen. Seit fünf Jahren lebe ich fast ausschliesslich von meinen Ersparnissen, sehe jeden Franken als den letzten an, um nur das Allernötigste zu kaufen und meine Rechnungen fristgerecht bezahlen zu können. In meiner Jugendzeit musste ich während der Lehre Wohnung und Lebensunterhalt vom Stiftenlohn bezahlen. Für die Erfahrung, mit wenig auskommen zu können, bin ich dankbar! Einen Luxus gönne ich mir und meiner Tochter, die mich nun hauptsächlich am Wochenende besuchen kommt: Ich habe ihr einen jungen Hund geschenkt und mir einen treuen Mitbewohner. ■

Die Autorin, geboren 1967, lebt und arbeitet im Zürcher Unterland. Anita Stucki, 1962 in Zürich geboren, arbeitete nach kaufmännischer Lehre bis zur Geburt ihrer Tochter 15 Jahre bei der Neuen Zürcher Zeitung. Seit zwei Jahren wohnt sie im Zürcher Oberland und arbeitet als Kinderbetreuerin und Teilzeitangestellte in einem Pflegeheim.

Die beiden Erfahrungsberichte stammen aus der Schreibwerkstatt «Wohnen/Schreiben» der Caritas Zürich. Surprise druckt sie in leicht redigierter Fassung. Mehr Texte von Betroffenen, Inputs von bekannten Autoren wie Franz Hohler sowie Hintergrundinformationen zum Wohnen in schwierigen Situationen finden sich in der Caritas-Broschüre «Wohnen/Schreiben». Sie kann gratis bestellt werden unter: http://www.caritas-zuerich.ch/p53002241.html SURPRISE 328/14

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Fremd für Deutschsprachige Exoteneltern Als ich das erste Mal Muscheln ass, waren es Pistazien. Das war bei meiner Klassenkameradin Elena Ochsner zu Hause. Die vermeintlichen Müschelchen lagen in einer Keramikschale auf dem Wohnzimmertisch, und ich nahm an, das sei vermutlich so was typisch Italienisches, getrocknete Muscheln für die Gäste. Elenas Mutter kam nämlich aus Italien. Doch sie war nicht nur italienische Einwanderin, sondern auch taubstumm. Und da sie die einzige Taubstumme in Hallau war, reichte das den Leuten zu ihrer Identifikation. Italienerin brauchte sie da nicht auch noch zu sein. Herr Ochsner, ihr Mann, war folgerichtig nicht als Oberhallauer bekannt (er seinerseits war aus dem Nachbardorf eingewandert), sondern ebenfalls als taubstumm. Er trug meist orange Schutzkleider, da er den Strassenreinigungs-

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dienst im Dorf besorgte. Eine Arbeit, die er freundlich und stolz ausführte, wozu er übrigens auch allen Grund hatte: Sein Vorfahre Jakob Ochsner hatte als wohl berühmtester Oberhallauer im Jahre 1902 den Kehrichtwagen und den Kehrichteimer normiert. Dieser «Ochsnerkübel» verbreitete sich über die ganze Schweiz, ehe er in den Siebzigern vom Kehrichtsack verdrängt wurde. Doch auch davon sprach im Dorf keiner, wenn die Rede auf den taubstummen Ochsner kam. Es war in der dritten Klasse, als ich Elena erstmals besuchte, und dieser Mittwochnachmittag sollte später zu einer etwas zaghaften Freundschaft anwachsen. Uns verband etwas Besonderes: Auch meine Eltern waren taubstumm, auf ihre Weise; zu Beginn wegen ihres bruchstückhaften Deutschs und später wegen ihrer Unsicherheit. Besonders meine Mutter schämte sich für ihre holprige Sprache, für das gelegentliche Stammeln und Verstummen und liess darum, wann immer möglich, lieber mich für sie reden. Ich hatte es an Elena beobachtet und sie an mir: Wir waren beide Übersetzerinnen zwischen unseren Eltern und den Dorfbewohnern. Wir lasen ab, hörten zu und überführten Worte oder Handzeichen in die jeweils gegenüberliegende Sprache. Wir standen aber nicht nur vermittelnd zwischen den Eltern und den Dorfleuten, oft stellten wir uns auch zwischen sie, im Versuch, das wacklige Unwohlsein der

einen sowie die breitbeinige Überlegenheit der anderen aufzufangen. Wir merkten es sofort, wenn jemand mit «der Taubstummen» oder «der Jugoslawin» sprach, statt mit Elenas oder meiner Mutter. Und wir spürten, wenn jemand das Gefühl hatte, einer, dem unvollkommene Laute aus dem Mund kamen, müsse auch unvollkommen sein im Kopf. So versuchten wir Hochmut, Ungeduld, Misstrauen und Mitleid von unseren Müttern und Vätern abzuwenden – aber ebenso deren Schwäche zu verbergen vor den Einheimischen und ein wenig auch vor uns selbst. Sobald wir mit den Eltern und der gemeinsamen Sprache wieder unter uns waren, konnten wir unseren Vermittlerposten, den Posten vor ihnen, aufgeben und frei umherschwirren. Zuhause waren sie normal unsere Eltern, wir normal ihr Kind. Bis wir die Wohnung an der Hand von Papi verliessen und beim nächsten Grüezi auf der Strasse hochblickten zu einem «Jugoslawen» oder «Taubstummen». Da hätte man den Dorfbewohnern mal zurufen mögen, Jugoslawen und Taubstumme, so wunderbar exotisch sie klingen, sind auch nur Pistazien, so wie ihr.

SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 328/14


Kevin Smith Silent Bob spricht Am Neuchâtel International Fantastic Film Festival NIFFF sind grosse Namen eingeladen. George R. R. Martin, Autor von «Game of Thrones», wird viele Fans anlocken und einen anderen Gast – Kevin Smith – vielleicht in den Schatten stellen. Zu Unrecht. Denn dieser ist einer der stilprägenden Filmemacher des amerikanischen Independent-Kinos.

Sein Name ist so hundsgewöhnlich, dass sein Twitter-Account unter @ThatKevinSmith läuft, um ihn von den Hunderten anderen Kevin Smiths dieser Welt zu unterscheiden. Seine Filme bevölkern aber genau solche Figuren, die allesamt Kevin Smith heissen könnten. Leute, von denen man nichts Grosses erwartet im Leben, und sie von sich selber auch nicht. «That» Kevin Smith allerdings ist alles andere als gewöhnlich, sondern ein Wahnsinniger, der das unspektakuläre Vorstadt-Leben zum Filmstoff erklärt, nicht eben zimperlich mit seinen Lieblingsthemen Sex, Rassismus und Religion umgeht und die Dinge noch so gerne beim Namen nennt. Da sind zum Beispiel Jay und Silent Bob, der Drogendealer und sein beleibter Kumpel im langen Mantel (gespielt von Kevin Smith selber), der pro Film nur ein einziges Mal sein Schweigen bricht. Existenzen, die vor einem 24-Stunden-Shop namens Quick Stop gestrandet sind, dem Schauplatz von Smiths erstem Langfilm «Clerks» von 1994. Jay und Silent Bob sind danach zu wiederkehrenden Figuren in mehreren Filmen geworden. Sie sind nervig, aber irgendwie liebenswert, weil sie authentisch sind und nicht mehr vom Leben erwarten, als sie kriegen. Auch die Clerks selber, die «Ladenhüter», wie sie auf Deutsch heissen, wären von ihrer Ausbildung her zwar zu mehr fähig, leben aber ein unambitioniertes Leben. Das führt zunächst natürlich zu schrägen Szenen und einigem derben Humor, aber es steckt mehr drin: Smith zeichnet ein präzises Bild vom normalen Leben in Amerika. Seine Protagonisten sind keine Helden, sondern Durchschnittsmenschen, die keine Perspektive haben und keine wollen. Oder für die ein Vorankommen im Leben hiesse, alles Vertraute hinter sich zu lassen, also bleibt man lieber, wo man ist. Alles andere wäre ein Verrat. An sich selber, an seinen Freunden, am Umfeld, aus dem man stammt. «Richard Linklaters ‹Slacker› (deutsch ‹Rumtreiber›, die Red.) war meine blaue Matrix-Pille – der Film, der mein Leben verändern sollte», schreibt Kevin Smith in seinem Buch «Tough Sh*t»: «Diese wirre Ode an die Aussenseiter und Sonderlinge ermöglichte mir einen Einblick in eine andere, freie, assoziative Filmwelt: Ideen statt Plot, Menschen statt Charaktere, Nowheresville, Texas statt der in fast jedem Film bemühten Settings in Kalifornien oder New York.» Damit bringt Smith auch die Seele seiner eigenen frühen Filme auf den Punkt. Er mixt Alltagsleben mit Popkultur, und seine Figuren reden ständig über Filme. Die Fiktion macht einen Teil des Lebens aus, denn manchmal ist es wichtiger, was Luke Skywalker macht oder welche Hockey-Mannschaft gewinnt, als wie der eigene Alltag läuft. Kevin Smith ist seinen Figuren da offenbar nicht allzu fremd: Nicht nur hat er selber im 24-Stunden-Shop in New Jersey gearbeitet, wo «Clerks» gedreht wurde, auch heisst seine Tochter Harley Quinn. Nach der Figur aus der Trickserie «Batman» von 1992. Kevin Smiths Filme haben einige Markenzeichen – auch abgesehen von den Hockey-Schlägern in fast jedem Film: immer wieder die gleichen Schauspieler (Ben Affleck zum Beispiel), krude Episoden und rasante Dialoge, in denen oft aber gerade so viel Wahrheit steckt wie in einer Uni-Vorlesung. So ist «Dogma» zwar eine Komödie, verhandelt aber SURPRISE 328/14

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VON DIANA FREI

Er war selber einmal ein «Clerk» im 24-Stunden-Shop: Kevin Smith.

die Dogmatik der Ein-Gott-Religionen, vor allem natürlich des Christentums. In «Chasing Amy» wird dafür der lesbische Sex zerpflückt, und in «Clerks II» werden unter vielem anderem Beziehungen, Schwulsein und Rassismus durchdiskutiert. «Red State» von 2011 ist eine blutgetränkte Kritik an Amerikas evangelistischen Kreisen. Als Horrorfilm deklariert, ist er doch nie auf billige Effekte aus, sondern ein stilsicheres, beklemmendes Drama. Auch das anstehende Werk, «Tusk», ist ein Horrorfilm. Danach sind angekündigt: mit «Helena Handbag» eine weitere Christenheit-Komödie und tatsächlich «Clerks III». Aber Smith wäre nicht ThatKevinSmith, wenn er nicht noch Comics, Bücher und Drehbücher schreiben und das Podcast-Netzwerk Smodcast.com und einen Comicshop («Jay and Silent Bob’s Secret Stash» in Red Bank, New Jersey) betreiben würde. Jemand hat mal geschrieben: «Er lebt in Los Angeles und auf Twitter.» Kevin Smith auf allen Kanälen, und demnächst auch noch live in Neuchâtel. Wo er spricht. ■ Neuchâtel International Fantastic Film Festival NIFFF: 4. bis 12. Juli, Neuchâtel. www.nifff.ch

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BILD: IORIO, CUOMO (ARCHIVIO DEL MOVIMENTO OPERAIO E DEMOCRATICO)

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Kultur

Eine ganze Kirchengeschichte. Dem Papst aus der Hand gelesen.

Ist das Voyeurismus oder Berichterstattung? Aus «From Thousands of Possibilities».

Buch Rombesoffene Tristesse

Ausstellung Das Buch vor dem Gesicht

In Friedrich Christian Delius’ Erzählung «Die linke Hand des Papstes» verliert sich ein Fremdenführer in den Verstrickungen und Verdrängungen der Ewigen Stadt.

Eine besetzte Strasse steht im Zentrum der Ausstellung «From Thousands of Possibilities». Dabei geht es aber um mehr als das Ereignis an sich. Nämlich um Fragen wie: Wer filmt wie wen?

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON DIANA FREI

Der Fremdenführer steht vor einem Dilemma. Seine Kundschaft will das Postkartenrom. Palmen, Dolce vita und blauen Himmel, Kolosseum, Spanische Treppe und Sixtinische Kapelle – die ganze Rombesoffenheit, aus der sich schon der Schwärmer Lord Byron seine lyrischen Kulissen gebaut hat. Doch der Fremdenführer, ein pensionierter Archäologe, ist es gewohnt, tiefer zu schürfen, in allem die Geschichte und damit auch die Greuel der Vergangenheit und Gegenwart zu sehen, die er seiner Klientel, wenn er sie nicht verscheuchen will, nur in Appetithäppchen servieren darf, fein säuberlich zu Italien-Klischees verschnürt. Dann verschlägt es ihn eines Tages aus dem Rummel der Ewigen Stadt in eine der unscheinbareren Kirchen, zudem eine protestantische, inmitten des Zentrums der katholischen Welt. Und ausgerechnet hier erkennt er den Papst, ohne Sicherheits- und Medientross, in schlichtem Schwarz und ohne die Insignien der Macht. Der Erzähler sieht ihn nur aus dem Augenwinkel, und sein Blick bleibt an der linken Hand des Papstes hängen. Unweigerlich fragt er sich, was diese Hand tut, wenn sie nichts tut, und ihr Anblick wühlt all das auf, was in ihm rumort. So entsteht ein Bewusstseinsstrom, der uns mit sich reisst und wie nebenbei einige dunkle Kapitel der Geschichte in eine erschreckende Nähe rückt: das 5. Jahrhundert, in dem der ach so heilige Augustinus mit 80 Numiderhengsten das Dogma der Erbsünde erkauft und damit Gott zum Sadisten und alle folgenden Generationen zu Sündern macht, die Verstrickungen und Verdrängungen des Faschismus, und die Berlusconisierung Italiens, den schwärenden Boden, auf dem die Mafia blüht und über den wieder Hengste galoppieren, diesmal die 30 Araberhengste Gaddafis, ein Geschenk unter Diktatoren, die Religion nur als Mittel zum Zweck missbrauchen und doch von den Kirchen hofiert werden. Friedrich Christian Delius’ Erzählung ist eine unerbittliche, fesselnde und sprachgewaltige Abrechnung, in lauter kleine Abschnitte unterteilt, als wäre diese rombesoffene Tristesse nicht als Ganzes zumutbar – und in einer Schlusspointe von hellseherischer Qualität gipfelnd.

Maria Iorio und Raphaël Cuomo steigen in Archive, graben nach Filmdokumenten und machen Kunst daraus. So untersuchen sie einzelne Abschnitte der italienischen Geschichte, in der die Urbanisierung und das Kino eng miteinander verflochten waren. In den Dreissigerjahren vertrieb das faschistische Regime die Menschen aus dem Zentrum Roms und drängte sie an den Rand der Metropole. Anfangs der Vierzigerjahre begann dann das Kino mit dem italienischen Neorealismus auf die sozialen Probleme zu fokussieren und die Armut zu zeigen. Iorio und Cuomo setzen die Zeit der Vertreibung in Relation zu den Jahren 1969/70: Damals begannen sich die Bewohner der Barackensiedlungen zu wehren, indem sie ins Zentrum zurückzogen und dort zunächst ein Haus, dann die ganze Strasse besetzten. Ausgangspunkt der Ausstellung «From Thousands of Possibilities» ist historisches Archivmaterial, dessen ursprünglicher Zweck unklar ist. «Wir fanden einen 16-Millimeter-Film, der Szenen dieser besetzten Strasse zeigt», sagt Maria Iorio, «das Spezielle war, dass wir wenig Kontext hatten. Man weiss nicht, wofür dieses Material aufgenommen wurde und in welcher Reihenfolge es gedacht war.» Iorio und Cuomo machten einen Kunstfilm daraus. Zentrale Aussage: Die Bilder sind nicht verlässlich in dem, was sie abbilden, weil sie immer nur einen kleinen Ausschnitt zeigen können. Es sind Bilder «from thousands of possibilites», ausgewählte Bilder aus Tausenden anderen. «Wichtig für uns ist auch die Frage: Darf man die Leute so filmen? Einmal erfasst die Kamera eine Frau, und sobald sie es merkt, hält sie ein Buch vor’s Gesicht.» Das Buch haben Maria Iorio und Raphaël Cuomo ausfindig gemacht. Es ist ebenso ausgestellt wie ein Zeitungsartikel von Pier Paolo Pasolini, dessen eigene frühe Filme im Prekariat angesiedelt waren: Trotzdem kritisiert er hier, wie der Neorealismus die armseligen Verhältnisse darstellt. Und so macht die Ausstellung beides: Sie dokumentiert Roms Stadtentwicklung, stellt aber auch die Frage nach dem Umgang mit dokumentarischem Material.

Friedrich Christian Delius: Die linke Hand des Papstes. Rowohlt 2013. 27.90 CHF

Maria Iorio, Raphaël Cuomo: «From Thousands of Possibilities», noch bis Mo, 7. Juli, Les Complices, Anwandstrasse 9, Zürich. Nachfolgend: Sommerfest am Sa, 12. Juli ab 19 Uhr und Sommerfenster 2014. www.lescomplices.ch

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Glotzen und beissen gleichzeitig, Pastel del Vento sei Dank. 01

Piatto forte Pastel del Vento Die Fussball-WM ist im vollen Gange. Damit man beim Essen nicht das entscheidende Tor verpasst, gibt’s einfachen, aber guten Fingerfood aus Brasilien. VON TOM WIEDERKEHR

Pastel del Vento würden ins Deutsche übersetzt Windpasteten heissen. Das ist keine Anspielung darauf, dass beim Fussball ab und zu viel Wind um wenig gemacht wird. Sondern ist der Tatsache geschuldet, dass diese auf unterschiedlichste Arten gefüllten Teigtaschen beim Ausbacken aufgehen und dabei luftig-knusprig werden. Fingerfood aus der Strassen- oder Garagenküche hat in Brasilien eine grosse Bedeutung. Ob in den Grossstädten oder im abgelegenen Dorf: Die mobilen Küchen auf dem kleinen Handwagen sind überall präsent. Entweder werden auf dem Holzkohlegrill, der auch mal aus einer ausrangierten Lastwagenfelge gebaut wird, Fleischspiesschen gegrillt oder in einer grossen, Wok-ähnlichen Pfanne Pastel frittiert. Diese Teigtaschen können mit fast allem gefüllt werden: mit fein geschnittenem Gemüse, Hühnerfleisch, Rindshackfleisch, geriebenem Käse, mit Fisch oder Crevetten. Bei der Füllung sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Anders beim Teig. Da versteht der Brasilianer keinen Spass. Für etwa zwanzig kleine Pastels nimmt man 1,5 dl eiskaltes Wasser, 1/4 Tasse Öl, ein Ei, 500 g Mehl und 3 EL Cachaça, also brasilianischen Zuckerrohrschnaps. Alle Zutaten in eine Schüssel geben und mit dem Mehl zusammenkneten, bis ein geschmeidiger Teig entsteht. Jetzt den Teig mit der Pastamaschine oder dem Wallholz gleichmässig auf eine Dicke von 1,5 bis 2 mm auswallen. Dann in Quadrate der gewünschten Grösse schneiden, auf eine Hälfte die Füllung legen und die andere Teighälfte darüberschlagen. Jetzt die Ränder mit einer Gabel gut festdrücken und im heissen Öl goldbraun frittieren. Das Geheimnis ist übrigens der Schnaps im Teig: Er verhindert, dass der Teig beim Frittieren zu viel Öl aufnimmt und ist für die vielen schönen, knusprigen Blasen im Teig verantwortlich. Wer keine Cachaça hat, kann dasselbe Ergebnis auch mit Essig erreichen. Das Öl hat dann die richtige Temperatur, wenn sich ein ins Öl geworfenes Zündholz entflammt. Wer es nicht wie die Strassenköche machen will, stellt einfach die Fritteuse auf 175 bis 180 Grad ein.

Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Velo-Oase Erwin Bestgen, Baar

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Bruno Jakob Organisations-Beratung, Pfäffikon SZ

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Balz Amrein Architektur, Zürich

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Supercomputing Systems AG, Zürich

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Kultur-Werkstatt – dem Leben Gestalt geben, Wil SG

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Schluep Degen Rechtsanwälte, Bern

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Anyweb AG, Zürich

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A. Reusser Bau GmbH, Recherswil

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Verlag Intakt Records, Zürich

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Hotel Basel, Basel

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Homegate AG, Zürich

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Balcart AG, Therwil

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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applied acoustics GmbH, Gelterkinden

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Privat-Pflege, Hedi Hauswirth, Oetwil am See

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Hofstetter Holding AG, Bern

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Bachema AG, Schlieren

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fast4meter Bern, Storytelling & Moderation

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Fischer & Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Oechslin Architektur GmbH, Zollikerberg

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Kaiser Software GmbH, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Bezugsquellen und Rezepte: http://www.piattoforte.ch/surprise

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Teresa Margolles untersucht Gewaltexzesse.

Zürich Kunst und Totschlag So ein herziges Fleischfresserli, frisch geschlüpft.

Basel Dinos im Park Ein Märchen aus einer Zeit, als die Menschen noch Felle trugen, in Höhlen wohnten und Dinosaurier durch Wälder und Felder streiften? Ja, genau, und dazu noch ein geheimnisvolles Dino-Ei. Wie jedes Jahr zeigt das Theater Arlecchino in den Sommerferien im Park im Grünen täglich zwei Theatervorstellungen für die ganze Familie. Unter der Regie von Tanja Horisberger spielen Cynthia Mira, Dieter Probst, Reinhard Stehle und alternierend Silvio Fumagalli und Miriam Cohn die fantastische Geschichte «S Ghaimnis vom Dino-Ei». Da man die Vorstellungen unter freiem Himmel jederzeit verlassen kann, sind Kinder jeden Alters willkommen. (mek) «S Ghaimnis vom Dino-Ei», Theater Arlecchino, Sa, 5. Juli bis So, 17. August, täglich 15 und 17 Uhr, in der Arena im Park im Grünen (ehemalige Grün 80), Eintritt frei.

Freiwillige Helferin in der Gerichtsmedizin: So was gibt’s im Obduktionshaus in MexikoStadt. Die mexikanische Künstlerin Teresa Margolles engagiert sich seit über 20 Jahren dort, wo täglich zahlreiche, vorwiegend anonyme Opfer von Gewaltverbrechen angeliefert werden. Das hinterlässt Spuren in Teresa Margolles’ Schaffen. Sie umkreist mit ihren Werken Themen wie Tod, Gewalt und soziale Ausgrenzung. Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund entstehen ihre minimalistisch gehaltenen Arbeiten. Seit 2005 untersucht sie die Gewaltexzesse in der nordmexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez und den ebendort tobenden Drogenkrieg. Ciudad Juárez als Ort des Verbrechens steht auch im Zentrum ihrer ersten institutionellen Schweizer Einzelausstellung. Genauer: eine seit Anfang der Neunzigerjahre andauernde Serie von Frauenmorden. Margolles interessiert sich dabei primär für Spuren, welche die brutalen Delikte auf Architekturen hinterlassen, und dafür, wie diese den Alltag der Menschen prägen. Durch die Übertragung solcher Spuren in einen Ausstellungsraum erzeugt die Künstlerin eine spannungsgeladene Wechselwirkung zwischen nüchterner Präsentation und unerbittlichem Realismus. (ami)

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BILD: TERESA MARGOLLES, LA BÚSQUEDA (DETAIL), 2014, GALERIE PETER KILCHMANN, ZURICH

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Ausgehtipps

Nicht alles, was aus China kommt, ist unrettbar.

BE, BS, SO und ZH Alles reparierbar Eine Idee geht um die Welt: Kaputtes wegwerfen ist von gestern, heute wird wieder repariert. Und zwar ganz trendig-urban im «Repair Café», in der «Talent Bar» oder in der «reparierBar». Dort stehen Fachleute bereit, die einem beim Auseinanderschrauben des Toasters, beim Reparieren der Velo-Gangschaltung und beim Annähen des Rucksackträgers mit Rat und Tat beiseite stehen. Selbst so moderne und vermeintlich unreparierbar konstruierte Dinge wie MP3-Player und Smartphones müssen nicht gleich nach dem ersten Absturz weggeworfen werden – im Repair Café bekommen sie nochmals eine Chance. Dazu gibt’s Kaffee, und an den meisten Orten ist der Service dank ehrenamtlicher Arbeit sogar kostenlos. (fer) Repair Cafés gibt es u.a. in Bern (Turnhalle, Speichergasse 4, Sa, 28. Juni und Sa, 30. Aug., 16 Uhr), Basel (Quartiertreffpunkt Burg, Burgstrasse 7, Sa, 30. Aug., 10 Uhr), Zürich und Zuchwil SO. Übersicht über alle Repair Cafés und Details dazu, was alles repariert werden kann auf www.konsumentenschutz.ch/repaircafe

Anzeige:

Teresa Margolles, Sammlungspräsentation, noch bis So, 17. August, zu sehen im Migros-Museum für Gegenwartskunst, Limmatstrasse 270, Zürich. www.migrosmuseum.ch

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BILD: ZVG

BILD: CHRISTOPHE COËNON

Alt heisst nicht verbraucht: Bein zeigen im Altersheim.

Weder die Christen noch die Muslime wollen vor der Kamera Auskunft geben.

Zürich Burleskes Familienepos

Zürich Marienerscheinung selbstgemacht

Wir sehen einen alten Mann im Rollstuhl und denken, oje, da muss es sich um etwas Depressives handeln, denn da steht einer am Ende seines Lebens. Aber weit gefehlt: «Vader» (dt. «Vater»), die neue Produktion des belgischen Kollektivs Peeping Tom, ist eine Einladung an das Leben selbst. Der alte Mann steht inmitten eines kuriosen Altersheims, ist umringt von sechs Tänzern und zehn Statisten, und zusammen singen sie Lieder, getränkt mit Erinnerungen und Nostalgie. Das Leben verdichtet sich zu einem intensiven Erlebnis einzelner Momente der Vergangenheit und des Jetzt, es entspinnt sich ein burleskes Familienepos. Wenn die Kinder ihren Vater besuchen, entlockt ihm ihre Energie bisher Ungesagtes. Peeping Tom verknüpft technisch virtuose Tänze mit filmischen Bildräuschen, nimmt einen mit auf eine Reise durch surreale Parallelwelten und hält manchmal auch die Zeit an. (dif) je 20 Uhr, Halle, Gessnerallee Zürich.

In der Reihe «Donnerstagskino» zeigt das Völkerkundemuseum der Uni Zürich cineastische Perlen mit ethnografischem Charakter. Diesmal: eine dokumentarische Komödie, umgesetzt als Film im Film. Was sich vielschichtig und verschachtelt anhört, ist sehr einfach und sehr lustig: Namir Abdel Messeeh hat einen Film darüber gedreht, wie er einen Fim dreht über etwas, das nicht stattfindet. Namir ist in Frankreich aufgewachsen. Säkular. Seine Eltern, koptische Christen, stammen aus Ägypten. Als sich die Familie gemeinsam eine Marienerscheinung auf Videokassette ansieht, beschliesst Namir, in die Heimat seiner Eltern zu reisen, um diesem Phänomen nachzugehen. Doch weder die christliche Gemeinschaft noch Muslime möchten vor der Kamera Auskunft geben. Namir entschliesst sich, die Marienerscheinung selbst zu inszenieren. Eine Geschichte über die Selbstverleugnung und den standhaften Glauben einer religiösen Minderheit in der Opferrolle. (ami)

www.gessnerallee.ch

«La vierge, les coptes et moi» von Namir Abdel Messeeh, Ägypten/Frankreich 2011,

Peeping Tom: «Vader», Fr, 11. Juli und Sa, 12. Juli,

85 Min., Franz. mit engl. Untertiteln, Do, 3. Juli, 19 Uhr, Völkerkundemuseum, Pelikanstr. 40, 8001 Zürich. www.musethno.ch

KATHARINA TIETZE/KATHARINA HOHMANN

Winterthur Gummistiefel, Pelz und Tarnhosen

BILD:

©

Warum tragen Frauen Gummistiefel, wenn sie gar nicht im Matsch herumspringen wollen, ja es nicht einmal regnet? Warum tragen seit vorletztem Winter plötzlich alle wieder Pelz(-Kragen)? Warum tragen selbst Kinder heute Kleider im Armee-Design? Woher kommt überhaupt der Drang, sich jede Saison neu wie alle anderen zu kleiden? Und überhaupt: Warum heisst Mode heute Fashion? Mode wirft viele Fragen auf, das Gewerbemuseum Winterthur versucht, sie zu beantworten. Dies geschieht auf spielerische wie auf kritische Weise – so werden die Strategien der Modekonzerne und Designer von der Kreation bis zur Vermarktung aufgezeigt. Die Ausstellung wurde vom Museum für Kommunikation in Berlin gestaltet und bereits erfolgreich in ganz Deutschland gezeigt. Und Sie wissen ja: Was aus Berlin kommt, das muss hip sein. (fer) «Fashion talks – Mode und Kommunikation», Ausstellung im Gewerbemuseum Winterthur, Sa, 12. Juli 2014 bis So, 8. März 2015, thematische Führungen und begleitende Events, siehe www.gewerbemuseum.ch SURPRISE 328/14

Dauerbrenner: Jeans kommen wohl nie aus der Mode.

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Verkäuferporträt «Nicht ganz normal!» Er war Waffenläufer, Autohändler, Dachdecker: Urs Saurer (56) hat in seinem Leben schon vieles gemacht. Seit 15 Jahren verkauft er in Basel Surprise – unter anderem.

«Aufgewachsen bin ich in Ringoldswil am Thunersee, auf dem ‹Hoger› oben. Meine Eltern hatten einen Kleinbauernhof. Als Kinder halfen meine Geschwister und ich immer mit, etwa beim Heuen. Ich arbeitete auch viel bei meinem Götti auf dem Hof. Und wenn ich mich auf dem Heimweg mit meinem Schulschätzeli traf, sagte ich zu Hause einfach, ich hätte beim Götti länger arbeiten müssen. Gelernt habe ich Autolackierer. Während der Lehrzeit pickelte und schaufelte ich sechs Jahre lang auf einem Stück Land meines Vaters und baute so mein eigenes Geschäft auf. Abends fuhr ich mit dem Töff nach Interlaken und ging in den ‹Anker›. Meine Mutter hatte immer Angst um mich, denn sie wusste, dass es mir nie schnell genug sein konnte. Im ‹Anker› hatte es keine normalen Leute, nur Autohändler, Zuhälter, Drogierte, Alkoholiker. Bald erfuhr ich dort aber, dass mit dem Autohandel mehr Geld zu machen ist als in meinem Job. Ich stieg auch ein, war dann aber schnell weg, als ich feststellte, dass die Kollegen in diverse Dreckgeschäfte verwickelt waren. Danach arbeitete ich lange Zeit auf dem Bau, bei den Metallwerken in Thun, machte Fassadenbau im Welschland – obwohl ich keinen Ton Französisch spreche. Ein paar Jahre arbeitete ich auch als Dachdecker – mir kann’s nie gefährlich genug sein! Wichtig ist vor allem, dass es draussen ist. Ich könnte nicht in einem Büro hocken und auf dem Compi rumdrücken. Nach Basel kam ich vor 21 Jahren, auch wegen eines Jobs. Mein damaliger Chef wollte plötzlich nicht mehr alle Spesen zahlen. ‹Du kannst mir gleich den Lohn parat machen›, sagte ich. Wenn mir etwas nicht passt, sage ich es sofort. Zu Surprise bin ich durch Peter gekommen, der auch am Bahnhof verkauft. ‹Maximum eine Woche›, sagte ich mir, ‹dann höre ich wieder auf›. Und nun bin ich immer noch dabei, seit etwa 15 Jahren. Surprise verkaufe ich spontan, wenn ich Zeit habe. Grade abends nach einem Scheisstag sage ich mir: So! Nun gehe ich noch Surprise verkaufen. Ich mag den Kontakt mit den Leuten, brauche ihn sogar, und ich verkaufe gern. Ich arbeite auch im Tagelohn bei der Arbeitsintegrationsfirma ‹Overall› und habe ausserdem meinen Einmannbetrieb für Messeaufbau und Privatumzüge. Gerne würde ich auch etwas im Gartenbau aufbauen. Aussergewöhnliche Sachen, die man nicht überall sieht, gefallen mir. Zum Beispiel diese pinken Rosen beim Spalentor – das sieht traumhaft aus. Surprise verkaufe ich am Bahnhof, meist morgens und abends, aber nicht am Samstag. All die Leute, die zum Flughafenbus wollen oder von dort kommen und an dir vorbeirennen! Die gehen gestresst in die Ferien und kommen gestresst zurück. Ein Heft haben sie noch nie gekauft. Am Nachmittag verkaufe ich am Marktplatz, flirte ein bisschen mit den Brezelverkäuferinnen, die schon lachen, wenn sie mich von Weitem sehen. Hat jemand ein Sandwich in der Hand, sage ich ‹en Guete›. Andere lächle ich an und wünsche einen schönen Abend. Das kommt gut an. Eine Familie habe ich nicht, aber ich hatte eine ganz liebe Freundin, die im Februar leider gestorben ist. Ich bin jemand, der sehr viel ver-

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BILD: MIF

AUFGEZEICHNET VON MICHÈLE FALLER

kraftet, aber das hat mich schwer getroffen. Kurz darauf ist auch mein Vater verstorben. Das war ein harter Schlag. Früher habe ich viel Sport gemacht, etwa 250 Waffen- und Bergläufe. Beim Frauenfelder schaffte ich es einmal auf den sechsten Platz, den Thuner Waffenlauf habe ich vier Mal gewonnen, den Swiss Alpine Marathon Davos bin ich 20 Mal gelaufen. Hauptsache rennen! Schon während der Lehre stand ich um halb sechs auf, rannte durch den Wald, ‹stiftete› neun Stunden und trainierte abends auf der Bahn. Nicht ganz normal! Ich würde gerne noch weiterhin laufen, aber wegen der Kniescheibe und den Gelenken geht es heute nicht mehr. Dafür spaziere ich. Mit einer guten Kollegin, die auch nicht gerne allein ist, gehe ich übers Bruderholz, und im Predigerhof nehmen wir dann einen Kaffee. Fussball spiele ich aber noch, bei Surprise Strassensport. Ich war auch an der ersten Strassenfussball-Weltmeisterschaft in Graz dabei im 2003. Das war ein Erlebnis! Da könnte man ein Buch darüber schreiben.» ■ SURPRISE 328/14


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Anja Uehlinger Baden

Ralf Rohr Zürich

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Fatima Keranovic Basel

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

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PLZ, Ort

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1 Monat: 500 Franken

328/14 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, Postfach, 4003 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 328/14

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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Herausgeber Verein Surprise, Postfach, 4003 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Florian Blumer (fer), Diana Frei (dif, Heftverantwortliche), Mena Kost (mek) redaktion@vereinsurprise.ch, leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Philipp Baer, Michèle Faller, Kevin Fisher-Paulson, Birgit Ludwig, Nicole Maron, Irene Meier, Johny Nemer, Patric Sandri, Adrian Soller, Anita Stucki Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17 450, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke Vertriebsbüro Basel

T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) l.biert@vereinsurprise.ch, www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen.

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Surprise Da läuft was

BILD: ZVG

Redaktion Surprise Kritischer Journalismus als Luxus Im Mai traf sich in Luzern das Who’s who der Schweizer Medienszene am Swiss Media Forum. Auch Surprise war dabei: einige Erkenntnisse aus den Diskussionen und ein bisschen Geplauder aus dem Nähkästchen. VON FLORIAN BLUMER

Erst einmal wollen wir Ihnen etwas gestehen. Denn wie sollen wir glaubwürdig über die Problematik der Vermischung von Journalismus und PR berichten, wenn wir selber nicht transparent sind? Also: Uns wurde mitgeteilt, dass ein Redaktionsmitglied von Surprise gratis an der Tagung Swiss Media Forum teilnehmen dürfe, wenn wir zusicherten, einen kleinen Bericht über den Anlass zu bringen. Die Teilnahmegebühr hätte unser Budget überstiegen, gleichzeitig ist es für uns wichtig, am Puls der Branche zu sein. Wir haben auf der Redaktion intensiv diskutiert und kamen zum Schluss: Wenn wir finden, dass ein Bericht darüber unsere Leser interessieren könnte, ins Heft passt und wir transparent sind, machen wir das. Das ist übrigens allgemein unsere Devise, auch bei Themen, die an uns herangetragen werden. So viel zu unserer Politik. Am Forum wurden brisantere Grenzfälle diskutiert: Wie es wohl der neue Hamburger der grossen Fast-FoodKette auf die Titelseite der grossen Gratiszeitung schaffte? Wieviel hat das noch mit Journalismus zu tun, wenn zum Beispiel der Blick in der Titelgeschichte das Rolling-Stones-Konzert anpreist und Tickets über die dem gleichen Verlagshaus gehörende Ticketagentur verlost? Auf dem Podium wurde heiss diskutiert: Die Meinungen sind gemacht, die Gräben tief. Auf der einen Seite der Debatte stehen Journalisten wie Magazin-Redaktor und Kolumnist Daniel Binswanger oder Christof Moser, unter anderem Medienjournalist der Schweiz am Sonntag und Surprise-Autor, die für eine strikte Trennung plädieren. Auf der anderen Seite ist das stetig wachsende Heer an PR-Profis in Position. Binswanger als Vertreter der Journalismus-Fraktion machte deutlich, dass «die Feuerkraft» der Redaktionen in den letzten Jahren durch Stellenabbau und Budget-Kürzungen abgenommen habe und die Kommunikationsabteilungen von Firmen wie auch öffentlichen Institutionen gleichzeitig massiv ausgebaut wurden – was den Journalisten die Arbeit zusätzlich erschwert, weil sie immer weniger direkten Zugang zu Akteuren bekommen und die PR-Abteilungen immer stärker das Bild bestimmen, das die Öffentlichkeit von ihrer Firma oder Organisation hat. Andreas Hugi von der PR-Agentur Furer, Hugi & Partner auf der anderen Seite beklagte, dass in den letzten Jahren eine «Kriegsrhetorik» und «Darth-Vader-Philosophie» im Journalismus Einzug gehalten habe: Die Konzern-Kommunikationsabteilungen seien die Bösen, die Journalisten und die NPO-Vertreter die Guten – weshalb auch Oliver Classen, Herausgeber einer umfangreichen Recherche zur Problematik der Rohstoffdrehscheibe Schweiz, obwohl Mediensprecher der «Erklärung von Bern», den Journalismus-Förderpreis von Pro Litteris bekommen hat. Binswanger fügte an, Journalisten müssten sich damit abfinden, dass gross angelegte Recherchen aus finanziellen Gründen

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Optimist: Der Newsweek-Chef glaubt wieder ans gedruckte Wort.

in Zukunft öfter im NGO-Bereich stattfinden werden und Qualitätsjournalismus vermehrt durch Stiftungen finanziert wird. Letzteres ist Surprise nicht unbekannt: Neben unserer Haupteinnahmequelle, dem Heftverkauf, sind seit jeher Spenden und Stiftungsgelder eine wichtige finanzielle Stütze unserer Arbeit. Eine Arbeit, die übrigens trotz der Krise der klassischen Medien beruhigenderweise noch lange nicht überholt sein wird – dies jedenfalls liess sich aus den Ausführungen von Jim Impoco schliessen. Der Chefredaktor des legendären New Yorker Magazins Newsweek erzählte, warum seine Publikation 2012 die gedruckte Ausgabe einstellte und nur noch online erschien, nach nur einem Jahr aber wieder zum Printprodukt zurückgekehrt sei – sie hatten festgestellt, dass es für Qualitätsprodukte auch in Zukunft eine zahlende Kundschaft geben wird. Die schlechte Nachricht ist, dass Impoco das Potenzial im HochpreisSegment sieht, sprich: Eine gut betuchte Elite bekommt Qualitätsjournalismus im Luxuskleid serviert, der Rest wird mit Gratis-Blättern und -Sites abgespeist, bei denen zwischen redaktionellem Inhalt und Werbung oft nicht mehr unterschieden wird. Wir bei Surprise wissen, dass auch weniger gut betuchte immer wieder die sechs Franken für unser Heft aufwerfen. Wir werden jedenfalls auch in Zukunft alles daran setzen, Ihnen, liebe Käuferin und lieber Käufer, dafür Qualitätsjournalismus zu bieten.

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auch g u e N msta a S am

Nehmen Sie an einem «Sozialen Stadtrundgang» teil! Erleben Sie Basel aus einer neuen Perspektive! Tour 1: Konfliktzone Bahnhof – vom Piss-Pass zur Wärmestube. Samstag, 12. Juli 2014 um 9 Uhr. Tour 2: Kleinbasel – vom Notschlafplatz zur Kleiderkammer. Samstag, 19. Juli 2014 um 9 Uhr. Tour 3: Kleinbasel – von der Sozialhilfe zur Selbsthilfe. Samstag, 26. Juli 2014 um 9.30 Uhr. Anmeldungen unter rundgang@vereinsurprise.ch oder 061 564 90 40. Weitere Infos unter www.vereinsurprise.ch/stadtrundgang


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