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Gegen die Wand Auf Besuch bei den Demonstranten vom Taksim Spiel mit der Zensur – der iranische Regisseur Koohestani im Interview

Robin Hood 2.0: Ein Ökonom will die Börse knacken und die Armen reich machen

Nr. 331 | 8. bis 21. August 2014 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


Schön und gut. Ab sofort sind die neuen Surprise-Caps mit eleganter Kopfwerbung bei uns in Einheitsgrösse erhältlich: Zur Auswahl stehen sie in den Farben Schwarz und Beige. Zugreifen! Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Surprise-Cap CHF 16.– beige

Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

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50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

Alle Preise exkl. Versandkosten.

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Ist gut. Kaufen! Die neuen Surprise-Taschen sind da! Gemeinsam mit dem Secondhand-Shop «Zweifach» aus Basel haben wir neue und schicke Surprise-Taschen entworfen! Die Taschen werden umweltfreundlich aus nicht mehr gebrauchten Lastwagenplachen genäht und mit Autogurten versehen. Sie sind geräumig und verfügen innen über ein grosses Zwischenfach. Erhältlich sind sie in den Farben Rot, Blau, Grün, Orange und Schwarz. Je nach Vorrat kann die Lieferung bis zu drei Wochen in Anspruch nehmen. Zweifach ist ein Betrieb der Eingliederungsstätte Baselland und bietet jungen und erwachsenen Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit, im beruflichen Alltag Fuss zu fassen. Tun Sie sich, Zweifach und auch Surprise etwas Gutes und bestellen Sie noch heute ihre Tasche in ihrer Lieblingsfarbe! Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 45.– (exkl. Versandkosten) schwarz orange grün blau rot

Der Surprise-Schriftzug soll folgende Farbe haben schwarz weiss silber

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*gemäss Basic 2008-2. Seite bitteMACH heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Titelbild: Werk des Street-Art-Künstlers Banksy

Editorial Kampf um die Freiheit BILD: ZVG

«Glut der Freiheit» titelten wir im letzten Heft, und meinten damit das Grillieren, das ein Ernährungswissenschaftler als «letzte Freiheitsinsel» in unserer von Verhaltensvorschriften und digitaler Überwachung geprägten Welt bezeichnete. Wie gut wir’s in der Schweiz haben, wenn unser Freiheitskampf am Grill geführt wird! So möchte man erleichtert ausrufen mit den schrecklichen Bildern aus Gaza, Syrien und der Ukraine vor Augen. Angesichts der Freiheitskämpfe an diesen und anderen Orten in der Welt können wir uns hier entspannt zurücklehnen. Oder? Der iranische Starregisseur Amir Reza Koohestani erzählt im Interview ab Seite 18, dass es in seinem Land neben den – natürlich zensurierten – Einrichtungen Theater, Kino und Bildergalerien keine Orte gibt, wo sich junge Leute treffen und vergnügen FLORIAN BLUMER könnten: Es gibt keine Kneipen, keine Bars, keine Discos. Die Entwicklung in der REDAKTOR Türkei unter Premier Recep Tayyip Erdogan weist in dieselbe Richtung: In einer unheiligen Allianz aus islamischen Eiferern und reichen Investoren werden die Jugendund Clubkultur und die angestammte Bevölkerung aus den noch vor Kurzem pulsierenden Ausgehvierteln Istanbuls verdrängt. Und das Land wird in einem atemberaubenden Tempo nach den Bedürfnissen der Wirtschaft umgestaltet und zugebaut. Verzweifelt kämpften junge Türkinnen und Türken im Sommer 2013 um ihre Freiheit, nachdem der beliebte Gezi-Park als letzter grüner Fleck im Stadtteil Beyoglu einem Einkaufszentrum weichen sollte. Unser Autor Christof Moser hat junge Istanbuler in der Untergrundszene besucht, einmal vor und einmal nach den Gezi-Protesten. Der erste Besuch war beunruhigend, der zweite ernüchternd. Und bei uns? Die Gegenfragen der Gezi-Demonstranten, wie denn die Situation in der Schweiz sei, brachten Bundeshausjournalist Moser zum Nachdenken. Wie war das noch mal mit «Tanz dich frei» und Tränengas in Bern? Mit unserem Umgang mit Prostituierten? Mit der Verdrängung unerwünschter Personen aus dem öffentlichen Raum? Lesen Sie seinen Bericht ab Seite 10. Die Freiheit ist ein wertvolles Gut, entsprechend muss sie gehegt und gegen Angriffe von allen Seiten verteidigt werden. Auch wenn die Bedrohung nicht in Form eines totalitären Staats ins Haus fällt, sondern in Form der Kommerzialisierung bald aller Lebensbereiche durch die Hintertür hereinkommt. Denn wenn es für Normalverdiener keinen bezahlbaren Wohnraum in den Städten mehr gibt und an einst öffentlichen Treffpunkten wie Bahnhöfen nur noch kaufkräftige und konsumfreudige Kundschaft erwünscht ist, dann ist die Wahlfreiheit auch in einem politisch liberalen System nur noch theoretisch. Wir wünschen eine anregende Lektüre, Florian Blumer

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 331/14

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10 Freiheit Gezi und die Schweiz In Nazims Kellerlokal nahe des Taksim-Platzes in Istanbul treffen sich Nacht für Nacht Clubgänger, Prostituierte und Transvestiten – Menschen, die nicht in die islamisch-konservative Welt Premier Erdogans passen. Noch im Frühling vor einem Jahr waren sie entschlossen, für ihre Freiheit zu kämpfen. Ein Jahr später, nach der Niederschlagung der Gezi-Proteste, ist von der Hoffnung nichts mehr übrig. Unser Autor hat sie besucht – und beunruhigende Parallelen zur Situation in der Schweiz gefunden.

BILD: REUTERS/YAGIZ KARAHAN

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Inhalt Editorial Totalitäre Wirtschaft Basteln für eine bessere Welt Auf dem Kopf Aufgelesen Hochbegabte Bastler Zugerichtet Angriff auf den Nebenbuhler Leserbriefe «Taubstumm» ist veraltet Starverkäufer Beiene Berhane Porträt Stimme aus dem Engadin Wörter von Pörtner Meinungs-Terror Foto-Ausstellung Die Zukunft ist hybrid Kultur Zirkus-Klamauk Ausgehtipps Neongrauer Rap Verkäuferinnenporträt Glück im Unglück Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP Surprise – Mehr als ein Magazin Ausweisung verhindert

14 Finanzmarkt Parasiten mit guten Absichten BILD: MARIA CANDIA

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Der moderne Robin Hood lauert den Reichen nicht mit dem Revolver im Wald auf, er saugt sie im Internet mit einem «Parasiten-Algorithmus» aus. Nach diesem Prinzip sollen laut den Betreibern von «Robin Hood Minor Asset Management» auch einfache Arbeiter mit wenig Vermögen am Geldsegen der Börse teilhaben können. Die Software scheint zu funktionieren, was den beiden Finnen fehlt, ist das Geld. Denn noch traut man ihnen nicht über den Weg.

18 Amir Reza Koohestani Theater als Ausweg

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BILD: MANI LOTFIZADEH

Vier Fünftel seines Publikums seien unter 25, sagt der iranische Starregisseur Amir Reza Koohestani im Interview. Theater ist populär im Iran – aus Mangel an Unterhaltungs-Alternativen, aber auch, weil mit diesem Medium «Falschaussagen der Mainstream-Medien und politische Hindernisse» umgangen werden können. Koohestanis Tschechow-Inszenierung «Iwanow», die am Zürcher Theater Spektakel auf dem Programm steht, hat im Iran einen Nerv getroffen.

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ILLUSTRATION: SIMON DREYFUS | WOMM

1. Sie brauchen eine Kartonröhre (von einer Haushaltspapierrolle oder noch besser einer Posterverpackung), ein Vergrösserungsglas aus einem alten Kameraobjektiv oder einer Lupe, gutes Klebeband (am besten Gaffertape) und Backtrennpapier.

2. Ermitteln Sie den Brennpunkt Ihres Vergrösserungsglases, indem Sie es ins Licht halten und den Abstand suchen, bei dem der Lichtpunkt auf dem Tisch scharf ist. Messen Sie die Distanz mit einem Massstab.

3. Zeichnen Sie diesen Abstand auf der Röhre ein und schneiden Sie sie dort durch. Spannen Sie mit Klebeband an dieser Stelle ein Stück Backtrennpapier über das eine Ende und fügen Sie die beiden Teile mit Klebeband wieder zusammen. Danach Kleben Sie das Vergrösserungsglas an das hintere Ende der Röhre.

4. Schauen Sie vom anderen Ende durch die Röhre. Und die Welt steht kopf.

Basteln für eine bessere Welt Die Toleranz-Röhre Toleranz ist der Verdacht, dass der andere recht hat, soll Kurt Tucholsky einmal gesagt haben. Sicher ist: Man darf sich nie zu sicher sein, dass man selber recht hat. Manchmal fällt nur die Vorstellung etwas schwer, dass die Dinge für andere ganz anders aussehen als für einen selber. Dafür gibt’s die Toleranzröhre: Sie stellt die Dinge auf den Kopf und öffnet so den Blick für neue Perspektiven. SURPRISE 331/14

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Spendabler Verkäufer London. Der Strassenmagazin-Verkäufer, dein Freund und Helfer: «Mein Stammverkäufer von The Big Issue bei der Metrostation St. Paul’s hat mir gerade fünf Pfund geliehen. Ich hatte mein Portemonnaie vergessen und war in Eile, um meine Radiosendung zu machen», twitterte Moderator und Dokumentarfilmer Dan Gerrett im Juli. Die Geschichte zeigt: Strassenmagazine sind mehr als gute Lektüre und Integration. Sie lassen auch in einer Weltmetropole wie London so etwas wie Nestwärme aufkommen.

Hochbegabte Bastler München. Die Welt ist rund und im Übrigen endlich. Reparieren als Gegenteil von Konsumieren macht Sinn. Wolfgang Heckl propagiert deshalb die Rückkehr zu einer «Kultur der Reparatur», wie sein Buch heisst. Heckl, Biophysiker und Dozent in München, schraubte schon als Kleinkind das elterliche Radio auseinander. Heute verbringt der Wissenschaftler seine Wochenenden im Bastelkeller – und nimmt sich dort mit seinem Freund, dem Astronauten Ulrich Walter, zum Beispiel den Schaltplan eines Fernsehers vor.

Teure Wohnungsnot Hamburg. Rund 350 junge Menschen leben in Hamburger Jugendhilfe-Einrichtungen – obwohl sie das gar nicht mehr nötig hätten. Ihre Lebensumstände haben sich stabilisiert, viele haben gar einen Ausbildungsplatz. Sie werden aber weiterhin stationär betreut, weil sie keinen Wohnraum finden. Das kostet den Steuerzahler viel Geld: Ein betreuter Platz kostet 40 000 Euro im Jahr. Macht bei 350 Personen: 14 Millionen Euro, die der Stadt an Kosten entstehen, weil es in Hamburg nicht genügend bezahlbaren Wohnraum gibt.

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Zugerichtet Ein grosser Haufen Elend Während der gesamten Urteilsverkündung bleibt der kahl geschorene Kopf des soeben schuldig Gesprochenen meist tief in seinen Händen vergraben. Auf die Finger der linken Hand sind die Buchstaben ACAB tätowiert, kurz für «All Cops Are Bastards», alle Bullen sind Schweine, sinngemäss. Auf der rechten Hand steht HATE. Das hat wohl mal krass ausgesehen als Fäustepaar. Jetzt wirken die Hände wie Schutzschilder zur Abwehr der Worte des Gerichtspräsidenten: Schuldig der versuchten vorsätzlichen Tötung. Siebeneinhalb Jahre Gefängnis. Das ist eine lange Zeit. Für den 23-Jährigen fast ein Drittel seiner bisherigen Lebensdauer. Ewig müssen ihm auch die über eine Stunde dauernden Ausführungen des Richters zum Verdikt vorgekommen sein. Der objektive Sachverhalt war von Anfang an unbestritten: Der Schweizer ging am Heiligabend 2012 mit einem 25 Zentimeter langen, beidseitig geschliffenen Bajonettmesser auf einen Nebenbuhler los. Dabei verletzte er ihn mittelschwer am Handgelenk. Doch beim subjektiven Sachverhalt gingen die Versionen weit auseinander. Das Opfer sprach von Todesangst. Der Täter habe ihn mit einem Stich ins Herz umbringen wollen, kein Zweifel. Der Beschuldigte hatte von «Notwehr» bis «dumm gelaufen» alle Register zu seiner Verteidigung gezogen. Insbesondere habe er nie vorgehabt, seinen Nebenbuhler zu töten. Tatsächlich sei es so gewesen, dass das vermeintliche Opfer ihn angegriffen – und dabei den Kürzeren gezogen – habe. Dass der ehemalige Skinhead mit Wissen und Wollen den Tod seines Gegner suchte,

sieht das Gericht nicht als rechtsgenügend erwiesen an. «Doch wer völlig ausser sich vor Rage und in einem äusserst dynamischen Geschehen eine Klinge in die Brustgegend eines Menschen führt, der weiss, dass er dabei jemanden töten kann», konstatiert der Richter. «Das ist Eventualvorsatz. Das reicht.» Diese geballte Ladung Wut und Eifersucht von damals ist jetzt nur noch ein grosser Haufen Elend. Dem harten Kerl, dem man seine jahrelangen Drogenexzesse kaum ansieht, das ebenso ausgiebige Kampftraining in der rechten Hooliganszene aber sehr wohl, setzt das Urteil zu. Mit minimalster Bewegung schüttelt er während den Erläuterungen immer wieder den Kopf. Was er wohl denken mag? Empfindet er schreiende Ungerechtigkeit, weil er wirklich nicht töten wollte? Oder ärgert er sich über sich selbst, weil er in den Einvernahmen davon gesprochen hatte, eine «MDMA-Scheibe» gehabt zu haben, also unter Drogen gestanden zu sein? Dass seine Stimmung «aggressiv, aggressiv, aggressiv» gewesen sei und er «emotional am Kippen»? Wusste er überhaupt selbst noch, was er damals wollte? Oder denkt er an seine unendlich schwierige Kindheit in zig Heimen und Pflegefamilien, die ihm jetzt mit einem halben Jahr Strafreduktion angerechnet wird? Vielleicht kann er sich auch einfach nicht vorstellen, die nächsten Jahre ohne seine langjährige Freundin zu sein. Die Frau, um die es bei dem weihnächtlichen Kampf und nun in diesem Prozess geht, ist auch im Saal. Vereinzelt hört man sie leise schluchzen. Ein paar Mal hebt der Verurteilte seinen Kopf und sucht ihren Blick. Es gelingt ihm nicht. YVONNE KUNZ (YVONNE.KUNZ@GMAIL.COM) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 331/14


Leserbriefe «Die Bezeichnung taubstumm ist veraltet» Nr. 328: Medizin ohne Seele Fremd für Deutschsprachige – Exoteneltern «Gehörlose Menschen sind nicht stumm» Schade, dass in Ihrem sehr lesenswerten Beitrag die Umschreibung «taubstumm» verwendet wird. Diese Umschreibung wird heute nicht mehr verwendet. Sie ist veraltet und wird als diskriminierend empfunden. Gehörlose Menschen sind nicht stumm. Sie können sich in der Gebärdensprache virtuos ausdrücken, und sehr viele gehörlose Menschen beherrschen auch die Lautsprache sehr gut. Die korrekte Bezeichnung lautet gehörlos oder hörbehindert. Léonie Kaiser Geschäftsführerin sonos Schweizerischer Verband der Gehörlosen- und Hörgeschädigtenorganisationen

«Gehörlose können sehr wohl sprechen» Ich habe mit Interesse Ihren Beitrag in der Juli-Ausgabe gelesen und war überrascht, dass Sie darin mehrmals den Begriff «taubstumm» verwendet haben. Die Bezeichnung taubstumm ist veraltet. Viele Gehörlose empfinden diesen Ausdruck als abwertend und setzen sich seit vielen Jahren dafür ein, dass sie nicht als Taubstumme bezeichnet werden. Die Bezeichnung stammt aus einer Zeit, als gehörlose Menschen in sogenannten Taubstummenanstalten untergebracht wurden und man glaubte, dass sie nicht in der Lage sind zu sprechen. Dies trifft aber nicht zu. Gehörlose können sehr wohl sprechen, auch wenn es bei ihnen anders klingen mag. Viele verwenden die Gebärdensprache und sind in ihrer Sprache alles andere als stumm. Elena übersetzt die Handzeichen ihrer Eltern – sie sind also fähig, sich mitzuteilen. Von der Bezeichnung abgesehen finde ich Ihren Beitrag gelungen.

Unsere Kolumnistin antwortet:

Freundliche Grüsse Laura Marti (selber hörbehindert)

Mit freundlichen Grüssen Shpresa Jashari

Liebe Frau Marti, liebe Frau Kaiser, Ich danke Ihnen beiden herzlich für Ihre Mail und insbesondere natürlich für Ihren sehr guten Hinweis. Sie haben völlig recht mit Ihrer Kritik, der Begriff «taubstumm» ist wertend und ungenau. Ich lege für gewöhnlich grossen Wert auf differenzierten Sprachgebrauch, jedoch habe ich hier wohl ein Terrain betreten, mit dem ich mich bisher schlicht zu wenig auseinandergesetzt habe. Ich denke, die Tatsache, dass ich hier unreflektiert die Bezeichnung «taubstumm» gewählt habe, hängt womöglich damit zusammen, dass meine Freundin Elena diesen damals selbst verwendet hat. Aber so sicher bin ich mir da nicht mehr, es ist lange her. Gut möglich, dass das einfach ein hartnäckiges Wortrelikt ist, das da in meinem Kopf gesessen hat, unentdeckt bis heute, wo ich Ihre Mails gelesen habe.

Wir gratulieren! Die Gewinner des Surprise-Kreuzworträtsels, Nr. 329, «Mord in der Badi»

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

1. Preis, ein Surprise-Strandtuch und eine Surprise-Tasche: Ruth Herzka Bollinger, Basel 2. Preis, ein Surprise-Strandtuch: Silvia Baredi, Obfelden 3. Preis, eine Surprise-Tasche: Gilda Widmer, Schaffhausen

Starverkäufer Beiene Berhane Sandra Valentic schreibt: «Heute habe ich den Surprise-Verkäufer Beiene Berhane, 75 Jahre alt aus Eritrea, am HB Zürich getroffen. Dieser besondere Mann hat eine tolle Ausstrahlung, und unser Gespräch hat mich berührt. Ein starker Mann.»

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Porträt Melancholie auf Rätoromanisch Wenn die Engadiner Jazzschul-Absolventin Rezia Ladina Peer singt, dann ist sie in ihrer Welt. Eine Welt, in der auch aus der Verarbeitung von Sorgen, Trauer und Unsicherheit etwas Schönes entstehen kann. Soeben hat sie ihr erstes Album veröffentlicht. VON TIMO KOLLBRUNNER (TEXT) UND KARIN SCHEIDEGGER (BILD)

te noch vermisst, wenn sie lange nicht dort war, die Natur, die Berge, die Luft. Wenn sie nach Ftan kommt, setzt sie sich ans Klavier ihrer Kindheit, eine alte «Kischta», wie sie sagt, die eine ganz spezielle Klangfarbe produziere – sicher auch deshalb, weil sie seit Jahren nicht mehr gestimmt worden ist. Für Rezia Ladina Peer sind es die schönsten Klavierklänge der Welt, und wenn sie dort sitze, «dann entsteht immer etwas». Viele ihrer Lieder hat sie in ihrem Heimatdorf geschrieben. Doch noch ein paar Tagen freut sie sich jeweils auch wieder auf ihr Leben im Unterland, auf ihre Freunde und Musikerkollegen, und dann kommt sie wieder hinunter nach Bern, wo sie seit Jahren lebt und wo sie ihre Ausbildung in Gesangspädagogik an der Swiss Jazz School absolviert hat – neben sehr vielem anderen: Sie gibt Gesangsunterricht an Musikschulen und privat, sie tritt an Hochzeiten oder an Apéros auf, wo sie Jazzund Soulsongs singt, sie ist Sängerin bei Snook, einem Rapper aus dem Bündnerland, und arbeitet auch noch in einem Restaurant, um über die Runden zu kommen. Das ist viel für eine Frau, die von sich selbst sagt, dass sie Mühe habe, Entscheidungen zu fällen und offen sei für verschiedenste Inspira-

Rezia Ladina Peer sitzt in einem Café und hält eine CD in der Hand, auf deren Hülle ihr Gesicht prangt. «Rezia» steht drauf, und «Relativ», der Name des Albums. Die 29-jährige Bündnerin versucht nun dem Schreibenden zu erklären, wer sie ist, sie möchte ihm begreifbar machen, was ihr das Singen, die Musik und ihr Erstlingswerk bedeuten. Es fällt ihr offensichtlich schwer. Sie sei nicht gut darin, sich in Interviews zu verkaufen, sagt sie. Ihre Art, sich auszudrücken, seien ihre Lieder. Elf Stücke finden sich auf der CD, sieben auf Romanisch, eines auf Hochdeutsch, zwei auf Englisch, eines auf Französisch. Soul-Pop nennt die Künstlerin ihre Stilrichtung. Es sei ein schönes Gefühl, das Album in den Händen zu halten, sagt sie. «Es ist gut, hab ich es gemacht. Aber ich bin jetzt schon woanders.» Vier Monate ist es her, dass die CD erschienen ist. Die Sängerin selbst hört sie sich kaum mehr an. «Ich überlasse das jetzt den Leuten», sagt sie. Nur ist das so eine Sache mit dem Überlassen. Rezia Ladina Peer müsste nun wohl bei den Radiostationen weibeln, bei Radio DRS und bei den welschen Sendern, damit ihre Lieder nicht mehr nur auf Radio Rumantsch gespielt werden. Keine einfache Aufgabe, mit melan«Jede Träne macht Sinn», singt Rezia auf Rumantsch. «Sie kann cholischen Liedern in einer Sprache, die kaum der Keim sein für Hoffnung und Kraft.» einer versteht. Und sie hat wenig Lust, sich anzubiedern bei denen, die sie überzeugen müsste. «Ich mag nicht dafür kämpfen, dass die Leute meine Lieder gerne hationen, «was auch limitiert», denn wo es hundert Möglichleiten gibt, ist ben», sagt sie. «Das kann ich nicht.» Klar wünsche sie sich, dass viele keine davon zwingend. Sie sei jemand, der sehr im Moment lebe und Menschen ihre Stücke hören und mögen, «aber aufzwingen möchte ich ihn nicht festhalten wolle, sich nicht gerne lange auf etwas Bestimmtes sie niemandem». fokussiere. Deshalb ist die Bündnerin doch stolz, hält sie nun endlich Dass sie gerne singt, merkte Rezia Ladina Peer bereits, als sie als ihr Debutalbum in den Händen – zwei Jahre später, als dies eigentlich Bauernmädchen im Unterengadiner Bergdorf Ftan lebte, knapp 1700 vorgesehen war. Mal verunmöglichte ihre lädierte Stimme die Arbeit am Meter über Meer. Sie töpferte gerne, sie malte gerne, aber am liebsten Projekt, dann löste sich ihre Band kurz vor den geplanten Aufnahmen sang sie. Ab ihrem 14. Lebensjahr nahm sie Unterricht in klassischem auf. Mit anderen Musikern klappte es dann. Sie habe durch die CD-ProGesang. Schnell zeigte sich, dass sie Talent hatte. Und sie wollte mögduktion wunderbare Menschen kennengelernt, sagt sie. Aber sie fand es lichst viel aus ihrer Begabung herausholen. Da machte sie zum ersten nicht einfach, einerseits sinnvolle Verbesserungsvorschläge zu akzepMal eine Erfahrung, die sie so beschreibt: «Wenn ich etwas gerne matieren, gleichzeitig aber auch das Eigene zu verteidigen, damit es eigen che, dann will ich schnell zu viel, werde hart zu mir. Dann macht es bleibt. zu.» Dann beginnen die Stimmbänder ob der Überbelastung zu schmerNun aber ist die CD gepresst, 2000 Stück davon, «und jetzt ist wieder zen – und Rezia Ladina Peer muss pausieren. Wenn sie nicht singen Platz da für etwas Neues». Und was wird das sein, das Neue? Sie wolle kann, merkt sie erst recht, wie viel ihr das Singen bedeutet. Es sei ihre sicher wieder einmal eine CD aufnehmen, sagt sie, sie habe Lieder für Art, mit den Dingen umzugehen, die sie beschäftigten. «Wenn ich sinfünf Alben bereit und Ideen für viele weitere Songs. Aber sie wolle sich ge, dann bin ich in meiner Welt», sagt sie. In einer Welt, in der auch aus dabei nicht unter Druck setzen. Sie arbeitet mit einem Pianisten an neuder Verarbeitung von Sorgen, von Trauer, Unsicherheit oder Melanchoen Liedern. Ihre Stimmprobleme hätten sie gelehrt, Sorge zu tragen zu lie etwas Schönes entstehen könne. Sätze wie jenen auf dem achten sich und zu ihrer Stimme, sagt sie. Sie hofft, dereinst ganz von ihrer Stück ihres Albums meint sie da wohl, wo sie mit heller, klarer Stimme Stimme leben zu können, auch wenn sie dafür Unterricht und Auftritte singt: «Mincha larma fa sen – ella po esser il dscherm per spranz’e forkombinieren müsste. Vor allem aber möchte sie wieder regelmässiger za.» – «Jede Träne macht Sinn – sie kann der Keim sein für Hoffnung auf Bühnen stehen, jetzt, wo es ihren Stimmbändern besser geht und sie und Kraft.» mit ihrem Debutalbum auftreten kann. Sie hofft, bald einen guten BooWenn sie nicht singen kann – und das konnte Rezia Ladina Peer im ker zu finden, damit sie regelmässig Konzerte geben kann. Denn wenn letzten Jahr manchmal über Monate nicht –, «dann schlägt das auf die sie vor Publikum singe, wenn es ihr gelinge, Menschen mit ihrer StimMoral», sagt sie. Dann hilft es ihr, ihre Wohnung in Bern zu verlassen me zu berühren, «dann spüre ich, dass ich das gebe, was ich am besten und zurückzugehen, hinauf ins Tal, aus dem sie kommt und das sie heukann». ■ SURPRISE 331/14

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BILD: BULENT MLIC/AFP

«Was immer nötig ist», werde die Polizei tun, hatte Premier Erdogan im Vorfeld des Jahrestags der Gezi-Proteste angekündigt. Istanbul, Mai 2014.

Freiheit Und plötzlich gelten wir als Feinde

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Auf Besuch im Herzen der türkischen Widerstandsbewegung: Die Entschlossenheit, für die Freiheit zu kämpfen, ist nach den Gezi-Protesten der Resignation gewichen. Und die Diskussionen mit den türkischen Demonstranten werfen ein grelles Schlaglicht auf die ebenfalls schwindende Freiheit in der Schweiz.

VON CHRISTOF MOSER

«Die Väter der Verfassung versprachen, Bedingungen zu gewähren, die dem Streben nach Glück förderlich sind. (…) Sie wussten, dass wir nur einen Teil der Freude und Befriedigung in materiellen Dingen finden. Sie wollten die Überzeugungen, Gedanken, Gefühle und Empfindungen der Bürger schützen. So gaben sie ihnen, im Gegensatz zur Regierung, das Recht, unbehelligt und ungestört zu bleiben.» Robert Brandeis, Richter am Obersten Gerichtshof der USA, 1928

Arbeit oder einer Partynacht einen Ort zu brauchen, an dem er ungestört weiterkoksen und hin und wieder ein «kız», ein Mädchen, flachlegen kann: «Leider teile ich meine Wohnung mit einem Tugendwächter.» Eroglu, 25, schmächtig, mit Flaum über der Oberlippe, tagsüber Kunststudent, nachts Stricher, vertreibt sich hier die Wartezeit bis zur nächsten SMS eines Freiers. Und Nisa, 23, die für eine IT-Firma arbeitet, kommt aus einem strengen Elternhaus. Sie nutzt die Absteige zum Ausnüchtern, bevor sie sich nach Hause wagt. Die ganze Nacht lang erzählen mir die jungen Türkinnen und Türken von ihrem Leben und ihren Ängsten in einem Land, das seinen Kurs gerade radikal zu ändern scheint: weg von der 1923 ausgerufenen laizistischen Republik Atatürks, hin zum islamisch-konservativ geprägten türkischen Staat des inzwischen seit elf Jahren regierenden Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, in dem sich die Grenze zwischen Politik und Religion immer weiter verwischt. Es sind Schilderungen der Verdrängung und zunehmenden Repression, die sich längst nicht mehr nur gegen so auffällige Minderheiten wie Transvestiten oder Randständige und Andersartige wie Prostituierte und Homosexuelle richtet, sondern mittlerweile auch gegen den säkularen Teil der Bevölkerung, die progressive Jugend.

Bahar*, 26, beugt sich vornüber zum Beistelltischchen, lässt ein Stück Zucker ins Teeglas fallen, zeigt auf den zerfallenden Würfel und sagt: «Genau wie dieser Zucker im Tee löst sich auch unsere Freiheit auf.» Die Morgendämmerung, die an diesem Tag im Februar 2013 durch das Fenster der Kellerluke dringt, wirft einen schummrigen Lichtschleier auf ihr Gesicht, in dem trotz des üppigen Make-ups die Schatten ihrer Augenringe zu erkennen sind. Bahar fläzt sich wieder in den Sessel und zündet sich eine Zigarette an. Draussen ruft der Muezzin zum Morgengebet, es muss kurz vor Sonnenaufgang sein. Die Hoffnung, der anbrechende Tag könnte der Neustart in eine besReiche Gläubige als Vertreiber sere Zukunft werden, liegt selbst in dieser schäbigen Absteige in der «Werden sich die aufgeklärten Kräfte in der türkischen Gesellschaft Luft. Hier, in der Kellerwohnung eines verlassenen Hauses an der Sadri gegen die autoritäre islamische Regierung durchsetzen?», frage ich. Alisik Sokak im modernen Zentrum Istanbuls, fünf Minuten Gehdistanz «Es geht nicht nur um die Islamisierung», antwortet Nazim. «Wir vom Taksim-Platz entfernt, trifft sich Nacht für Nacht der Freundeskreis wehren uns auch gegen die Privatisierung des öffentlichen Raums und von Nazim, 28, einem Travestietänzer, der mich per SMS durch das die rücksichtlosen Aufwertungspläne für unser Stadtviertel, die uns aus unübersichtliche Strassengewirr im Beyoglu-Quartier in dieses Loch dem Zentrum verdrängen.» Er erzählt vom nahe gelegenen Tarlabasigelotst hat. Boulevard, einer vom Taksim abgehenden Prachtstrasse, an der die Sub«Wir werden für unsere Freiheit kämpfen und den Kampf gewinnen», kultur zuhause war, bis der Staat die Bewohner im letzten Jahr gesagt Serkan, 34, ein Muskelpaket mit Dreitagebart, der mit einer Visizwungen hat, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen. Er erzählt von tenkarte der Bar, die ihn als Kellner beschäftigt, eine Linie Kokain präpariert. Hinter ihm schält sich Nazim aus seinem hüftengen Frauenkostüm und wirft es in «Wir sollen unsere bürgerlichen Freiheiten gegen Kaufkraft eintaudie Ecke, in der schon seine Highheels liegen. schen. Wer sich vom wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei nicht kaufen Seit Mitternacht sitzen wir in dieser Runde lässt, ist für die Regierung zum Hindernis geworden, das beseitigt zusammen. Immer wieder klopft jemand an werden muss». die Luke, wird hereingelassen, setzt sich dazu oder legt sich hin, andere gehen. Ein abgeInvestoren aus Saudi-Arabien, die ganze Häuserzeilen im Zentrum aufwetztes, schwarzes Ledersofa, einige Sessel, ein Tischchen, am Boden kaufen, von der Stadtverwaltung gefördert, um die Wohnungen gezielt ein Gaskocher und überall verteilt Matratzen, auf denen sich Schlafenan reiche Gläubige zu vermieten, weil die Glaubensfundamentalisten de wälzen: Mehr bietet die Absteige nicht. Trotzdem finden Nazim und mit ihrer religiösen Intoleranz, oft unter Mithilfe der Polizei, auch noch seine Freunde hier, was sie suchen: einen Freiraum im Herzen Istanbuls. die letzten unliebsamen Barbetreiber und Clubbesitzer aus der InnenNazim arbeitet ganz in der Nähe in einem Club für Travestieshows. stadt vertreiben. Von zwei, drei Ausnahmen abgesehen sind in den verSpätnachts nach Feierabend ist er zu müde, um ins Aussenquartier zu gangenen zehn Jahren in Beyoglu, Sisli und Besiktas, den zentralen fahren, in das er kürzlich umgezogen ist, weil er sich im Beyoglu die Vierteln im europäischen Teil der Stadt, alle Clubs verschwunden. Mieten nicht mehr leisten kann. Serkan gibt unumwunden zu, nach der SURPRISE 331/14

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Und zum ersten Mal in dieser Nacht erzähle ich der Runde über die «Wir sollen unsere bürgerlichen Freiheiten gegen Kaufkraft eintauSchweiz, von den Rayonverboten für Alkoholiker, Drogenabhängige und schen. Wer sich vom wirtschaftlichen Aufstieg der Türkei nicht kaufen Asylbewerber, von den nächtlichen Ausgehverboten für Jugendliche, von lässt, ist für die Regierung zum Hindernis geworden, das beseitigt werden fehlenden unabhängigen Untersuchungsgremien in Fällen übertrieden muss», sagt Eroglu. «Wir müssen feststellen, dass sich Demokratie bener Polizeigewalt, vom Kampf um die letzten Freiräume im durchkomund rücksichtloser Kapitalismus ausschliessen, nicht aber Kapitalismus merzialisierten Stadtraum und den zahlreichen Clubschliessungen wegen und religiöser Fundamentalismus», sagt Nisa, die erzählt, dass immer stärker auch normale Bürgerinnen und Bürger ins Visier geraten: «Vor einigen Monaten hat Von zwei, drei Ausnahmen abgesehen sind in den zentralen Vierteln die Polizei begonnen, jede und jeden anzuhalten und zu ermahnen, der im öffentlichen im europäischen Teil Istanbuls in den letzten zehn Jahren alle Clubs Raum Alkohol trinkt. Und jetzt diskutiert das verschwunden. Parlament ein Gesetz, das den Verkauf von Alkohol nach zehn Uhr abends verbieten will. Lärmklagen, die im Jahr zuvor in der Hauptstadt Bern 10 000 DemonGeplant ist auch eine Unterhaltungssteuer, um damit die letzten übrig stranten auf die Strasse trieben. Als ich fertig bin, ist das Knattern eines gebliebenen Clubs in den Ruin zu treiben. Die Politik Erdogans und Motorrads zu hören, das sich die steil zum Bosporus abfallende Strasse seiner Regierungspartei AKP ist ein direkter Angriff auf unseren Levor dem Keller Richtung Taksim hochkämpft, ansonsten ist es still. bensstil.» Bis Bahar wieder das Wort ergreift: «Wir Randständigen, wir Huren Gerade als Eroglu eine weitere Runde Yeni Rakı einschenkt, mir zuund Transvestiten, aber auch andere Minderheiten wie Schwule, Ausprostet – Altüst! – und einen demonstrativ grossen Schluck des Natioländer, Künstler, überhaupt die Freaks in einer Gesellschaft, sind wie nalgetränks mit dem unverkennbaren Anisgeschmack in sich hineinSeismografen, die als Erste spüren, wenn der Staat die Freiheit seiner kippt, poltert es an die Kellerluke. Es ist Bahar, die in den frühen MorBürgerinnen und Bürger angreift. Erst wenn auch der Mainstream begenstunden als Letzte zum Kreis von Nazims Freunden stösst und sich troffen ist von staatlichen Repressalien, entsteht eine Bewegung. auf einen freien Sessel wirft. Sie kommt von der Arbeit, sie schafft als Manchmal ist es dann für Gegenwehr schon zu spät. Ich glaube, für die Prostituierte an, unterhalb des Galata-Turms, am Giraffenweg, der Türkei ist es noch nicht zu spät. Wir werden für unsere Freiheit kämpschon seit osmanischen Zeiten Istanbuls Sperrbezirk ist. Das Rotlichtfen und wir werden gewinnen.» viertel, mit einem Metalltor vom übrigen Quartier abgetrennt, wird von «Ein Funke genügt», sagt Nazim, «und das Pulverfass explodiert.» einem uniformierten Polizisten bewacht, der die Ausweise der täglich 5000 bis 7000 Freier prüft, ihnen Mobiltelefone, Schlüsselanhänger und Das nächste Mal bewaffnet Feuerzeuge abnimmt und sie durch einen Metalldetektor schickt, bevor April 2014: Ich bin wieder zurück an der Sadri Alisik Sokak, in der sie ein Bordell in der Gasse aufsuchen dürfen. Absteige meiner türkischen Freunde. Nur etwas mehr als ein Jahr ist seit meinem letzten Besuch in Istanbul vergangen. Trotzdem ist es ein Be«Und in der Schweiz?» such in einer anderen Stadt. In den 1990er-Jahren, erzählt Bahar, waren es weit über 50, heute Ein paar Wochen nach meinem ersten Besuch im Februar 2013 exsind es noch elf: «Seit einem Jahr wird ein Bordell nach dem anderen geplodierte das Pulverfass. Die Polizei ging mit brutaler Härte gegen Umschlossen, aus fadenscheinigen Gründen, meist wegen angeblicher Verweltschützer vor, die gegen den Bau eines Shoppingcenters im Gezistösse gegen gesetzliche Auflagen. Damit werden wir in die illegale Park protestierten, einer Grünfläche, die an den Taksim angrenzt. Der Strassenprostitution gezwungen.» Einige Wochen zuvor sind Bahar und Funke sprang über. Homosexuelle solidarisierten sich mit den Umweltihre Arbeitskolleginnen deshalb demonstrierend durchs Quartier gezoschützern, weil sie den Park als Cruising-Area nutzen, also als Treffgen. Transvestiten und Transsexuelle, die seit jeher unter der Doppelpunkt für Sexkontakte, dann schlossen sich Studenten den Protesten an, moral der türkischen Gesellschaft leiden, unter systematischer sexueller Gewerkschafter, Frauen, Aleviten. «Im Gezi-Park und auf dem TaksimGewalt und gar bis hin zu gezielten Mordanschlägen, schlossen sich Platz waren alle, die von der Regierung unterdrückt werden oder schon dem Demonstrationszug spontan an, wie Bahar erzählt, bevor sie einmal von ihr beleidigt worden sind», sagt Serkan und haut mit der schliesslich wissen will: «Wie wird in der Schweiz mit Prostituierten Faust so heftig auf’s Beistelltischchen, das die Rakı-Gläser hochsprinumgegangen?» gen: «Taksim ist überall!», ruft er. «Wir standen den Sicherheitskräften «Auch in Zürich schliessen die Behörden Bordelle», sage ich. «Ich mit ihren Tränengas-Gewehren mit Blumen in den Händen gegenüber. wohne im Rotlichtviertel der Stadt, und das soll aufgewertet werden. Da Es gab Tote und viele Verletzte in unseren Reihen. Das nächste Mal werstören Prostituierte.» den wir auch bewaffnet sein.» «Sie werden vertrieben, wie hier bei uns?», fragt Nazim. Das Alkoholverkaufsverbot ist in Kraft gesetzt, die UnterhaltungsIch versuche das Konzept der Verrichtungsboxen am Stadtrand Züsteuer eingeführt. Ein paar Wochen vor meiner Rückkehr sorgte der richs zu erklären, das die Strassenprostitution zumindest in geordnete Blog-Eintrag eines Istanbuler Philosophiestudenten für Aufsehen, der eiBahnen lenken und auch für vertriebene Prostituierte aus dem Kreis 4 nen Abschiedsbrief ins Netz stellte: «Auf Wiedersehen, liebes Internet. eine Zufluchtsstätte sein soll. Wir Türken hatten eine grossartige Zeit mit dir.» Twitter und Youtube «Aber die Leute in deiner Stadt setzen sich für die vertriebenen Husind derzeit von der Regierung gesperrt, ein neues Internetgesetz erren ein? Ihr könnt ja die Politik direkt mitbestimmen, oder?», fragt Erolaubt den Behörden, Internetseiten ohne richterlichen Beschluss vom glu. «Ehrlich gesagt interessiert sich kaum jemand für das Schicksal der Netz zu nehmen, weil sich der politische Widerstand in den sozialen Prostituierten», antworte ich. «Das Leitmotiv der Politik ist: Erlaubt ist, Medien organisierte, weshalb diese wiederum den Mächtigen ein Dorn was nicht stört.» im Auge waren. «Das könnte auch ein Wahlspruch von Erdogan sein», sagt Nazim la«Erdogan hat uns den Boden unter den Füssen weggezogen», sagt chend. «Aber ihn stört nicht nur Prostitution, sondern leider inzwischen Eroglu. Wir sitzen im Dunkeln, der Stromanschluss ist gekappt. Das verauch, wenn ich auf der Strasse ein Efes Pilsen trinke.» Ich lächle etwas lassene Gebäude steht vor dem Abriss, die Bagger stehen schon bereit. gequält und erkläre, dass in der Schweiz auch über ein AlkoholverEntsprechend geknickt ist die Stimmung in Nazims Freundeskreis, von kaufsverbot zwischen 22 Uhr abends und 6 Uhr morgens diskutiert Hoffnung ist nichts mehr zu spüren. wird, was in gewissen Regionen bereits schon Gesetz sei.

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BILD: RAPHAEL MOSER

Flucht vor dem Tränengas statt «Tanz dich frei»: Die dritte Ausgabe der Demonstration für mehr Freiräume endete in wüsten Strassenschlachten. Bern, Mai 2013.

sen Wochen zu Hunderttausenden in die Stadt strömen, bevor sie den Bahar zündet sich eine Zigarette an und schüttelt müde den Kopf. ebenso beschwerlichen wie gefährlichen Versuch in Angriff nehmen, an «Ich bin leer, habe keine Gefühle mehr gegenüber dem, was passiert ist. Ich weiss jetzt, zu was der Staat fähig ist. Aber ich kann nicht dauernd mit dieser Wut leben. «Das Leitmotiv der Politik in Zürich ist: Erlaubt ist, was nicht stört.» – Viele meiner Freunde tragen diese Wut mit «Das könnte auch ein Wahlspruch von Erdogan sein», sagt Nazim sich herum und wollen zurückschlagen, mit lachend. der gleichen Gewalt, die uns angetan wurde. Ich dagegen versuche, mich damit abzufinden, der türkisch-griechischen Grenze in die EU zu gelangen. «Immerhin», dass die grosse Mehrheit der Türken ein anderes Land will als ich.» sagt Nazim, bevor wir einschlafen, «werdet ihr von eurer Regierung Dann schaut sie mich an und fragt: «Und was ist in deinem Land so genicht als Terroristen bezeichnet, so wie unsere das tut.» laufen?» Ein paar Tage später sitze ich im Flieger zurück in die Schweiz und lese auf dem iPad den Staatsschutzbericht 2013 des Schweizer Nach«Tanz dich frei» im Tränengas richtendienstes. Unter den linksextremen Bewegungen, die eine Gefahr «Die Mehrheit in der Schweiz will auch eine andere Gesellschaft, als für die innere Sicherheit darstellen sollen, werden auch Kundgebungen ich mir wünschen würde», antworte ich. Und erzähle von der Volksabaufgeführt, «bei denen ‹Freiräume› gefordert werden». Als ich nach der stimmung, die meine ausländischen Freunde auf dem Arbeitsmarkt disLandung in Zürich eine Zeitung kaufe, lese ich, dass die CVP als Reakkriminiert, der jüngsten «Tanz dich frei»-Demonstration in Bern, die in tion auf die «Tanz dich frei»-Demonstrationen eine Verschärfung des Gewalt und Tränengasschwaden endete, von Politikern, die Facebook Nachrichtendienstgesetzes fordert, damit auch «bei politischem Extrestärker kontrollieren wollen, um Proteste besser kontrollieren zu könmismus der Telefon- und Email-Verkehr präventiv überwacht werden nen, von der jungen Frau, die bei einer Kundgebung für mehr Freiraum kann». von einem Gummigeschoss der Polizei schwer verletzt wurde und vom Ich denke an Nazim und seine Freunde in Istanbul und daran, was Paradox, dass viele meiner Schweizer Freunde dem Aufstand in Istanbul sie mir zum Abschied sagten: «Bei uns überwachen Erdogan und seizujubelten, aber sich sofort distanzieren, wenn in Zürich bei einem Prone Partei inzwischen selbst unsere Träume. Wehrt euch, so lange ihr testzug gegen die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums ein paar noch könnt, irgendwann hat sich die Schlinge zugezogen und es ist Glasscheiben in die Brüche gehen. «Wie ich euch das letzte Mal sagte: zu spät.» Erlaubt ist, was nicht stört.» ■ Wir legen uns erschöpft auf den Boden, weil die Matratzen alle besetzt sind in der Kellerwohnung, von syrischen Flüchtlingen, die in die*Alle Namen zum Schutz der Personen geändert. SURPRISE 331/14

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BILD: MATTHIAS HANNEMANN

Finanzmarkt Robin Hood im Datenmeer Revoluzzer oder Performance-Künstler? Der finnische Ökonom Akseli Virtanen hat eine Software in der Hand, mit der sich, so ist er überzeugt, Wall Street knacken lässt. Doch weder Freund noch Feind trauen ihm bislang über den Weg. Ein Besuch in Finnland.

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VON MATTHIAS HANNEMANN

«Früher hat Robin Hood das Geld der Reichen verteilt. In der Wissensgesellschaft nimmt er ihnen das Wissen, um es zu verteilen.» (Akseli Virtanen) Was ist davon zu halten, wenn ein blasser Akademiker aus Lohja im Süden Finnlands verkündet, er verfüge über eine Software, die den Finanzmarkt versteht? Und wenn dieser Unbekannte namens Akseli Virtanen dann in die Vermögensverwaltung einsteigt und verspricht, das elitäre Wissen der Wall Street all jenen zur Verfügung zu stellen, die bislang allenfalls Opfer des Spekulantentums gewesen sind? Ist das eine Kunstperformance? Scharlatanerie? Oder ist es schlicht genial? Er selbst behauptet Letzteres. Andere halten Virtanen freilich für gefährlich und warnen vor seinem «Robin Hood Minor Asset Management».

ein «Wörterbuch der neuen Arbeit» verschiedener Autoren, Studien zum veralteten Arbeitsbegriff der Linken und zum Irrationalen auf dem Finanzmarkt. Virtanen, der sich beim Reden gern an die Stirn fasst, referiert dann über die Arbeiten von linken Vordenkern wie Christian Marazzi und Franco «Bifo» Berardi, setzt sie in Beziehung zum Machtbegriff von Michel Foucault und Gilles Deleuze sowie den Studien des Psychoanalytikers Félix Guattari und den Überlegungen von Keynes zu den Konventionen auf dem Kapitalmarkt. Seine Themen sind das Ende der Industriegesellschaft, die Aufwertung des Immateriellen, der Einstieg in die Wissensgesellschaft und das Schicksal derjenigen, die in ihr abgehängt werden. Er sagt: «Es gibt heute zwei Gruppen von Menschen: Eine Gruppe, die Zugang zum Kapitalmarkt hat und zu Geld kommt, ohne arbeiten zu müssen. Und eine andere, die nur über Arbeit zu Geld kommt und keine Möglichkeit hat, es in Finanzkapital zu verwandeln. Wobei diese Arbeit immer weniger abwirft und immer kräftezehrender wird.» Wie kann auch diese zweite Gruppe vom Kapitalismus profitieren? Wie kann man dem «prekären Arbeiter», wie Virtanen es sagt, ebenfalls Zugang zu den notwendigen Geldtöpfen «und damit etwas Freiheit» verschaffen? Das sind die Fragen, über die Virtanen forscht, debattiert und schreibt.

Denken allein reicht nicht Fest steht: Am 27. Juni 2012 wurde im finnischen Handelsregister unter der Nummer 2476214-9 eine Genossenschaft namens Robin Hood Minor Asset Management eingetragen. Sie hat eine Internetseite, auf der Schaubilder zu sehen sind, die die Wertentwicklung des verwalteten Vermögens zeigen. Auch das Geschäftsmodell wird erklärt. Es besteht aus zwei Teilen: dem Computerprogramm, das den Fonds mithilfe von Data Mining steuern «Das Schönste daran ist, dass die Elite nicht einmal mitbekommt, soll. Und einem Mechanismus, der den mit dass wir in ihren Hirnen hocken und die Besten von ihnen kopieren. Softwarehilfe erwirtschafteten persönlichen Sie arbeitet nun für uns und die anderen gewöhnlichen Menschen.» Gewinn in gemeinsam verfügbares Kapital verwandeln soll: «Sie behalten 50 Prozent des GeDie Antwort fand er erst, als ihm beim Badminton ein Programmiewinns, die anderen 50 Prozent kommen Robin-Hood-Projekten zugute.» rer über den Weg lief. Was genau ein Robin-Hood-Projekt ist, ist nicht zu erfahren. Es ist nur vage von Stipendien für Kreative und zinslosen Darlehen die Rede, Den Feind umarmen «oder irgendetwas anderem». Dieser Programmierer ist ein freundlicher Eigenbrötler mit wachen Die Firmenanschrift immerhin gibt es. Die im Handelsregister angeAugen und müdem Gesicht: Sakari Virkki. Er wollte eigentlich Pilot wergebene Strasse führt nach einer einstündigen Busfahrt ab Helsinki zu den, hat dann aber die Ausbildung nach den ersten Flugrunden gegen abgelegenen Häusern zwischen einem Bergwerk und einem See. Im ein Mathematikstudium eingetauscht, als IT-Experte für eine Bank gearneuesten, einem flachen Nachkriegsbau mit grossen Fenstern, wohnt beitet und schliesslich, von Helsinki und Malaga aus, etwas Geld als der Ökonom Akseli Virtanen mit seiner Familie. Er spricht sehr leise, als Vermögensverwalter gemacht – von dem er allerdings auch viel wieder er zunächst durch den Garten führt und den Spargel zeigt. Auf die Bitte verlor. hin, die Geschichte von ganz vorn zu erzählen, verschwindet er erst einSakari Virkki besteht auf einem Restaurant in Helsinki als Treffpunkt, mal für mehrere Minuten. Dann breitet er ein Dutzend Bücher auf dem er möchte seine Privatadresse nicht preisgeben, wo seine Rechner steTisch aus – Texte, die er und seine Kollegen von der Aalto-Universität hen. Vielleicht hatte er auch einfach Sorge, einen falschen Eindruck zu herausgegeben, übersetzt oder geschrieben haben. Darunter ein Werk hinterlassen – die Bilder von seinem Arbeitsplatz, die er schickte, zeiüber Terrorismus des französischen Soziologen Jean Baudrillard sowie SURPRISE 331/14

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BILD: MARIA CANDIA/ROBIN HOOD MINOR ASSET MANAGEMENT

Erzittere, gierige Wall Street! Mit diesem Bild präsentiert sich «Robin Hood Minor Asset Management» auf Facebook.

rung» nennt Virkki das. Er bediente sich bei den zur Verfügung gestellgen Räume von grosser Schlichtheit. Jedenfalls sitzen Virtanen und ten Daten und liess sie von seiner Software so sortierten, dass er die DeVirkki nun im «Elite» gemeinsam an einem Tisch. Die beiden könnten als einzelner Händler erkennen, bewerten und kopieren konnte. Das hazwei Kumpels sein, die, lässig gekleidet, von ihrem Start-up berichten. be ihm, sagt er, bei der neuen Arbeit als Vermögensverwalter geholfen. Oder nur so tun, um diesen Eindruck zu vermitteln. Ähnlich machte er es, als die amerikanische Börsenaufsicht ihr RegiVirtanen bemerkt die Zweifel. «Warum glaubst du uns nicht? Würster der Käufe und Verkäufe auf ein digitales Format umstellte und im dest du uns glauben, wenn deine Freunde aus dem Finanzsektor an uns glauben würden?» Und erzählt dann von jenem Tag, an dem er die Aktien einer finni«Es gibt heute zwei Gruppen von Menschen: Eine Gruppe, die Zugang schen Papierfabrik kaufte, weil sein Vater in zum Kapitalmarkt hat und zu Geld kommt, ohne arbeiten zu müssen. der Branche arbeitete und ihm die Aktien empUnd eine andere, die nur über Arbeit zu Geld kommt.» fohlen hatte. Als er ihn fragte, weshalb, erzählte der Vater von einem Bekannten, dessen Internet zugänglich machte. Nur wurde die Sache jetzt komplex. VirkRat er bei Aktien sehr schätze. Und der Bekannte wiederum von einem kis Rechner waren überfordert. Sie brauchten Wochen, um die Datenanderen, dessen Gespür er vertraue. «An der Börse», sagt Akseli Virtamengen von der Wall Street zu bearbeiten. Als sie dann schneller liefen nen, «weiss niemand genau, was zu tun ist, es wird fast nur imitiert und und die Software patentiert war, glaubten die Banken, denen Virkki seidas Risiko über eine breite Streuung der Investments ausgeglichen. Der ne Entwicklung anbot, nicht an sein Data Mining und die Möglichkeit Markt verhält sich wie ein Schwarm, der seinen Leitvögeln folgt.» der Imitation. Sie hatten selbst ihre hoch spezialisierten, gut vernetzten Hier kommt Sakari Virkki ins Spiel. Kurz nach der finnischen BanAnalysten, die in den Metropolen der Welt sassen und im Auftrag ihrer kenkrise Anfang der Neunziger machte die Börse von Helsinki für einiKlienten verfolgten, was sich auf den Märkten tat. ge Jahre öffentlich, wer welche Aktien abstiess oder kaufte und ermögAkseli Virtanen hingegen war damals von der Software wie belichte es allen Interessenten, diese Transaktionen per Rechner abzururauscht. Ihre Nutzung koste einen Bruchteil dessen, was die Banken für fen. Virkki erzählt, wie er in dieser Zeit eine Software entwickelt habe, die Marktbeobachtung in die Hand nehmen müssen. Im Grunde seien die diese Schwarmbildung analysieren konnte und in der Lage gewesen nur die Daten und Virkki zu bezahlen, der die Empfehlungslisten der sei herauszufinden, welche der Leitvögel in der Vergangenheit bei welSoftware verstand und genug Erfahrung besass, um das Geld als Fondschen Investments erfolgreich gewesen seien und bei welchen nicht. Das verwalter auf dieser Grundlage in 20 oder 30 empfohlene Aktien zu steProgramm habe «die Herausbildung eines Konsenses unter den Kompecken – oder sie zu verkaufen. Sogar gegen Manipulationen sei man dank tenten» registriert und dann Möglichkeiten aufgezeigt, das Handeln dieder Händler-Analyse und der angelegten Profile ein wenig besser gefeit ses Schwarms erfolgreicher Händler zu imitieren. «Kompetenz-Kartie-

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mal mit bunten Video-Installationen in Erscheinung und geben dann als andere. «Und das Schönste daran ist», sagt Virtanen und strahlt, verwirrende Interviews: «Wir haben sogar eine Firma gegründet», er«dass die Elite nicht einmal mitbekommt, dass wir in ihren Hirnen hoczählte eine Aktivistin in einem Arte-Bericht über die Performance, «aber ken und die Besten von ihnen kopieren. Sie arbeitet nun für uns und die es bleibt ein Kunstprojekt.» Einige kalifornische Geschäftsleute aus dem anderen gewöhnlichen Menschen, die Mitglieder einer Robin-Hood-GeSilicon Valley und Vertreter von Stiftungen empfehlen Virtanen: «Sie nossenschaft sein möchten.» Er hatte das Gefühl, über eine Geldmaschine zu verfügen. Sie nannten das Programm den «Parasiten-Algorithmus». Er soll Virtanen beschreibt sein Projekt als konstruktive Alternative zu «Occupy schon während der Testphase in den Jahren Wall Street» und sagt, es sei einem Gedicht manchmal näher als einem 2003 bis 2009 für ordentliche Gewinne gesorgt althergebrachten Geschäftsmodell. haben. Das müsse zwar nicht immer so sein, sagt Virkki. Es gibt keine Gewinngarantie. müssten professioneller auftreten.» Oder aber, so hiess es, er müsse zuAber die Imitation derjenigen Händler, die sich laut Software bei ihren geben, dass das Ganze in erster Linie ein Kunstprodukt sei, um eine Investments als kompetent erwiesen haben, laufe gut. «Hello Robins!», neue Diskussion über die Verteilung des Wohlstands sowie über den schrieb er im Mitgliederbericht im März 2014 über den Erfolg seit dem blinden Glauben an die Macht der Finanzwelt anzuregen und die expeoffiziellen Geschäftsstart 2012. «Seit Beginn ist das Robin-Portfolio um rimentelle «Suche nach einem Ausweg aus einer ausweglosen Situation» 37,2 Prozent gewachsen. Der SPX (Standard & Poor’s 500 Index) stieg zu propagieren. um 32,55 Prozent. Das bedeutet, dass wir nun zu den fünf Prozent der Fragt man Akseli Virtanen, ob das alles nun Kunst sei, Business oder besten Fonds in den USA zählen. Happy investing!» Aktivismus, sagt er: «Keine Ahnung. Ich weiss nur, dass es dieses Paradoxe, Unbestimmbare und Grenzenlose ist, das stets den Beginn von etAn Beifall mangelt’s nicht was Neuem charakterisiert.» Trotzdem sollten die selbsternannten Nachfolger Robin Hoods vielDass die Investoren zögern, obwohl Akseli Virtanen die Echtheit des leicht noch einige Reiche zur Abtretung des überflüssigen Kleingelds beGeschäftes beteuert, hat einen weiteren Grund. Mit einer kleinen Auswegen. Zwar hat die Genossenschaft in den finnischen Medien bereits nahme, einem zinslosen Darlehen für einen Esten, der für eine Aufentviel Aufmerksamkeit erhalten, und auch auf Veranstaltungen wie dem haltsgenehmigung etwas Kapital nachweisen musste, hat sich die GeEuropäischen Trendtag des Gottlieb Duttweiler Instituts in der Schweiz, nossenschaft bislang noch nicht über konkrete Projekte verständigen auf dem Virtanen seine Vision einer «Investmentbank des Prekariats» können, die sie fördern mag. Sie wollen, sagen die Genossenschaftler, präsentierte, spendeten die Zuhörer amüsiert Beifall, als habe Virtanen die Diskussion dem Kollektiv überlassen, wenn es so weit ist. Der andie Wall Street im Namen der Armen gehackt. Ohne Geld jedoch, das gemessene Entscheidungsweg werde sich wie alles andere entwickeln. man investieren kann, bringt alles Herrschaftswissen nichts ein. Bislang haben die 200 Genossenschaftler lediglich eine halbe Million Euro in Der Traum vom ganz grossen Wurf den Fonds investiert. Viele von ihnen wollten kaum mehr als einige «Die Projektseite wird schon bei der nächsten MitgliederversammHundert Euro lockermachen.Virtanen sagt dazu: «In den ersten zwei lung konkreter werden», verspricht der niederländische Theatermacher Jahren haben wir die Gewinne in einen Fonds für Projekte und nicht in Jan Ritsema, der eine alte Klosterschule in Nordfrankreich besitzt, in der Projekte gesteckt. So richtig interessant wird unser Geschäft erst ab etsich Künstler, Philosophen und Wirtschaftstheoretiker begegnen. Er wa 10 oder 20 Millionen.» Deshalb hätten sie nun eine weichere, etwas übernahm den Genossenschaftsvorsitz, weil er Robin Hood als «alterfreiere Variante von fifty-fifty eingeführt. Aber das heisst eben auch: Sie nativen Investmentfonds» betrachtet: «Ich persönlich könnte mir vorbrauchen dringend Investoren, die mehr in den Pott werfen als die 30 stellen, dass wir ein Magazin fördern oder eine Website oder eine BüEuro, die mindestens in Genossenschaftsanteilen anzulegen sind. Oder cherreihe, Projekte also, die etwas anstossen. Das ist realistisch.» einen Massenansturm des «Prekariats», das etwas Geld zur Seite legen Andere träumen von Entschuldungen, Mikrokrediten und der Forkann. schungsfinanzierung. Oder wie Sari Stenfors, eine finnische WissenDie Kapitalismuskritiker, die Virtanen eigentlich für natürliche Verschaftlerin, die an der Universität Stanford arbeitet und das Projekt als bündete gehalten hätte, sind allerdings skeptisch. Sie werden mit dem «disruptive Finanzdienstleistung» beschreibt, von einem Pensionsfonds Gedanken nicht warm, dass Virtanen «das System mit den Mitteln des für jene, die keinen festen Job und keine Altersvorsorge haben. Systems» bekämpfen will, dass er sich gegen Transaktionssteuern ausAkseli Virtanen wiederum, der im Sommer nach Kalifornien ziehen spricht und jeden Glauben an eine wirksame Kontrolle des Finanzwird, um für die Initiative «Rethinking Capitalism» zu arbeiten, spricht marktes für eine Illusion hält. «Ich habe das Projekt auf der Documenta unterdessen vom ganz grossen Wurf: einem bedingungslosen Grundin Kassel vorgestellt», sagt er. «Das Ergebnis war, dass ich wie ein Vereinkommen für all jene, die in der post-industriellen Gesellschaft keinen räter behandelt wurde, der gemeinsame Sache mit den gierigen Bankern gesicherten Platz mehr haben oder erschöpft sind, weil ihre Arbeit nicht macht.» ausreichend Geld zum Leben einbringt. Sie müssen es sogar aushalten, dass im Namen der Genossenschaft «Wissen Sie, dass die grossen Investmentbanken in manchen QuarAktien des Waffenherstellers Sturm, Ruger & Co. ins Portfolio gelangen, talen mehrere Milliarden Euro Profit machen? Das sind Summen, die wenn die Software das empfiehlt. Das hier ist kein Ethikfonds. sich die Staaten gerade mühsam mit Kürzungen im Sozial- und BilDie Interessierten, die für das Experiment auf 50 Prozent ihrer Gedungssystem absparen. Mit diesem Geld hätte man die griechische winne verzichten würden, schrecken wiederum auf, wenn Virtanen sein Schuldenkrise lösen können.» Projekt als konstruktive Alternative zu «Occupy Wall Street» beschreibt ■ und sagt, es sei einem Gedicht manchmal näher als einem althergebrachten Geschäftsmodell. Immer wieder wird er nach Beweisen dafür gefragt, dass das Robin Hood Minor Asset Management echt ist und der Parasiten-Algorithmus tatsächlich existiert. Die Eintragung im Handelsregister, das online gestellte Gutachten eines Wirtschaftsprüfungsunternehmens, die Nummer von Virkkis Patenten – alles wird angezweifelt, und daran haben «die Robins» sicherlich auch ihren Anteil. Schliesslich treten manche von ihnen selbst schon Dieser Text erschien zuerst im Magazin Brand eins. SURPRISE 331/14

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Amir Reza Koohestani «Wir sind alle Iwanow» Der iranische Starregisseur Amir Reza Koohestani hat mit seiner Inszenierung von Tschechows «Iwanow» im Iran einen Nerv getroffen: Sein mehrheitlich jugendliches Publikum hat die Parallele zwischen dem resignierten Iwanow und seinem Land sofort verstanden – die Zensoren allerdings auch. Wir haben Koohestani vor seinem Gastspiel in der Schweiz über das Theatermachen im Iran befragt.

INTERVIEW VON DIANA FREI

beliebtesten Dramatiker im Iran. Man mag Klassiker, auch Shakespeare. Und trotzdem werden diese Stücke oft ganz neu konstruiert. Da ist «Macbeth» angekündigt, und was man zu sehen bekommt, sind zwei Männer oder zwei Frauen auf der Bühne. Die Regisseure lösen die Struktur der Stücke normalerweise ganz auf. Was ich mache, ist nicht sehr üblich im Iran. Bei mir bleibt die Anzahl Szenen gleich, und mein «Iwanow» dauert zweieinhalb Stunden. Das ist ungewöhnlich lang im iranischen Theater.

Herr Koohestani, ein Mann hat seine Midlife-Crisis, liebt seine Frau nicht mehr und beginnt eine Affäre mit einer Jüngeren: Tschechows «Iwanow» ist eine altbekannte Geschichte, aber offenbar hat Ihre Bühnenversion im Iran einen empfindlichen Nerv getroffen. Welchen? Ich beschloss etwa zwei Jahre nach der Krise rund um die Präsidentschaftswahlen 2009, «Iwanow» zu bearbeiten. Damals war die SituWenn man die Stücke derart zertrümmert, wieso spielt man denn ation speziell für die jungen intellektuellen Iraner schwierig. Sie vertrotzdem Klassiker? Kommt man damit leichter bei der Zensur loren die Wahlen und danach ihre Motivation und die Hoffnung auf durch als mit eigenen Stücken? grosse Veränderungen in der Gesellschaft. Die Leute, speziell der jungen Generation, verliessen entweder das Land oder gaben es auf, sich aktiv zu engagieren. In die«Der einzige Weg für junge Leute, sich zu unterhalten, sind Kino, ser Zeit begannen wir «Iwanow» zu proben, Theater oder Galerien. Es gibt keine Discos und keine Bars.» das Stück über einen Mann, der in einer Beziehungskrise steckt und nicht mehr weitermachen mag. Wir sehen einen Mann mittleren Alters, der seine MotivaAls wir 2011 zu proben begannen, war die Krise um die Präsidenttion verloren hat. Jeder erwartet von ihm, dass er seine Situation ändert, schaftswahlen vorbei. Geblieben ist aber eine beängstigende Situation aber er ist nicht fähig dazu. Er hat keinen Mut mehr, etwas zu veränin der Kunstszene. Die Zensur war recht stark. Da haben wir uns entdern. schieden, einen Klassiker aufzuführen und dachten, es wäre vielleicht einfacher, damit durch die Zensur zu kommen. Aber diese Inszenierung Sie haben die Handlung auch explizit im Iran angesiedelt. war meine erste, die zunächst gesperrt wurde. Wir mussten die PremieDie Kostüme sind iranisch, und wir benutzen nicht Tschechows re um zwei Wochen verschieben, und in diesen zwei Wochen kam die Worte. Der Dialog ist teilweise ein Strassenslang, eine sehr alltägliche Zensurbehörde vier, fünf Mal vorbei, um sich das Stück anzusehen. Wir Sprache. Und trotzdem habe ich versucht, diese Sprache in einen dradiskutierten und verhandelten mit den Zensoren. Wir haben dann kleimatischen Text umzusetzen. Ich benutze oft den Klang der persischen nere Anpassungen gemacht und bekamen letzten Endes die Erlaubnis Sprache und versuche die Melodie im Dialog zu finden. Trotzdem spiezu spielen. len wir Tschechow. Ich habe die Struktur des Stücks und das Personal erhalten, alle die russischen Namen: Iwanow, Borkin, Sascha und so Was musste geändert werden? weiter. Die Idee, die Handlung bleiben die gleiche. Hauptdiskussionspunkt war Iwanow selber, die Figur des hoffnungslosen, passiven Mannes. Iwanow als Metapher für den Zustand der iraIst es im iranischen Theater üblich, Stücke zu modernisieren? nischen Intellektuellen nach den Wahlen 2009. Wir dachten, wir könnDas Theater hat im Iran keine lange Tradition, Theater im westlichen ten uns dabei ein bisschen hinter Tschechow verstecken. Aber auch der Sinn gibt es erst seit 50 oder 60 Jahren, es ist eine junge Gattung. Die Zensurbehörde war der Link zu der iranischen Gesellschaft nach der porussischen Stücke spielen hier eine grosse Rolle, Tschechow ist einer der litischen Krise klar. Ein anderer Punkt war Iwanows Frau, die bei Tsche-

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BILD: MANI LOTFIZADEH

Iwanow versucht die Party in sein Leben zurückzuholen.

chow für die Heirat vom Judentum zum Christentum konvertiert, bei uns konvertierte sie zum Islam. Wir durften den Islam nicht erwähnen, jetzt lassen wir es offen. Und eigentlich gefällt es mir sogar besser, wenn das nicht so klar benannt wird.

Am Anfang sehen wir Iwanow Englisch lernen, wir hören Sätze seiner Lern-CD: «Stellen Sie sich vor, in ein anderes Land zu gehen. Stellen Sie sich vor, Leute mit anderem kulturellem Hintergrund kennenzulernen …» Sie selber sind weggegangen und haben in England studiert. Sind Sie ein Iwanow, der es geschafft hat, sein Leben umzukrempeln? (Zögert) Nun – der Punkt ist: Ich versuchte ein paar Dinge in meinem Leben zu verändern, als ich mich entschied, nach England zu gehen. Ich war zweieinhalb Jahre weg. Aber als 2009 diese Wahlen statt-

Aber Ihr Iwanow ist doch immer noch ein iranischer Intellektueller, der all seine Hoffnungen verloren hat? Ich meine … es ist ein Tschechow-Stück! Wir sagten: Wir können das nicht ändern. Das ist ja das Hauptelement: dieser Mann, der verzweifelt versucht, sein Leben neu einzurichten, aber die Kraft dazu nicht hat. Es war sehr interes«Die heutigen Frauen im Iran sind nicht mehr romantisch. Sie wolsant für mich, dass allein diese Figur automalen sich nicht mehr für ihre Familie oder für einen Mann opfern. Sie tisch mit dem Zustand der Menschen im Iran kämpfen für ihre Rechte und ihre Freiheit.» in Verbindung gebracht wurde. Aber als die Zensurbehörde das vierte oder fünfte Mal vorfanden und zur Krise führten, konnte ich nicht mehr wegbleiben. Ich beikam, hatten sie ihr Gremium ausgewechselt und Leute dazugenomhatte das Gefühl, ich würde etwas Wichtiges in der Geschichte meines men, die sich mit Theater besser auskannten. Die waren vernünftiger Landes verpassen. Sogar jetzt reden die Leute noch von dieser Zeit. Ich und gaben uns schliesslich die Erlaubnis zu spielen. brach mein Studium ab und kam zurück. Danach produzierte ich inklusive Iwanow drei Stücke. Und Sie haben recht, in all diesen Stücken Die Zensur liest demnach zwischen den Zeilen? Sie machen jetaucht in der einen oder anderen Form die Emigration auf, die Idee, denfalls keine direkten politischen Anspielungen im Stück, es dass jemand das Land verlässt. Vielleicht lernt mein Iwanow deshalb steckt keine explizite Kritik am iranischen System drin. Englisch, vielleicht hat er vor, irgendwo Asyl zu beantragen, aber wir «Iwanow» ist für uns an sich kein politisches Stück. Es ging nur daerwähnen das nicht explizit. Es ist eines der grossen Themen im Iran, rum, dass sich das Publikum direkt angesprochen fühlt, wenn es diesen speziell für die jungen Leute. Wenn sie die Schule fertig haben, gehen mutlosen Mann sieht. Für mich ist es grundsätzlich eine Liebesgesie an die Uni und wollen ins Ausland. Vielleicht war unser Iwanow schichte, eine Dreiecksgeschichte zwischen Iwanow, seiner Frau und deshalb so erfolgreich. Weil das Publikum spürt, dass es ihm gleich der jungen Sascha. Aber man kann das Stück natürlich gesellschaftlich geht. und politisch interpretieren.

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Eine junge iranische Frau hat jedenfalls auf Facebook gepostet: «Wir sind alle Iwanow.» Genau. Das war ein Satz, der nach der Premiere aufkam, und ich war richtig stolz darauf, als ich ihn las. Weil es genau das war, was wir beabsichtigten. Es hat keinen Sinn, für ein iranisches Publikum ein russisches Stück mit russischen Figuren zu spielen, wenn es nicht an Themen anknüpfen kann, die das Publikum vor Ort beschäftigt. Wenn ein Satz wie «Wir sind alle Iwanow» auftaucht, weiss ich, dass das Stück bei den Leuten angekommen ist.

dazu nicht. Da dachte ich, Sascha könnte Iwanow verlassen. Sie ist es, die sagt: Ich dachte, ich würde dich lieben, aber ich kann so nicht weitermachen. Wir sehen, wie die junge Frau Iwanow verlässt. Das ist die Haltung der heutigen Frauen im Iran. Sie sind nicht mehr romantisch. Sie wollen sich nicht mehr für die Familie und für einen Mann opfern. Sie kämpfen für ihre Rechte und ihre Freiheit. Sie sind intellektuell, keine passiven Geschöpfe hinter ihren Männern. Deshalb ist das mein Schluss. ■

Sie sagen, das Theater sei eine junge Gattung im Iran. Ist es ein wichtiges Kommunikationsmittel? Wichtig zu wissen ist sicher, dass wir Zuschauer haben. Es gibt mindestens 25 bekannte Theatertruppen, die garantiert ein Publikum haben. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen gibt es nicht viele Alternativen. Der einzige Weg für junge Leute, sich zu unterhalten, sind Kino, Theater oder Galerien. Es gibt keine Discos und keine Bars. Sie können nirgends hin. Und daher ist das iranische Publikum sehr jung. In meinen Vorstellungen sitzen zu 80 Prozent Leute unter 25. Und gerade mit den politischen Problemen – innen- wie aussenpolitisch – suchen sie ihre eigenen Kommunikationswege, ihre eigenen Medien. Daher haben wir viele Film- und Theaterregisseure. Auch die bildenden Künstler aus dem Iran sind in den letzten Jahren international zum Teil sehr erfolgreich geworden. Die Kunst ist zum Medium geworden, um auf direktem Weg mit der Welt zu kommunizieren. Wir können so die Falschaussagen der Mainstream-Medien und politische Hindernisse umgehen. Das meiste passiert allerdings in Teheran, 80 Prozent der Kunst wird hier produziert.

Amir Reza Koohestani & Mehr Theatre Group: «Iwanow», Theaterspektakel Zürich,

Welche Perspektiven und Möglichkeiten hat die junge Generation? Die Regierung hat ihre eigenen Probleme, speziell mit den Sanktionen. Die Leute haben gemerkt, dass sie ihre eigenen Wege suchen müssen, um voranzukommen. Die meisten der jungen Generation fangen nach der Highschool direkt an zu studieren. Sie sind gut ausgebildet und suchen sich ihren Weg, um gehört zu werden, ihre Meinung einzubringen. Die meisten versuchen, auf einer Uni im Ausland einen Abschluss zu machen. Was ich übrigens interessant finde: Ich unterrichte auch an der Universität, und über 60 Prozent der jungen Leute in meinen Workshops sind Frauen. Es gibt mehr Studentinnen als Studenten. Sie haben einmal gesagt, die junge Sascha in «Iwanow» stehe für die Frauen, die bei den Protesten im Sommer 2009 zuvorderst mitgekämpft haben. Sascha, sind das auch Ihre Studentinnen? Ganz genau. Iwanow dagegen hat eine Midlife-Crisis. Kann man sagen, Iran ist ein Land in der kollektiven Midlife-Crisis, trotz der jungen Saschas? Ja, aber Iwanow steht ja gerade zwischen zwei Frauen. Für mich ist seine Ehefrau die Repräsentantin der traditionellen Frauen im Iran: eine Frau, die gehorcht, sich unterordnet, die konvertiert und ihre Eltern für den Mann verlässt, kurz: die ihr eigenes Leben für Iwanow aufgibt. Und sogar dann noch zu ihm hält, als die Leute darüber zu reden beginnen, dass er sie nicht mehr liebt. Und auf der anderen Seite haben wir eine andere Frau: jünger, aktiver. Die Art und Weise, wie sie redet und sich gibt, ist sehr mädchenhaft, sie ist sehr romantisch. Iwanow sagt sich unbewusst: Okay, vielleicht kann sie mich irgendwie aus meinem bisherigen Leben retten. Für mich war aber die Frage interessant, wie die Geschichte endet. Tschechow hat zwei Versionen geschrieben. In der ersten Komödienfassung heiraten Sascha und Iwanow und fertig. In einer zweiten Fassung bringt sich Iwanow um. Im Verlauf der Proben wurde mir aber klar, dass sich Iwanow nicht umbringen kann. Er hat den Mut SURPRISE 331/14

Sa, 23. bis Mo, 25. August, jeweils 19 Uhr, Publikumsgespräch am Sa, 23. August mit Amir Reza Koohestani und der iranischen Performerin und Autorin Azade Shahmiri. www.theaterspektakel.ch

Weitere Vorstellungen am Theaterfestival Basel: Sa, 30. August, 20.30 Uhr und So, 31. August, 18 Uhr, Theater Basel. Am 31. August findet um 15 Uhr mit Koohestani eine Podiumsdiskussion zu künstlerischen Produktion im Iran statt. Koohestanis Stück «Wo warst du am 8. Januar?» ist ebenfalls am Theaterfestival Basel zu sehen: Di, 2. September, 20 Uhr und Mi, 3. September, 19 Uhr im Roxy Birsfelden. www.theaterfestival.ch

Schon mit 16 schrieb Amir Reza Koohestani (36) erste Kurzgeschichten für Lokalzeitungen. Später nahm er Kurse in Filmregie, nach zwei unvollendeten Filmen begann er Theaterstücke zu schreiben. Mit seinem dritten Stück «Dance on Glasses» begann 2001 seine internationale Karriere. Am Schauspielhaus Köln und am Nouveau Théâtre de Besançon hat er mehrere Stücke entwickelt; nach zwei Jahren in Manchester kehrte er 2009 nach Teheran zurück. Die Produktion «Iwanow» wurde von iranischen Kritikern 2011 zum Stück des Jahres gewählt. Zusammen mit Mani Haghighi schrieb Koohestani das Drehbuch zum Film «Modest Reception», der 2012 auch bei uns in den Kinos lief.

Die Proteste nach der iranischen Präsidentschaftswahl 2009 Nach der Präsidentschaftswahl im Juni 2009 gab es in Teheran und anderen grösseren Städten der islamischen Republik Iran öffentliche Proteste und Demonstrationen gegen das amtlich bekannt gegebene Wahlergebnis, das dem bisherigen Amtsinhaber Mahmud Ahmadinedschad die absolute Stimmenmehrheit einräumte. Die Opposition warf Ahmadinedschad massiven Wahlbetrug vor und forderte die Annullierung der Wahl. Der Wächterrat stellte keine grösseren Unregelmässigkeiten fest und sprach sich gegen Neuwahlen aus. Während der Unruhen wurden bis Anfang September 2009 nach Angaben der Opposition 72 Menschen getötet, offiziell spricht die Regierung von 36 Toten in diesem Zeitraum. Seither sind weitere Tote hinzugekommen. (Quelle: Wikipedia).

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BILD: GUIDO SÜESS

Wörter von Pörtner Meine Meinung Meine Meinung war bislang kein begehrtes Gut. Nicht nur meine. Da wir andere Meinungen bestenfalls als harmlose Verwirrungen, schlechtestenfalls als gemeingefährlichen Irrsinn wahrnehmen, erfreute sich neben der eigenen bisher jene Meinung der grössten Beliebtheit, die für sich behalten wurde. Das hat sich dramatisch geändert. Seit einiger Zeit kann ich mich kaum mehr davor retten, meine Meinung abzugeben. Ihre Meinung ist uns wichtig! wird mir von allen Seiten versichert. Nach Kündigung meiner Motorfahrzeugversicherung rief mich ein Mann an. Er wollte meine Meinung zu seinem Produkt erfahren. Es war Samstagmorgen und ich gab ihm zu verstehen, dass ich wenig geneigt war, diesen mit ihm am Telefon zu verbringen. «Aber Sie wollen uns doch sicher helfen, dass wir unsere Kunden noch besser bedienen kön-

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nen!» Ich wollte nicht. Der Mann wurde unfreundlich und fand, dass es meine persönliche Verpflichtung sei, einem der grössten Versicherungskonzerne der Welt meine Freizeit zur Verfügung zu stellen. Es gibt Hotlines von Telekommunikationsunternehmen, die ich nur ungern anrufe, weil darauf stets ein Gegenanruf folgt, bei dem ich meine Meinung zur erhaltenen Hilfe abgeben sollte. Das Energie-Coaching (wie viele Meinungen und Umfragen es wohl gebraucht hat, diese Beratung derart knackig zu benennen?), das ich in Anspruch genommen habe, sandte mir auf Ignorieren des elektronischen Fragebogens hin diesen noch einmal per Post zu. «Um das Angebot noch besser … auszurichten, sind uns Ihre Erfahrungen sehr wichtig. Wir bitten Sie daher, den Fragebogen bis zum xx.xx.xx auszufüllen.» Es kostete mich ein wenig Überwindung, den Fragebogen ins Altpapier zu werfen. Ich kam mir vor wie einer, der seinen Anteil nicht leistet. Dabei habe ich die Dienstleistung bezahlt. «Die Beantwortung dauert rund zehn Minuten.» Ich sollte nicht so kleinlich haushalten mit meiner Zeit, die ich, Hand auf’s Herz, ja doch nicht sinnvoller zuzubringen weiss, dachte ich. Es geht doch darum, die Dienstleistung, das Produkt, die Marke und schlussendlich die Welt zu verbessern oder zu vernochbessern. Oder ist Zeit immer noch Geld

und die Zeit der Konsumenten ein Gut, das die Unternehmen zu Geld machen wollen? Geld, mit dem sich die kontinuierliche Prozessoptimierung, die sich öffentliche und private Unternehmen für viel Geld haben aufschwatzen lassen, finanzieren lässt? Wie sollen sich die Computerprogramme amortisieren, ohne mein trifft zu/trifft eher nicht zu/trifft irgendwie schon zu, aber irgendwie auch nicht? Da die Teilnahme an Umfragen weder Bürgerpflicht ist noch zu meinen bevorzugten Freizeitbeschäftigungen zählt, verzichte ich darauf. Zumal ich den Verdacht habe, dass meine Meinung nicht zu Verbesserungen führt, sondern dazu, dass die Mitarbeitenden dieser Unternehmen mit Marketing- und Kommunikationskauderwelsch zugetextet und von der richtigen Arbeit abgehalten werden, die sie dank der umfragebasierten Optimierung in immer weniger Zeit mit immer grösserer Begeisterung zu erledigen haben. Meiner Meinung nach ist diese Meinungssammelei eine einzige sinnlose Landplage. Diese Meinung immerhin interessiert keine der umfragewütigen Organisationen.

STEPHAN PÖRTNER (STPOERTNER@LYCOS.COM) ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT (SAVVE@VTXMAIL.CH) SURPRISE 331/14


Ausstellung Bildgewaltige Verschmelzungen Die 18. Ausgabe der Bieler Fototage überrascht unter dem Titel «Hybride» mit ästhetischen Vermischungen und Gegensätzen aus unserer vernetzten Welt.

Einsam steht eine Tiefpumpe zur Erdölförderung in einer verschneiten Ebene. Es ist, als würde das schwarze Gold jeden Moment hochschiessen und die unberührt wirkende Landschaft auf amerikanische Art mit dem begehrten Saft taufen. Nur einige Reifenabdrücke in der dünnen Schneeschicht deuten darauf hin, dass dies keineswegs eine gottverlassene Gegend, sondern vielmehr ein Ort von wirtschaftlicher Bedeutung ist. Als «China Western» fasst Carlos Spottorno denn auch seine Eindrücke aus der chinesischen Provinz Xinjiang zusammen. Xinjiang ist reich an Bodenschätzen und Heimat der muslimischen Minderheit der Uiguren, die teils mit Waffengewalt für ihre Unabhängigkeit kämpft. In Spottornos Bildserie offenbaren sich viele Gegensätze und Merkmale einer durch und durch globalisierten Welt: Vermischung der Kulturen, hungrige Weltwirtschaft, totale Vernetzung. Die 18. Ausgabe der Bieler Fototage zeigt im Rahmen von 20 Ausstellungen die Arbeiten von 45 Fotoschaffenden aus dem In- und Ausland in Museen, Galerien und an ungewöhnlichen Ausstellungsorten in der ganzen Stadt. Unter dem Titel «Hybride» trägt das diesjährige Festival den jüngsten Entwicklungen in der Fotografie Rechnung. Dank Internet und anderen neuen technischen Möglichkeiten versteht es die zeitgenössische Fotografie ausgezeichnet, die Widersprüchlichkeiten in der Welt immer wieder überraschend anders darzustellen. Analoge und digitale Fotografie greifen spielend ineinander, Filmelemente werden mit Fotografie verschmolzen. Man spricht dabei von einer Hybridisierung der Fotografie, denn durch dieses Experimentieren entstehen eigentliche visuelle Mischwesen. «Schon von Beginn an war die Fotografie ein Feld für Experimente, aber die jüngsten technologischen Entwicklungen haben dieser flexiblen Kunstform zu neuen gestalterischen Ansätzen verholfen», sagt Hélène Joye-Cagnard, Direktorin der Bieler Fototage. «So interessieren wir uns beispielsweise für die Öffnung der Fotografie für Einflüsse aus der Videokunst, wie etwa Bewegung oder Ton.» Die Installation «Offscreen» der Bernerin Gabriela Löffel ist eine jener Arbeiten, in denen die Verschmelzung von Techniken, Themen und Erzählebenen besonders zum Tragen kommt. Basierend auf den Erzählungen eines jungen Mannes, der 2011 als «Kriegstourist» auf der Suche nach fragwürdigem Abenteuer nach Afghanistan reiste, liess Löffel einzelne seiner Berichte in den Babelsberger Filmstudios von Stunt-Profis nachstellen. Auf Leinwänden sind Szenen aus den Studios, den Aussenkulissen und den Stunts zu sehen, während eine Offstimme dem Betrachter den befremdenden Reisebericht via Kopfhörer übermittelt: «In dieser Nacht sind extrem viele Flugzeuge geflogen, wir dachten uns noch, irgendwas ist da vielleicht am Laufen. Am nächsten Tag haben wir dann eine SMS aus der Schweiz bekommen: ‹Bin Laden ist getötet SURPRISE 331/14

BILD: CARLOS SPOTTORNO/GETTY IMAGES, 2008

VON MONIKA BETTSCHEN

Ein gottverlassener Ort stillt den Energiehunger der Weltwirtschaft: Xinjiang.

worden›.» «Offscreen» paart die künstliche Umgebung der Filmkulissen mit einem echten Erlebnisbericht über die Operation Neptune Spear der USA, die in unmittelbarer Nähe des Reisenden, in Bagram, gestartet wurde. «Beeindruckend, wenn man so ein Teil der Weltgeschichte ist, quasi!», staunt der Tourist am Hindukusch. Man schaut, hört zu und erinnert sich vielleicht noch an jenes Foto, das Barack Obama Tausende Kilometer entfernt im Weissen Haus zeigt, wie er die Stürmung von Bin Ladens Versteck am Bildschirm mitverfolgt. Jack Bauer lässt grüssen. Gabriela Löffel kombiniert diese Erzählung mit einer Vielzahl von visuellen Andeutungen. Ganz ohne explizite Bildsprache gelingt es ihr aufzuzeigen, wie stark Krieg und Terrorismus globalisiert sind. Gleichzeitig hinterfragt sie den Trend, ausgerechnet brandgefährliche Krisenregionen für Touristen zugänglich zu machen. Auch die Fotoserie «Ich mit Girls» von Romain Mader spielt mit einem besonders aktuellen Phänomen: dem Selfie. Der Fotograf hat sich am Genfer Autosalon mit einigen der attraktiven Hostessen abgelichtet. Wirklichkeit und Werbeästhetik prallen aufeinander, überlagern sich langsam und werden eins. Während die polierten Neuwagen mit den Frauen um die Wette glänzen, schiebt sich Mader wie ein Fremdkörper in diese Scheinwelt hinein und macht deutlich, wie erschreckend dünn die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit manchmal sein kann. ■

Bieler Fototage: «Hybride», Fr, 22. August bis So, 14. September, Mi bis Fr 14 bis 18 Uhr, Sa und So 11 bis 18 Uhr. Empfang und Billetverkauf: Neues Museum Biel, Gebäude Schwab, Informationscenter (Bahnhofplatz) www.fototage.ch

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Kultur

Ist der Tank leer, gehen auch die Ideen aus.

Nicht die Badewanne läuft über, sondern die Stimmung.

Buch Rettende Routinen

Theater Artistischer Turbo-Klamauk

In «Musenküsse» macht sich der amerikanische Autor Mason Currey auf die Suche nach dem Patentrezept für Kreativität.

«Die Düsende Dora» hat’s in sich: Im, auf und vor dem umgebauten VW-Lieferwagen wird Akrobatik und Slapstick auf höchstem Niveau geboten.

VON CHRISTOPHER ZIMMER VON MONIKA BETTSCHEN

«Ach, wenn ich nur genug Zeit hätte …» – Wer kennt nicht diesen Stossseufzer? Aber wie machen es die, die nicht klagen, oder wenn, es trotzdem hinkriegen, ihre Sehnsüchte auszuleben? Der amerikanische Autor Mason Currey hat sich auf die Suche nach den Umständen gemacht, unter denen sich Kreativität – allen Blockaden und Widrigkeiten zum Trotz – entfaltet. Sein Interesse gilt dabei den Alltagsroutinen berühmter Künstler, in der Hoffnung, darin die Antwort auf diese brennende Frage zu finden. Was als Blog «Daily Routines» begann, ist nun auszugsweise in einem Buch erschienen. Da ist allerlei Gegensätzliches versammelt, denn natürlich sind die Strategien so zahlreich wie individuell. Dennoch erkennt man verwandte Arten bzw. Gegensatzpaare: Tagaktive versus Nachteulen, Pedantische versus Chaoten, oder die ihre Kunst im Liegen, Sitzen, Stehen oder Gehen Ausübenden. Einige ziehen sich ins stille Kämmerlein zurück, während ihre Antipoden den Trubel der Welt suchen, andere greifen zu Alkohol und Drogen, während sich ihre Leidensgenossen mit Milchshake-Zucker-Räuschen oder dem Duft von faulen Äpfeln begnügen. Keine Frage, dass sich darunter auch Exzentriker befinden, auf jeden Fall reichlich Stoff für Anekdoten. Von Woody Allen, der unter die Dusche geht, um neue Ideen zu schöpfen, Strawinsky, der einen Kopfstand machte, wenn er nicht weiterwusste, Gertrude Stein, die mit Blick auf Felsen und Kühe schrieb, Thomas Wolfe, der mit seinen Genitalien spielte, um sich in Stimmung zu bringen, oder Simenon, der jeden Tag Sex hatte und alle paar Monate eine wilde Schreiborgie. Allerdings sind solche bunten Blüten nicht die Regel. Die meisten kreativ Schaffenden haben, so der Komponist John Adams, äusserst gleichförmige, wenig glamouröse Tagesabläufe. Tatsächlich finden sich etliche Parallelen zu den «Normalsterblichen». Dass eine feste Routine vor dem Aufgeben retten kann, wie John Updike meinte, gilt schliesslich nicht nur für Ausnahmemenschen. Und jeder Mensch, ob Geistesgrösse oder nicht, träumt wohl davon, wie Patricia Highsmith «Ideen wie Ratten Orgasmen» zu haben.

Schon sehr lange hegte die Bernerin Lena Gubler den Traum, eines Tages mit einem eigenen Bühnenprogramm umherzuziehen. Die studierte Geografin, die schon seit Kindertagen leidenschaftlich gerne Theater spielt, machte schliesslich vor einem Jahr ernst und ersteigerte im Internet einen dreieinhalb Tonnen schweren VW-Lieferwagen. Die Vision: Der Wagen sollte während der warmen Jahreszeit sowohl Bühne, Transportmittel als auch manchmal Unterkunft für eine kleine Künstlertruppe sein. Ein befreundeter Bühnenbauer half Gubler dabei, den Wagen nach ihren Vorstellungen in das trickreiche Multifunktionsgefährt umzubauen, das es heute ist. «Als eine Freundin den Bus das erste Mal sah, meinte sie: ‹Sieht aus wie eine Dora› », lacht Lena Gubler. Und so ist der Name ihres Bühnenprojektes entstanden. Neben dem Umbau suchte die heute 30-Jährige in ihrem Umfeld nach Gleichgesinnten, die wie sie vom Gaukeln träumten. Mit der Zeit hat eine fünfköpfige Gruppe zusammengefunden, alle zwischen 25 und 30 Jahre alt, Schauspieler, Musiker und Akrobaten. «Für dieses Projekt haben wir unsere bisherigen Jobs gekündigt, damit wir uns in den Sommermonaten voll und ganz auf das Programm konzentrieren können», sagt Lena Gubler und macht damit deutlich, wie viel Mut neben der sorgfältigen Planung dazugehört, um ein solches Projekt durchzuziehen. Das Programm «Motel», mit dem Die Düsende Dora in diesem Sommer erstmals auf Tournee geht, erzählt die Geschichte einer Absteige, die schon seit längerer Zeit nicht mehr von Gästen besucht wird. Mit der Ruhe ist es allerdings schnell vorbei, als eines Tages zwei Brüder eintreten und den Alltag der Wirtsleute gehörig durcheinanderbringen. Das Stück ist voller Variété- und Slapstick-Elemente; eine herrliche Mischung aus Akrobatik, Theater und Musik auf engstem Raum, die Kinder und Erwachsene zum Lachen und Staunen bringt. «Bei unseren bisherigen Auftritten ist uns aufgefallen, wie gerade die Leute abseits der grossen Städte es schätzen, dass wir auch zu ihnen kommen», so Gubler. «Es ist spannend, immer wieder vor anderem Publikum aufzutreten.»

Mason Currey: Musenküsse. Die täglichen Rituale berühmter Künstler.

Die Düsende Dora: «Das Motel», auf Tour in Wetzikon (9. und 10. August), Luzern

Kein & Aber 2014. 19.90 CHF

(14. August), Brunnen (15. bis 17. August), Zürich (22. und 23. August; 12. und 13. September), Winterthur (29. bis 31. August), 20 Uhr. www.dieduesendedora.ch

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Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Sieht nett aus, ist es aber nicht: Scarlett Johansson in «Under the Skin».

Kino Eiskaltes Grauen

01

Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

02

Lions Club, Zürich Seefeld

03

Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

04

VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

In Jonathan Glazers «Under the Skin» vagabundiert Scarlett Johansson als ausserirdische Femme Fatale durch Glasgow und lockt gelangweilte Schwerenöter in eine tödliche Falle.

06

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

07

Velo-Oase Erwin Bestgen, Baar

08

Bruno Jakob Organisations-Beratung,

VON YVONNE KUNZ

09

Balz Amrein Architektur, Zürich

10

Supercomputing Systems AG, Zürich

11

Kultur-Werkstatt – dem Leben Gestalt geben,

Pfäffikon SZ

Scarlett Johansson hat ein auffälliges Gesicht und eine klangvolle Stimme. In ihrem letzten Kinohit, «Her» von Spike Jones, spielt sie die Hauptrolle, ist aber nie zu sehen. Im Science-Fiction-Thriller «Under the Skin» ist sie fast permanent im Bild, sagt aber ausser etwas banalem Small-Talk kaum ein Wort. Auch ihr Gesicht ist die ganze Zeit über nahezu leer. Es sind keine Gewaltexzesse, die diesen Science-Fiction-Thriller so brutal machen. Das eiskalte Grauen, das der Film erzeugt, dringt durch psychologische Ritzen ins Bewusstsein. Sehr irritierend ist etwa die komplette Emotionslosigkeit der namenlosen Hauptfigur: In einer Szene hat sie eben beobachtet, wie ein Schwimmer einem Mann zu helfen versuchte, der selber seine Frau vor dem Ertrinken retten wollte. Mann und Frau sind in den Fluten verschwunden, der Retter liegt erschöpft am Strand. Johansson packt einen Stein und erschlägt ihn. Während sie den Ort verlässt, bleibt das Baby des ertrunkenen Paares schreiend zurück. Der karge Plot lässt wenig Ablenkung zu. Es bleibt offen, woher und warum die Ausserirdische hier ist. Man erfährt nur, warum das alles in Schottland stattfindet: «Weil das nirgends ist.» Es gibt keinen Kontext, was man sieht, ist alles, was passiert: Eine sinnliche Frauengestalt fährt durch Glasgow und gabelt Männer auf. Manchmal lässt sie sie wieder gehen, manchmal tötet sie sie. Die Opfer werden nicht blutreich gemeuchelt. Sie folgen dem strippenden Vamp in einen dimensionslosen Raum und verschwinden einfach in einer kosmischen Leerstelle. Über zehn Jahre lang hat der britische Regisseur Jonathan Glazer an dem Film gearbeitet. Nun hat er aus der Vorlage, dem Roman «Die Weltenwandlerin» von Michel Faber, eine Ladung Stimmung gefiltert. Wie schon in «Sexy Beast» erweist sich Glazer als subtiler Meister des nicht ganz Realen: Dadurch, dass er «Under the Skin» durchwegs mit versteckter Kamera filmte, wird der Blickwinkel ungewohnt eng. Weil man die Welt mit den Augen einer Ausserirdischen betrachtet, wird sie fremd. Mit solchen Mitteln schafft er ein kaleidoskopisches Kunstwerk, eine elliptische Fabel über das moderne Menschsein an sich.

Wil SG 12

Schluep Degen Rechtsanwälte, Bern

13

Anyweb AG, Zürich

14

A. Reusser Bau GmbH, Recherswil

15

Verlag Intakt Records, Zürich

16

Hotel Basel, Basel

17

Homegate AG, Zürich

18

Balcart AG, Therwil

19

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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applied acoustics GmbH, Gelterkinden

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Privat-Pflege, Hedi Hauswirth, Oetwil am See

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Hofstetter Holding AG, Bern

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Bachema AG, Schlieren

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fast4meter Bern, Storytelling & Moderation

25

Fischer & Partner Immobilien AG, Otelfingen

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

Jonathan Glazer: «Under the Skin», USA 2013, 108 Min., mit Scarlett Johansson, Paul Brannigan, Antonia Campbell-Hughes u. a. Der Film läuft ab 14. August in den Deutschschweizer Kinos. SURPRISE 331/14

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BILD: BREADEDESCALOPE, WOODLOOP

BILD: ZVG BILD: JOHANNA SAXEN

Ausgehtipps

Xenia gewährt intime Einblicke ins Puff.

Schriller Rap in neongrau: Anna Frey.

Das ist keine Sauordnung, sondern eine Sammlung.

Bern Kleenex statt Klischee

Zürich Rap brut

Muttenz BL Sammelwut

Xenia, die Berner Fachstelle für Sexarbeit, wird 30, aber Bordelle gibt’s natürlich schon sehr viel länger. Trotzdem sind sie nicht ein Ort, den alle in- und auswendig kennen würden. Die Bilder aus dem Rotlichtmilieu, die wir in unseren Köpfen haben, sind aber die immergleichen: knappe Höschen, Netzstrümpfe, hohe Stiefel. Das Kornhausforum zeigt zurzeit andere Ansichten, einen kitschig verzierten Kleenex-Karton auf einer gestickten Decke zum Beispiel. Johanna Saxen, Andrea Stalder und Thomas Egli waren mit ihren Kameras im Berner Rotlichtmilieu unterwegs, haben auf Details des Arbeitsplatzes fokussiert und die Räume eines Grossbordells festgehalten. Weder schmuddelig noch verklärt. Die Etablissements sollen vielmehr für sich sprechen, die Bilder sollen nicht urteilen, sondern zeigen: Sexarbeit ist eine gesellschaftliche Realität und die Arbeit von Xenia daher notwendig. Um dies klarzumachen, hat die Fachstelle die Ausstellung im Kornhausforum zum eigenen Jubiläum mitorganisiert. (dif)

Die August-Monatsband im kleinen Langstrassen-Club La Catrina ist eigentlich keine Band, sondern ein einigermassen aussergewöhnliches Duo. Der Zürcher Gitarrist Flo Stoffner stand schon mit Jazz-Grössen wie Michael Brecker, Nils Petter-Molvaer, Joe Lovano oder Johannes Enders auf der Bühne und im Studio. Schon seit Längerem begleitet er mit seinem mal warm rumpelnden, mal schrill kratzenden Sound die Rapperin Anna Frey. Die junge Zürcherin hat sich mit ihren präzisen, lakonischen und unerbittlich intimen Texten längst aus der Geheimtipp-Ecke herausgereimt. «Art Brut mit Rap» betitelte die NZZ die Besprechung des Albums «Neongrau». Anna Frey geht unzimperlich ans Werk und gerade mit ihrer eigenen Generation hart ins Gericht: «Eusi Helde verchaufed eus Turnschueh, Autos, Coci, aber kei Idee, alles schiint so i 3 D, sisch glatt wie Iis, mir rutsched id Zuekunft. Di Alte sind all so jung, di Junge so erwachse, mir wüssed all scho alles und wänd gliich no wachse.» Und auch die Heimatstadt Zürich bekommt ihr Fett weg: «Ihr reded gross i dere chline Stadt, ihr reded so als wered er Rockstars, chlini Gsamtkunschtwerk überall.» Diesen Herbst erscheint «Fieber», das zweite Album von Anna&Stoffner. Die Konzertreihe im La Catrina – jeden Dienstag – ist ein gediegener Vorgeschmack für daheimgebliebene Ferienmuffel. (ami)

Beim Stichwort «Sammeln» denken wir einerseits an Kaffeerahmdeckeli und Briefmarken, andererseits aber auch ans grosse Geld und den Kunstmarkt. Oder auch an Eichhörnchen, die ihren Wintervorrat zusammensuchen. Oder an Messies. Nun, Sammeln kann vieles sein, und das Kunsthaus Baselland breitet derzeit verschiedene Sammlungen aus. Lustig ist da sicher das international tätige Gestalterteam breadedEscalope, das sich an der Schnittstelle von privat und museal bewegt, zwischen Design und Kunst. Die drei Wiener Sascha Mikel, Martin Schnabl und Michael Tatschl entwickeln für das Kunsthaus Baselland das Objekt RePresent: ein Alltagsobjekt, das aus den privaten Objektsammlungen der Basler Bevölkerung entstehen wird. Man kann sich fragen: Was sammeln wir? Was ist uns wert, es zu sammeln und zu bewahren? Wie gehen wir mit Sammlungen um, für die wir die Verantwortung tragen? Oder auch: Sammeln – Fluch oder Segen? Antworten von Kunstverständigen und Künstlern wie Peter Herzog und Werner von Mutzenbecher gibt’s am Podiumsgespräch am Montag, 18. August um 18.30 Uhr. (dif)

Kornhausforum: Fotoausstellung «Sexarbeit – 30 Jahre Fachstelle Xenia», noch bis 16. August, Di bis Fr, 10 bis 19 Uhr; Sa, 10 bis 17 Uhr, Kornhausplatz 18, Bern www.kornhausforum.ch

Kunsthaus Baselland: «Collecting. Umgang mit Sammlungen», noch bis So, 7. September, St. Jakob-Strasse 170, Muttenz. www.kunsthausbaselland.ch

Anna&Stoffner, Di 5., 12., 19. und 26. August jeweils 21.30 Uhr. La Catrina, Kurzgasse 4, 8004 Zürich

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Stumm, elegant und berührend: «The Artist».

Basel Vom Stucki bis zum Strassenchor

Kalligrafie ist Kunst und Wissenschaft zugleich.

Zürich Schöne Buchstaben Liebe geht durch den Magen, so viel ist bekannt. Toleranz geht durch die Augen: Das mag man sich beim Zürcher Forum der Religionen gedacht haben – und möchte geneigte Zürcherinnen und Zürcher über die Kunst der Kalligrafie an den Islam heranführen. An den Wänden im Gebetsraum einer Moschee verschmelzen filigrane Buchstaben zu einem eindrucksvollen Ganzen. Die islamische Kalligrafie ist Kunst und Wissenschaft zugleich. So gibt es denn vieles zu erfahren und zu sehen. Zudem wird uns die Gelegenheit geboten, einem Kalligrafie-Künstler bei der Ausführung seines anspruchsvollen Handwerks zuzusehen. Der Abend im Gebetshaus ist Teil der Reihe «Wir schauen hin». Im September dann lädt das Forum zur Veranstaltung «Ketuba – Das Geschriebene», die Ornamentik auf jüdischen Eheverträgen zeigt. (ami)

Das Bruderholz, wo die gut betuchten Basler hausen, ist ein sehr schönes Quartier – leider werden dort aber in der Regel um circa 19 Uhr, nachdem die letzten Hündeler vom Abendspaziergang zurückgekehrt sind, die Trottoirs hochgeklappt; wer noch etwas erleben will, muss in die Stadt hinunter. Gegen Ende August ist das allerdings anders. Dann wird nämlich beim Wasserturm die Kinoleinwand hochgefahren und zum 10. Jubiläum des Kino Openairs Bruderholz ein wahrlich abwechslungsreiches Programm geboten: Für etwas mehr Kleingeld gibts zum grossartigen Neo-Stummfilm «The Artist» ein 3-Gang-Menü von Tanja Grandits vom Luxus-Restaurant Stucki. Mit etwas weniger Münzen ist man am Samstag dabei, wenn man zur Haschisch-Komödie «Paulette» von Andres Marbach vom Bio-Restaurant Landhof in Pratteln bewirtet wird (illegale Kräuter exklusive). Am Freitag, dem Familientag, spielen Geldstücke eine kleinere Rolle, wenn nicht geschlemmt, sondern das Spektakel des Quartierzirkus Bruderholz genossen und Robi-mässig gespielt wird und abends, natürlich, ein Disneyfilm auf der grossen Leinwand läuft. Das Beste: Programm und Filme sind gratis, nur für die Schlemmereien muss man zahlen. Am Sonntag gibt’s für die kulinarisch Interessierten wieder einen Brunch mit, und nun hätten wir den Bogen vom Stucki zum anderen Ende des Spektrums gespannt, einem Auftritt des Surprise Strassenchors. (fer) Kino Openair Bruderholz mit den Filmen «The Artist», «Die Eiskönigin» und

«Die Schönheit der Buchstaben. Islamische Kalligrafie», Do, 21. August, 19 Uhr,

«Paulette», dazu Konzerte, Poetry Slam, Zirkus, Catering und vieles mehr,

Stiftung Islamische Gemeinschaft Zürich, Rötelstrasse 86, Zürich. Eintritt frei.

Do, 21. bis Fr, 24. August, Auf der Batterie, Basel. www.quartieroase.ch

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Réclère JU Zeitreise Machen Sie einen Ausflug, der Dinosaurier-begeisterte Kinder fast ohnmächtig werden lässt: In Réclère im Kanton Jura gibt es den Park «Préhisto», ein eingezäuntes Waldstück, in dem lebensgrosse Dinosaurier besichtigt werden können. Vom hübschen, zwei Kilometer langen Waldweg aus kann man den Ungetümen direkt in die Augen schauen und gleichzeitig die Evolution von den ersten Amphibien über die Dinosaurier bis hin zu den Säugetieren nachvollziehen. Gleich neben dem Dino-Park liegt übrigens der Eingang zu den eindrucksvollen Tropfsteinhöhlen von Réclère, die dreimal täglich besichtigt werden können. Übernachten kann man entweder auf dem kleinen Camping, in Jurten oder Bungalows, auf Wunsch mit Bettzeug und Frühstück, alles sehr kinderfreundlich – und ausserdem hübscher, als man es sich vorstellt. (mek) Parc Préhisto in Réclère, im August täglich geöffnet von 9.30 bis 18 Uhr, Eintritt Erwachsene 8, Kinder 6 Franken. www.prehisto.ch SURPRISE 331/14

Gross, grösser, Dinosaurier: Auge in Auge mit dem Styracosaurus.

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Verkäuferinnenporträt «Alhamdulillah! Es hätte nicht besser kommen können» Doris Brechbühl singt seit anderthalb Jahren im Surprise Strassenchor. Nach ihrer Rückkehr aus dem krisengeschüttelten Griechenland hatte sie sich mühsam eine Existenz aufgebaut, dann stiess sie ein Unfall ins Unglück – vermeintlich.

«Vor etwa anderthalb Jahren hat eine Freundin von mir gesagt, dass sie in einem Chor singe. Ich fragte sie: Was ist das für ein Chor? Nadine meinte: Ich weiss es nicht, aber dort hat es viele lustige Leute, komm doch mal mit! Es stellte sich heraus, dass es der Surprise Strassenchor war. Ich habe mich dort sofort wohlgefühlt. Ich bin zwar keine Sängerin im eigentlichen Sinne, aber wir sind eine Gruppe, die durch dick und dünn geht, das gibt mir ein Gefühl von Gemeinschaft. Es macht mich richtig froh. Ich bin hier in Basel am Klingentalgraben gross geworden, aber ich war immer ein ‹Reiseluder›. Ich liebe es, in einer fremden Stadt an einem Boulevard zu sitzen und einfach zuzuschauen; mit neuen Menschen in Kontakt zu kommen. Für mich ist Reisen das Grösste. In den Siebzigern war ich vier Jahre mit einem Norweger zusammen. Der war Schiffskoch bei der norwegischen Handelsflotte, mit denen bin ich rund um die Welt geschippert. Vorher war ich lange in Syrien, Palästina, im Gazastreifen. Daher kann ich ein paar Brocken Arabisch. Letztes Jahr haben wir mit Surprise ein Theaterstück aufgeführt, in dem es um unser Leben und unsere Träume ging. Mein Part hiess ‹Alhamdulillah›, ‹Gott sei Dank›. Ich spreche auch Norwegisch, Englisch, Französisch und ein bisschen Griechisch. Griechenland ist meine zweite Heimat. Ich bin mit 17 Jahren erstmals mit meiner Mama nach Rhodos gereist. Wir sind damals aus dem Flugzeug gestiegen, ich habe die Luft eingeatmet und gedacht: Hier bin ich zuhause. Später bin ich dort aber auf die Schnauze gefallen. Ich habe im Tourismus gearbeitet, als die Eurokrise kam. Es kamen immer weniger Touristen, irgendwann reichte das Geld nicht mehr zum Überleben. So kam ich im November 2011 nach sieben Jahren auf dem Peloponnes zurück in die Schweiz. Ich dachte damals: Kein Problem! Jetzt arbeite ich hier ein halbes Jahr und dann gehe ich wieder für ein halbes Jahr runter. Ich hatte ja mal Krankenschwester gelernt. Doch bei den Bewerbungsgesprächen fragten sie nur: ‹Wie lange waren Sie nicht mehr im Beruf? Sie haben keine Weiterbildung gemacht?› Im Spital hätte ich drei Monate voll arbeiten müssen, um den Wiedereinstieg zu schaffen. Das konnte ich nicht. Ich habe eine Polymyalgie, eine chronische Gelenkentzündung, das Bücken fällt mir schwer. Ich fing dann trotzdem bei der Spitex an, was ein sehr harter Job ist. Kurz darauf sah ich ein Inserat, dass ein Taxichauffeur gesucht wurde. Ich hatte früher die Taxiprüfung gemacht, also meldete ich mich. So hatte ich plötzlich zwei Spitex-Jobs und fuhr nachts Taxi. Doch dann kam die grosse Katastrophe: An einem Freitagabend im Mai 2012, kurz bevor ich nach Griechenland in die Ferien wollte, verursachte ich eine Streifkollision mit einem BVB-Bus. Weil Alkohol im Spiel war, war der Fahrausweis weg, ich konnte nicht mehr Taxi fahren. Ich war damals 58 und alles, was ich mühsam aufgebaut hatte, war plötzlich weg. Auf dem Sozialamt sagten sie mir, eine Umschulung liege nicht

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BILD: TOBIAS SUTTER

AUFGEZEICHNET VON SARA WINTER SAYILIR

mehr drin. Ich war mental auf dem Nullpunkt. Ich hatte so viel getan, um mir wieder eine Existenz aufzubauen, und dann dieser Unfall. Auf dem Sozialamt waren sie sehr nett zu mir. Man hat mich finanziell, aber auch psychisch aufgefangen. Inzwischen arbeite ich in der Brockenstube der Heilsarmee am Erasmusplatz freiwillig einen Nachmittag die Woche. Seit anderthalb Jahren koche ich dort auch jeden zweiten Dienstag für die Suppenküche. Und dann habe ich mich auch noch verliebt, im Strassenchor. Dabei ging es mir saugut mit mir allein. Nie mehr ein Mann, dachte ich, du bist selbstständig, meine Tochter ist auch aus dem Gröbsten raus. Doch plötzlich kommt da einer, der mich mein Leben leben lässt. Genauso verrückt ist wie ich. Jetzt wollen wir zusammenziehen. Ich bin sehr glücklich. Inzwischen denke ich jedes Mal, wenn ich an der UnfallKreuzung vorbeikomme: Alhamdulillah! Es hätte nicht besser kommen können.» ■ SURPRISE 331/14


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Anja Uehlinger Baden

Ralf Rohr Zürich

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Fatima Keranovic Basel

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

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Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami), Florian Blumer (fer, Heftverantwortlicher), Diana Frei (dif), Mena Kost (mek) redaktion@vereinsurprise.ch leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Matthias Hannemann, Timo Kollbrunner, Mani Lotfizadeh, Christof Moser, Karin Scheidegger, Sara Winter Sayilir Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17 750, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), l.biert@vereinsurprise.ch, Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 331/14


BILD: ROSARIO MAZUELA

Surprise Mehr als ein Magazin Surprise Strassenchor Festival ohne Strom

BILD: ZVG

Diesen Sommer trat der Surprise Strassenchor zum ersten Mal am Mondsucht-Festival bei Schloss Wildenstein in der Nähe von Bubendorf BL auf. Das Festival fand bereits zum 13. Mal statt – ohne Strom und Verstärker für die verschiedenen Bands, dafür mit akustischen Instrumenten, Kerzen und Petroleumlampen. Die Stimmung auf der Wiese bei schönstem Sommerwetter und Mondschein war einzigartig, grosse und kleine Besucher tanzten ausgelassen. Der farbenprächtige Auftritt des Surprise Strassenchors kam sehr gut an, die Leute hörten aufmerksam zu und sangen begeistert mit. Nicht zuletzt feierte die Gruppe den 60. Geburtstag von Chorsängerin Doris Brechbühl (ganz rechts im Bild) im Schatten eines Kirschbaums.

Geschafft! Sybille Roter (Stv. GL Surprise), Anette Metzner (Vertrieb Basel), Ariane Rufino (Chorleiterin Strassenchor), Emsuda Loffredo-Cular und die Juristin Eva Malikova haben Grund zum Feiern.

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Vertrieb Basel Ausweisung verhindert Emsuda (im Bild zweite von rechts) bleibt in der Surprise-Familie. Unsere Surprise-Verkäuferin und -Chorsängerin Emsuda Loffredo-Cular aus Kroatien (im Bild zweite von rechts) sollte ausgewiesen werden. Der Verein Surprise wehrte sich und verfasste einen Rekurs. Nach einer monatelangen Zitterpartie kam der erlösende Bescheid – Emsuda ist ein «anerkannter Härtefall» und darf in der Schweiz bleiben! Unser gemeinsamer Einsatz hat sich gelohnt – und der engagierten Juristin Eva Malikova gebührt ein grosses Dankeschön.

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Nehmen Sie an einem «Sozialen Stadtrundgang» teil! Erleben Sie Basel aus einer neuen Perspektive! Tour 1: Konfliktzone Bahnhof – vom Piss-Pass zur Wärmestube. Samstag, 16. August um 11 Uhr. Tour 2: Kleinbasel – vom Notschlafplatz zur Kleiderkammer. Samstag, 9. August um 9 Uhr. Tour 3: Kleinbasel – von der Sozialhilfe zur Selbsthilfe. Samstag, 23. August um 9.30 Uhr. Anmeldungen unter rundgang@vereinsurprise.ch oder 061 564 90 40. Weitere Infos unter www.vereinsurprise.ch/stadtrundgang


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