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Spinnen die? Warum erwachsene Männer Römer spielen Zwischentöne der Lust: Wenn Porno nicht bloss öde rammelt

Bilder schreiben Geschichte: Ein Kriegsfotograf kämpft gegen das Vergessen

Nr. 332 | 22. August bis 4. September 2014 | CHF 6.– inkl. MwSt. Die Hälfte des Verkaufspreises geht an die Verkaufenden. Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass.


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Eine Tasse Solidarität! Zwei bezahlen, eine spendieren. Machen Sie mit! Café Surprise gibt’s hier: In Basel Café-Bar Aktienmühle, Gärtnerstrasse 46 Café Restaurant Haltestelle, Gempenstrasse 5 Post Bar, St. Johanns-Vorstadt 80 Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstrasse 96

In Bern Restaurant Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 Café Kairo, Dammweg 43 Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstrasse 39

In Zürich Café Zähringer, Zähringerplatz 11

Weitere Informationen: www.vereinsurprise.ch/cafesurprise Ein Projekt des Verein Surprise. 2

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Titelbild: Philipp Baer

Flucht nach hinten, in die Vergangenheit: So könnte man das nennen, was die beiden Herren auf unserer Titelseite tun. Die Hobby-Legionäre des Vereins Vex Leg XI CPF – die Auflösung dieses Buchstabensalates lesen Sie ab Seite 13 – spielen in ihrer Freizeit das Leben römischer Legionäre nach. Bis ins Detail. Dabei geht es um mehr als ein aufwendiges Spiel für grosse Buben. Einerseits helfen sie Archäologen und Historikern dabei, ihre Thesen über die Vergangenheit an der Realität zu testen. Andererseits gab einer der beiden unserer Autorin zu Protokoll: «Es ist für mich schon eine Art Gegenreaktion auf den heutigen Zeitgeist.» Verständlich, wenn man die permanente Reizüberflutung in unserem Alltag bedenkt. Liveticker, Eilmeldungen, 24-Stunden-Nachrichtensendungen – unsere Normalität heisst Ausnahmezustand. Syrien, die Ukraine, Zentralafrika, Israel und Ga- AMIR ALI za, Südsudan, der Irak: Wie viele Augen braucht man, um hier noch mitzukommen? REDAKTOR Wie viele Herzen, um nicht abzustumpfen? Regelmässig führen wir im sicheren Westen die Diskussion: Sollen, ja müssen wir das ungeschminkte Gesicht des Krieges sehen, der sich weit weg abspielt, uns aber dennoch etwas angeht? Oder ist ein schonender Umgang mit den Bildern angebracht, die uns Fotografen aus einer Realität mit nach Hause bringen, die wir hoffentlich nie erleben werden? Explizite Bilder können den Lauf der Geschichte verändern, das zeigt zum Beispiel die berühmte Fotografie von Nick Út, auf der die damals neunjährige Phan Thi. Kim Phúc schwer verbrannt vor einem südvietnamesischen Napalm-Angriff flieht. Hingegen stimmt auch, dass harte Bilder uns auf Dauer abstumpfen. Problematisch wird es, wenn einer Gesellschaft systematisch vorenthalten wird, was ist: «Im Krieg geht es darum, Menschen zu töten», sagt der langjährige Kriegsfotograf Michael Kamber. Was lapidar klingt, erhält eine andere Bedeutung, wenn man seine Ausführungen zur Zensur der Berichterstattung über den Irakkrieg liest (ab Seite 18). Man habe versucht, Amerikas Bürger vor der schmerzhaften Realität zu schützen. Die gesäuberte Bilderwelt zieht auch eine Entbrutalisierung im Sprachgebrauch mit sich – Stichwort «chirurgische Angriffe» und «intelligente Bomben». Der Mythos vom humanen Krieg setzt sich schliesslich auch in den Köpfen fest. Ohne Bilder, die zeigen, was ist, wird Krieg zu einem Computerspiel. Bei der Auswahl der Fotografien zum Interview mit Kamber haben wir uns dennoch zurückgehalten. Viele unserer Verkäuferinnen und Verkäufer stammen aus Ländern wie Eritrea, Somalia oder Afghanistan und könnten genauso gut auf einem dieser Bilder zu sehen sein, wie sie heute an ihrem Standplatz dieses Heft verkaufen. Ich wünsche Ihnen anregende Lektüre Amir Ali

Surprise ist auf Spenden angewiesen. Auch auf Ihre! Herzlichen Dank. PC-Konto 12-551455-3 Ihre Meinung! Wir sind gespannt auf Ihre Kritik, Ihr Lob oder Ihre Anmerkungen. Schreiben Sie uns! Auf leserbriefe@vereinsurprise.ch oder an Verein Surprise, Redaktion, Spalentorweg 20, 4051 Basel. Es werden nur Leserbriefe abgedruckt, die mit vollem Namen unterzeichnet sind. Die Redaktion trifft eine Auswahl und behält sich vor, Briefe zu kürzen. Oder diskutieren Sie mit uns auf www.facebook.com/vereinsurprise SURPRISE 332/14

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BILD: WOMM

Editorial Eingebildete Menschlichkeit


07 07 08 16 22 23 28 29

13 Geschichte Zeitreise in Vollmontur

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BEAUTIFULAGONY.COM

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Porno ist eine Parallelwelt, in der Mann immer kann und Frau immer will. Das ist schade, denn Pornografie als Darstellung von Erotik kann mehr. Eine wachsende Zahl von Männern und vor allem Frauen hat sich einem Ansatz verschrieben, der Porno als Kunstform versteht – als Spiel mit den lauten und leisen Zwischentönen menschlicher Sexualität.

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10 Erotik Die neuen Pornografinnen

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Inhalt Editorial Hinschauen Die Sozialzahl Fernziel: Die Hälfte Aufgelesen Mamma mia Zugerichtet Puff im Suff Leserbriefe Einseitig grilliert Starverkäuferin Lisbeth Schranz Porträt Die Primaballerina Krimis Warum so brutal? Fremd für Deutschsprachige Flüchtiger Lippenstift Kultur Die neuen Japaner Verkäuferporträt Ein halbes Leben im Militär Projekt SurPlus Eine Chance für alle! In eigener Sache Impressum INSP

PHILIPP BAER

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Filme wie «Spartacus» und «Gladiator» kann sich Yves Rüttimann kaum mehr anschauen. Dafür ist er zu nahe dran an der Vergangenheit. Er und seine Gefährten schlüpfen in der Freizeit in antike Kleider und Rüstungen – und in die Rolle der 11. Legion der römischen Armee, die im 1. Jahrhundert dort stationiert war, wo heute das aargauische Windisch liegt. Spinnen diese Hobby-Römer? Mag sein. Die Wissenschaft jedenfalls ist dankbar für den Abgleich mit der Realität.

18 Irak Zeigen, was ist

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BILD:

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GARY KNIGHT/VII

Krieg ist etwas Schmutziges. Krieg tötet nicht nur Soldaten und Terroristen, sondern auch Frauen und Kinder. Die Bilder, die wir vom Krieg sehen, bestimmen unser Bild vom Krieg und von unserer Gesellschaft. Und die Bilder, die wir nicht sehen? Weil wir sie nicht sehen wollen oder man sie uns vorenthält? Im Buch des Fotografen Michael Kamber kommen Kriegsfotografen zu Wort – jene stummen Zeugen, die ihr Leben riskieren, damit sich in unserem kollektiven Gedächtnis keine allzu grossen Lücken auftun.

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Entwicklu

ng der Arm

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utsquote

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Die Sozialzah l Armut halbiere

n!

2010 war das Eu ropäische Jahr zur Bekämpfun mut und Ausg g von Arrenzung. Auch in der Schwei Anliegen von st z wurde dieses aatlichen Behö rden und privat nen aufgegriffe en Organisatio n. Der Bund pu blizierte eine «G zerische Strate esamtschweigie zur Präven tion und Bekä mut» und orga mpfung von Ar nisierte eine na tionale Armutsk Schweizerische onferenz. Die Konferenz für So zialhilfe SKOS te ein Papier m verabschiedeit 31 Punkten zur Verbesseru armutsbetroffe ng der Lage der nen Menschen in der Schweiz sammen mit Ca un d forderte zuritas Schweiz, die Armut in zehn Jahren zu de n nächsten halbieren. Carit as untermauer pagne mit eine te ihre Kamm Set an Selbst verpflichtungen bau des Netze , das vom Auss von Caritas-M är kten bis zum M nationalen und onitoring der kantonalen Be mühungen zur Armut in der Sc Re duktion der hweiz reicht. Haben die ar mutspolitische n Bemühunge Früchte getrage n inzwischen n? Der Blick au f di e eben vom Bu Statistik BFS pu ndesamt für blizierten Zahl en zur Armut in ernüchternd. Am der Schweiz ist Bild der Armut hat sich so gu geändert. 2012 t wie nichts waren in der Sc hweiz rund 59 von Einkomm 0 000 Personen ensarmut betro ffen. Die Armut samtbevölkeru squote der Ge ng belief sich au f 7,7 Prozent. Au veau verharrt f diesem Nisie seit geraum er Zeit. Die Ab raum 2007 bis nahme im Zeit 2009 hat kaum etwas mit arm Verbesserungen utspolitischen , wenig mit dem konjunkt aber vor allem urellen Verlauf mit technische , n Änderungen sung der Armut bei der Erfaszu tun. Noch immer le ben auch die gleichen sozial überdurchschni en Gruppen ttlich oft in schw ie rigen finanziel nen: Alleinerzi le n Situatioehende, Person en mit geringe r Bildung und

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atistik

berbstätigkeit sind halten ohne Erwe ude Be e Di Personen in Haus betroffen. Einkommensarmut n vo ig uf hä au ist ers t nd so ass an Armu tigkeit für das Ausm stä rb we oEr r Pr de 3,5 t ng tu stätigen ist mi tsquote der Erwerb genfällig. Die Armu ch wie jene der Ge ho 12 rund halb so 20 hr Ja s n, da r ne fü rso zent richt 130 000 Pe Diese Quote entsp samtbevölkerung. gehen, in einem Erwerbsarbeit nach er ein sie hl wo die, ob das unter der ArEinkommen erzielt, ein r de , en leb lt Hausha der Haushalr Beschäftigungsgrad de ch Au gt. lie ze mutsgren tsrisiken geht: Es , wenn es um Armu en rd we et ht ac be te muss lten, in denen rsonen aus Hausha Pe ss da , ht nic t überrasch ent eine sehr it hat, mit 20,2 Proz be Ar e hlt za be e en niemand ein r einer erwerbstätig aufweisen. Bei nu ibe Ar t. en hohe Armutsquote oz Pr f 8,0 sinkt diese schon au oPr 1,3 ch Person im Haushalt no r te nu trägt die Armutsquo ten beide Eltern, be ss, voll erwerbstägro o als ist f die Eltern gezent. Der Druck au treuung der Kinder nn zulasten der Be elt ng ma n tig zu sein. Dies ka ze rippenplät zahlbaren Kinderk d. sin hen, wenn es an be n zugegen Familienangehörige it und keine anderen r Slogan ist, so we se die So prägnant arSp en Armut halbieren! l. Die aktuell eiz von diesem Zie entfernt ist die Schw en, die vor Kürzunind me ntonen und Ge Ka n de i tbe n ge un üb , aber auch der for keinen Halt machen ch rei lbe r zia me So im im gen markt zu del auf dem Arbeits an rw tu uk Str de ält en rh schreit ibenden Ve keiten bei gleichble tig Tä n ere oll sv en ch anspru ng aufkomm , lassen die Befürchtu tor ek ns oh efl Ti im nissen viele Jahre auf der he Forderung noch sc liti lpo zia so se dass die rd. Agenda bleiben wi L (C .K NO EP FE L@ CA RL O KN ÖP FE BI LD : WO MM

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Aufgelesen News aus den 90 Strassenmagazinen, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Handfeste Selbsthilfe Gran Canaria. Die Anarchistische Föderation Gran Canaria hat auf der zu Spanien gehörenden Atlantikinsel 30 leerstehende Wohnungen besetzt, um sie Bedürftigen zur Verfügung zu stellen. Die Voraussetzungen für Interessenten: Wer am Rande der Obdachlosigkeit steht – zum Beispiel weil er seine Wohnung wirtschaftskrisenbedingt nicht mehr bezahlen kann und vor der Zwangsräumung steht – darf einziehen. Gratis und franko, fliessend Wasser und Strom inklusive. Die besetzten Immobilien gehören laut den Anarchisten allesamt Banken oder dem Staat. Privatpersonen würden nicht geschädigt.

Kranke Mütter Kiel. Mamma mia: In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Mütter mit Burn-out, Schlafstörungen oder Angstzuständen erheblich gestiegen. Das meldet das deutsche Müttergenesungswerk, das sich für die Gesundheit von Müttern einsetzt. Vor einem Jahrzehnt hätten sich 49 Prozent aller Mütter wegen psychischer Probleme in Behandlung begeben, heute seien es 86 Prozent. Die Gründe: Stress, fehlende Anerkennung und Probleme in der Partnerschaft.

450 Jahre Hamburg. Plastik hat viele Erscheinungsformen. Besonders häufig: die Tüte. Allein die knapp 1,8 Millionen Einwohner der Hansestadt Hamburg verbrauchen jährlich fast 128 Millionen Plastiksäcke. Davon landet ein Teil im Meer. Und dort dauert es sage und schreibe 450 Jahre, bis eine Plastiktüte abgebaut ist. Wie viele Fische, Seevögel, Robben, Delfine und Wale in dieser Zeit daran sterben, hat bisher noch niemand ausgerechnet.

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Zugerichtet Sternhagelvoll Ruedi B.* sieht genau so aus, wie man sich Chilbi-Kassiere vorstellen würde: Tollkühne Kerle, die mit einem Beutel am Hosenbund von Gondel zu Gondel springen und das Fahrgeld eintreiben. Leichtsinnige Jungs mit einer unbestimmten Sehnsucht nach Freiheit, die paradoxerweise öfters in der Unfreiheit mündet. Herr B. trägt ein Hemd mit wildem Leopardenmuster, ein Ledergilet und einen Schnauz. Er hatte mal Elektriker gelernt, bevor er eine kriminelle Karriere anfing. «Es hat sich ja einiges angehäuft bei Ihnen», bemerkt der Richter. «Sie sind angetrunken Auto gefahren, stimmt das?» – «Trifft zu», bestätigt der Angeklagte zackig. «Sie wurden wegen Betrugs verurteilt.» – «Trifft zu.» – «Sie haben einem Mann in einer Bar einen Faustschlag versetzt.» – «Kann ich mich nicht erinnern.» – «Dann werd ich Ihr Erinnerungsvermögen mal auffrischen.» Der Richter verliest zu seiner und der Zuschauer Erbauung einen Zeugenbericht: «‹Mein Bruder und seine Frau und ich waren in der Bar. Meine Schwägerin zog ihr T-Shirt ein Stück runter. Geile Alte, rief der Mann im Leopardenhemd. Ja, aber meine, erwiderte mein Bruder. Mehrmals versucht er den stark betrunkenen Mann davon abzubringen, mit ihr zu reden. Der lässt nicht locker. Als der Bruder dem Mann zum vierten Mal deutlich macht, dass er seine Freundin nicht weiter belästigen soll, haut ihm der Mann mit der Stirn voll ins Gesicht.› War das so?», fragt der Richter. «Da bin ich überfragt», antwortet der Angeklagte, «ich hab Probleme mit Alkohol, ich war sternhagelvoll.» Über zwei Promille hatte der Angeklagte zur Tatzeit im Blut. Das Opfer hat eine

gebrochene Nase, einen kaputten Schneidezahn und ein Schädeltrauma davongetragen. «Ihr Strafregister, Herr B., ist ein dunkles Kapitel», hält ihm der Richter vor. Diebstahl, Betrug, Sachbeschädigung, Zuwiderhandlung gegen die Gewerbeordnung, Urkundenfälschung, Beleidigung, Körperverletzung. Auch bei der Sache mit seiner ehemaligen Lebensgefährtin geht es um Körperverletzung. Und weil Herr B. aus Erfahrung weiss, dass Richter etwas für einsichtige Sünder übrig haben, mimt er den Reuevollen. Ein Ausrutscher sei die Tat gewesen. Sehr, sehr leid tue es ihm, dass er seiner Ex mit der Handkante gegen den Hals schlug, bevor er ihr das Portemonnaie mit 390 Franken wegnahm. «Wozu brauchten Sie denn das Geld?», fragt der Richter. «Na, zum Weitersaufen», sagt Herr B. Für die aktuellen Delikte fordert der Staatsanwalt ein Jahr und neun Monate Gefängnis, Bewährung käme wegen der ungünstigen Sozialprognose nicht infrage. Herr B. lässt den Kopf dramatisch auf die Barriere sinken, hebt ihn aber gleich wieder hoffnungsvoll: «Geben Sie mir noch mal eine Chance, Herr Richter!» Der Verteidiger beantragt eine Freiheitsstrafe, auf Bewährung, die allerletzte, der Angeklagte solle soziale Kompetenz entwickeln. Ein Jahr und fünf Monate sind abzusitzen, entscheidet der Richter und setzt die Strafe nicht zur Bewährung aus: «Wer immer wieder was anstellt, muss die Konsequenzen aushalten.» Draussen wartet seine neue Freundin auf ihn. «Komm, Schätzeli, wir rauchen erst mal eine.» Herr B. lässt sich die Laune nicht verderben. Knast oder Freiheit, es ist, wie es ist. * persönliche Angaben geändert ISABELLA SEEMANN (ISEE@GMX.CH) ILLUSTRATION: PRISKA WENGER (PRISKAWENGER@GMX.CH) SURPRISE 332/14


Leserbriefe «Unpassende Verbindung» Nr. 330: Glut der Freiheit

Nr. 328: Medizin ohne Seele

Ein Würstchen für die Freiheit «Bitte nicht so einseitig» Obwohl ich Surprise grundsätzlich gern kaufe (hauptsächlich den Verkaufenden zuliebe) und auch lese, bin ich mit dem Geschriebenen öfters nicht so ganz einverstanden. So auch mit dem Artikel über das Grillieren, das mit «FreiheitsKampf» in (eine für mich völlig unpassende) Verbindung gebracht wird. Wie sehr oft in den Medien und auch im täglichen Sprachgebrauch wird das Wort Freiheit schon fast missbraucht (dies widerfährt auch anderen Worten wie zum Beispiel Liebe leider viel zu oft). Was hat es denn mit Freiheit zu tun, wenn damit auch Süchte wie «rauchen und saufen» (Zitat Surprise) gemeint sind? Und wird von denjenigen, die das Grillieren (auch) als «Freiheitsinsel» (Zitat Surprise) verstehen, auch bedacht, dass das Ausleben ihrer (vermeintlichen?) Freiheit möglicherweise zulasten anderer Menschen geht – und damit deren Grenzen verletzt werden? Von der Natur durch verbrannten Rasen und liegen gelassenen Abfall ganz zu schweigen. Also bitte: nicht so einseitig!

Fremd für Deutschsprachige – Exoteneltern «Solche Geschichten braucht es» Ich möchte Ihnen danken und gratulieren zu dieser kleinen, aber feinen Geschichte «Exoteneltern». Die Geschichte ist genau beobachtet, witzig und überraschend geschrieben. Solche Geschichten braucht es, um die Menschen zu sensibilisieren. Ich bin Mutter eines erwachsenen gehörlosen Sohnes und habe Ähnliches beobachtet, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Nochmals herzlichen Dank, und ich freue mich auf weitere Geschichten von Ihnen. Esther Heuberger, per E-Mail

Nominieren Sie Ihren Starverkäufer! Schreiben Sie uns mit einer kurzen Begründung, welche/n Verkäufer/in Sie an dieser Stelle sehen möchten: Verein Surprise, Redaktion Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 (0)61 564 90 99 redaktion@vereinsurprise.ch

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BILD: ZVG

Dorothee Ott, Basel

Starverkäuferin Lisbeth Schranz Ruth Beer aus Münchenbuchsee schreibt: «Meine Starverkäuferin ist und bleibt seit Jahren Lisbeth Schranz. Wenn ich sie mal nicht an ihrem Stammplatz treffe, mache ich mir echt Sorgen. Sie ist wie eine Mutter für die verschiedenen Verkäufer und ist zudem eine Seele von Mensch!»

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Porträt Leiden für die Leichtigkeit Primaballerina Andrea Tortosa Vidal tanzt die Hauptrollen am Theater Basel. Ihr Weg aus dem Süden Spaniens in die Schweiz begann, als sie noch ein Kind war – und verlief nicht immer leichtfüssig. VON OLIVIER JOLIAT (TEXT) UND FLAVIA SCHAUB (BILD)

Dass sie vor knapp zwei Jahren wieder in Basel anklopfte, verstanden viele Tanzfreunde nicht. «Sie meinten, die Rückkehr wäre ein Schritt runter auf der Karriereleiter. Mir gefielen jedoch die Arbeit und die menschliche Atmosphäre in Basel sehr gut. Es hat viele grossartige Tänzer, und alle kämpfen mit Ellbogen um die besten Rollen. Aber es herrscht ein fairer, sportlicher Ehrgeiz. Man hilft einander, leidet und freut sich zusammen. Ausserdem hatte ich nun genug internationale Erfahrung gesammelt und war nicht mehr der Lehrling.» Bereits in der vergangenen Saison zahlte sich die Rückkehr aus: In allen drei Stücken tanzte Tortosa die Hauptrolle. «Mein Höhepunkt war, dass mich Wherlock für seine Inszenierung von ‹Snow White› als Schneewittchen wählte – eine Traumrolle.» Doch selbst in ihrem tänzerisch erfolgreichsten Jahr hörte das Leiden nicht auf. So musste Tortosa bei «Absolut Dansa» nur drei Tage nachdem sie ihre Schulter ausgekugelt hatte zurück auf die Bühne, da es für ihren Part keine Ersatztänzerin gab. «Mit den täglichen Schmerzen muss man umgehen können», sagt sie. «Wir arbeiten seit der Kindheit mit unserem Körper. Da lernt man, in den Proben zu bescheissen, damit die Bewegungen trotz

«Die Füsse im Rhein baumeln lassen, ist für mich wie Ferien», schwärmt Andrea Tortosa Vidal. Am Ufer der Basler Lebensader fühlt sich die 27-jährige Spanierin mittlerweile zuhause und geniesst die Sommerpause nach ihrer bisher erfolgreichsten, aber auch sehr anstrengenden Saison am Theater Basel. Und nicht nur die geschundenen Füsse verlangen nach Erfrischung: «Ballett ist vor allem eine Kopfsache, wenn man die Tanzausbildung hinter sich hat», sagt Tortosa bestimmt. Um die abzuschliessen, brauchte sie einen sturen Kopf. Im zarten Alter von zwölf Jahren überzeugte Tortosa ihre Eltern, sie von Alicante ins 500 Kilometer nördlich gelegene Zaragoza ziehen zu lassen. Dort erhielt sie ein Aufnahmeangebot von einer der besten Tanzschulen Spaniens. «Damals realisierte ich, dass alles, was ich zuvor gelernt hatte, nichtig war. Mir wurde klar: Entweder ich gehe dort tanzen oder höre auf.» Der Vater hatte als Musiker und Künstler Verständnis für ihren Wunsch, die Mutter aber kaute schwer am Entscheid. Am Ende ermöglichte sie jedoch mit ihrem Lohn, dass Tochter Andrea auf das Tanzinternat konnte. Eine Zeit lang wohnte sie mit anderen Schülerinnen in einem Kloster, wo sie aber nach ei«Man lernt, in den Proben zu bescheissen, damit die Bewegungen nem Jahr rausflogen. «Die Nonnen hatten kein trotz Schmerzen geschmeidig wirken. Auf der Bühne dann killt Verständnis dafür, dass wir jeden Abend bis das Adrenalin den Schmerz sowieso.» zehn Uhr trainierten und dann viel zu spät zum Nachtessen kamen.» Manche Nacht lag Tortosa hungrig im Bett. Es flossen viele Tränen. «Ballett verlangt einem Schmerzen rund und geschmeidig wirken. Auf der Bühne dann killt das viele Opfer ab und bedeutet Leiden. Dauernd hörst du: Du bist zu klein, Adrenalin den Schmerz sowieso.» zu dick, hast falsche Füsse und springst nicht hoch genug!» Am meisten schmerzte sie jedoch, als sich ihr Partner für das Stück Aufgeben mochte sie jedoch nicht: «Ich mag vieles an der Tanzwelt «Blaubart» die Hand brach und bis Saisonende das Ersatzpaar ihren Part bis heute nicht, aber ohne Tanzen kann ich nicht leben.» Besserung übernahm. «Es ist hart, wenn man ein Stück, das man sehr mag, nicht kam, als sie mit 16 Jahren in ihre erste WG zog. «Eine neue Welt eröffmehr tanzen kann.» Ein weiterer Grund, weshalb sie der Verlust der nete sich mir mit normalen Leuten.» Dieser Ausgleich, sagt Tortosa, haHauptrolle so schmerzte war, dass ihre Familie sie zum Saisonabschluss be das Leiden erträglich gemacht. besuchen kam. Obwohl sie seit dem zwölften Lebensjahr fern von ihnen Den Kontakt zum normalen Leben suchte sie weiterhin, nachdem sie lebt, stehen sie sich nahe. Als ihr Vater in der Wirtschaftskrise seinen mit 17 Jahren an’s international renommierte Nederlands Dans Theater Job verlor, schickte sie ihm all ihre Ersparnisse. «Erstens hatten meine wechselte. Nach den Proben tauschte sie die Ballettschuhe gegen SprinEltern mir ermöglicht, dieses Geld zu verdienen, und zweitens war das gerstiefel und hing im Park mit den Punks ab. Mit 18 Jahren dann schaffjust als ich wusste, dass ich wieder nach Basel zurückkehre und fortan te sie den Sprung in das Ensemble eines Tanztheaters. «Dieser Schritt ist einen sicheren Lohn habe.» Eine goldene Nase verdient sich Tortosa in der schwierigste, denn alle Tanzkompanien verlangen Berufserfahrung.» Basel nicht, ihren Vater unterstützt sie aber bis heute. Das Theater Basel sei attraktiv, sagt Tortosa. «Tanz-Direktor Richard Wenn sie dereinst ihre Ballerina-Karriere beenden muss, wird TortoWherlock holt immer wieder die besten Choreografen des zeitgenössisa vielleicht als Choreografin arbeiten. Oder noch besser: «Kindern eischen Tanzes an die Bühne.» Dank Mäzeninnen gibt es in Basel zudem nen positiven Zugang zum Tanzen ermöglichen!» Das kann durchaus in Stagiaire-Plätze für den Tanznachwuchs. Tortosa gehörte zu den glückBasel sein. «Die Stadt ist mit all der Kultur und den verschiedenen Nalichen drei, die aus 200 Bewerbern ausgewählt wurden. tionalitäten sehr inspirierend. Ich habe hier viele gute Freunde kennenNach zwei Jahren erhielt sie einen festen Ensemblevertrag. Trotzdem gelernt. Die meisten sind kreativ in der Musik, im Film oder der Kunst, folgte sie ein Jahr später dem italienischen Gast-Choreografen Mauro Biund doch pflegen sie einen entspannten Lebensstil. Das hat natürlich gonzetti in sein Ensemble nach Reggio Emilia. Tortosa: «In Basel war ich auch damit zu tun, dass man mit den Schweizer Löhnen das Leben gedamals der Youngster, ohne Aussicht auf die grossen Rollen. Zudem niessen kann. In Spanien reicht es den meisten Menschen nicht für eiwollte ich reisen und mehr experimentieren.» So rollte sie die nächsten nen Kinobesuch – sogar ein Buch ist zu teuer. In der Schweiz hingegen vier Jahre mit 18 Tänzern im Bus durch Italien. «Ich liebte das Touren erzählen selbst Lebenskünstler, was für grossartige Reisen sie demund tanzte oft die Hauptrollen. Aber nach vier Jahren hatte ich genug nächst planen.» ■ davon, an sieben Tagen die Woche Tag und Nacht dieselben Leute zu sehen und über dasselbe Thema zu sprechen.»

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SURPRISE 332/14 BILDER: BEAUTIFULAGONY.COM


Erotik Wahre Lust Youporn und Co. sind für die Jugend von heute eine omnipräsente Realität – obwohl sie mit dem echten Leben herzlich wenig zu tun haben. Doch Pornografie kann mehr, als Stereotype in unsere Köpfe zu rammeln. Porno als Kunstform verhilft den leisen Zwischentönen menschlicher Sexualität zum Höhepunkt. Drei Beispiele.

VON MANUELA ZELLER

Mit Pornografie hat Nicole Rüdiger eigentlich nichts am Hut. «Uns interessiert die Pornoszene nicht. Unser Anspruch ist zu zeigen, dass ‹normale Menschen› schön sind und nicht nur jene Leute, die uns als sexy verkauft werden.» Sie und ihre Kollegin Elke Kuhlen haben vor bald zehn Jahren das Jungsheft und kurz darauf das Giddyheft gegründet. Das Jungsheft mit nackten Jungs und das Giddyheft mit nackten Mädchen. Weil Erektionen steiler als 45 Grad zu sehen sind, muss das Jungsheft als Pornoheft deklariert werden. Ansonsten haben die Magazine wenig gemeinsam mit den handelsüblichen Sex-Heftchen. Denn auf den Seiten räkeln sich keine surreal anmutenden Pornostars, sondern normale Leute, wie sie Stadtmenschen in ihrem Jagdrevier auch tatsächlich antreffen. Schön sind sie alle, einfach auf ihre eigene Art. Manche sehen fit aus, andere eher faul. Die einen pfiffig, die anderen schrullig. Es gibt die Süssen und Herzigen und die mit Ecken und Kanten. Wie auch immer sie aussehen, retuschiert wird nichts. Pickel, Stoppeln und Bauchansatz dürfen bleiben, müssen sogar. Auf der Suche nach Modellen haben Nicole Rüdiger und Elke Kuhlen ihr Umfeld in Köln abgeklappert, Freunde von Freunden angefragt. Inzwischen kriegen sie auch Bewerbungen von Unbekannten. Fotografiert wird dann bei den Leuten zuhause, ohne aufwendige Beleuchtung oder grossartiges Styling. Die Realität ist sexy genug. Der Legende nach ist die Idee im Urlaub entstanden. Alkohol soll eine Rolle gespielt haben, ausserdem ein Mann, von dessen Äusserem die SURPRISE 332/14

beiden angetan waren. Nicole Rüdiger und Elke Kuhlen hatten sich gewundert, wie er wohl ohne Kleider aussähe und witzelten darüber, dass sie lieber die hübschen Kerle auf der Strasse nackt sehen würden als die glatten, glänzenden Männermodels in den Magazinen. Mehr schlecht als echt So nachvollziehbar die Idee hinter Jungsheft und Giddyheft auch sein mag, die Mainstream-Pornografie verfolgt eine andere Strategie. Die Filmchen auf Youporn und Co. stellen keinen Anspruch auf Realitätsnähe. Stattdessen kreieren sie eine Parallelwelt, einen sicheren Ort, wo Männer Könige sind und Frauen auch den schlechtesten und brutalsten Sex lautstark geniessen. Der Planet Porno soll sich deutlich vom Planeten Erde unterscheiden. Was zu sehr nach echtem Leben aussieht, hat keinen Platz. Besonders deutlich sieht man das bei den Frauenfiguren: Gesichter und Körper wie aus dem 3D-Drucker, falsche Haare, falsche Brüste, falsche Nägel. Und ganz viel Schminke. Die männlichen Darsteller sehen durchschnittlicher aus, aber auch ihre Figuren sind künstlich und oberflächlich. Ohne Hintergrund, ohne Geschichte oder gar Charaktereigenschaften. Könnte man die Filmchen riechen, würden sie den Duft von fabrikneuem Plastik verströmen. Den gleichen Grundsätzen ist auch das Skript unterworfen: Es ist simpel, unwahrscheinlich und völlig überraschungsfrei. Das Prinzip ist einfach: Mann will, Mann kriegt. So zielstrebig und brachial wie der Gotthard-Durchstoss.

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Bloss: Pornografie kann mehr, als die ewig gleichen Muster und stereotype Geschlechterrollen zu reproduzieren. Und die Realität hat mehr zu bieten als platte «Skinny Bitch Takes Big Dick»-Szenen. Es sind auffällig oft Frauen, die sich aufmachen, die Pornografie zu revolutionieren. Dass die Herren Gerammel wünschen und die Damen Gekuschel, hat sich inzwischen als Gerücht entpuppt – die 100 Millionen Mal verkaufte «Fifty Shades of Grey»-Trilogie beweist das Gegenteil. Die modernen Pornografinnen scheinen aber ein Händchen zu haben für verspielte und vor allem ungekünstelte Pornografie.

lereien, noch nicht einmal Lippenstift ist erlaubt. Die Zuschauer, es sind zu 75 Prozent Männer, sollen sich nicht wie Kunden im Strip-Club fühlen, sondern wie heimliche Beobachter. Während die Besucher auf der Website überwiegend männlich sind, reichen Frauen traditionellerweise mehr Beiträge ein, erklärt Richard Lawrence, ursprünglich Elektroingenieur. «Das hat sich in den letzten zehn Jahren nicht geändert. Wir wissen, dass viele der Frauen froh sind, dass es einen Ort gibt, wo sie sich sexuell ausdrücken können, ohne gleich abgestempelt zu werden.» Die Masturbierenden machen aber nicht nur aus Exhibitionismus mit. Wird ihr Orgasmus veröffentlicht, zusammen mit einem viertelstündigen Monolog über alle Arten von «sexy secrets», bekommen sie 200 Dollar überwiesen. «Es ist nur fair, dass die Beiträge entlohnt wer-

Orgie oder Kaffeekränzchen? So auch Maike Brochhaus. Im September beginnt sie mit den Dreharbeiten für ihren pornografischen Spielfilm. Ins Bild einer PornoRegisseurin passt die Kunsthistorikerin aber nicht. Sie ist Lehrbeauftragte an einer deutGefragt sind rohe, ungekünstelte Orgasmen: Ohne Show-Elemente schen Uni und schreibt eine Dissertation über und Schauspielereien – noch nicht einmal Lippenstift ist erlaubt. Kunst und Pornografie. Ihr letztes Filmprojekt hat sie 2013 abgeschlossen. «häppchenweise» den», findet Richard Lawrence. «Geld korrumpiert den Prozess nicht. Seheisst der Film, der gleichzeitig auch ein Experiment ist. Er basiert nicht xuelle Darstellungen sind nicht weniger schön, nur weil Geld fliesst. Das auf einem Drehbuch, sondern auf der Frage, was sich sechs Unbekannist bei anderen Arten von Kunst ja auch nicht der Fall.» te vor der Kamera so trauen. «Ein Abend, sechs Körper – wie weit würUm die Einsendungen und die drei nötigen Vollzeitstellen bezahlen dest Du gehen?», lautet der Untertitel. zu können, verlangen Richard Lawrence und Lauren Olney relativ hohe «Ich hab mir persönlich für den Dreh keine Grenzen gesetzt», erklärt Mitgliederbeiträge. 100 Dollar kostet eine Jahresmitgliedschaft, 14 DolFranzi, eine 27-jährige Designstudentin, im Trailer. «Und wenn sechs lar der Monat. Der Erfolg gibt ihnen recht. Trotz einem riesigen Angebot schöne, attraktive Menschen zusammenkommen und über Sex reden, an kostenloser Internetpornografie wächst die Mitgliederzahl stetig. passiert auch irgendwas.» Dass über Sex gesprochen wird, dafür hat Maike Brochhaus gesorgt. Kleine Projekte, grosse Wirkung Die drei Männer und drei Frauen werden zuerst zusammen essen und Obschon Projekte wie BeautifulAgony viel Zuspruch erhalten, sind dann Flaschendrehen spielen. So sieht das Setting aus, ansonsten ist sie immer noch Nischenprodukte. Auch Projekte wie Jungsheft oder nichts vorgegeben. Über die Fragen für das Flaschendrehen konnte onhäppchenweise werden den kommerziellen Porno in naher Zukunft line abgestimmt werden. Sie lauten zum Beispiel: «Wie muss man dich nicht verdrängen. Pornhub.com etwa, eine der populärsten Pornoseiten wo anfassen, dass es dich heiss macht?» der Welt, verzeichnet nach eigenen Angaben durchschnittlich über eine Kalt lassen solche Fragen niemanden. Und Franzi, Linus, Jenz, Till, Million Besucher pro Stunde. Auf die Zahlen ist zwar kein Verlass, sie Alice und Simon sind bereit, an ihre Grenzen zu gehen, sie allenfalls zu zeigen jedoch ungefähr die Dimensionen des Mainstreams. Trotzdem: überschreiten. Aber ob das schon reicht, um vor der Kamera blank zu Die neuen Pornografinnen und Pornografen erreichen, dass eine breite ziehen? Sex in einem Film, den sich die Kommilitonen nicht entgehen Öffentlichkeit anfängt, über Pornografie nachzudenken: Elke Kuhlen lassen werden, den sogar Papa und Oma zu Gesicht bekommen könnten? plaudert in der Sonntagszeitung über ihre Freude an schönen, nackten Die sechs Protagonistinnen und Protagonisten stufen sich selber alle Männern. Maike Brochhaus kommt in Die Zeit und in der TAZ zu Wort, als bisexuell ein, Pärchen-Kombinationsmöglichkeiten gibt es also viele. BeautifulAgony wird in der Huffington Post und in Die Welt besprochen. Und wieso überhaupt Pärchen? Wieso nicht Dreierteams, VierergrupUnd mit ihren Projekten zeigen die Produzentinnen und Produzenten, pen, Fünfer? Es wäre schade zu verraten, ob es tatsächlich zur Orgie dass Porno mehr kann, als platte Sexklischees und Rollenbilder zu rekommt. Vielleicht bleibt es auch beim Kaffeekränzchen. Wer weiss? Das petieren. Andere werden ihren Beispielen folgen. Unvorhersehbare macht den Reiz des Films aus. Pornografie ohne vor■ programmierten Höhepunkt. Ein bisschen wie im echten Leben. Die schöne Qual Die Radikalsten auf der Suche nach dem Echten und Ehrlichen dürften die beiden Australier Lauren Olney und Richard Lawrence sein. Sie haben vor zehn Jahren eine Porno-Website ins Leben gerufen, die ganz ohne nackte Körper auskommt. Auf BeautifulAgony.com (deutsch: schöne Qual) werden Videos von Männern und Frauen gezeigt, die sich selbst befriedigen oder von jemand anderem befriedigt werden. Gefilmt werden die Menschen aber nur halsaufwärts. Zu sehen ist das ruhige Gesicht, das langsam bewegter wird, bis es sich schliesslich fast schmerzhaft verzieht. Zu hören ist der Atem, der heftiger wird und stockender. Die meisten Videos dauern länger als fünf Minuten, die Zuschauer müssen sich gedulden, während der Orgasmus langsam heranrollt. Die Aufnahmen gehen unter die Haut, sind so intim und persönlich, dass es fast unangenehm ist hinzuschauen. Richard Lawrence und Lauren Olney wollen rohe, ungekünstelte Orgasmen auf ihrer Website. Sie bitten die Beitragenden explizit darum, sich nicht zu inszenieren. Also keine Show-Elemente, keine Schauspie-

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Centurio Lucius Livius alias Yves und Soldat Reto vergleichen ihre Schreibtafeln.

Geschichte Gelebtes Römertum Sie trotzen Eiseskälte, marschieren mit 50 Kilo auf dem Rücken über den Septimerpass und lassen sich für 3000 Franken einen Gürtel nachbilden. Die Hobby-Legionäre des Vereins Vex Leg XI CPF suchen einen Ausgleich zur Reizüberflutung des modernen Alltags – und helfen nebenbei der Wissenschaft. VON MONIKA BETTSCHEN (TEXT) UND PHILIPP BAER (BILDER)

Reto Wüthrich hat seine Alltagskleidung gegen eine wollene, grob gewebte Tunika eingetauscht. Nun sitzt der junge Mann vor dem geöffneten Kofferraum und poliert sorgfältig einen eisernen Schienenpanzer. Neben ihm steht Yves Rüttimann und schnallt glänzende Beinschienen um seine Unterschenkel. Der 43-Jährige ist Mitbegründer des Vereins Vex Leg XI CPF. Die gut 30 Mitglieder treffen sich mehrere Male im Jahr, um gemeinsam den Alltag römischer Legionäre im Experiment nachzuleben, samt Frauen und Kindern als antiken Zivilisten, die im Umfeld des Legionslagers lebten. SURPRISE 332/14

Wüthrich und Rüttimann und ihre Gefährten schlüpfen dabei in antike Kleider und Rüstungen – und in die Rolle der Legio XI, der 11. Legion der römischen Armee, die im 1. Jahrhundert in Vindonissa stationiert war, dem heutigen aargauischen Windisch. Unter Kaiser Claudius, der von 41 bis 54 nach Christus regierte, erhielt die 11. Legion ihren Ehrennamen «Claudia Pia Fidelis» – pflichtbewusst und treu – und wurde seither zu Leg XI CPF abgekürzt. Doch zurück in die Gegenwart: An diesem Morgen wird aus Yves Rüttimann der Centurio Lucius Livius. Sein Dienstgrad Centurio entspricht dem eines Hauptmanns. Reto Wüthrich verwandelt sich in einen Miles gregarius, einen einfachen Soldaten. «Wir fertigen unsere Ausrü-

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stungen auf der Basis von archäologisch gesicherten Erkenntnissen an. Ich kann mir kaum noch Hollywood-Filme wie ‹Spartacus› oder ‹Gladiator› ansehen, ohne darin grobe Schnitzer zu entdecken», sagt Reto Wüthrich, während er den polierten Schienenpanzer über sein traditionelles Untergewand hebt. Die Füsse beider Männer stecken mittlerweile in Ledersandalen, und prächtige Helme zieren ihre Häupter. Eine halbe Stunde hat diese Verwandlung von Zivilisten des 21. Jahrhunderts in römische Legionäre gedauert. Neugierig äugen einige Passanten von der anderen Strassenseite herüber, um einen Blick auf das auffällige Duo zu erhaschen, das jetzt in Vollmontur auf das Eingangsportal des Vindonissa-Museums in Brugg zumarschiert. Vor dem inneren Auge ploppt ganz kurz die klassische «Asterix»-Szene auf, in der römische Legionäre mit ihren Schutzschildern die Formation Schildkröte bilden, um sich vor Obelix in Deckung zu bringen. Doch der Comic verblasst sofort, wenn man sieht, mit wie viel Respekt die beiden Männer den einzelnen Replikaten ihrer Ausrüstung begegnen. «Es ist schon ein grosser Unterschied, ob man sich im Internet irgendeinen Römergurt für 100 Franken bestellt oder wie wir einen Militärgürtel für 3000 Franken detailgetreu nachbilden lässt», sagt Yves Rüttimann. Selbstverständlich wolle man die Kultur der Legionäre nicht verherrlichen. «Der Legionär war ein Kulturträger. Überall, wo Legionslager gebaut wurden, entstanden Strassen und Kastelldörfer, die im Laufe der Jahrtausende zu unseren heutigen Grossstädten wurden. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Legionen eine brutale Streitmacht bildeten», betont er. «Unsere Verwandlung beschränkt sich auf Äusserlichkeiten. Es ist nicht unser Ziel, das Denken dieser Krieger zu verinnerlichen.» Für sie alle liege der Reiz primär darin, beim Nachahmen echte Geschichte greifbar zu machen. Auf Märschen und in Lagern an Originalschauplätzen können die Mitglieder am eigenen Leib nachempfinden, wie spannend, aber auch entbehrungsreich das Leben der Legionäre war. Rüttimann erinnert sich an ein Winterlager vor einigen Jahren im Kanton Thurgau bei minus 19 Grad Celsius. «Wir zogen mit der original römischen Winterausrüstung los und wollten schauen, wie diese damals funktionierte. Hätten wir dieses Feldexperiment fortgesetzt, wären wir wohl alle erfroren», berichtet der Centurio, der im zivilen Leben Werk- und Zeichenlehrer ist. «Man muss wohl schon auch ein bisschen verrückt sein, um sich darauf einzulassen», lacht Rüttimann. Sie spinnen halt doch ein wenig, die Römer.

den heutigen Zeitgeist. Es gibt bei vielen ein Bedürfnis nach mehr Einfachheit und Gradlinigkeit», sagt Wüthrich. Unterwegs auf ihren Märschen trifft die Gruppe ab und zu auf Passanten, die ganz unterschiedlich auf sie reagieren. «Kinder sind neugierig und kommen unbefangen auf uns zu, während viele Erwachsene erst etwas zögern. Doch viele stellen Fragen, und es kommt spontan zu richtig guten Gesprächen», so Rüttimann. Manchmal begegne man auch Pazifisten, die den militärischen Aufzug missdeuten würden, aber die meisten Menschen reagierten positiv. Krieger im Lateinunterricht Bei Auftritten an öffentlichen Veranstaltungen wie zum Beispiel am Römerfest in Kaiseraugst, dem römischen Augusta Raurica, kann man die 11. Legion in Aktion erleben. Damit diese Auftritte möglichst echt wirken, bedienen sich die Hobby-Römer der Sprache der einstigen Weltmacht: Vom Heraustreten aus den Zelten («Exite tabernaculi!») zum Antritt in einer Reihe («Milites, in aciem venite!»), dem Ziehen der Schwerter («Gladios stringite!») und dem Bereitmachen zum Werfen («Ad jactum parate!») bis hin zum finalen Schlachtruf «Sequimini me et vincemus!» («Folgt mir und wir werden siegen!») kommandiert Centurio Rüttimann seine Krieger mit original lateinischen Befehlen. Mitglieder der Vex Leg XI CPF haben sich sogar bei einem Lateinprofessor weitergebildet. «Der Dozent freute sich sehr über unseren Besuch. Wohl selten hatte er derart motivierte Studenten in seinem Hörsaal», schmunzelt Rüttimann. Der Verein Vex Leg XI CPF fügt sich in die Tradition der weltweiten Bewegung «Living History» ein, gelebte Geschichte also. Ziel dabei ist es, Geschichte möglichst realistisch nachzustellen, um einen Eindruck von der Lebenswelt einer bestimmten Epoche zu erhalten. Im Gegensatz zu Gruppen, die bestimmte Ereignisse aus der Vergangenheit nachspielen, folgt die Legio XI keiner durch die Geschichte vorgegebenen Dramaturgie. Im Zentrum steht der hohe Anspruch, experimentelle Geschichtsforschung zu betreiben, also den Alltag der Legionäre nachzuleben, ohne eine bestimmte Handlung nachzuspielen. Die grosse Tür des Vindonissa-Museums schliesst sich hinter Rüttimann und Wüthrich. Im Museum zeugen antike Münzen, Waffen, Stirnziegel und viele andere Objekte, die bei Grabungen in der nahen Umgebung gefunden wurden, vom Leben der einst hier stationierten Streitkräfte. In Vindonissa befand sich vor rund 2000 Jahren das einzige Legionslager der Schweiz. Etwa 6000 Mitglieder der römischen Armee lebten und arbeiteten an diesem Ort. «Legionäre werden meistens als reine Krieger dargestellt, aber das ist falsch», sagt Yves Rüttimann. «Es herrschte ja nicht immer Krieg. In konfliktfreien Zeiten bestand ihre

Der Segen eines Apfels Im vergangenen Sommer marschierte die Gruppe mit authentischen Vorräten, Maultieren und stattlichen 50 Kilogramm Gepäck pro Mann über den Septimerpass in Graubünden. Zur Römerzeit war diese Route einer der wichtig«Wir fertigen unsere Ausrüstungen auf der Basis von archäologisch sten Alpenübergänge. Archäologen hatten gesicherten Erkenntnissen an. Ich kann mir kaum noch Hollywooddort, auf über 2300 Metern Höhe, Überreste eiFilme wie ‹Spartacus› oder ‹Gladiator› ansehen, ohne darin grobe nes Lagers ausgegraben, das römische TrupSchnitzer zu entdecken.» pen vor 2000 Jahren aufgeschlagen hatten. Nun benutzten sie die Hobby-Römer der 11. Hauptaufgabe darin, zum Beispiel neue Verkehrswege zu erschliessen Legion als Versuchskaninchen und enthielten ihnen die Informationen oder Festungen zu bauen, um auch an den Aussenposten des Römiüber den genauen Standort der Zelte von damals vor. Doch tatsächlich: schen Reiches Präsenz zu markieren.» So entstanden perfekt durch«Wir haben unser Lager exakt an der gleichen Stelle aufgeschlagen wie strukturierte Verwaltungen, nach deren Vorbild auch heute noch modamals die Legionäre», erzählt Centurio Yves Rüttimann. In solchen Laderne Streitkräfte und Behörden aufgebaut sind. Ihre Errungenschaften gern merke man, wie wenig man eigentlich zum Leben brauche. «Wir verbreiteten die Römer selbst bis in die entlegensten Winkel dieses Riesind eine reizüberflutete Gesellschaft, da tut es gut, sich ab und zu aussenreichs, das bei seiner maximalen Ausdehnung von Schottland bis zuklinken und eine Wolldecke oder einen Apfel wieder richtig schätzen nach Zentralasien reichte. zu lernen.» Im Erdgeschoss wartet René Hänggi, der Leiter des Museums, auf die Diese Wahrnehmung teilt auch Reto Wüthrich, der hier vor dem Muzwei Hobby-Legionäre, um mit ihnen ein paar Worte zu wechseln. Censeum in Brugg als Miles gregarius steht. Dem 21-jährigen Schreiner geht turio Rüttimann und Archäologe Hänggi kennen sich schon einige Jahes doch um mehr als das Tragen von historischem Gerät. Ihm gefallen re und tauschen sich regelmässig über die Kultur der alten Römer aus. neben dem hohen Spassfaktor und der Kameradschaft auch die klaren «Die Archäologie bestimmt Fundstücke und konserviert sie. Eine GrupStrukturen im Verein. «Es ist für mich schon eine Art Gegenreaktion auf

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timann. «Immerhin sind unsere modernen Staaten nach dem römischen pe wie die Legio XI ist eine echte Bereicherung, weil die Funktionsweise Vorbild aufgebaut.» Und Museumsleiter Hänggi ergänzt: «Ein Zeitreieines antiken Gegenstands oder einer militärischen Formation in den sender aus dem alten Rom wäre wahrscheinlich auch angesichts der Vordergrund rückt und im Experiment überprüft wird», sagt Hänggi. Ein Beispiel für die Anschauungskraft der Legio XI ist der Legionärspfad in Windisch. «Unsere Verwandlung beschränkt sich auf Äusserlichkeiten. Es ist Auf diesem besonderen Rundgang erhalten Benicht unser Ziel, das Denken dieser Krieger zu verinnerlichen.» sucher Einblicke in eine versunkene Offiziersküche und in andere Fundstätten. Wer möchte, aktuellen Kriege in Syrien oder in der Ukraine nicht weiter erstaunt. kann selbst in eine Tunika schlüpfen und in einem Römerlager überAuch in seiner Zeit waren Expansionswut und Allmachtsgelüste starke nachten. Die Mitglieder des Vereins Vex Leg XI CPF unterstützen diverKriegsmotoren.» se Veranstaltungen vor Ort mit ihrer Präsenz und hauchen der GeVom alten Rom ins 21. Jahrhundert: Geschichte ist etwas Organischichte so Leben ein. sches, das eher verbindet als trennt. Centurio Lucius Livius tritt gemeinsam mit seinem Miles gregarius zum Fotoshooting in den Innenhof Probleme am Zoll hinaus. Der eine hält ein antikes Schreibtäfelchen, der andere einen TaWährend René Hänggi mit den beiden Männern zwischen den Expoblet-Computer der neuesten Generation in die Kamera. Bemerkenswert: naten hindurch Richtung Innenhof schreitet, unterhalten sich die drei Obwohl zwei Jahrtausende zwischen den beiden Schreibgeräten liegen, angeregt über die Probleme, die am Zoll auftauchen können, wenn man sind ihre Umrisse praktisch identisch. mit all den Waffen, Fellen und Knochen im Gepäck an ein Römerfest im ■ Ausland reist. «Da kommt es schon einmal vor, dass ein Zollbeamter ins Grübeln gerät», weiss Hänggi und gibt Yves Rüttimann für ein bevorstehendes Fest in Deutschland den Rat, nochmals Erkundigungen einzuholen. «Einmal hat gar ein 2000 Jahre alter Rinderknochen beim Grenzübertritt für Verzögerung gesorgt. Gerade in Bezug auf Felle und Tierprodukte herrschen strenge Auflagen, auch wenn sie antik sind.» Ironie der Geschichte: Gerade bei den alten Römern war ein ausgeklügeltes Zollwesen enorm wichtig. Obwohl das Römische Reich ein einheitlicher Wirtschaftsraum war, wurden Warentransporte besteuert. Die Legio XI tritt an folgenden Anlässen auf: 30./ 31. August am Römerfest in Augst, «Würde sich ein römischer Legionär in unsere Zeit verirren, würde er 6./7. September: Museumsnacht St. Gallen sich vermutlich erstaunlich gut zurechtfinden», vermutet Centurio Rütwww.legioxi.ch

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Krimis Der Quälcode Einbetoniert, in Tinte ertränkt, kastriert: In den erfolgreichsten Krimis werden Menschen nicht einfach ermordet, sondern bestialisch hingerichtet. Warum? Und was sagt das über uns, die Leser aus?

VON TILL RAETHER (TEXT) UND PRISKA WENGER (ILLUSTRATION)

Was ist das eigentlich für eine Welt, in der ein Mörder lebenden Mädchen Taubenflügel annäht, um sie in Engel zu verwandeln, bevor er sie tötet? In der Eltern zehn Sekunden Zeit haben, sich zu entscheiden: Erlauben sie einem Kidnapper, ihnen ihren Sohn zu nehmen, oder sehen sie zu, wie ihr Sohn stirbt? Was ist das für eine Welt, in der ein Serienmörder seine Opfer in Tinte ertränkt oder bei lebendigem Leibe mit Beton umhüllt? Wo Paare entführt und gezwungen werden, einander zu töten? Es ist die Gedankenwelt in einem x-beliebigen ICE-Grossraumwagen oder Wartezimmer oder irgendwo anders, wo Leute Psychothriller lesen.

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Die Beispiele sind willkürlich ausgewählt aus dem aktuellen Mainstream: der Amazon-Top-100 der meistverkauften Krimis und Thriller. Die Durchsicht der Liste zeigt auch: Je sadistischer das Verbrechen, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer ein Kind oder eine Frau ist. Kann es sein, dass Thriller immer grausamer werden? Es kann, sagen Krimi-Experten wie Margarete von Schwarzkopf vom Norddeutschen Rundfunk, Jurorin der «Zeit»-Krimi-Bestenliste: «Es ist eine Spirale, vor allem bei den Amerikanern und Skandinaviern sind regelrechte Konkurrenzkämpfe ausgebrochen, wer auf fiesere Tötungsmethoden kommt.» Und Lars C. Schafft, der Chef der einflussreichen Webseite Krimi-Couch.de, sagt: «Es gibt da ein gewisses blutiges HöherSURPRISE 332/14


Schrecken einjagen, wir wollten unsere Wut anheizen», sagt Jerker ErSchneller-Weiter. Im Thriller reicht es nicht, wenn einfach nur ein Mord iksson. «Wir schreiben Thriller, weil wir wütend sind», sekundiert Håpassiert, da muss schon noch was kommen, darum wird das immer krukan Axlander Sundquist. der und abseitiger.» Es sei zunächst einmal ein simpler MarktmechaDie beiden vollenden und ergänzen auch im Gespräch autorenduonismus: «Ein Thriller braucht ein Alleinstellungsmerkmal, um sich artig ihre Sätze. Eriksson erzählt, wie es sie aufgeregt habe, immer neue durchzusetzen. Und viele Tötungsarten sind halt schon ausgelutscht.» Geschichten von Freundinnen über alltägliche Männergewalt zu hören: Daher also all die Gehäuteten, in Druckluftkammern Gequälten, leben«Wir leben in einer Welt, die davon geprägt ist und die darauf beruht, dig Begrabenen. Im Verlagsgeschäft nennen sie diese Bücher «Schlachtdass Männer Gewalt ausüben, und das macht uns wütend. Der Thriller platten». Als deren Boom Anfang der Neunziger mit den Büchern von ist nur der Kontext, in dem wir uns damit auseinandersetzen.» Patricia Cornwell begann, stand die Unerschrockenheit der Forensike«Krähenmädchen» hat also einen gesellschaftspolitischen Anspruch, rinnen und Ermittler im Vordergrund, es waren moderne Heldinnensaes ist ein Buch gegen Männergewalt – aber es bleibt ein Widerspruch: gen. Inzwischen sind längst die Qualen der Opfer die Hauptattraktion, mit Gewalt unterhalten, um gegen Gewalt zu sein? Man könne über’s es sind Passionsgeschichten der Zerstückelten und Ausgeweideten. Töten nicht anders schreiben als mit «purem Horror», sagt Jerker EriksKlar, sadistischen Horror gab es schon immer, vor allem im Kino, son: «Ich finde diese Krimis, wo die Leute herumsitzen und beim Tee geaber mit einem entscheidenden Unterschied: Filmhorror wird von Horrorfans konsumiert, das Genre gilt als undurchlässig. Beim Buchthriller aber läuft die Blutspur «In gewisser Weise wollten wir uns beim Schreiben selbst einen quer durch alle Milieus – und besonders beliebt Schrecken einjagen», sagt Star-Krimiautorin Eriksson. «Wir wollten sind sie bei Frauen, wie Kritiker, Lektoren und unsere Wut anheizen.» Buchhändler übereinstimmend erklären. Es ist eine seltsame Gesellschaft: Auf der einen Seite pflegt über den letzten Mord räsonieren, viel perverser. Wenn es um pflegt sie ein allumfassendes Bedürfnis nach Fürsorge und Sicherheit, Mord geht, muss es fies und beängstigend sein. Wir können nicht veraber zugleich liebt sie fiktive Leidensgeschichten zu Tode Gequälter. hindern, dass sich Leute unterhalten fühlen, aber wir wollen, dass unWarum? Und wer schreibt das? sere Leser so wütend werden wie wir.» Die zweite Frage lässt sich mithilfe eines Linienflugs nach Stockholm beantworten, auf Einladung des Random-House-Verlags, der dort seine Krimigewalt zur Erholung neuen Thrillerstars präsentiert. Jerker Eriksson, 39, und Håkan AxlanAuch Lotta Olsson von der schwedischen Tageszeitung Dagens Nyder Sundquist, 48, sind zwei sympathisch schüchterne Künstler und heter, seit vielen Jahren die führende schwedische Krimikritikerin, sieht Elektropunk-Musiker mit langen Haaren und Secondhand-Klamotten. Wut als zentrale Erklärung für die Gewaltexzesse zumindest in den besSie haben unter dem gemeinsamen Pseudonym Erik Axl Sund eine düseren Thrillern. Sie hält Gewalt für «ein psychologisches Symbol»: die stere Thrillertrilogie geschrieben, die in Skandinavien bereits als besseVerdichtung komplexer gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten in brutalen rer Nachfolger von Stieg Larssons stilbildender Millenium-Trilogie geThrillertaten. «Wir lesen diese Geschichten, um unsere eigene Wut ausfeiert wird. Die Sund-Trilogie ist das ideale Beispiel, weil sie so brutal zuleben, aber innerhalb sicherer Grenzen», sagt Olsson. Das erklärt aus und erfolgreich zugleich ist: Die Trilogie ist bereits in 20 Sprachen überihrer Sicht, warum gerade Frauen brutale Thriller lieben: «Frauen sind setzt und die amerikanischen Kabel-TV-Legenden HBO, AMC und wütender!» Suchen wir also Katharsis, Reinigung, wie einst in der grieShowtime interessieren sich für die Filmrechte. chischen Tragödie? «Ganz ehrlich», sagt der Krimifachmann Lars C. Schafft trocken: «Die allermeisten Thriller, bei denen das Blut aus den Gesellschaftspolitischer Anspruch Seiten läuft, sind nicht gut genug geschrieben, um profunde psycholoSo wie Stieg Larsson in seinen Büchern Lisbeth Salander marterte gische Erfahrungen wie Katharsis zu machen.» und martern liess, geht es auch im ersten Band «Krähenmädchen» gleich Die Kritikerin Margarete von Schwarzkopf spricht deshalb differenans Eingemachte: Eine psychopathische Täterin isoliert einen Raum ihzierter von einem «Entgiftungsprozess des Geistes»: «Wir leben in einer rer Wohnung mit Matten und Plastikfolie, um darin ungestört quälen zu Welt, die so blutrünstig ist, dass die Krimigewalt eine Erholung ist. Weil können. Dann wird ein Junge tot gefunden, schrecklich verstümmelt: es am Ende, anders als bei den Nachrichten, eine Erlösung gibt, und die Augen entfernt, kastriert, mit Betäubungsmitteln im Blut, die dazu weil die Opfer aus ihrer Anonymität geholt werden.» dienten, ihn trotz der Qualen möglichst lange am Leben zu halten. Wenn das stimmt, bedeutet es: Wir lieben diese Krimis, weil wir nicht «Krähenmädchen» hat wie viele skandinavische Thriller den gesellmehr wissen wohin mit unserer Wut über die Realität, die zu viele Opfer schaftspolitischen Anspruch, die Ungerechtigkeit und den Machtmissfordert, um noch mit ihnen mitfühlen zu können. Früher kamen die brauch hinter der Fassade des Wohlfahrtsstaats zu beleuchten. SchoGräuel der Welt zweimal am Tag zu uns, morgens mit der Zeitung und nungslos, versteht sich. Das ist ja nichts Neues, möchte man sagen, seit abends kurz in der Tagesschau, heute erreichen sie uns rund um die Uhr. Sjöwall/Wahlöös resignierten Bürokratiekrimis, Henning Mankells melancholischen Gewaltausbrüchen in der Bilderbuchprovinz und eben Jeder Aspekt unseres Alltags scheint direkt verbunden mit Leid und Stieg Larssons Weltverschwörung der Biedermänner. Aber «KrähenElend anderswo: von den blutigen Klamotten aus den Sweatshops bis zu mädchen» und seine Folgebände sind mehr, die Geschichte einer Missden Zwangsarbeitern, die beim Bau von Fussballstadien sterben. Und brauchsverschwörung ist kunstvoll verpackt in die einer Frauenfreundnicht nur die Gewalt macht uns wütend, sondern dieses wachsende Geschaft: Eine Polizistin und eine Psychologin jagen eine Täterin, die fühl von Machtlosigkeit in allen Lebenslagen: Egal, wie viele FacebookPetitionen wir teilen und bei wie vielen Bürgerentscheiden wir abstimvermutlich durch eigenes Trauma zum Monster geworden ist. Der Text men, die soziale Ungerechtigkeit scheint immer grösser zu werden. lebt von Überraschungseffekten und psychologischen Exkursen – und Wenn die Lust am brutalen Thriller also mit Wut zu erklären ist, dann ist gespickt mit Schockmomenten, die alles andere überlagern. deutet deren Popularität vielleicht darauf hin, dass wir alle Zeitbomben «Wenn man so was schreibt, denken deine Freunde und Familie erst sind – und eines Tages die Wut auf die Strasse tragen, die wir jetzt noch mal, du hättest mentale Probleme», sagt Jerker Eriksson im Hinterzimmit dem E-Reader vor der Wartenummernanzeige am Gemeindeschalter mer ihrer Galerie im Stockholmer Stadtteil Södermalm. Dort arbeiten die sublimieren. beiden an ihren Büchern, während Besucher vorn im Ausstellungsraum ■ die Videoinstallationen und Skulpturen Stockholmer Künstler betrachten. «In gewisser Weise wollten wir uns beim Schreiben selbst einen Dieser Text erschien zuerst im «Süddeutsche Zeitung Magazin». SURPRISE 332/14

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SURPRISE 332/14 BILD: JOテグ SILVA/THE NEW YORK TIMES

BILD: MARCO DI LAURO/GETTY IMAGES


Seite 18 oben Al Musayyib, 27. Mai 2003: Ein irakisches Kind springt über die Überreste von Toten, die in einem Massengrab südlich von Bagdad gefunden wurden. Die Leichen liegen in dieser Schule zur Identifizierung durch Angehörige, die unter den Skeletten nach Ausweisen oder anderen Hinweisen suchen, um vermisste Familienmitglieder zu finden. Die Opfer wurden von Saddam Husseins Regime während schiitischer Aufstände nach dem Golfkrieg 1991 ermordet. Seite 18 unten Karman (Garma), 31. Oktober 2006: Feldwebel Jesse E. Leach zieht den Obergefreiten Juan Valdez (Waffenkompanie, 2. Bataillon, 8. Marines) in Sicherheit – wenige Momente nachdem er von einem Heckenschützen während einer Patrouille angeschossen wurde. Valdez wurde durch den Arm und am rechten Rumpf getroffen, aber er überlebte.

Irak «Wissen, was geschah» Zehn Jahre nach der US-Invasion versinkt der Irak im Chaos. Der Fotograf Michael Kamber berichtete jahrelang aus diesem Krieg, auch als sich die Öffentlichkeit in den USA und anderswo abwandte. Mit seinem Buch «Bilderkrieger» kämpft er gegen das Vergessen. INTERVIEW VON ROBIN LINDLEY

Fast 5000 amerikanische Soldaten sind im Irakkrieg seit dem von der Bush-Regierung befohlenen Einmarsch 2003 gefallen. Je nach Schätzung haben zwischen 100 000 und 600 000 Iraker ihr Leben verloren, die meisten davon Zivilisten. Bezieht man die laufenden Behandlungen für verletzte Veteranen und die Reparaturen von Schäden an der Ausrüstung der US-Armee mit ein, werden sich die finanziellen Kosten für den Irakkrieg laut einer aktuellen Studie der Universität Harvard auf mehr als vier Billionen Dollar belaufen. Ende 2011 zogen die Amerikaner ab und überliessen das Land der starren autokratischen Regierung des schiitischen Premiers Nouri al Maliki. Seither steuert der Vielvölkerstaat kontinuierlich auf einen umfassenden Bürgerkrieg zu. Während sich der Krieg nach der US-Invasion von Jahr zu Jahr weiter hinzog, schwand das Interesse in der amerikanischen Bevölkerung. Die Berichterstattung in den Medien wurde immer stärker eingeschränkt, sowohl durch die Zensoren des US-Militärs als auch durch die Redaktionen der grossen Medienunternehmen. Man versuchte, Amerikas Bürger vor der schmerzhaften Realität zu schützen – und die Politik vor einem allzu massiven Schwund an Zustimmung. Dass weniger und eingeschränkter berichtet wurde, heisst aber nicht, dass keine Beobachter vor Ort waren. Fotoreporter dokumentierten den Krieg und das menschliche Drama weiterhin aus der Nähe – stumme Zeugen, die gesehen werden wollten. Einer von ihnen ist Michael Kamber. Mit seinem 2013 auch auf Deutsch erschienenen Buch «Bilderkrieger» (siehe Kasten) hat der preisgekrönte Reporter eine fotografische und auf Interviews beruhende Geschichte des Irak-Krieges zusammengestellt. Darin kommen jene Zeugen zu Wort: irakische und ausländische Fotografen, die ausharrten, während die Welt sich abwandte. SURPRISE 332/14

Seine Motivation, sagt Kamber, war die Frustration über die Berichterstattung in den US-Medien: «Die Menschen müssen wissen, was dort drüben geschah.» Drei Jahre nach der «Befreiung» des Irak und dem Abzug ihrer Truppen stehen die USA vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik: Nach den Aufständen sunnitischer Stämme in den letzten Jahren sind mit dem aktuellen Vormarsch der al-Qaida-Abspaltung «Islamischer Staat» auch die Kurden in heftige Kämpfe verwickelt. Zehntausende Angehörige von religiösen und ethnischen Minderheiten sind bedroht, Millionen Menschen im ganzen Land vertrieben oder auf der Flucht. Der Irak ist im freien Fall. Die USA fliegen bei Redaktionsschluss dieses Heftes erstmals seit Langem wieder Luftangriffe im Irak gegen Stellungen der Islamisten. Michael Kamber, der Irak versinkt im Chaos. Sie waren viele Jahre vor Ort. Wie deuten Sie die aktuelle Situation? Das ist eine logische Folge der US-Invasion von 2003. Ich zweifle sehr daran, dass der Irak als Staat weiter bestehen wird. Schiiten, Sunniten und Kurden bekämpfen sich. Wir werden gerade Zeugen des letzten Zerfalls des Irak. Was bewegte Sie dazu, dieses Buch zu veröffentlichen? Ich war frustriert, als ich merkte, dass die Menschen in den USA die wahre Geschichte nicht verstanden hatten. Ich verbrachte Zeit im Irak mit befreundeten Fotojournalisten, und sie erzählten oft aussergewöhnliche Geschichten. Irgendwann merkte ich, dass diese Geschichten nicht weitererzählt wurden. Deshalb zog ich ein Aufnahmegerät heraus und fing an, sie aufzunehmen. Langsam wurde mir klar, dass hier etwas entstand, das veröffentlicht werden sollte.

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Warum kam die «wahre Geschichte» nicht in den USA an? Die Zensur des US-Militärs frustrierte mich sehr. Auch die Redaktionen in den USA weigerten sich, Bilder zu veröffentlichen, die Amerikas Bevölkerung hätten erschüttern können. Ich hatte andauernd das Gefühl, dass der echte Krieg nicht gezeigt wurde. Wir gehen um die halbe Welt und geben Tausende von Milliarden Dollars aus. 5000 Amerikaner und Zehntausende Iraker sterben. Wir sollten den Menschen die Geschichte knallhart überliefern. Sie müssen wissen, was dort drüben geschah.

wurden sie sofort getötet. Im Frühjahr und Sommer 2003 war enorm viel Presse anwesend, aber bis September waren viele schon abgezogen. Man konnte eine ganze Stadt oder eine ganze Provinz für sich selbst haben. Das war eine gewaltige Verantwortung. Davon hatte ich geträumt, als ich aufwuchs: als Amerikaner in Kriegsgebiete zu gehen, Geschichte zu dokumentieren und etwas zu bewirken. Ihr Buch erfasst auch die Inkompetenz und die Arroganz der USPolitik im Irak. Ich war selber ein grosser Befürworter der Invasion. Ich hatte nie im Nahen Osten gearbeitet. Ich berichtete über Diktaturen in Westafrika und ich dachte, wir könnten Saddam stürzen und die Demokratie einführen. Ich hatte mich auf vielen Ebenen geirrt. Hauptsächlich hatte ich nicht realisiert, dass die Führung des US-Militärs unglaublich inkompe-

Viele der Fotografen, die Sie für Ihr Buch interviewten, betonen, wie wichtig es für sie war, die echte Geschichte des Irakkriegs zu dokumentieren. Viele von uns waren vom Vietnamkrieg beeinflusst. Als Fotojournalisten sind wir voller Geschichte und Tradition. Wir wollten den Irakkrieg dokumentieren und einen echten Beitrag zur Geschichtsschreibung leisten. Das ist der «Im Krieg geht es darum, Menschen zu töten. Wir müssen uns vom Grund, warum ich dorthin ging. Ich machte Bild von Amerika als Superhelden distanzieren und davon, wie ein paar schreckliche Erfahrungen, kehrte späwundervoll Krieg ist.» ter aber freiwillig in den Irak zurück. Nicht weil ich heldenhaft bin. Das bin ich nicht. tent war. Man marschierte in ein Land mit 30 Millionen Einwohnern ein, Aber das war unsere Geschichte. Und ich habe eine Kamera und kann mit minimaler Truppenstärke, ohne die nötige Ausrüstung und ohne die die Geschichte aufzeichnen. Es ist ein Privileg, dies tun zu können. nötigen Übersetzer. Und wir hatten keinen Plan, was nach Kriegsende passieren sollte. Das ist verrückt. Das ist der Grund, weshalb die Dinge Wie war Irak im Vergleich zu anderen Kriegen, über die Sie beausser Kontrolle gerieten. richtet haben? Jeder Krieg ist anders. Aber ich denke, der Irakkrieg fand genau zu Ihr Buch enthält bewegende Bilder: ein Mann mit starken Vereiner Zeit statt, in der es massive Veränderungen im Journalismus gab. brennungen, der wegen mangelnder Versorgung seinen VerletAm Anfang des Krieges gab es grosse Budgets, und Zeitungen aus der zungen erlag; die Folgen von Autobomben; verwundete und tote ganzen Welt sandten ihre Journalisten aus. Am Ende des Krieges exiSoldaten, Frauen und Kinder. Zivilisten sind mittendrin beim Ausstierten viele dieser Zeitungen gar nicht mehr. bruch von Gewalt. Es war ein Krieg der Autobomben, die man auf öffentlichen Plätzen Auch die Einbettung von Journalisten in die Truppe wandelte sich hochgehen liess. US-Patrouillen mochten das Ziel sein. Aber wenn jewährend des Irakkrieges. Was geschah da? mand auf einem überfüllten Marktplatz eine Bombe zündet, um eine Am Anfang gab es nur wenige Einschränkungen, im Verlauf des KrieHandvoll Amerikaner zu töten, wer ist dann der Kollateralschaden? Die ges aber wurde die Praxis immer restriktiver. Gegen Ende war es ehrlich Amerikaner kämpften aus grosser Entfernung, mit Drohnen und Heligesagt sehr schwierig zu arbeiten. Wobei man sagen muss: Es hängt bei koptern und Infrarotkameras, vielleicht eine Meile weit entfernt. Die unserer Arbeit so viel von einzelnen Personen ab. Wenn man die richtiMehrheit der Opfer dieses Kriegs waren Zivilisten. So war dieser Krieg, ge Beziehung zu einem Kommandeur entwickeln konnte, dann waren und das ist es, was die Amerikaner anscheinend nicht verstehen. die Regeln plötzlich nicht mehr so wichtig. Aber die Einbettung von Reportern in die Truppen wurde immer restriktiver gehandhabt. Im Jahr Das hat eine ganze Gesellschaft traumatisiert. 2003 schloss ich mich einfach einer Einheit an, und da hiess es dann: Manchmal berichtete ich über fünf oder sechs Autobomben an einem «Hey, wir starten heute Nacht einen Angriff. Wieso kommst du nicht Tag. Das passierte an öffentlichen, zivilen Orten, und am nächsten Mormit?» Später wurde uns in Krankenhäusern, bei Kriegsgefangenen und gen mussten die Iraker zur Arbeit gehen. Sie mussten essen und einbei verwundeten Amerikanern der Zutritt verweigert. kaufen gehen und ihre Kinder zur Schule bringen. Sie hatten keine Wahl. Sie nahmen die gleiche Strasse, in der am Tag zuvor eine Bombe Das US-Militär zog die Zensurschraube immer mehr an? explodiert war. Ich fotografierte wohl Hunderte amerikanischer und iraNicht nur das US-Militär war schuld. Dieser Krieg war Teil eines hikischer Todesopfer. Man kommt zum Beispiel an einen Ort, wo eine storischen Wandels der Medien und der Beziehung der Medien zu AufAutobombe losgegangen war, wo 20 oder 30 Menschen getötet wurden. ständischen. Vor dem 11. September 2001 brauchten Aufständische auf Da sind trauernde Familien und Körperteile und die Verletzten. Es ist der ganzen Welt die Medien. Irgendwann aber hatten sie ihre eigenen nicht wie im Film, wo es um saubere Schussverletzungen geht. Es sind Produktionsmittel: Satellitenschüsseln, Videokameras und Fotografen. Menschen, die in kleine Stücke zerfetzt wurden. Manchmal in grosse Zu diesem Zeitpunkt wurde unabhängiger Journalismus für sie zu einer Stücke. Und das geschah jeden Tag. Belastung. Statt uns zu hofieren, versuchten die irakischen Rebellen uns zu jagen und zu töten. Das trieb uns noch stärker in die Einbettung in Ist das die Geschichte, die Sie den Amerikanern erzählen möchten? die US-Armee. Ich möchte die Menschen daran erinnern, dass all dies noch heute geschieht. Tausende von Menschen werden immer noch getötet im Irak, Mehrere Reporter mit denen Sie sprachen, wurden mit dem Tode in einem Bürgerkrieg, den es nicht gegeben hatte, bis wir in das Land bedroht. Sie und Ihre Kollegen arbeiteten unter hohem Risiko. einmarschierten. Das waren schreckliche, schreckliche Tage. Tage, an denen man morgens aufwachte und sich fragen musste: «Ist es das wert, heute für eine Waren Sie nochmal im Irak seit dem Abzug? Reportage getötet zu werden?» Die irakischen Fotografen hatten es zehnIch war dort während des Abzugs der US-Truppen und blieb ein paar fach so gefährlich wie wir, mittlerweile sind über 200 von ihnen getötet Wochen länger. Es ist jetzt wieder eine totale Diktatur. Premier Maliki ist worden. Wenn aufflog, dass sie für unabhängige Medien arbeiteten,

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BILD: YURI KOZYREV/NOOR

Qubah, 24. März 2007: Ein US-Soldat markiert die Hände von Frauen und die Nacken von Männern mit Nummern, die ihr Quartier und ihr Haus bezeichnen. Oberstleutnant Andrew Poppas (73. Kavallerie, 82. Luftlandedivision) sagt dazu, dass dieses System den US-Truppen die Kontrolle erleichtere, ob Ortsbewohner trotz einer Ausgangssperre wegen eines US-Angriffs auf Aufständische ihre Häuser verlassen.

ein lupenreiner Diktator. Er hat die ganze Opposition ins Gefängnis geworfen. Oder sie wurden umgebracht. Als Reporter hat man dort gar keine Freiheit. Mit einer Kamera kann man die Hauptstadt nicht verlassen. Es war schwierig genug damals, aber als die Amerikaner abgezogen waren, konnte man buchstäblich kein einziges Bild mehr machen. Ich sagte mir, dass es für mich keinen Sinn mehr macht, hier zu sein. Es gibt Iraker im Team der New York Times, die noch dort arbeiten. Ihr Mut ist unglaublich. In Ihrem Buch kommen keine Politiker und Generäle wie Bush oder Cheney vor. Mich interessierten die irakischen Zivilisten und die US-Soldaten. Im Krieg geht es darum, Menschen zu töten. Wenn man Menschen tötet, durchleben deren Familien unglaubliches Leid, und man beschäftigt sich mit Beerdigungen oder den Verletzungen der Soldaten. Wir müssen

Das Buch «Bilderkrieger: Von jenen, die ausziehen, uns die Augen zu öffnen – Kriegsfotografen erzählen» von Michael Kamber mit einem Vorwort von Dexter Filkins. Erschienen bei University of Texas Press, die deutschsprachige Ausgabe im Verlag Ankerherz. Die hier abgedruckten Bilder stammen aus Kambers Buch. www.utexas.edu/ www.kamberphoto.com SURPRISE 332/14

ehrlich sein und uns von Amerika als dem Superhelden distanzieren und davon, wie wundervoll Krieg ist. Er ist nicht wundervoll. Was sollen die Leser von Ihrem Buch mitnehmen? Ich hoffe, dass sie darüber nachdenken, wie wichtig Fotojournalismus ist. Fotojournalisten stehen an der vordersten Front der Demokratie. Wenn wir nicht wissen, was da draussen vor sich geht, können wir nicht vorwärts kommen. Bilder der Zeitgeschichte zu präsentieren, ist eine besondere Erfahrung. Ich glaube daran. Ich hoffe, dass in 20 oder 30 Jahren irgendein junger Mensch in West Point (US-Militärakademie, Anm. d. Red.) das Buch in die Hand nehmen und sagen wird: «Das ist also wirklich passiert im Irak.» Ich sehe das Buch nicht als gegen oder für den Krieg. Ich will nur, dass es Teil der Geschichtsschreibung wird. ■ Real Change/INSP

Der Autor Michael Kamber, geboren 1963 im USBundesstaat Maine, berichtete in den letzten 25 Jahren als Kriegsfotograf unter anderem aus dem Kongo, Israel, Haiti, Somalia, der Elfenbeinküste, Liberia und Afghanistan. Ab 2003 dokumentierte er den Irak-Krieg für die New York Times. Er ist Träger eines World Press Photo Award.

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BILD: ZVG

Fremd für Deutschsprachige Wutbrätler Was haben Grillwürste mit Asylsuchenden zu tun? Das ungleiche Begriffspaar hat zueinander gefunden, als letzten April eine Handvoll aufgebrachter Aarburger zum Protestgrillieren gegen die Unterbringung von 90 Asylsuchenden aufrief. Man war besorgt um die Sicherheit der Kinder, befürchtete eine Quartierabwertung und fühlte sich überlastet mit Fremden. Besonders bemerkenswert war das Argument eines Anhängers der Anti-Asyl-Grillparty, die frisch renovierten Wohnungen seien viel zu schade für Flüchtlinge. Die seien sich ja ganz anderes gewohnt von zuhause, und nun sollten sie hier in Luxuswohnungen hausen? Das gehe nicht an! Der Flüchtling, wie schon im verkleinernden Wortfortsatz -ling mitschwingt und in der Aussage des Wutbrätlers zum Ausdruck kommt,

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das ist einer, der heilfroh sein kann, wenn er irgendwo, in einem Verschlag oder Bunker unterschlüpfen darf mit seinem Elend. Und das ist er wohl auch: heilfroh. Doch die Äusserung verrät hier erst einmal etwas über den unwilligen Gastgeber und dessen Vorstellungen davon, was einem Schutzsuchenden zusteht, welche Haltung sich für ihn ziemt. Dass Flüchtlinge etwa grundsätzlich unauffällige, bescheiden gebückte Gestalten zu sein haben und nicht wie andere Leute einen x-beliebigen Charakter haben können, wurde mir während des Kosovokrieges erstmals klar. In Mazedonien, wo meine Familie herstammt, nahmen damals viele Leute kosovarische refugjatë auf, so auch der Bruder meines Vaters und dessen Frau. Eine Familie aus Prishtina, Schwiegermutter, Schwiegervater und zwei Schwiegertöchter mit Kindern wohnten während rund eines Jahres auf ihrem Hof im beschaulichen Dorf Drogomisht. Und so brachten die Gäste ihre traurigen Geschichten von Leid und Verlust mit nach Drogomisht. Doch sie brachten auch Anderes, Unerwartetes: eine im lokalen Dialekt missverständlich-schlüpfrige Formulierung für «Guten Morgen»; einen frischen Fassadenanstrich, den der Schwiegervater dem Gastgeberhaus als Zeichen der Dankbarkeit verlieh; die Gewohnheit des literweisen Teetrinkens und – roten Lippenstift. Eine der beiden Schwiegertöchter trug diesen

fast täglich, ohne besonderen Anlass. Sie machte sich zurecht und stöckelte erhobenen Hauptes durch den Hof, zwischen den Hühnern hindurch und in die Küche, wo sie einen recht festlichen Anblick bot, beim Frühstückskaffee. Ihre Eleganz sorgte für einiges Gerede im Dorf, sei diese doch völlig ungebührlich für eine refugjatë. Und so hiess es bald wie in Aarburg: Das geht nicht an! Doch meine Tante lernte im Laufe der gemeinsamen Zeit den Chic der Prishtinassin zu bewundern und im Dorf zu verteidigen: Das sei die Art von Stolz, mit der man der Verzweiflung die Stirn biete. Und überhaupt sei es doch nachahmenswert, wie die Städterin gegen die Monotonie dieses Provinzlebens angehe. Auch in Aarburg scheint alles gut zu kommen. Nun, da trotz erhobenen Grillzangen die ersten 30 Syrerinnen und Syrer einquartiert sind, lässt die Aargauer Zeitung verlauten: «Trotz Bedenken: Aarburger Asylbewerber machen bisher keine Probleme.» Man habe sie kennengelernt und fände sie ganz nett, die Asylsuchenden. Sie seien ruhig und deren Kinder spielten mit den eigenen. Einzig eine Negativmeldung wurde laut: Eine syrische Teenagerin langweile sich schwer im Quartier. SHPRESA JASHARI (SHPRESAJASHARI@HOTMAIL.COM) ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING (RAHELEISENRING.CH) SURPRISE 332/14


Fantoche Die Poesie der Katastrophe Das internationale Festival für Animationsfilm Fantoche in Baden zeigt seit zwölf Jahren, dass Trickfilme bei Weitem nicht nur Kinderprogramm sind. Dieses Jahr bildet es neben vielem anderem die aktuelle Befindlichkeit der japanischen Gesellschaft ab.

Ein Käfer kraxelt einen Baum hinauf und verwandelt sich in eine Larve. Kann das eine Verarbeitung der Fukushima-Katastrophe sein? Ja, es kann. Und es ist im japanischen Animationsfilm typisch für den Umgang mit der Realität: Gesellschaftliche und politische Probleme werden oft nicht direkt thematisiert, sondern auf eine subtile, poetische Art aufgegriffen. Und trotzdem ist die Message des Käfer-Kurzfilms mit dem Titel «663114» klar: Wenn wir unsere Umwelt weiterhin in einem so schnellen Rhythmus zerstören, kann dieses Tier unmöglich überleben. Der Japan-Schwerpunkt des diesjährigen Programms heisst «What’s going on, Japan?» und will der gesellschaftlichen Befindlichkeit des Landes auf die Spur kommen. Zu diesem Zweck hat Fantoche-Direktorin Annette Schindler einen an Bord geholt, der in der japanischen Independent-Animationsfilmszene gut vernetzt ist: Der 33-jährige Förderer, Kurator und Kritiker Nobuaki Doi war letztes Jahr Präsident der Jury des internationalen Kurzfilmwettbewerbs von Fantoche. Jetzt hat er die vier Kurzfilmblöcke kuratiert und bringt etliche japanische Animationsfilmer der jüngeren Generation für Studiopräsentationen und Podiumsdiskussionen mit nach Baden. «Das Tohoku-Erdbeben, der Tsunami und das Reaktorunglück in Fukushima waren nicht einfach nur Naturkatastrophen», schreibt Nobuaki Doi im Festivalkatalog. «Diese Ereignisse veranlassten uns Japaner dazu, unsere Gesellschaft zu überdenken. Insbesondere der Reaktorunfall von Fukushima öffnete uns die Augen und liess uns erkennen, dass unser Sozialsystem nicht mehr wirklich funktioniert.» Der Kurzfilmblock «Never Ending Suffering» bündelt diese Erfahrungen, wobei sich nur ein einziger Film explizit mit Fukushima auseinandersetzt – «Two Under The Grayish Sky». Alle anderen nehmen das Thema auf indirekte Weise auf, und vielleicht trifft dies die menschliche Erfahrung mit der Bedrohung sogar am besten. Denn wie Nobuaki Doi per E-Mail schreibt: «Strahlung sieht man nicht. Aber sie verbreitet ein vages Unbehagen.» Während die harten Fakten der Realität im japanischen Animationsfilm oft draussen bleiben (was von Kritikern manchmal auch bemängelt wird), so sind es dafür innere Welten und Visionen, die in Geschichten und Bilder übersetzt werden. «Die meisten japanischen Animationsfilme sind eskapistisch», meint Doi. «Meiner Meinung nach können diese Visionen aber sehr wichtig werden, weil sie den Zuschauer dazu bringen, die Welt in einem neuen Licht zu sehen.» Und er fügt an: «Vielleicht bin ich da zu optimistisch. Aber als jemand, der sich im Animationsfilm engagiert, möchte ich mir diese Hoffnung bewahren.» Neu zu entdecken sind in Baden Namen, von denen man in Zukunft wohl noch einiges hören wird. Ryo Hirano zum Beispiel, den Nobuaki Doi als kommenden Star der japanischen Independent-Animation einSURPRISE 332/14

BILD: «663114» VON ISAMU HIRABAYASHI

VON DIANA FREI

Subtile Anklage: Der Käfer überlebt die menschgemachten Katastrophen nicht.

stuft: «Seine Bildwelten sind von der Internet-Kultur geprägt. Alles vermischt sich miteinander ohne hierarchische Ordnung: Die Kawaii-Kultur – das japanische Konzept, das das Kindliche, Unschuldige betont – trifft da auf die poetische Welt des russischen Trickfilmers Yuri Norstein.» Im Rahmen des Festivals lässt Hirano in einer Ausstellung mit dem Titel «Teeth» Zähne von den verlorenen Erinnerungen von Toten, denen sie einst gehörten, erzählen. Das Festival schlägt auch einen historischen Bogen. Noburo Ofuji zum Beispiel ist gleich mit vier Kurzfilmen aus den Zwanziger- bis Sechzigerjahren vertreten. Der Meister der Cutout- und Silhouetten-Technik war lange Zeit in Vergessenheit geraten und ist jetzt wiederentdeckt worden, weil seine Filme restauriert wurden und so überhaupt erst wieder im Kino gezeigt werden können. Und natürlich müssen für einen Japan-Fokus auch Hayao Myazaki und Isao Takaha her, die beiden Giganten des japanischen Animationsfilms und Gründer der legendären Ghibli-Studios. «Nausicaä of the Valley of the Wind» und «The Tale of Princess Kabuya» werden gezeigt, und auch Myazakis neuster Film, «The Wind Rises». Es ist sein letzter, wie er selbst sagt, denn er will nun endgültig einer jüngeren Generation Platz machen. Derjenigen, die man am diesjährigen Fantoche kennenlernen kann. ■

Fantoche, 12. Internationales Festival für Animationsfilm, Baden, 2. bis 7. September, www.fantoche.ch

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BILD: ZVG

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Kultur

Endet in undramatischer Peinlichkeit: «Später Ruhm» von Schnitzler.

Gedruckte Schönheit: Buchstaben von Wolfgang Weingart.

Buch Traum der Jugend

Ausstellung Eigenwillige Buchstaben

Arthur Schnitzlers erstmals veröffentlichte Novelle «Später Ruhm» ist nicht nur eine unverhoffte Entdeckung, sondern auch ein meisterlich gutes Buch.

Das Museum für Gestaltung in Zürich würdigt das Lebenswerk des Typografen Wolfgang Weingart mit einer umfassenden Schau.

VON CHRISTOPHER ZIMMER

VON MONIKA BETTSCHEN

Es war eine literarische Sensation, als vor Kurzem, nach 120 Jahren Tiefschlaf, eine druckreife Novelle von Arthur Schnitzler in den Archiven «entdeckt» und zum ersten Mal veröffentlicht wurde. Allerdings eine Sensation mit Fragezeichen, war der Text doch anscheinend schon seit Jahrzehnten zugänglich. Doch abgesehen von diesem editorischen Rätsel, der Titel der Novelle, «Später Ruhm», hätte für dieses Frühwerk des grossen Wiener Autors (1862–1931) passender nicht sein können. Und lesenswert ist dieser Spätling allemal, ein leiser Text von feiner Psychologie, der in den Bann zieht. Dabei ist die Geschichte, die erzählt wird, unspektakulär: Eduard Saxberger, Junggeselle, Beamter, Stammtischbesucher, ein alter Herr alter Schule, hat in jungen Jahren den Gedichtband «Wanderungen» veröffentlicht, nicht mehr als eine Episode jugendlichen Sturm und Drangs. Da taucht eines Tages der Jungautor Wolfgang Meier auf, der sich und seine Mitstreiter des «Jungen Wien» als Verehrer des grossen Meisters outet. Und Saxberger lässt sich verführen und ausnutzen, obwohl ihm die Hohlheit der Phrasen der exaltierten Schreiberlinge nebst halbseidener Schauspiel-Diva nicht entgeht, zu gross ist seine Hoffnung, der eigenen Biederkeit zu entkommen. Die Tragikomödie endet schliesslich in undramatischer Peinlichkeit, Saxberger zieht sich in die sichere Stammtischbehaglichkeit zurück. Bemerkenswert an diesem schmalen Band ist, dass sich verschiedene Lesarten eröffnen. Eine autobiografische: Schnitzler, der noch am Beginn seiner Karriere als Autor stand, schuf hier möglicherweise ein Spiegelbild seiner eigenen Ängste eines Lebens zwischen Kunst und Broterwerb. Eine satirische: In etlichen der Figuren kann man, wenn auch überzeichnet, Zeitgenossen aus dem literarischen Zirkel um Schnitzler erkennen; Erläuterungen dazu finden sich im Nachwort. Oder auch eine allgemeingültige: Wer wäre nicht empfänglich für die Möglichkeit, einen längst begrabenen Jugendtraum doch noch wahrzumachen? Auch wenn sich diese Hoffnung allzu bald als vergeblicher Traum von einer Rückkehr zur verlorenen Jugend entpuppt.

Eine Fülle von M-Lettern, die in einem der Schaukästen zu sehen sind, wecken Erinnerungen an die Schulzeit. Erinnerungen an den Tadel des Lehrers, wenn mal ein Buchstabe in Schieflage geraten war oder sich zu eng an den nächsten schmiegte. So ein Buchstabe ist ja auch für sich gesehen eine kleine Schönheit. Doch sobald man Lesen und Schreiben kann, gewöhnt sich der Blick an das Schriftbild und man lässt sich fortan nicht mehr durch den Schwung der Zeichen vom Inhalt ablenken. Der 1941 in Süddeutschland geborene Typograf Wolfgang Weingart hingegen hat sich den unverstellten Blick auf die Ästhetik von Buchstaben, Wörtern und ganzen Sätzen bewahrt. Mehr noch: Der gelernte Schriftsetzer erlaubte sich schon in den Sechzigerjahren, die starren Regeln seiner oft stiefmütterlich behandelten Disziplin gekonnt aufzuweichen. Die Buchstaben sind bei ihm nicht mehr länger an den rechten Winkel gefesselt, sondern breiten sich aus, erscheinen mal dick, unterstrichen, verformt oder sind komplett neu angeordnet. Sein experimenteller Gestaltungsansatz wurde national und international mehrfach ausgezeichnet. Die Ausstellung «Weingart Typographie» unterteilt sich in zwölf Themeninseln. «Weingart verfolgte manche Themen wie etwa den Buchstaben M, den Kreis oder die Linie über mehrere Jahre hinweg», sagt Barbara Junod, die Kuratorin der Ausstellung. Beim Zusammenstellen der Exponate zu diesen Themen haben sich teilweise überraschende Zusammenhänge und neue visuelle Geschichten ergeben. «Als Kuratorin ist man auch eine Geschichten-Erzählerin.» Zu der Geschichte, die Junods Ausstellung erzählt, gehören neben Weingarts eigenen Arbeiten auch zahlreiche Beispiele von seinen Schülern. Er lehrte ab 1968 an der Schule für Gestaltung Basel, wo er Studierende aus der ganzen Welt prägte. «Weingart verstand sich als Wegbegleiter der jungen Gestalterinnen und Gestalter, die er zu eigenen Erkenntnissen führen wollte», sagt Junod. «Ein ehemaliger amerikanischer Student nannte das ‹he taught us how to learn›, erzählt sie. «Weingart war es wichtig, dass seine Studierenden Spass an der Typografie hatten. Sie sollten das an vielen Schulen eher unbeliebte Fach aus allen möglichen Blickwinkeln kennenlernen.»

Arthur Schnitzler: Später Ruhm. Novelle. Zsolnay 2014. 26.90 CHF

«Weingart Typographie», Museum für Gestaltung in Zürich, Galerie, Ausstellungsstrasse 60, bis 28. September 2014, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Mi 10 bis 20 Uhr

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BILD: ISTOCKPHOTO

Die 25 positiven Firmen Diese Rubrik ruft Firmen und Institutionen auf, soziale Verantwortung zu übernehmen. Einige haben dies schon getan, indem sie dem Strassenmagazin Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Damit helfen sie, Menschen in prekären Lebensumständen eine Arbeitsmöglichkeit zu geben und sie auf ihrem Weg zur Eigenständigkeit zu begleiten. Gehört Ihr Betrieb auch dazu? Die Spielregeln sind einfach: 25 Firmen werden jeweils aufgelistet, sind es mehr, fällt jener Betrieb heraus, der am längsten dabei ist.

Französischer Kuss für eine üppige Beere.

Piatto forte Überschwängliche Fruchtigkeit Um die olfaktorische Wahrnehmung «fruchtig» zu beschreiben, hat es neben der Erdbeere nur die Himbeere auf die Liste der Grundgerüche geschafft.

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BEVBE Ingenieurbüro, Bonstetten

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Klinik Sonnenhalde AG, Riehen

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Lions Club, Zürich Seefeld

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Schweizerisches Tropen- und Public HealthInstitut, Basel

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VXL Gestaltung und Werbung AG, Binningen

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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Velo-Oase Erwin Bestgen, Baar

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Bruno Jakob Organisations-Beratung,

VON TOM WIEDERKEHR

Pfäffikon SZ 10

Balz Amrein Architektur, Zürich

Der Duft der Himbeere wird von einschlägigen Autoren als üppig, würzig, berauschend und mit einer Spur Moschus angereichert beschrieben. So eine Beere kann also nur aus dem Orient kommen. Tatsächlich kennt man in Asien über 200 Himbeerarten, in Europa kommen gerade mal ein knappes Dutzend vor. Dabei gehört die Himbeere zu den aromatischsten Beerenfrüchten, die wir kennen. Nördlich der Alpen schätzt man sie mehr als im Süden, wo sie kaum angepflanzt wird. Unsere Vorfahren aus der Steinzeit kannten sowohl die Himbeere als auch die Brombeere als Wildfrucht – das beweisen prähistorische Küchenabfälle aus Dänemark, England und der Schweiz. Selbstverständlich kann man aus der Himbeere ganz unterschiedliche Crèmes, Kuchen und anderes herstellen. Wir wollen sie dieses Mal aber pur geniessen. Und spendieren ihr lediglich einen französischen Kuss als Begleitung. Das ist nichts Frivoles, sondern bloss ein Baiser. Oder Meringue, wie wir dieses süsse Nichts hier auch nennen. Dafür schlagen wir drei Eiweisse mit einer Prise Salz schaumig und lassen währenddessen 120 Gramm feinsten Zucker in die Masse rieseln. Das Eiweiss wird so lange geschlagen, bis zwischen den Fingern kein Zucker mehr zu spüren ist und die Masse richtig fest ist. Jetzt noch 60 Gramm Puderzucker und einen Esslöffel Maisstärke darunterschlagen, damit die Masse richtig stabil wird. Wer seinen Baisers noch etwas mehr Sinnlichkeit verleihen will, der kann die Masse jetzt nach Belieben parfümieren: Eine fein abgeriebene Schale einer Orange, Limette oder Zitrone verleiht zusätzliche Frische, fein geriebener Ingwer etwas Schärfe oder eine Prise Safran einen Hauch Exotik. Jetzt die Masse entweder rustikal mit dem Spachtel – oder etwas aufwendiger mit dem Spritzsack – als kleine oder grosse Tortenboden auf Backtrennpapier formen. Die Masse sollte etwa zwei bis drei Zentimeter dick sein. Im 80° warmen Ofen drei bis vier Stunden trocknen lassen. In der Minimal-Variante essen Sie jetzt das Baiser mit den frisch-fruchtigen Himbeeren und erfreuen sich an der Abwechslung von klebrig-süssen Baisers mit der leicht sauren Fruchtigkeit der Himbeere. Noch etwas üppiger wird es mit Schlagrahm und ein paar Pfefferminzblättchen.

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Supercomputing Systems AG, Zürich

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Kultur-Werkstatt – dem Leben Gestalt geben,

Bezugsquellen und Rezepte: http://www.piattoforte.ch/surprise

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Wil SG 13

Schluep Degen Rechtsanwälte, Bern

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Anyweb AG, Zürich

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A. Reusser Bau GmbH, Recherswil

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Verlag Intakt Records, Zürich

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Hotel Basel, Basel

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Homegate AG, Zürich

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Balcart AG, Therwil

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Ottenbach

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applied acoustics GmbH, Gelterkinden

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Privat-Pflege, Hedi Hauswirth, Oetwil am See

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Hofstetter Holding AG, Bern

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Bachema AG, Schlieren

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fast4meter Bern, Storytelling & Moderation

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende von mindestens 500 Franken sind Sie dabei! PC-Konto: 12-551455-3, Verein Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma + Ihr gewünschter Eintrag. Wir schicken Ihnen eine Bestätigung.

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Ausgehtipps

Turbulente Dramatik: «Eine für alle».

Das Diabolo – ein drehendes Objekt, das ständig beschleunigt werden muss: «Arbeit» von Roman Müller.

Winterthur Cirque Nouveau Das Leben ist schön: Unter einem Palmendach, begleitet von einer begnadeten Pianistin und Bach, lässt es sich für einen Jongleur gut leben. Eines Tages aber beginnt der Jongleur nachzudenken über den körperlichen und geistigen Antrieb seiner Arbeit. Und von diesem Moment an verfolgt er nur noch ein Ziel: das Leben noch genüsslicher zu gestalten – und also sich selbst, den Künstler, abzuschaffen. Roman Müllers Kreation «Arbeit» ist einer von vielen Programmpunkten am Gadjo-Festival, dem ersten Festival für zeitgenössischen Zirkus in der Deutschschweiz. Gadjo, lanciert von den beiden Schweizer Artisten-Companien E1nz und Roikkuva, präsentiert einem breiten Publikum die Highlights einer Kunstform, die hierzulande noch wenig bekannt ist: Der zeitgenössische Zirkus kombiniert Tanz, Performance, Schauspiel und Musik mit den Elementen der Zirkuskunst und schafft so eine eigenständige Kunstform – die, etwa in Frankrankreich, unter dem Namen «Cirque Nouveau» bereits ganze Theaterhäuser füllt. (mek) Gadjo-Festival für zeitgenössischen Zirkus, 11. bis 14. September, Kulturzentrum Gaswerk, Winterthur. Programm: www.gadjo.ch

Kram für Kleine zu Flohmi-Preisen.

Basel und Grenzgebiete Basel Kinderkleider und Auf der Flucht Spielzeugs Das Thema Flucht und Asyl ist ein Dauerbrenner. Und wir müssen hierzulande gerade aufpassen, dass wir unsere schöne «humanitäre Tradition» – die es ja neben unschöneren Traditionen wie der Abschiebung von Juden nach Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg auch gibt – nicht komplett über Bord werfen, wie das die SVP gerade wieder anregt. Es scheint extrem schwierig, sich in das Schicksal von Menschen zu versetzen, die aus Verzweiflung alles hinter sich lassen und alles, sprich: ihr Leben, riskieren. Vielleicht hilft ja die Kunst, das Theater? Die Basler Theatergruppe Ex/ex Theater führt jedenfalls an der nördlichen Grenze unseres Landes ein Stück auf, das die Flucht zum Thema hat. Es spielt zur Zeit des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 und der Plot verspricht turbulente Dramatik: Fünf Frauen und drei Männer versuchen in einer Postkutsche aus der von den Preussen besetzten Normandie nach Le Havre zu fliehen, um sich von dort aus nach England abzusetzen. Eine der Passagierinnen ist die Edelprostituierte Elisabeth Rousset, die anfänglich von den anderen verachtet wird – bis sich herausstellt, dass sie die Einzige ist, die Proviant dabei hat. In einem Gasthaus stösst die Gruppe auf einen preussischen Offizier, der sie erst weiterreisen lassen will, nachdem er Roussets Dienste in Anspruch genommen hat. Diese weigert sich aber, mit dem Feind ins Bett zu gehen. Gespielt wird die Geschichte von Profis und Laien im Alter von 16 bis 75 Jahren aus der Region Basel, dies- und jenseits der Grenze. (fer)

Schaffell, Kinderwagen, Bobbycar, Schlittschuhe, Holztiere, Bilderbüchli, Bagger, Laster, Feuerwehrauto – und Kleider, Kleider, Kleider. Anfang September findet im Basler Kannenfeldpark einmal mehr die Herbst-Kinderkleiderbörse statt, an der man sich für’s nächste habe Jahr mit allem, was man für den Nachwuchs braucht, eindecken kann. Und das zu wirklich günstigen Flohmi-Preisen. (mek) Kinderkleiderbörse Kannenfeld, Mi, 3. September, 12 bis 17 Uhr, Kannenfeldpark, Basel. Bei Regen wird die Börse auf den 10. September verschoben.

Anzeige:

«Eine für alle», Theaterstück nach der Novelle «Boule de suif» von Guy de Maupassant, Theatergruppe Ex/ex Theater, Do, 28. bis So 31. August, Freizeitzentrum Landauer, Riehen; Mi, 3. bis Sa, 6. September, Singeisenhof, Riehen; Mi, 10. bis Sa, 13. September, Zähringerplatz, Rheinfelden; Mi, 17. bis Fr, 19. September, Kannenfeldpark, Basel; Mi, 24. bis Sa, 27. September, Bahnhofplatz, Rodersdorf; jeweils 19.30 Uhr, www.exex.ch

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Sanfter Vocal Jazz: die Sängerin Lisette Spinnler.

Lack, Leder, Trauer, Tod: Ein Dok-Film geht der Gothic-Szene auf den Grund.

Basel Zuhören, interkontinental

Zürich Hauptsache Schwarz

Wissen Sie, warum die Hyäne hinkt? Nicht? Dann sollten Sie die Veranstaltung «Willkommen Welt» besuchen. Das Basler Kurszentrum K5 und die Gassenküche Soup & Chill – die ganz nebenbei gesagt eine der Stationen auf dem Surprise-Stadtrundgang ist – laden ein zum «Fest der fünf Kontinente. K5 und Soup&Chill haben vieles gemeinsam: Sie arbeiten mit und für Menschen, die neu in unsere Gesellschaft kommen, sprich: Migrantinnen und Migranten – oder an deren Rand stehen, sprich: Obdachlose, Drogenabhängige oder sonstwie Bedürftige. K5 versucht, diesem Ziel durch Bildung, Kurse und Kinderbetreuung näherzukommen. Soup&Chill, die Wärmestube für Menschen, die kein eigenes Wohnzimmer haben, bietet Menschen einen stressfreien Treffpunkt und eine warme Suppe. Mit «Willkommen Welt» feiern die beiden Institutionen ihre noch junge Zusammenarbeit. Auf dem Programm steht allerlei zum Zuhören und Degustieren: Geschichten aus Afrika – unter anderem eben jene von der hinkenden Hyäne –, Kulinarisches aus aller Welt und die wunderbare Stimme der Jazzsängerin Lisette Spinnler. Eingeladen und willkommen sind alle. Und damit auch wirklich alle kommen und mitfeiern können, ist der Eintritt frei, Spenden hingegen sind sehr erwünscht. (ami)

Ihre Outfits reichen vom viktorianischen Romantic-Look mit Rüschen und Schleiern bis zum Lack-und-Leder-Dress mit Irokesenkamm, Piercings und Tattoos – selbstverständlich alles in Schwarz. Am Wochenende tanzen sie an sogenannten Black Partys und Finsterbällen – und sie beschäftigen sich mit Themen, die der Rest der Gesellschaft gerne verdrängt: Vergänglichkeit, Dunkelheit, Trauer und Tod. Geht es um Mode, Provokation oder um eine Lebensphilosophie? In ihrem neuesten Dokumentarfilm geht die Schriftstellerin und Filmemacherin Mitra Devi der Gothic-Szene auf den Grund. Ihre Protagonisten sind etwa ein St. Galler Fotograf, der abgründige Bilder auf dem Friedhof schiesst, eine Zürcher Autorin, die an einem Dark Roman arbeitet und eine Domina, die farbenfrohe Bilder malt. Entstanden ist ein temporeicher Film mit Tiefgang, Humor und starker Musik. (mek) «Gothic», ein Dokumentarfilm von Mitra Devi, So, 31. August, 11 Uhr, Vorpremiere im Arthouse-Kino Le Paris, Zürich-Stadelhofen. Tickets: http://gothic.mitradevi.ch, weitere Aufführungsdaten werden noch bekanntgegeben.

«Willkommen Welt», Sa, 23. August, 12 bis 21 Uhr, Gassenküche Soup & Chill,

BILD: ZVG

Solothurnerstrasse 8. www.soupandchill.com

Schloss Landshut/ Utzenstorf Gemeinsam auf der Pirsch Bereits vor rund 20 000 Jahren kamen die Menschen auf die Idee, Wölfe zu zähmen. Und begannen, sich die besonderen Verhaltensweisen des Wolfes nutzbar zu machen. So wurde aus dem Wildtier Wolf das Haustier Hund. Wie diese enge Bindung des Menschen an den Hund entstand, welchen Einfluss der Mensch auf die Evolution des Hundes nahm und wie die Partnerschaft Mensch-Hund heute in der Jagd gelebt wird, ist auf Schloss Landshut zu erfahren. Ausserdem geht die umfassende Ausstellung dem Verschwinden der schnellen Schweizer Jagdhunde im ausgehenden Mittelalter auf den Grund. (mek) «Der Jagdhund – Helfer und Freund», noch bis zum 12. Oktober zu sehen im Schweizer Museum für Wild und Jagd, Schloss Landshut, Utzentorf.

Hat eine feine Nase für die Jagd auf Reh, Hase, Fuchs und Sau: der Jura Laufhund. SURPRISE 332/14

www.schlosslandshut.ch

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Verkäuferporträt «Ich wollte endlich in Freiheit leben» Fast zwei Jahrzehnte musste Haile Tadese (41) in Eritrea Militärdienst leisten, dann flüchtete er. Heute lebt er mit seiner Familie in der Schweiz, lernt Deutsch und verkauft Surprise in Schönbühl und Zollikofen.

«Ich stamme aus Eritrea, das einst eine Kolonie von Italien war und danach 50 Jahre lang eine Provinz von Äthiopien. 17 Jahre meines Lebens wurden deswegen durch die Armee bestimmt. Bereits als Vierzehnjähriger wurde ich von der Eritrean People’s Liberation Front (EPLF), die damals für die Unabhängigkeit kämpfte, eingezogen. Die ersten vier Jahre gingen wir nur zur Schule, dann mit 18 Jahren galt es ernst, und wir wurden Soldaten. Obschon die EPLF den Unabhängigkeitskrieg 1991 gewonnen hatte und der Staat Eritrea zwei Jahre später gegründet worden war, mussten meine Kollegen und ich im Militärdienst bleiben und die Grenzen bewachen und verteidigen. Das hatte schon seinen Grund, 1998 brach dann zwischen Äthiopien und Eritrea tatsächlich ein neuer Grenzkonflikt aus. In dieser Zeit wurde ich zweimal verletzt. Das erste Mal traf mich eine Kugel am Kopf, deshalb höre ich jetzt auf einem Ohr nichts mehr. Ein paar Monate später erwischten mich Splitter einer Panzergranate, die teilweise immer noch in meinem Körper sind. Die Narben sehen ziemlich schlimm aus, denn bei der Behandlung im Feldlazarett ist es zu Infektionen gekommen. Am schlimmsten ist für mich die Verletzung an meiner linken Hand, weil ich sie seither nicht mehr vollständig bewegen kann. Zurzeit bin ich deswegen im Berner Inselspital in Behandlung und hoffe, dass es vielleicht noch die eine oder andere Möglichkeit gibt, meine Verletzungen von damals weiter zu kurieren. Lange Zeit fand ich es richtig, in der Armee zu dienen, für die Unabhängigkeit von Eritrea zu kämpfen und dieses schöne Land zu verteidigen. Doch mit der Zeit sah ich keinen Sinn mehr, länger im Militärdienst zu bleiben, denn der Konflikt war zu Ende und die Grenzen endgültig festgelegt. Aber in meinem Heimatland hat niemand die Wahl. Nachdem ich mehr als mein halbes Leben im Militärdienst verbracht hatte, desertierte ich, weil ich endlich in Freiheit leben wollte. Zwei Jahre versteckte ich mich noch, dann flüchtete ich ins Nachbarland Sudan. Der Entscheid fiel mir sehr schwer, denn ich habe aus meiner ersten Ehe zwei Kinder, die ich zurücklassen musste. Einige Jahre lang versuchte ich, im Sudan zu leben. Als illegaler Ausländer ist es jedoch schwierig. Für mich gab es nur Gelegenheitsjobs, und ich hatte mittlerweile wieder eine Frau und einen Sohn, für die ich sorgen musste. 2010 entschieden wir uns, in Europa eine bessere Zukunft zu suchen. Meine Partnerin ging mit dem Kind zuerst Richtung Norden, also Libyen und Mittelmeer, und meldete sich zum Glück bereits drei Monate später aus der Schweiz. Weil sie Asyl beantragt und erhalten hatte, durfte ich ihnen nachreisen. Dadurch, dass die Schweizer Botschaft in Khartoum in dieser Zeit geschlossen war, musste ich mich auf der Botschaft in Addis Abeba melden. Nach acht Monaten Warten in Äthiopien, bis die Papiere in Ordnung waren, konnte ich im Herbst 2012 zu meiner Familie in die Schweiz fliegen. Heute wohnen wir in der

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BILD: ISABEL MOSIMANN

AUFGEZEICHNET VON ISABEL MOSIMANN

Nähe von Burgdorf, unser Sohn geht im Dorf in die zweite Klasse und spricht Berndeutsch. Bei mir liegt der Schwerpunkt im Moment noch beim Deutschlernen, damit sich meine Chancen bei der Arbeitssuche erhöhen. Später würde ich gerne zum Beispiel im Verkauf arbeiten, denn das ist auch mit meiner handicapierten Hand möglich. Jetzt sind gerade Ferien, aber normalerweise gehe ich jeden Nachmittag in einen Deutschkurs der Heilsarmee. Davor und danach verkaufe ich Surprise in Zollikofen oder Schönbühl vor dem Coop. Ich habe gemerkt, dass die Leute das Heft vor allem in Schönbühl noch gar nicht so kennen. Ich hoffe, ich kann das ändern. Beim Verkaufen grüsse ich die Leute, die vorbeigehen, und versuche, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Es freut mich, wenn es beim Heftverkauf zu einem Gespräch kommt, so lerne ich Menschen kennen und kann meine Deutschkenntnisse anwenden.» ■ SURPRISE 332/14


SurPlus – eine Chance für alle! Werden Sie Gotte oder Götti bei SurPlus Surprise kümmert sich um Menschen, die weniger Glück im Leben hatten. Menschen, die kaum Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt haben und ihr Leben in die eigenen Hände nehmen wollen. Mit dem Verkauf des Strassenmagazins Surprise überwinden sie ihre soziale Isolation. Ihr Alltag bekommt wieder Struktur und mehr Sinn. Sie gewinnen neue Selbstachtung und erarbeiten sich aus eigener Kraft einen kleinen Verdienst. Das verdient Respekt und Unterstützung. Das Spezialprogramm SurPlus ist ein niederschwelliges Begleitprogramm für ausgewählte Surprise-Verkaufende, die regelmässig das Strassenmagazin

verkaufen und hauptsächlich vom Heftverkauf leben. Diese Verkaufenden erhalten nur geringe soziale Ergänzungsleistungen und werden im Programm SurPlus gezielt vom Verein Surprise unterstützt: Sie sind sozial abgesichert (Ferien, Krankheit, Nahverkehrsabonnement) und werden bei Problemen im oft schwierigen Alltag begleitet. Mit einer Patenschaft leisten Sie einen wesentlichen Beitrag für die soziale Absicherung der Verkaufenden und ermöglichen ihnen, sich aus eigener Kraft einen Verdienst zu erarbeiten. Vielen Dank für Ihr Engagement!

Elsa Fasil Bern

Kostana Barbul St. Gallen

René Senn Zürich

Marlis Dietiker Olten

Negasi Garahassie Winterthur

Josiane Graner Basel

Wolfgang Kreibich Basel

Tatjana Georgievska Basel

Bob Ekoevi Koulekpato, Basel

Anja Uehlinger Baden

Ralf Rohr Zürich

Emsuda Loffredo-Cular Basel

Fatima Keranovic Basel

Ja, ich werde Gotte/Götti und unterstütze das SurPlus-Programm von Surprise! 1 Jahr: 6000 Franken

1/2 Jahr: 3000 Franken

1/4 Jahr: 1500 Franken

Vorname, Name

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Datum, Unterschrift

1 Monat: 500 Franken

332/14 Talon bitte senden oder faxen an: Verein Surprise, Administration, Spalentorweg 20, 4051 Basel, F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch, PC-Konto 12-551455-3 SURPRISE 332/14

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Surprise ist: Hilfe zur Selbsthilfe Surprise hilft seit 1997 Menschen in sozialen Schwierigkeiten. Mit Programmen in den Bereichen Beschäftigung, Sport und Kultur fördert Surprise die soziale Selbständigkeit. Surprise hilft bei der Integration in den Arbeitsmarkt, bei der Klärung der Wohnsituation, bei den ersten Schritten raus aus der Schuldenfalle und entlastet so die Schweizer Sozialwerke.

Ich möchte Surprise abonnieren! 24 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.– ) (Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen.) Gönner-Abo für CHF 260.–

Eine Stimme für Benachteiligte Surprise verleiht von Armut und sozialer Benachteiligung betroffenen Menschen eine Stimme und sensibilisiert die Öffentlichkeit für ihre Anliegen. Surprise beteiligt sich am Wandel der Gesellschaft und bezieht Stellung für soziale Gerechtigkeit. Strassenmagazin und Strassenverkauf Surprise gibt das vierzehntäglich erscheinende Strassenmagazin Surprise heraus. Dieses wird von einer professionellen Redaktion produziert, die auf ein Netz von qualifizierten Berufsjournalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen zählen kann. Das Magazin wird fast ausschliesslich auf der Strasse verkauft. Rund dreihundert Menschen in der deutschen Schweiz, denen der Arbeitsmarkt verschlossen bleibt, erhalten damit eine Tagesstruktur, verdienen eigenes Geld und gewinnen neues Selbstvertrauen.

Sport und Kultur Surprise fördert die Integration auch mit Sport. In der Surprise Strassenfussball-Liga trainieren und spielen Teams aus der ganzen deutschen Schweiz regelmässig Fussball und kämpfen um den Schweizermeister-Titel sowie um die Teilnahme an den Weltmeisterschaften für sozial benachteiligte Menschen. Seit 2009 hat Surprise einen eigenen Chor. Gemeinsames Singen und öffentliche Auftritte ermöglichen Kontakte, Glücksmomente und Erfolgserlebnisse für Menschen, denen der gesellschaftliche Anschluss sonst erschwert ist. Finanzierung, Organisation und internationale Vernetzung Surprise ist unabhängig und erhält keine staatlichen Gelder. Das Strassenmagazin wird mit dem Erlös aus dem Heftverkauf und mit Inseraten finanziert. Für alle anderen Angebote wie die Betreuung der Verkaufenden, die Sportund Kulturprogramme ist Surprise auf Spenden, auf Sponsoren und Zuwendungen von Stiftungen angewiesen. Surprise ist eine nicht gewinnorientierte soziale Institution. Die Geschäfte werden vom Verein Surprise geführt. Surprise ist führendes Mitglied des Internationalen Netzwerkes der Strassenzeitungen (INSP) mit Sitz in Glasgow, Schottland. Derzeit gehören dem Verband über 100 Strassenzeitungen in 40 Ländern an.

Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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Bitte heraustrennen und schicken oder faxen an: Verein Surprise, Administration Spalentorweg 20, 4051 Basel F +41 61 564 90 99, info@vereinsurprise.ch

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Herausgeber Verein Surprise, Spalentorweg 20, 4051 Basel www.vereinsurprise.ch Öffnungszeiten Sekretariat 9 – 12 Uhr, Mo – Do T +41 61 564 90 90, F +41 61 564 90 99 info@vereinsurprise.ch Geschäftsführung Paola Gallo (Geschäftsleiterin), Sybille Roter (stv. GL) Anzeigenverkauf T +41 61 564 90 90, M +41 76 325 10 60 anzeigen@vereinsurprise.ch Redaktion T +41 61 564 90 70, F +41 61 564 90 99 Amir Ali (ami, Heftverantwortlicher), Florian Blumer (fer), Diana Frei (dif), Mena Kost (mek) redaktion@vereinsurprise.ch leserbriefe@vereinsurprise.ch Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Shpresa Jashari, Carlo Knöpfel, Melanie Kobler (Grafik), Yvonne Kunz, Stephan Pörtner, Milena Schärer, Isabella Seemann, Priska Wenger, Tom Wiederkehr, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Philipp Baer, Monika Bettschen, Olivier Joliat, Robin Lindley, Isabel Mosimann, Till Raether, Flavia Schaub, Manuela Zeller Gestaltung WOMM Werbeagentur AG, Basel Druck AVD Goldach Auflage 17 750, Abonnemente CHF 189, 24 Ex./Jahr Marketing, Fundraising T +41 61 564 90 50 Svenja von Gierke

Vertriebsbüro Basel T +41 61 564 90 83 Thomas Ebinger, Anette Metzner, Spalentorweg 20, 4051 Basel, basel@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Zürich T +41 44 242 72 11, M +41 79 636 46 12 Reto Bommer, Engelstrasse 64, 8004 Zürich, zuerich@vereinsurprise.ch Vertriebsbüro Bern T +41 31 332 53 93, M +41 79 389 78 02 Andrea Blaser, Alfred Maurer, Bruno Schäfer, Pappelweg 21, 3013 Bern, bern@vereinsurprise.ch Strassenchor T +41 61 564 90 40, F +41 61 564 90 99 Paloma Selma, p.selma@vereinsurprise.ch Strassensport T +41 61 564 90 10 Lavinia Biert (Leitung), l.biert@vereinsurprise.ch, Olivier Joliat (Medien), David Möller (Sportcoach) www.strassensport.ch Vereinspräsident Peter Aebersold

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird von der Redaktion und dem Verlag jede Haftung abgelehnt. Surprise behält sich vor, an Verkaufende gerichtete Postsendungen zu öffnen. Barspenden an namentlich bezeichnete Verkaufende können nur bis zu einem Betrag von CHF 100.– weitergeleitet werden. Darüber hinausgehende Beträge sollen – im Einverständnis mit der Spenderin oder dem Spender – allen Verkaufenden zugute kommen. SURPRISE 332/14


Schön und gut. Ab sofort sind die neuen Surprise-Caps mit eleganter Kopfwerbung bei uns in Einheitsgrösse erhältlich: Zur Auswahl stehen sie in den Farben Schwarz und Beige. Zugreifen! Grosses Badetuch 100 x 180 cm aus sehr langlebigem Zwirngarn, 100% handgepflückte Baumwolle. Mit Surprise-Logo eingewebt und von A bis Z in der Schweiz hergestellt. Vorder- und Rückseite verschiedenfarbig: vorne kühles Aquablau, hinten heisses Rot.

Surprise-Cap CHF 16.– beige

Strandtuch (100 x 180 cm) CHF 65.–

schwarz

50 Prozent des Verkaufspreises kommt Surprise zugute.

Alle Preise exkl. Versandkosten.

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Ist gut. Kaufen! Die neuen Surprise-Taschen sind da! Gemeinsam mit dem Secondhand-Shop «Zweifach» aus Basel haben wir neue und schicke Surprise-Taschen entworfen! Die Taschen werden umweltfreundlich aus nicht mehr gebrauchten Lastwagenplachen genäht und mit Autogurten versehen. Sie sind geräumig und verfügen innen über ein grosses Zwischenfach. Erhältlich sind sie in den Farben Rot, Blau, Grün, Orange und Schwarz. Je nach Vorrat kann die Lieferung bis zu drei Wochen in Anspruch nehmen. Zweifach ist ein Betrieb der Eingliederungsstätte Baselland und bietet jungen und erwachsenen Menschen mit einer Behinderung die Möglichkeit, im beruflichen Alltag Fuss zu fassen. Tun Sie sich, Zweifach und auch Surprise etwas Gutes und bestellen Sie noch heute ihre Tasche in ihrer Lieblingsfarbe! Surprise City-Taschen (24,5 x 35,5 cm); CHF 45.– (exkl. Versandkosten) schwarz orange grün blau rot

Der Surprise-Schriftzug soll folgende Farbe haben schwarz weiss silber

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Nehmen Sie an einem «Sozialen Stadtrundgang» teil! Erleben Sie Basel aus einer neuen Perspektive! Tour 1: Konfliktzone Bahnhof – vom Piss-Pass zur Wärmestube. Samstag, 20. September um 9 Uhr. Tour 2: Kleinbasel – vom Notschlafplatz zur Kleiderkammer. Samstag, 27. September um 9 Uhr. Tour 3: Kleinbasel – von der Sozialhilfe zur Selbsthilfe. Samstag, 6. September um 9.30 Uhr. Anmeldungen unter rundgang@vereinsurprise.ch oder 061 564 90 40. Weitere Infos unter www.vereinsurprise.ch/stadtrundgang


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